Wünsche an die Wellen - Katya Balen - E-Book

Wünsche an die Wellen E-Book

Katya Balen

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Beschreibung

Katya Balen erzählt von Familie, Zusammenhalt und Neuanfängen – spannend, poetisch und berührend

Eine herzzerreißend schöne Geschichte über Neuanfänge. Und über die Geschwister, die man nicht gesucht, aber gefunden hat. Tom ist zurückhaltend und vorsichtig. In Zofia tobt ein Sturm, der sie laut und impulsiv macht. Sie kann den Angsthasen Tom nicht leiden. Auch Tom will, dass Zofia aus seinem Leben verschwindet. Aber Zofias Vater und Toms Mutter haben sich ineinander verliebt, und bald schon wohnen sie alle zusammen in einem Häuschen am Meer. Die beiden unfreiwilligen Geschwister geraten ständig aneinander. Doch dann kündigt sich ein Baby an, das krank auf die Welt kommen könnte. Zofia und Tom wünschen sich, dass es ihrer gemeinsamen Schwester gut geht, und müssen zusammenarbeiten: Sie wollen 1.000 Papierkraniche falten – danach, so heißt es, hat man einen Wunsch frei.

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Das ist das Cover des Buches »Wünsche an die Wellen« von Katya Balen

Über das Buch

Eine herzzerreißend schöne Geschichte über Neuanfänge. Und über die Geschwister, die man nicht gesucht, aber gefunden hat. Tom ist zurückhaltend und vorsichtig. In Zofia tobt ein Sturm, der sie laut und impulsiv macht. Sie kann den Angsthasen Tom nicht leiden. Auch Tom will, dass Zofia aus seinem Leben verschwindet. Aber Zofias Vater und Toms Mutter haben sich ineinander verliebt, und bald schon wohnen sie alle zusammen in einem Häuschen am Meer. Die beiden unfreiwilligen Geschwister geraten ständig aneinander. Doch dann kündigt sich ein Baby an, das krank auf die Welt kommen könnte. Zofia und Tom wünschen sich, dass es ihrer gemeinsamen Schwester gut geht, und müssen zusammenarbeiten: Sie wollen 1.000 Papierkraniche falten — danach, so heißt es, hat man einen Wunsch frei.

Katya Balen

Wünsche an die Wellen

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Hanser

Für Lucy Mackay-Sim,

die stets recht hat

Zofia

Ich bin mitten in einem Unwetter zur Welt gekommen. Grelle Blitze rissen den Himmel auf, und unter dem Donner erbebte das Meer. Regen peitschte an die Klippen, es war, als stünde die ganze Welt Kopf und das Meer fiele aus dem Himmel. Das Wetter wütete, und ich auch. Ein so zorniges Baby habe sie noch nie gesehen, sagte die Hebamme, und auf allen Fotos aus jener Zeit bin ich eine puterrote Wutkugel mit geballten Fäusten und einem weit aufgerissenen, brüllenden Mund. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre damals der Sturm in mich hineingefahren. Dad sagt das auch, an Tagen, an denen ich herumbrülle, durchs Haus poltere, einfach zu laut bin, außer Rand und Band. Was offenbar ziemlich oft vorkommt. Dann spüre ich etwas grollen in mir, einen Funken, der sich entzündet, es ist, als wäre der Sturm in mir aufgewacht, würde sich recken und strecken. Manchmal dreht er sich dann wieder um und schläft weiter, aber an anderen Tagen ist nicht daran zu denken. Da braut sich was zusammen sagt Dad in solchen Momenten gerne.

Dad und ich sind ein Team. Zwei Hälften eines Ganzen. Wir gehören zusammen wie Nadel und Faden, wie Haken und Öse. Man könnte auch sagen, wir sind wie zwei Meerschweinchen in einem Gehege. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Meerschweinchen nie einzeln halten darf, sie würden sonst vor Einsamkeit eingehen. In der Schweiz soll es sogar gesetzlich verboten sein. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Menschen allen Ernstes ins Gefängnis kommen und tagein, tagaus hinter Gittern sitzen, nur weil ihr Meerschweinchen allein im Käfig hockt, aber anscheinend ist das so. Außerdem — kann ja sein, dass Meerschweinchen an Einsamkeit sterben, andererseits sollte man auch nicht einfach ein zweites Meerschwein zum ersten in den Käfig stecken, denn dann geht das erste auf das zweite los und beißt ihm vermutlich den Kopf oder sonst was ab. Ich habe einen Hund und eine Katze, und damit bin ich ganz zufrieden.

