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Seinen Platz im Leben finden, sich geborgen fühlen und seiner Selbst bewusst sein. Wer seine Wurzeln kennt, der weiß, was sein Lebensbaum braucht, um in seine ganz eigene Gestalt hineinzuwachsen. Für unser Leben kann das Bild der Wurzeln so zum vielfältigen Symbol werden. Anselm Grün zeigt, wie wir auf unterschiedliche Weise unsere Wurzeln und Identität (wieder) entdecken und sie schützen können. Die Bibel, die Bedeutung unseres Namens, die Lebensphilosophie der Vorfahren oder Rituale zeigen uns, wie wir unseren Platz im Leben finden und wie dieses gelingen kann.
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Seitenzahl: 107
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2012
ISBN 978-3-89680-801-1
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0618-3
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Dr. Thomas H. Böhm
Covergestaltung: Matthias E. Gahr
Covermotiv: Wolfisch / Fotolia.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
Wurzeln
Festen Halt im Leben finden
Vier-Türme-Verlag
EINLEITUNG
Ab dem 1. November eines Jahres – so sagen die Leute, die sich mit Heilkräutern auskennen – dürfe man keine Wurzeln mehr ausgraben. Die Heilkräuter sollen in der stillen Winterzeit mit ihren Wurzeln die heilende Kraft aus dem dunklen Erdreich ziehen. Die Wurzeln brauchen die Stille der Erde, aber auch die mütterliche Kraft, die das Erdreich hervorbringt. Sie wollen in Ruhe gelassen werden, damit sie in der Dunkelheit der Erde Kraft schöpfen können. Ab dem 1. November galten die Wurzeln als etwas Heiliges, das man nicht anrührte, sondern voll Ehrfurcht in der Erde ließ.
Die Biologie sagt uns, dass die Wurzeln einerseits die Pflanze im Boden verankern und andererseits aus der Erde Wasser und darin gelöste Nährsalze aufnehmen, um die Pflanze zu nähren. Die Wurzeln geben aber auch Stoffe in die Erde ab und tun daher auch dem Boden gut.
Die Wurzeln sind zugleich gefährdet. Schadpilze können sie befallen und einen Wurzelbrand oder Wurzelfäule bewirken. Und Wurzelfliegen können den Wurzeln schaden. Im Märchen »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren« muss ein Knabe – das Glückskind einer armen Frau – ein Rätsel lösen. Er muss herausfinden, warum ein Baum, der sonst goldene Äpfel trug, jetzt nicht einmal mehr Blätter hervortreibt. Der Teufel gibt ihm die Lösung: An der Wurzel nagt eine Maus, wenn man die tötet, wird er wieder goldene Äpfel tragen. Nagt sie aber noch länger, so verdorrt der Baum gänzlich.
Was uns die Naturwissenschaft sagt und was das Märchen zum Ausdruck bringt, sind Bilder für unser Leben. Auch unser Lebensbaum hat Wurzeln, die ihn nähren. Aber unsere Wurzeln sind gefährdet durch Schädlinge oder durch eine Maus, die daran nagt. Die Maus steht im Traum immer für Sorgen, die an uns nagen. Und die Maus steht für die Zweifel. Viele zweifeln daran, dass ihre Wurzeln tragen. Sie verbinden mit ihren Wurzeln zu viele negative Erfahrungen, die sie in der Kindheit gemacht haben. Doch wenn wir den Wurzeln nicht trauen, die wir von unseren Vorfahren und die wir von Gott mitbekommen haben, dann werden sie angenagt. Und dann kann unser Lebensbaum keine goldenen Äpfel mehr tragen. Dann verdorrt er.
Die Natur war die erste Lehrmeisterin der Menschen. Die Menschen haben seit jeher in der Natur ein Bild für ihr eigenes Leben gesehen. Das Werden und Vergehen der Natur wurde ein Bild für das Annehmen und das Loslassen, welches das menschliche Leben prägt. Der Mensch wächst nicht nur heran –er wächst in die Gestalt hinein, die Gott ihm zugedacht hat –, wenn er sich annimmt und immer wieder loslässt.
Die Heilkräuter waren für die Menschen auch ein Symbol für ihre eigene Menschwerdung. Die Königskerze beispielsweise vermittelte ihnen etwas von ihrer Würde als Mensch. Die Rose verwies sie auf das Geheimnis der Liebe, das in ihrem Inneren ist. Und die Wurzeln der Heilkräuter und die Wurzeln der Bäume und Sträucher wurden zum Symbol für das eigene Leben.
Die Menschen wussten, dass sie gute Wurzeln brauchen, damit ihr Lebensbaum aufblühen kann und damit das Heilende in ihnen Nahrung findet. Aber ihnen war auch bewusst, dass ihre Wurzeln gefährdet sind. Wir Menschen können uns selbst zerstören, wenn wir nur um die eigenen Probleme kreisen. Aber auch Schädlinge von außen – etwa die Kränkungen, die uns Menschen antun – können diese Wurzeln schädigen. Heute ist es auch die Mobilität, die an unseren Wurzeln nagt. Wer zu oft seinen Wohnsitz wechselt, wer an keinem Ort Heimat findet, der tut sich auch schwer mit seinen Wurzeln. Er hat das Gefühl, keine Wurzeln zu haben. Er muss sich immer wieder an den jeweiligen Ort anpassen. Aber es fehlen ihm die Wurzeln, die ihn nähren und stärken.
