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Tief unter der Erde lauert eine Kreatur, die von der Welt verbannt wurde. Die Bedrohung, die sie für die Menschheit darstellt, überdauert Generationen. Und wenn sie das nächste Mal zur Oberfläche durchbricht, wird das Blut ihrer Opfer in Strömen fließen ... Wolfgang Hohlbein hat mit »Wyrm« ein unvergängliches Meisterwerk erschaffen.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96441-8
© 2013 Piper Verlag GmbH, München Erstausgabe: 1997 Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagmotiv: Andrea Barth, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
01
Genau genommen war es ein Zufall, der Joffrey Coppelstones Leben so gründlich und auf so radikale Weise ändern sollte; nicht mehr als ein kleines Missgeschick und noch dazu eines, das nicht einmal ihm selbst widerfahren war. Verglichen mit den Ereignissen, die folgen sollten, war die ungeschickte Bewegung, mit der Steve Waiden, Coppelstones Mitarbeiter und Untergebener, vor zwei Tagen aus dem Bett aufgestanden war, um sich auf diese Weise den Knöchel des linken Fußes zu verstauchen, nicht einmal der Rede wert. Und doch: So wie schon die flüchtige Berührung eines kleinen Fingers ausreicht, um den ersten einer endlosen Reihe hintereinander aufgestellter Dominosteine umzustoßen und damit eine Katastrophe auszulösen, so sollte Waidens Fehltritt letztlich eine Lawine von Ereignissen auslösen, die an ihrem Ende Coppelstones Leben und das vieler anderer überrollte und in einen Scherbenhaufen verwandelte.
Natürlich ahnte er von alldem nichts, als er an diesem Morgen den von Süden kommenden Highway gerade in dem Moment verließ, als sich die ersten Streifen von Rot in die verblassende Dämmerung mischten. Er lenkte seinen Wagen auf eine schmale Seitenstraße, die weder eine Randbefestigung noch irgendwelche Markierungen aufwies und darüber hinaus ebenso viele Schlaglöcher wie Kurven hatte. Dummerweise verlief sie alles andere als gerade.
Das schwarze Teerband wand sich in zahllosen Kehren, Windungen, Schleifen und Kurven in westlicher Richtung vom Highway weg, in sanfter Neigung abfallend und – soweit man bei diesem willkürlichen Hin und Her überhaupt von einer Richtung sprechen konnte – tiefer in die von der Zivilisation noch fast unberührten Wälder hinein, die diesen Teil Neuenglands dominierten.
Coppelstone fuhr einen ausgezeichneten Wagen – einen fast neuen Ford Modell T, dessen Federung den letzten Erkenntnissen der Ingenieurskunst Rechnung trug. Trotzdem sprang und hüpfte der Wagen so wild durch die Schlaglöcher und Spalten, dass seine Zähne immer wieder schmerzhaft aufeinanderschlugen. Die ehedem pedantisch sortierten Papiere, die er auf den Beifahrersitz aufgestapelt hatte, hatten sich längst selbstständig gemacht und sich im gesamten Wageninneren verteilt, und seit einigen Minuten glaubte er unter dem beruhigenden Brummen des Motors und dem regelmäßigen Quietschen der Federn noch ein anderes, störendes Geräusch zu hören: ein metallenes Klappern, das immer lauter wurde. Irgendetwas war im Begriff auseinanderzufallen. Und was der Staub und die hochgewirbelten Steinchen und Teerpartikel dem noch fast neuen Lack antun mochten, daran wagte er gar nicht zu denken. Der Ford hatte noch nicht einmal vierhundert Meilen auf dem Tacho, aber nach dieser Fahrt würde er vermutlich aussehen, als wären es vierzigtausend.