In den meisten Dingen haben Dad und ich denselben Geschmack. Na gut, er steht nicht auf richtig laute Musik, mag keine goldenen Docs, und zwanzig Oreos hintereinanderweg zu futtern ist auch nicht sein Ding, aber genau wie ich liebt er das Meer und gute Witze und hat eine Schwäche für so richtig, richtig trashiges Fernsehen, stark gewürztes Essen und Graphic Novels. Und Oreos würde er vermutlich auch mögen, wenn er nur schnell genug wäre, um das herauszufinden.

Dad und ich leben in einem Cottage; einem kleinen Haus mit schiefen Steinmauern, einer leuchtend gelben Haustür und einem Vorgarten, in dem jede Wildblume wächst, die es je gegeben hat. Wenn man zum Fenster hinausschaut oder im Garten steht, dann sieht man das Meer nicht nur, man kann es auch hören und riechen und manchmal sogar schmecken.

Unser Haus ist ein richtiges Bilderbuchhaus. Ein gewundener Pfad führt zu der gelben, von Rosen umrankten Tür. Aus den Blüten habe ich früher, zusammen mit meiner besten Freundin Dommo, Zaubertränke gemacht. In Büchern gibt es in solchen Häusern immer eine Mutter und einen Vater und ein kleines Mädchen und vielleicht noch einen Hund, der allen die Hausschuhe bringt. Ein perfektes kleines Leben. So wie unseres. Einen Hund haben wir zwar, nur würde der unsere Hausschuhe eher annagen als apportieren, und Mum ist gestorben, als ich noch ein Baby war, aber sonst ist alles ganz genauso.

So wie unser Leben im Moment ist, kann es bleiben, ich würde nichts daran ändern wollen.

Tom

Die Dunkelheit um mich herum ist voller Licht. Das rede ich mir jedenfalls ein. Da ist das grelle Orange einer Straßenlaterne gleich hinter den Vorhängen. Da ist der warme gelbe Schein, der sich unter meiner Zimmertür durchschiebt und mit dem Teppich verschmilzt. Und da ist das langsame rote Blinken eines Ladegeräts an der Wand gegenüber.

Doch der Raum um mich herum ist finster, voll von Ruß und Tinte und Schatten. Die wehen umher, neigen und strecken sich, greifen zu, schlittern, schlüpfen in neue Gestalten, lösen sich von den Rändern her auf und dehnen sich. Meine Finger zucken. Mit jedem Atemzug ist meine Lunge prallvoll von der dunklen, schmutzigen Luft. Ich versuche, langsamer zu atmen, das Schwarze wegzustoßen. Mir mein eigenes Licht zu sein. Mein Herz krümmt sich in meiner Brust. Ich zähle, wie viele Formen ich erkennen kann.

Eins. Zwei. Drei.

Die Schatten, die an den Wänden entlangschleichen und sich hin und her drehen, das sind nur Formen, nichts weiter als eine Ansammlung von Linien und Winkeln, die durch schwarze Farbe zusammengehalten werden. Formen können dir nichts tun. Sie sind nichts. Die Dunkelheit kann dir nichts tun.

Vier. Fünf.

Doch was sich darin versteckt, das ja.

Sechs.

Mein Herz steht in Flammen.

Ich strecke eine Hand aus, mitten hinein in das schwarze Nichts, das um mein Gesicht herumflattert wie die Flügel einer Fledermaus, und tippe auf den Notschalter neben mir.

Licht.

Licht strömt herab, flutet den Raum, ergießt sich über alles. Licht schluckt die Dunkelheit komplett, lässt sie zusammenschnurren zu kleinen Schnipseln in den Zimmerecken, die nur noch gelegentlich aufflackern. Licht bricht sich in den gläsernen Prismen auf meinem Schreibtisch, und die Wände sind ein einziger tanzender Regenbogen. Ich höre auf, Sekunden zu zählen, und zähle stattdessen Farben. Ich gehe sie nacheinander durch wie Namen von Freunden, ich rase durch die Silben.

Rotgelbgrünblauindigoviolett.

Rotundgelbundgrünundblauundindigoundviolett.

Rot und gelb und grün und blau und indigo und violett.

Mein Herzschlag hat sich ein wenig beruhigt, kein Vergleich mehr zu dem, was eben noch so dumpf dröhnte, dicht hinter meinen Rippen.

Ich tippe auf den Wecker auf meinem Nachttisch, und sofort wird das Display heller. Gleichzeitig leuchtet auch das flüssige Licht in meiner Lavalampe auf. Ich habe sechs verschiedene Arten Licht in meinem Zimmer.

Eine Minute und dreizehn Sekunden, so lange habe ich heute ohne Licht durchgehalten.