Daher glaubten die Menschen der Frühzeit, dass Wurzeln eine schützende Zeit brauchen, damit sie heilende Kraft aus der Erde ziehen können. Diese schützende Zeit ist die Zeit vom 1. November bis zum 2. Februar. In diesen drei Monaten gehören die Wurzeln der Mutter Erde. Für uns Christen ist dies eine Ermutigung, dass wir uns in dieser Zeit in der Stille Gott anvertrauen, damit er unsere Wurzeln stärke und reinige.
Die frühe Kirche hat die Sehnsüchte der Menschen aufgegriffen, die diese mit der Natur verbanden. Sie hat auf den 1. November das Fest Allerheiligen gesetzt, damit wir in den Heiligen unsere Wurzeln finden, und auch des Namens gedenken, den wir tragen. Und sie hat auf den 2. November das Fest Allerseelen gelegt, damit wir in unseren Verstorbenen unsere Wurzeln entdecken.
Unsere menschlichen Wurzeln liegen in der Geschichte unserer Vorfahren. Beide Feste antworten auf jene Sehnsüchte, die die Menschen in früheren Zeiten mit den Wurzeln verbunden haben. Die Zeit vom 1. November bis zum 2. Februar ist eine besondere Schutzzeit für unsere Wurzeln. Die Zeit bis zum 2. Februar war für die Römer die Zeit, in der sie die Tochter der Ceres, der Göttin des Wachstums, in der Unterwelt wussten. So war dies die Zeit, in der das Wachstum unter der Erde besonders gesegnet war. In dieser Zeit ist es wichtig, dass wir uns an unsere Wurzeln erinnern und mit ihnen in Berührung kommen.
Als ich über die Wurzeln nachgedacht habe, sind mir viele Aspekte eingefallen: Zum einen gibt es die Sehnsucht vieler Menschen, für ihre Familie einen Stammbaum aufzustellen. Sie haben ein Interesse daran, zu erfahren, wer und was ihre Vorfahren waren. Ich spüre sowohl in meiner eigenen Verwandtschaft als auch im Gespräch mit anderen Menschen, dass viele heute bewusst in den Taufregistern der Dörfer und Städte nach ihren Vorfahren suchen, um zu recherchieren, wer sie waren und wie sie gelebt haben.
Zum anderen fiel mir das Wort eines Psychologen ein, der meint, die Depressionen hätten häufig in der Wurzellosigkeit ihre Ursache. Viele Menschen haben heute ihre Wurzeln verloren. Sie sind sich ihrer Wurzeln nicht bewusst. Sie versuchen, nur in der Gegenwart zu leben, ohne ihre Vergangenheit zu reflektieren. Sie sind gleichsam von der Vergangenheit abgeschnitten. Wer aber seine Wurzeln nicht kennt, der weiß nicht, was sein Lebensbaum braucht, um in seine Gestalt hinein zu wachsen. Und mir fielen viele biblische Stellen ein, die von den Wurzeln handeln. So möchte ich meine Gedanken über unsere Wurzeln mit einem Blick in die Bibel beginnen.
WURZELN IN DER BIBEL
Die Bibel spricht oft von den Wurzeln, um den Menschen zu beschreiben. Wenn der Mensch sich in der Erde verwurzelt, kann sein Lebensbaum Frucht tragen.
Gerade in der Hitze und Trockenheit Palästinas ist die Pflanze auf die Wurzeln angewiesen. Die Wurzeln verleihen Halt und Beständigkeit. Doch es kommt auch auf den Boden an, in den die Wurzeln eingepflanzt sind. Der gute Boden ist für die Bibel der Boden der Gerechtigkeit, in den Gott den Menschen einpflanzt und in den Gott auch das Volk Israel eingepflanzt hat. Es gibt aber auch Menschen, deren Wurzeln nur scheinbar tief im Boden verankert sind. Ihre Wurzeln wachsen jedoch nicht tief in den Boden, sondern diese Menschen krallen sich mit ihren Wurzeln an Steinen fest.
Alles nützt nichts, wenn diese Menschen gegen Gott rebellieren. Dann reißt sie Gott samt ihrer Wurzel heraus. So heißt es zum Beispiel im Alten Testament im Buch Hiob:
Der Ruchlose (...) steht im Saft vor der Sonne, seine Zweige überwuchern den Garten, im Geröll verflechten sich seine Wurzeln, zwischen den Steinen halten sie sich fest. Doch Gott tilgt ihn aus an seiner Stätte, sie leugnet ihn: Nie habe ich dich gesehen.
Hiob 8,16–18
Ein anderes Bild beschreibt den Frevler so:
Von unten her verdorren seine Wurzeln, von oben welken seine Zweige.