Das allein war aber nicht der Grund, aus dem sich Coppelstones Laune im gleichen Maße weiter verschlechterte, in dem er sich seinem Ziel näherte. Was ihn mindestens ebenso sehr störte wie die diversen Beschädigungen, die an seinem Wagen entstehen mochten, das war die Straße selbst; und der bloße Umstand seiner Anwesenheit in dieser gottverlassenen Gegend. Coppelstone war ein Stadtmensch aus tiefster, ehrlicher Überzeugung heraus. Er liebte die Zivilisation, die Städte mit ihren Menschen, ihren Geschäften und Lichtern, ihrem pulsierenden Leben und all ihren Annehmlichkeiten, und im Gegenzug verabscheute er die Unordnung und das Chaos, in das er tiefer und tiefer hineinfuhr. Allein diese Straße war eine glatte Beleidigung seines Gefühles für Ordnung und Ästhetik. Und am schlimmsten war: Sie stimmte nicht mit der Karte überein.
Aber um das in Ordnung zu bringen, war er schließlich hier.
Der Wagen rumpelte durch ein weiteres Schlagloch, das diesmal tief genug war, den Ford wie ein Boot in stürmischer See auf die Seite zu kippen und mit einem magenumdrehenden Schlag wieder in die Waagerechte zurückfallen zu lassen, und damit nicht genug, wurde Coppelstone durch den unerwarteten Ruck so heftig nach vorne geschleudert, dass er gegen das Lenkrad prallte und halb benommen in den Sitz zurückfiel. Sein Fuß rutschte vom Gaspedal. Der Wagen rollte noch ein paar Yards weiter und kam mit einem neuerlichen, wenn auch nicht annähernd so harten Ruck zum Stehen. Der Motor ging aus.
Für die Dauer von fünf oder auch zehn hämmernden Herzschlägen blieb Coppelstone einfach mit geschlossenen Augen sitzen und wartete darauf, dass der Schmerz in seinem Gesicht nachließ. Er war mit dem Nasenrücken aufs Lenkrad aufgeschlagen, und dem brennenden Pochen nach zu schließen, das sich über seine gesamte obere Gesichtshälfte bis zum Scheitel hinauf zog, hätte seine Nase eigentlich heftig bluten müssen. Als er jedoch die Augen öffnete und mit den Fingerspitzen behutsam nach der schmerzenden Stelle tastete, fühlte er nichts. Und eine zweite, etwas gründlichere Untersuchung ergab, dass auch seine Nase offensichtlich nicht gebrochen war. Allerdings hatte er das Gefühl, dass sie bald zu mindestens doppelter Größe anschwellen würde.
Coppelstone tastete mit beiden Händen seinen Körper ab und überzeugte sich mit einem Blick davon, dass er auch tatsächlich ohne – zumindest sichtbare – Verletzungen davongekommen war, dann öffnete er den Wagenschlag und kletterte umständlich hinaus.
Sein Automobil schien sehr viel weniger glimpflich davongekommen zu sein als er. Der Ford stand annähernd quer zur Fahrtrichtung und tatsächlich schräg wie ein gestrandetes Schiff. Der linke, ihm zugewandte Kotflügel hatte eine üble Delle abbekommen, und der Lack, der vor einer Stunde noch wie poliertes Ebenholz geglänzt hatte, war nun stumpf und wies zahllose mehr oder weniger deutliche Kratzer auf. Der Anblick traf Coppelstone nicht nur wie ein Messerstich in die Brust, er erfüllte ihn für einen kurzen Moment mit einem Groll auf Waiden, der fast an Hass grenzte. Ihm allein hatte er es zu verdanken, dass er hier war. Es wäre Waidens Aufgabe gewesen, hierher zu fahren und Morrison endlich zur Vernunft zu bringen, nicht seine. Stattdessen hatte er es vorgezogen, sich den Fuß zu verstauchen und …
Coppelstone begriff selbst, wie absurd dieser Gedanke war, und brach ihn gewaltsam ab. Statt hier herumzustehen und sich selbst leidzutun, sollte er seine Energie lieber darauf verwenden, möglichst rasch einen Ausweg aus dieser misslichen Lage zu finden.
Er umkreiste den Wagen, und als er seine andere Seite erreichte, sank sein Mut noch weiter.
Unmittelbar vor ihm war die Straße geborsten. Es war kein Schlagloch, wie es sie hier buchstäblich zu Tausenden gab, sondern ein gut handbreiter Riss, der die Straße nahezu auf voller Breite spaltete. Das rechte Vorderrad des Wagens war in diesen Spalt eingesunken, und aufgrund des Winkels, in dem es dastand, vermutete Coppelstone, dass die Feder, möglicherweise sogar die Achse, gebrochen war.