Ich nehme mir ein Blatt quadratisches Papier und beginne zu falten. Ich folge den Linien, die meine Finger in- und auswendig kennen, ich muss nicht einmal mehr nachdenken, welche Figur ich gerade falte. Nach und nach gleicht sich mein Herzschlag an meine langsamen, behutsamen Bewegungen an, und noch bevor ich mit dem Papierstern fertig bin, hat alles wieder in seinen normalen Rhythmus zurückgefunden. Ich ziehe mir die Bettdecke hoch bis unters Kinn und drehe mein Gesicht in Richtung Lavalampe. Ich schließe die Augen, und diesmal wird es nicht dunkel; Licht malt sich in leuchtenden Farben auf meine Augenlider wie ein Feuerwerk.

Am Morgen, als ich zur Schule muss, steht die Sonne am Himmel, und die Dunkelheit lauert nur in irgendwelchen Ecken.

Zofia

Ich stehe genau da, wo die vordersten Wellen am Strand lecken. Ich bin barfuß und wackele mit den Zehen, um Abdrücke in den Sand zu machen, die das Meer sofort begierig wieder füllt. Nur Sekunden später kann es sein, als wäre ich nie hier gewesen.

Ich renne los und werfe mich in die Wellen, gleite unter ihnen hindurch wie ein Fisch. Das Wasser und das Licht färben mich silbern, das Meer brüllt mir in die Ohren, Wellen krachen auf den Sand und hinterlassen eine dünne Salzschicht auf meiner Haut. Ich stürze mich in die Tiefe, drehe und wende mich, wirbele herum unter diesem glatten Tuch, das eine komplett andere Welt zudeckt. Wölkchen aus winzigen silbernen Fischen schießen pfeilschnell zwischen meinen Zehen hindurch, und um meine Knöchel herum tanzt Seetang in langen Bändern. Als ich an die Oberfläche stoße und den Himmel wieder einatme, fühle ich mich wie eine ganz frische, neue Zofia. Alle Schmerzen, alle Sorgen, die gerade in mir lostrommeln wollten, werden vom Salz und der Gischt weggeschrubbt.

Meine Babcia, meine polnische Großmutter, wollte, dass ich getauft würde, aber solange ich ein Baby war, waren meine Eltern dagegen. Vielleicht würde es meiner Großmutter ja gefallen, mir beim Tauchen zuzusehen, auch wenn das Meer vielleicht nicht ganz dasselbe ist wie ein Taufbecken. Aber immer wenn ich das Gefühl habe, Ärger oder Wut oder sogar so ein albernes, klitzekleines Körnchen Einsamkeit könnten sich zu breit machen in mir, dann renne ich die paar Meter von unserem Haus zum Strand und lasse mir vom Salz alles wegwaschen. Früher habe ich immer gesagt, das Meer sei mein Freund; inzwischen bin ich alt genug, um zu wissen, dass das Meer niemals ein Freund sein kann. Trotzdem empfinde ich es irgendwie immer noch so.

Ich trete Wasser. In der Ferne, ganz verschwommen vor dem dunklen Himmel, sehe ich meinen größten Angstgegner. Dommo findet den Ausdruck blöd für ein paar hoch aus dem Meer aufragende Felsen, die nach den Wellen schnappen und schlagen. Fidschi nennt man sie hier, nach den wunderschönen Fidschi-Inseln, tropischen Inseln mitten in einem warmen blauen Meer. Anscheinend soll das witzig sein, aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich den Witz kapiere. Aber hier heißen diese Felsen nun mal Fidschi, und dabei bleibt es. Für mich ist Fidschi mein Angstgegner. Dieses Jahr will ich es schaffen. Ich werde so weit rausschwimmen, dass ich oben auf den Felsen stehen und laut in den Himmel schreien kann. Jeden einzelnen Tag werde ich hier trainieren, und mit jedem Tag werde ich ein bisschen schneller und ein bisschen kräftiger werden und den Felsen ein bisschen näher kommen.

Als ich schlotternd aus dem Wasser komme, höre ich auf einmal Dommos Stimme. Sie lacht ihr typisches Dommo-Lachen, das sich so anhört, als hätte man eine Hyäne mit einem Albatros gekreuzt. Ich muss dann jedes Mal mitlachen. Im nächsten Moment höre ich Halimas Stimme. Ich zwinkere kräftig, um Sand und Wind aus den Augen zu bekommen.

Dommo hat irgendetwas Großes in der Hand. Ich kneife die Augen zusammen, und im selben Moment rollt Dommo das Ding auseinander und rennt los. Sofort greift der Wind danach und schleudert es hoch in die Luft. Ein Drachen in Form eines Vogels tanzt hoch am Himmel.

Dommo lässt einen Drachen steigen. Zusammen mit Halima. Der Wind dröhnt in meinen Ohren, und in mir braut sich ein Orkan zusammen.