Hiob 18,16
Wer seine Wurzeln verleugnet, der schneidet sich selbst vom Leben ab. Die Bibel ist überzeugt, dass uns auch das destruktive Verhalten – dafür steht der Ausdruck Frevler – von unseren gesunden Wurzeln abschneidet. Wir verhalten uns nicht so, wie es unseren Wurzeln, wie es unserem Wesen entspricht.
Hiob hatte von sich geträumt, dass seine Wurzeln bis an das Wasser reichen. (Vgl. Hiob 28,19) Das ist ein Bild des fruchtbaren und gelingenden Lebens. Ähnlich heißt es im Buch der Sprichwörter vom gerechten Menschen:
Wer Unrecht tut, hat keinen Bestand, doch die Wurzel der Gerechten sitzt fest.
Sprichwörter 12,3
Eine feste Wurzel, die dem Stamm Halt gibt und ihn mit dem nötigen Lebenssaft versorgt, ist Bild für einen Menschen, der richtig lebt, der sich nach Gottes Weisung ausrichtet und so seinem Wesen gerecht wird. Die feste Wurzel beschreibt einen Menschen, dessen Leben Frucht bringt und der zum Segen für andere wird. Die Psalmen vergleichen das Volk Israel mit einem Weinstock, den Gott eingepflanzt hat:
Du schufst ihm weiten Raum; er hat Wurzeln geschlagen und das ganze Land erfüllt.
Psalm 80,10
Israel hat tiefe Wurzeln geschlagen, doch weil es sich gegen Gott verfehlt hat, wurde sein Weinstock verwüstet, sein Baum abgeschlagen. Gott gibt dem Volk eine neue Verheißung:
Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Jesaja 11,1
Israel sah in diesem Vers die Verheißung des kommenden Messias. Von ihm heißt es:
An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Zeichen für die Nationen; die Völker suchen ihn auf; sein Wohnsitz ist prächtig.
Jesaja 11,10
Der Prophet Jesaja ist überzeugt, dass das Heil nicht einfach aus einem prachtvollen Baum herauswächst. Es sind gerade die Brüche und die abgehauenen Bäume, aus deren Wurzeln das Heil entspringt. Das ist eine Verheißung auch für unser Leben. Auch wenn manches in die Brüche geht, so bleiben doch unsere Wurzeln in der Erde. Aus ihnen kann immer wieder neues Heil entstehen.
Der Messias, der uns Heil bringt, ist zugleich ein Bild für unser Leben: Gerade in jenen Situationen, in denen etwas in uns abgeschnitten wird, kann aus der Wurzel etwas Neues entstehen. Umso wichtiger ist es, die Wurzeln in der Erde zu belassen und sie zu schützen. In ihnen steckt die Verheißung, dass auch in uns immer wieder etwas Neues aufblühen kann. Was die Bibel mit dem Bild des Messias, der aus dem abgeschnittenen Wurzelspross hervorgeht, beschreibt, das erlebe ich immer wieder in der geistlichen Begleitung. Da begegne ich Menschen, die eine schwierige Kindheit hatten. Aber sie bewältigen ihr Leben trotzdem. Offensichtlich haben sie tiefe Wurzeln, aus denen sie selbst in dürren Wüstenzeiten ihre Lebenskraft beziehen können.
Eine afrikanische Geschichte zeigt, dass gerade die Schwierigkeiten und Verletzungen von außen uns manchmal zwingen, unsere Wurzeln tiefer zu graben. Die Geschichte erzählt von einem bösen Mann, der einer jungen Palme einen schweren Stein auf ihre Krone setzte, um ihr zu schaden. Doch als er nach Jahren wieder kam, war ausgerechnet diese Palme die größte und schönste unter allen Palmen. Denn der Stein hatte sie gezwungen, ihre Wurzeln tiefer zu graben.
Wer von außen verletzt wird, entwickelt oft die Energie, seine Wurzeln nicht nur in die Tiefe seiner Geschichte hineinzugraben, sondern noch tiefer, in den Wurzelgrund Gottes. Er durchbricht die rein psychologische Ebene. Seine Wurzeln graben sich tief in die göttliche Ebene hinein. Dort erhält er eine Kraft, die seinen Baum höher und schöner wachsen lässt als andere.
Der Stammbaum Jesu
Die christliche Kunst hat den Stammbaum Jesu, die Wurzel Jesse, gerne dargestellt: Aus dem liegenden, meist schlafenden Jesse, dem Vater Davids, wächst ein mächtiger Baum heraus. In seinen Ästen und Verzweigungen befinden sich die jüdischen Könige der salomonischen Linie in Halbfiguren, manchmal ergänzt durch die Propheten und durch die Stammeseltern Adam und Eva. Bekrönt wird der Baum entweder von Christus – dem Salvator mundi, dem Weltenretter – oder aber auch von Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm.
In der Wurzel Jesse haben die Menschen nicht nur ein Bild für die Herkunft Jesu gesehen, sondern auch ein Bild für sich selbst. Jeder Mensch hat in seinen Vorfahren ähnliche Wurzeln. Jeder Mensch hat einen Stammbaum. Die Darstellung der Wurzel Jesse erinnert uns an unsere eigenen Wurzeln, aus denen wir entsprossen sind.