Prüfend rüttelte er am Rad. Der gesamte Ford geriet ins Schaukeln, doch das Rad war unverrückbar in den Spalt im Straßenbelag festgeklemmt. Trotzdem ließ er sich noch ein zweites Mal in die Hocke sinken, griff mit beiden Händen zu und zerrte mit aller Gewalt daran. Coppelstone war alles andere als ein Schwächling. Trotz seiner Vorliebe für die Zivilisation und die Annehmlichkeiten des modernen Lebens achtete er pedantisch auf seine Gesundheit und darauf, stets genug Sport zu treiben, um in einer guten Verfassung zu sein. Allerdings waren seine Kräfte in diesem Fall hoffnungslos überfordert. Selbst als er den Wagenheber zu Hilfe nahm, gelang es ihm nicht, das eingekeilte Fahrzeug zu befreien. Einziges Ergebnis seiner Bemühungen war, dass seine angeschlagene Nase nun doch zu bluten begann. Missmutig zog er sein Taschentuch aus der Jacke, presste es gegen die Nase und wartete, bis sie zu bluten aufgehört hatte.
Es dauerte nicht lange, doch die Zeit reichte immerhin, dass Coppelstone sich beruhigte und zu einer zumindest einigermaßen objektiven Einschätzung seiner Lage gelangte. So ärgerlich das Missgeschick auch sein mochte, das ihm widerfahren war – seine Situation war unangenehm, aber mehr auch nicht. Bis zu Morrisons Farm war es ein Fußmarsch von gut zehn Minuten, und dort würde er Hilfe finden.
Coppelstone bedachte das eingeklemmte Rad mit einem letzten, ärgerlichen Blick, dann richtete er sich auf, nahm in der gleichen Bewegung das blutgetränkte Taschentuch vom Gesicht und warf es angewidert fort. Seine Nase blutete nun nicht mehr, aber sie schmerzte schlimmer denn je. Möglicherweise war er gut beraten, wenn er nach seiner Rückkehr in die Stadt einen Arzt aufsuchte. Es schien zwar nur eine harmlose Verletzung zu sein, aber man konnte nie wissen.
Er umkreiste den Wagen ein zweites Mal, öffnete die Beifahrertür und begann seine Papiere vom Boden aufzusammeln, wobei er leise vor sich hin fluchte. Als er damit fertig war, trat er gebückt einen Schritt nach hinten, um sich nicht zu allem Überfluss noch den Hinterkopf an der Tür zu stoßen, war aber dabei so ungeschickt, dass ihm einige seiner gerade erst zusammengesuchten Papiere wieder entglitten und zu Boden fielen. Coppelstone fluchte erneut und noch lauter und bückte sich hastig, und die abrupte Bewegung war offensichtlich zu viel für seine Nase: Ein einzelner Blutstropfen lief hinaus und fiel zu Boden.
Und verschwand.
Coppelstone blinzelte. Er hatte den Weg des Blutstropfens aufmerksam verfolgt, weil er fürchtete, er könnte eines seiner Blätter treffen und einen hässlichen Fleck darauf hinterlassen, doch er hatte das Blatt verfehlt und hätte eigentlich auf dem schwarzen Asphalt deutlich sichtbar sein müssen. Aber er war es nicht. Der Teer hatte den Tropfen aufgesaugt wie ein Schwamm. Vorsichtig tastete Coppelstone mit den Fingerspitzen danach und stellte eine zweite Besonderheit fest: Der Teer fühlte sich nicht an, wie er sollte. Er sah aus, als wäre er hart und körnig, mit unzähligen winzigen spitzen Einschlüssen durchsetzt, die das Gehen darauf, vor allem an heißen Tagen, sehr unangenehm machen mussten, und er fühlte sich definitiv ganz anders an, als er es gewohnt war. Weich und trotzdem fest, fast samtig, ja … beinahe lebendig.