Jetzt hat Dommo mich entdeckt und winkt mir zu. Sie ruft irgendetwas, aber der Wind peitscht ihre Worte weg. Sie stolpert auf mich zu, und der Drachen buckelt wie ein wütendes Pferd. Das möchte ich auch können, mich mit lautem Geheul in die Luft schleudern, mitten in die Wirbel und Strudel des Windes hinein. Die zwei haben mich ausgeschlossen, Dommo wollte mich nicht dabeihaben. Dabei machen Dommo und ich doch alles zusammen. Genau wie Dad und ich.

Schließlich hat sie es bis zu mir geschafft, sie grinst immer noch und sagt Wir haben bei euch geklopft, aber du warst nicht da, logisch, du warst ja auch schwimmen. Magst du auch mal und ich spüre eine Welle der Erleichterung, die mich höher trägt, als jeder Wind es je könnte.

Tom

Mum kann mich nicht immer von der Schule abholen. Sie ist Ärztin und arbeitet im Krankenhaus im Schichtdienst. Alle aus meiner Klasse gehen zu Fuß nach Hause. Es wäre viel einfacher, wenn ich das auch könnte, das weiß ich auch. Aber ich kann es nicht. Nach Hause zu laufen ist nicht ganz so schlimm, wie im Dunkeln zu sitzen, aber nach Hause zu kommen in eine leere Wohnung, gerade im Winter, wenn es immer früher dunkel wird, das dürfte sogar noch schlimmer sein. Also sitze ich im Hort, rede mit niemandem, und niemand redet mit mir.

Am schlimmsten sind die Nachtschichten. An solchen Tagen bleibt Mrs Adams aus der Wohnung unter uns bei mir. Sie ist lieb und nett, aber um Punkt acht knipst sie meine Lampen aus. Wenn ich sie wieder anmache, gefällt ihr das gar nicht. Ich bekäme zu wenig Schlaf, so würde ich nie groß und stark werden, sagt sie. Ich versuche ihr zu erklären, dass ich erst recht keinen Schlaf bekomme, wenn ich im stockdunklen Zimmer liege und die Schatten um mich herumschleichen und sich auf mich legen. Aber sie hört einfach nicht zu, jedes Mal schaltet sie das Licht wieder aus und wirft mich zurück. Zurück auf Anfang.

Zofia

Das Meer ist so kalt heute, da gehe ich nicht rein. Die Spitzen der Wellen sind wie gefroren, und der Himmel ist wütend und voller Regenwolken. Selbst im Neoprenanzug würde ich blau anlaufen. Ich brauche einen Plan, denn es wird eher nur noch kälter werden.

Ich lasse kaltes Wasser in die Badewanne ein, bis es an den Seiten überläuft und in den Ritzen zwischen den Bodendielen verschwindet. Mit einer Hand schlage ich aufs Wasser, sodass sich lauter Kreise bilden und das Wasser flüstert wie das Meer.

Ich ziehe meinen Neoprenanzug an, hole mir Dads alte Plastikstoppuhr und steige in die Wanne. Es ist so kalt, dass ich mit den Zähnen klappere und meine Beine zittern, obwohl sie überhaupt nichts tun müssen. Meine Haut brennt wie Feuer vom eiskalten Wasser. Ich atme mehrmals tief ein, um mein wildes Herz zu beruhigen, dann beiße ich die Zähne zusammen und tauche unter.

Eins. Zwei. Drei.

Ich habe die Augen offen. Durch das gekräuselte Wasser betrachtet, wirkt die Welt da oben direkt friedlich.

Vier. Fünf. Sechs.

Meine Lunge ist voll und ist leer, und meine Haut ist elektrisch geladen.

Sieben. Acht. Neun.

Die Kälte schießt Pfeile in mein Blut ab.

Zehn. Elf. Zwölf.

Ich brauche Luft ich brauche Luft ich brauche Luft. Dreizehn.

Ich breche an die Wasseroberfläche und schnappe nach Luft, so viel Luft, wie überhaupt in meinen Mund hineingeht, und ich spüre, wie sie durch mein Blut rast.

Dreizehn Sekunden, das ist lächerlich. Ich trockne mich ab und schreibe die Zahl in ein altes Schreibheft. Morgen läuft’s besser.

Tom

Gestern Abend habe ich in meinem hell erleuchteten Zimmer dreizehn Papiereulen gefaltet, bevor ich endlich einschlafen konnte. Ich habe sie alle in den Karton gelegt, der schon randvoll ist mit gefalteten Figuren in leuchtenden Farben.

Damit meine Hände aufhören zu zittern, muss ich Papier falten und mich ganz darauf konzentrieren. Jede Nacht ist es dasselbe. Die Nächte sind am schlimmsten, weil die schleichende Dunkelheit mir solche Angst macht. Nachts sind sie auch am lautesten — die Gedanken, die mir sagen, dass ich nicht in Sicherheit bin. Die sich wie Rauch kräuseln und flüstern, dass wir jetzt vielleicht glücklich sind, aber dass es nicht so bleiben wird. Dass Glück nie hält. Dass er sich nicht auf Dauer von uns fernhalten wird.

Morgens, wenn es hell ist, kann ich solche Gedanken leichter wegatmen. Dann sage ich mir: Dad kann uns hier nicht wegholen. Dann sage ich mir: Es ist alles in Ordnung. Dann sage ich mir: So wie unser Leben im Moment ist, kann es bleiben, ich würde nichts daran ändern wollen.

Zofia

Tausendmal habe ich mich entschuldigt für die Überschwemmung im Bad, und mindestens eine Million Mal musste ich mir anhören, dass nasse Dielen faulen und durchbrechen und die Katze mit sich in die Tiefe reißen. Außerdem habe ich es auf sechzehn Sekunden in der seltsamen Badewannenunterwasserwelt gebracht. Ich notiere den neuen Rekord, dann gehe ich an den kalten Strand, damit die Holzdielen ein bisschen Zeit haben zu trocknen.

Der Strand ist wild. Der Wind zerrt am Wasser wie an Papier, weißes Konfetti liegt verstreut auf den Wellen. Auch das Meer ist wild, und es gehört mir. Ich kann spüren, wie das Salz in der Luft sich auf meine Haut legt und meine Haare zu Locken dreht. Ich schaue zum Fidschi hinüber, wo die zerfetzten Flaggen vom Wind gepeitscht werden. Selbst in diesem matten Licht leuchten bei einigen noch immer die Farben. Andere sind so verblasst, dass sie nur leicht aufblitzen, um dann wieder mit dem Himmel ringsum zu verschmelzen. Manche waren schon vor meiner Geburt hier. Andere sogar vor Dads Geburt und wieder andere, bevor meine Babcia zur Welt kam. Sogar bevor meine Pra Babcia, meine polnische Urgroßmutter, geboren wurde, gab es schon welche.

Die meisten der richtig alten Flaggen wurden von Stürmen weggerissen, haben sich in der salzigen Luft aufgelöst oder wurden von Vögeln für deren Nester gestohlen. Aber immer noch wehen Hunderte von Stofffetzen über dem Meer, wie Regenbogenwellen sieht es aus. Nicht eines von den vielen Fähnchen ist meins. Drei davon gehören Dad; das sei das Größte und Mutigste, was er je getan hat, hat er mir mal gesagt. Damals war er gerade erst von Polen nach England gezogen, alles war ihm noch fremd und neu, nur das Meer war dasselbe. So ging er jeden Tag schwimmen, und jeden Tag fühlte er sich in England ein bisschen mehr zu Hause. Sollte es ihm gelingen, bis zu diesem Felsen hinauszuschwimmen, dann wäre er wirklich ein Teil des Meeres und des Himmels und der Klippen, des Sandes und dieses neuen Landes. Das habe er damals gleich gewusst. Und als er dann wirklich dort oben stand, da fühlte sich das besser an als alles andere, mal abgesehen von meiner Geburt. So ein Gefühl möchte ich auch haben. Ich möchte, dass er mich vorn auf den Fidschi-Felsen stehen sieht, und ich möchte, dass er stolz auf mich ist.

Ich habe mir eine Frist gesetzt. Jedes Jahr vor dem Wechsel an die weiterführende Schule kommt die Abschlussklasse meiner kleinen Schule — in diesem Jahr also wir — an einem Wochenende hier an den Strand, wo wir Surfen und Segeln und Rettungsschwimmen lernen und wie man gegen die Flut anschwimmt. So etwas wie eine große Strandparty, bevor wir demnächst alle mit dem Bus in die Stadt fahren und lauter verschiedene Kurse belegen. Auch unsere Familien kommen aus dem Anlass an den Strand. Dann zeige ich Dad, wie weit ich schwimmen kann, dann hisse ich meine Flagge auf Fidschi.