Die Vorstellung machte Coppelstone aus irgendeinem Grunde Angst, sodass er den Gedanken hastig verscheuchte und sich wieder aufrichtete. Da seine Nase immer noch blutete, ging er wieder zur anderen Seite des Wagens zurück und suchte nach dem Taschentuch, das er vielleicht ein wenig vorschnell weggeworfen hatte.
Er fand es nicht.
Er hatte das Tuch einfach hinter sich geschmissen, weshalb er nicht genau sagen konnte, wo es liegen musste, aber auf dem schwarzen Teerband hätte es eigentlich sofort auffallen müssen. Doch obwohl er sehr aufmerksam danach suchte, blieb es verschwunden. Dafür gewahrte er eine andere Besonderheit, die ihm bisher noch gar nicht aufgefallen war: Die Straße, die sich in so sinnlosen Kehren und Schleifen durch das Gelände wand, befand sich in einem mehr als erbärmlichen Zustand. Die Schlaglöcher waren teilweise so tief, dass man einen ausgewachsenen Schäferhund darin hätte verstecken können, und einige der Risse und Spalten hatten vergleichbare Dimensionen. Auch die Straßenränder waren abgebröckelt und rissig – aber nirgends war auch nur ein einziger Grashalm zu sehen. Kein Grün. Nicht ein einziger Pilz, nicht das winzigste Fleckchen Moos.
Ein sehr sonderbares Gefühl begann von Coppelstone Besitz zu ergreifen. Wenn es etwas gab, wovon er etwas verstand, dann waren es Straßen. Er hatte oft genug gesehen, was die Natur einer von Menschenhand geschaffenen Straße anzutun vermochte, und er wusste auch, dass sie manchmal in nur wenigen Jahren gewaltige Konstruktionen aus Beton und Stahl zu zerstören imstande war, von denen ihre Konstrukteure behaupteten, sie seien für die Ewigkeit gemacht. Was ihn verblüffte, war somit keineswegs das Ausmaß der Zerstörung, die er sah. Es war die vollkommene Abwesenheit der Kraft, die für diese Verheerung normalerweise verantwortlich war. Er hatte Straßen aus anderthalb Fuß dickem Teer gesehen, die von einem harmlosen Grashalm gesprengt worden waren, und winzige Pilze, die sich beharrlich durch anderthalb Meter dicken Boden gewühlt hatten.
Hier war nicht die geringste Spur von Leben zu sehen.
Mehr noch: Als er den Straßenrand genauer in Augenschein nahm, fiel ihm auf, dass es auch dort keinerlei Vegetation gab. Bäume und Unterholz wucherten bis auf eine Distanz von vielleicht einem Yard an das schwarze Teerband heran, dann jedoch waren nur noch einige kümmerliche Moose und Flechten zu sehen und ein paar vereinzelte Grashalme. Ein gut handbreiter Streifen Boden unmittelbar neben der Straße schließlich war vollkommen kahl.
Coppelstones Laune verdüsterte sich noch mehr, als ihm schlagartig die Erklärung für dieses vermeintliche Rätsel einfiel. Als Kartograf und ausgebildeter Ingenieur für Straßenbau wusste er natürlich, dass es in der Vergangenheit verschiedene Versuche gegeben hatte, dem Straßenbelag gewisse Chemikalien beizumengen, die ebenjenen zerstörerischen Effekt verhindern sollten, indem sie alles Lebendige abtöteten. Diese Experimente waren jedoch sehr rasch wieder eingestellt worden, als sich herausstellte, dass der Nutzen gleich null und die Nebenwirkungen geradezu katastrophal waren; von den Kosten ganz zu schweigen. Offensichtlich befand er sich hier genau auf einem dieser fehlgeschlagenen Experimente. Seltsam war nur, dass er nichts davon wusste.
Aber schließlich war diese ganze Straße irgendwie seltsam.
Coppelstone verscheuchte auch diesen Gedanken, richtete sich endgültig auf und machte sich auf den Weg zu Morrisons Farm.