Tom

Ich liebe unsere Wohnung. Sie ist winzig, aber ganz allein unsere und genau richtig für uns. Die Wände dürfen wir nicht farbig streichen, deswegen sind sie alle weiß, aber das ist schon in Ordnung. Vor zwei Jahren, als Dad endgültig weggegangen ist, sind wir hergezogen. Als er und Mum noch zusammen waren, lebten wir in einem Haus. Da gab es zwar viele Zimmer, aber wie ein großes Haus fühlte es sich trotzdem nicht an, weil Dad es irgendwie immer schaffte, jeden Zentimeter in Beschlag zu nehmen, während ich selbst immer mehr zusammenschrumpfte. Ich glaube, seitdem bin ich nie wieder zu meiner eigentlichen Größe zurückgekehrt. Dafür gab es zu viele behelfsmäßige Orte, kalte graue Räume, in die wir uns hineinquetschten, Mum und ich, wo man durch die dünnen Wände hindurch das Geschimpfe von Fremden hörte und wo sie nachts, wenn sie glaubte, ich sei eingeschlafen, geweint hat. Ich bin klein geblieben und immer stiller geworden, aber gefunden hat er uns trotzdem jedes Mal.

Bei uns in der Wohnung hängen überall bunte Bilder, und das Sofa ist rot und gemütlich. Im Badezimmer hängen gerahmte Zeichnungen an der Wand, die ich vor langer Zeit gemacht habe und die Mum irgendwie gerettet hat, als wir alles andere zurücklassen mussten. Ich glaube fast, sie hatte sie im Krankenhaus aufbewahrt.

Zu unserer Wohnung gehört eine Miniküche, aber ich habe orangerote Töpfe und Pfannen für uns ausgesucht, der Kühlschrank ist immer voll mit allem, was ich am liebsten esse, und ich kann mir nehmen, was ich will und wann ich will. Ich habe ein ganz helles, kleines Zimmer voller Lampenkabel und Papier. Ich kann all meine Sachen genau dahin legen, wo ich sie haben möchte. Ich kann sie ordentlich auf meinen Schreibtisch legen, und ich weiß, wenn ich zurückkomme, sind sie immer noch da.

Einmal hat mein Vater alle meine Papiervögel zerrissen. Hunderte hatte ich gemacht, einen nach dem anderen sorgfältig gefaltet. Zahllose Stunden hatte ich dafür gebraucht und mir vorgestellt, ich könnte sie an der Decke befestigen und sie würden im Dunkeln leuchten. Schneeweiß waren sie und reichten in vollendeter Formation von meinem Schreibtisch bis zum Boden. Als wollten sie im nächsten Moment das Papier von ihren Flügeln abschütteln und davonfliegen, so sahen sie aus. Doch als mein Vater sie sah, brüllte er mich an. Für ihn waren sie nichts als Unordnung. Mädchenkram. Einfach lächerlich. Ich war lächerlich. Mittendurch hat er sie gerissen, einen nach dem anderen, bis der Teppich in meinem Zimmer aussah wie ein See voller weißer Papierfedern. Als hätte er die Vögel getötet, so fühlte es sich an. Ich habe die Reste mit dem Staubsauger weggesaugt. An dem Tag ging das los mit meinen Fingern, dieses Zittern, und die einzige Möglichkeit, das Zittern zu stoppen, war falten falten falten. Aber ich habe mich nicht getraut, und so zitterte ich weiter, und er brüllte weiter.

Zofia

Dad und ich gehen den gewundenen Pfad entlang, der vom Strand zu unserem Haus hinaufführt. Das Meer ist heute blauviolett. Wir bleiben stehen, und ich versuche, einen Stein übers Wasser hüpfen zu lassen, aber wir sind zu weit weg, und der Stein fällt nutzlos in den Sand. Schade, es war so ein guter Stein, völlig flach und kreisrund. Ich laufe hinterher, stolpere über ein Büschel Heidekraut und finde meinen Stein tatsächlich wieder. Als ich zurückkomme, klebt überall feuchter Sand an mir, und die eine Wange brennt, da hat mich ein Heidekrautzweig gekratzt. Dad rollt mit den Augen, macht sich aber heute nicht die Mühe, mich als Wildfang zu bezeichnen. Wild, das ist sein Lieblingswort für mich, und einer seiner Lieblingssätze über mich geht so: Wenn ich geahnt hätte, dass die Zoohandlung mir ein wildes Tier geliefert hat, hätte ich dich schon längst zurückgeschickt. Meistens brülle ich dann wie ein Löwe oder trommele wie ein Affe auf meine Brust oder zische wie eine Schlange.

Wir gehen weiter, und Dad erzählt mir eine Geschichte. Eine sehr alte Geschichte, die er von seiner Urgroßmutter hat und in der es darum geht, dass ein Mensch, der wirklich mit dem Meer verbunden ist und es versteht — sein Brüllen und sein Schweigen, sein Salz und seine Gischt, seine Tiefen und Untiefen —, dass so ein Mensch bei den Wellen einen Wunsch frei hat, und dieser Wunsch wird ihm auch erfüllt. Dads Urgroßmutter wünschte sich eine Perle, das Meer hörte ihr zu, und am nächsten Morgen lag eine Auster offen am Strand, und in ihrem Bauch lag ein schimmernder Mond. Ich würde mir einen lebenslangen Vorrat von Keksen wünschen und dazu die Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen. Außerdem möchte ich nie mehr Bruchrechnen machen müssen. Ich frage Dad, was er sich wünschen würde, aber er antwortet nicht, sondern starrt nur hinaus auf die Wellen mit ihren weißen Schaumkrönchen.

Er scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Sein Gehirn ist ziemlich oft nicht wirklich in seinem Kopf. Dann wandert es durch Krankenhausflure und Patientenakten, kümmert sich um Medikamente und Herzschläge, aber von jetzt auf gleich kann es wieder zurück sein, und dann hebt er mich hoch und schmeißt mich ins Wasser oder schlägt mich vernichtend beim Uno. Aber heute, selbst als ich sage Wer Erster oben ist und sofort mit Pablo, unserem Hund, losrase, braucht er ewig und drei Tage, bis er seine großartigen Gedanken endlich abgeschüttelt hat und uns hinterherjagt bis nach Hause.

Tom

Mum verspätet sich beim Abholen. Es war ein langer Tag, und außer mir ist kein Kind mehr im Hort. Ich habe Hausaufgaben gemacht. Für Englisch soll ich eine Geschichte darüber schreiben, wie ich einmal ein Held war. Ob wahr oder erfunden, spielt keine Rolle. Ich denke mir eine aus, in der ich ein Superheld bin, der Leben rettet. Doch vor jedem Satz schaue ich hoch zum tickenden Minutenzeiger der Uhr über dem Whiteboard, und noch immer hat mein Superheld kein einziges Leben gerettet. Auf dem Blatt Papier vor mir steht nichts als ein Gewimmel von Wörtern, die zusammen keinen Sinn ergeben. Mein Herz klopft wie das eines Kolibris. Meine Finger zittern. Ich fange an, die Ecken meiner Geschichte zu einem Vogel zu falten.

Als Mum endlich erscheint, sehe ich zuerst nur ihre dunklen Umrisse durch die Glasscheibe in der Tür. Sie ist nur ein Schatten, aber ich weiß, dass sie es ist. Die Aufsichtslehrerin ist genervt und redet in scharfem Ton auf Mum ein, aber durch mich rauscht eine Welle der Erleichterung hindurch wie kaltes Wasser. Sie würde mich nie verlassen, das weiß ich, aber ich mache mir immer Sorgen, es könnte ihr etwas passieren. Immer mache ich mir Sorgen. Als ich sieben war und wir zum ersten Mal mitten in der Nacht von zu Hause weggelaufen sind, da war ich so voller Panik und Kälte, dass ein Samenkörnchen dieser Angst sich in mein Rückgrat gepflanzt und es nie wieder verlassen hat. Es hat Wurzeln gebildet, ist gewachsen und hat sich um meine Knochen gewickelt, bis ich nicht mehr wusste, wo die Angst endete und wo ich anfing.

Aber Mum scheint überhaupt nicht besorgt zu sein. Es tue ihr wirklich leid, sagt sie, aber sie habe im Krankenhaus nur schnell einen Kaffee mit jemandem trinken wollen und darüber völlig die Zeit vergessen. Sie drückt mir ganz fest die Hand, und dann gehen wir zu Fuß nach Hause. Ihre Wangen sind gerötet, und ihre Augen leuchten, und sie erzählt, was bei ihr am Tag los war, auf eine Weise, wie ich sie schon lange nicht mehr habe reden hören. So als hätte ihre Stimme wieder Farbe bekommen. Als wäre sie glücklich. Und ich frage mich, wie das passiert ist.

Zofia

Ich stehe früh auf und verbringe viel zu viel Zeit damit, den Kopf ins kalte Badewasser zu stecken, dann ganz einzutauchen und in den stillen blauen Kräuselwellen zu treiben. Ich spüre selbst, wie die Ballonmuskeln meiner Lunge immer stärker werden.

Einszweidreivierfünfsechssiebenacht

Herz schlägt schneller, Lunge bis zum Bersten gefüllt

Neunzehnelfzwölfdreizehn

Benommener Kopf, wirbelndes Wasser

Vierzehnfünfzehnsechzehnsiebzehn

Ich rase durch die letzten Sekunden, bis die Ränder der Welt langsam schwarz werden. Ich spüre ein Brennen in der Brust, Sterne explodieren vor meinen Augen, als ich mich hinsetze und die Stoppuhr kontrolliere. 16:56, steht da, aber Zahlen werden immer aufgerundet, das weiß ja jeder.

Ich notiere siebzehn Sekunden in meinem Schreibheft, dann schnell anziehen, ohne mich erst abzutrocknen, denn ich bin spät dran. Die Klamotten kleben an meiner Haut, es juckt.

In der Schule gewinne ich beim Fußball. Wir spielen immer fünf gegen fünf, weil wir in meiner Klasse nur zu zehnt sind. Mein Team sind die Roten, und wir gewinnen mit fünf zu zwei. Ich schieße zwei Tore und hätte auch noch ein drittes gemacht, wäre nicht Jude direkt vor mir über seinen rechten Fuß gestolpert und hätte mich mitgerissen, sodass ich mir grasgrüne Knie geholt hab. Ms Cassidy schreibt das Ergebnis an die Tafel. Die Roten führen in diesem Trimester mit zwei Toren. Es gibt keinen offiziellen Preis für das höchst offizielle Fußballturnier meiner Klasse, aber ich will trotzdem gewinnen, weil das so ein tolles Gefühl ist.

Obwohl es schon Oktober ist und die Sonne jeden Tag ein bisschen früher verschwindet, gehen wir nach der Schule alle zusammen an den Strand. Der Himmel ist schon blauschwarz mit ein paar grauen Wolkenflecken. Trotzdem ist hier wie immer der allerschönste Ort der ganzen Welt. Jeder Tag ist anders. Der halbmondförmige Strand ist eingefasst von Klippen, die übersät sind mit grünem Heidekraut und Stechginster. Das Meer und der Himmel sind immer gleich gekleidet, ob in grauen Samt oder in blaue Seide, in funkelndes Smaragdgrün, tiefschwarzes Obsidian oder geschmolzenes Gold, was so aussieht, als würden Goldmünzen aus einer Schatztruhe quellen. Meer und Himmel strecken sich träge einander entgegen, bis sie sich treffen, dann schieben sie ihre Ränder aneinander. Mal ist die Linie verschwommen, mal messerscharf. Aber sie treffen sich immer. Das Meer hat, wie Dad sagen würde, ein quecksilbriges Temperament. Genau genommen hat er erst ein polnisches Wort benutzt, das wir dann zusammen übersetzt haben. Anschließend haben wir auch die genaue Bedeutung des englischen Begriffs nachgeschlagen, denn unter quecksilbrig konnte ich mir genauso wenig vorstellen wie unter dem polnischen Wort.

Jedenfalls bedeutet es so viel wie launisch sein, aus heiterem Himmel die Stimmung wechseln, so wie das bei mir oft passiert. Manchmal scheint alles ruhig, aber in der Tiefe braut sich schon ein Sturm zusammen. Halima und ich hatten letztes Jahr die gleichen Stimmungsringe. Bei ihr wechselte die Farbe immer ganz gleichmäßig zwischen einem glitzernden Blaugrün und Rosa, mal mehr, mal weniger kräftig, während meiner nicht mit mir Schritt halten konnte. Vielleicht war er auch einfach nur kaputt.

Das Meer ist kalt, aber dafür habe ich meine Lunge und meine Haut ja trainiert. Hinter einer Düne schlüpfe ich schnell in meinen Neoprenanzug, bevor ich mich kopfüber ins Wasser stürze. Dommo steht mit der Stoppuhr am Strand.

Im ersten Moment kommt es mir vor, als wäre mit einem Schlag die ganze Luft aus meiner Lunge gewichen, aber von meinen Übungen in der Badewanne weiß ich, dass dieses Gefühl vorübergeht, dass das Brennen erst zunimmt und sich im Kreis dreht, bevor schließlich nur noch ein leises Hintergrundsummen in meinem Körper übrig ist. Als die ersten Sterne durch mein Gehirn wirbeln, schieße ich mit Gebrüll zurück an die Wasseroberfläche und trinke einen großen Schluck vom Himmel. Ich schwimme weiter, mein Kopf taucht auf und ab, ich trete, werfe mich hin und her, und meine Knochen sind flüssig, während ich durch die Wellen streife.

Ich fühle mich wie ein Teil des Meeres und hebe und senke mich im Einklang mit seinem Atem. Das ist noch besser als ein Sieg im Fußball.

Als meine Beine zu schreien anfangen, überprüfe ich, wie weit ich geschwommen bin. Weiter als zuvor, aber nicht weit genug.

Sechzehn Sekunden kräht Dommo mir zu, und ich bin einerseits enttäuscht, andererseits aber noch in Hochstimmung vom Schwimmen. Ich paddele zurück ans Ufer und spiele Volleyball mit Mo, Jacob und Jude, obwohl die Kälte sich immer noch Schicht um Schicht durch meine Haut gräbt.