02
Ungefähr eine Stunde später war seine Laune nicht mehr auf dem Nullpunkt, sondern um etliches darunter angelangt. Natürlich hatte er eingehend die Karte studiert, bevor er am frühen Morgen aus Providence aufgebrochen war, und war daher der Meinung, höchstens noch zehn Minuten bis zu Morrisons Farm zu brauchen, selbst wenn er sich nicht allzu sehr beeilte. Die Farm war jedoch bisher nicht einmal in Sichtweite, obwohl er immer rascher ausschritt.
Es musste an dieser Straße liegen. Ihr Zustand hatte sich während der zweiten Hälfte seines unfreiwilligen Spaziergangs merklich gebessert, aber sie schlängelte sich immer noch in sinnlosen Kehren und Schleifen dahin, sodass er sich seinem Ziel wahrscheinlich kaum näherte, sondern die meiste Zeit in irgendeine Richtung ging, nur nicht in die, in die er wollte. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt den Weg abzukürzen und in direkter Richtung nach Westen durch den Wald zu marschieren, diese Idee jedoch nach einem einzigen Blick auf die fast undurchdringliche Wand aus wucherndem Grün und Braun beiderseits der Straße rasch wieder verworfen. Morrisons Farm lag gute drei Meilen von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt. Wenn er sie verfehlte, würde er möglicherweise stundenlang durch diese undurchdringlichen Wälder irren.
Er marschierte eine weitere halbe Stunde mit wachsendem Zorn – in den sich auch ein immer größerer Anteil von Furcht mischte, den er sich nur noch nicht eingestehen wollte – durch den Wald, und er begann sich in dieser Zeit immer ernsthafter zu fragen, ob er sich möglicherweise wirklich verirrt haben könnte. Selbst wenn er nur mit einem Bruchteil des veranschlagten Tempos vorwärtskam, hätte er Morrisons Farm längst erreicht haben müssen. Nun war Joffrey Coppelstone nicht nur von Beruf, sondern auch aus Berufung und tiefster Überzeugung heraus Kartograf – Karten, Straßen und topografische Aufzeichnungen waren sein Leben, und die Vorstellung, dass er – ausgerechnet er! – sich verirrt haben könnte, war ihm zutiefst zuwider. Trotzdem konnte er die Möglichkeit nicht ganz von der Hand weisen.
Gerade als er so weit war, sie nicht nur als möglich, sondern als mittlerweile wahrscheinlich zu akzeptieren, lichtete sich der Wald, und Morrisons Farm tauchte vor ihm auf.
Der Anblick war so verblüffend, dass Coppelstone mitten in der Bewegung verharrte und eine geschlagene Minute lang verblüfft auf das Bild hinabsah, das sich ihm darbot.
Es gab keinen Zweifel, dass es tatsächlich Morrisons Farm war. Sie lag genauso da, wie Waiden sie ihm beschrieben hatte: eine Ansammlung von zwei großen und mehreren kleinen, allesamt schon recht schäbigen Gebäuden, die sich am Grunde eines schmalen, schnurgerade verlaufenden Tales drängelten. Die vorherrschenden Farben schienen einmal Rot und Weiß gewesen zu sein, waren aber im Laufe der Jahre zum größten Teil abgeblättert, sodass man aus der Entfernung kaum noch Einzelheiten erkennen konnte, sondern nur noch ein fast amorphes Durcheinander ineinander fließender Umrisse und Farben. Das Auffälligste an der Farm war das große Getreidesilo, das für diese Gegend nicht nur völlig untypisch, sondern auch viel zu groß erschien, wodurch es die gesamte Anlage wie ein überdimensionaler Wachturm überragte. Alles war genauso, wie Waiden es ihm beschrieben hatte. Fast alles.
Wovon Waiden nichts gesagt hatte, das war der mehr als mannshohe Erdwall, der die gesamte Farm umgab.
Coppelstone starrte verblüfft auf das erstaunliche Gebilde. Der Wall, der perfekt gleichmäßig geformt war, bildete einen nahezu geschlossenen Kreis rings um die Farm, der das Tal fast zur Gänze blockierte. Sein Durchmesser musste weit mehr als hundert Yards betragen, was bedeutete, dass sein Umfang nahezu eine halbe Meile ausmachte. Er konnte sich schwerlich vorstellen, dass Waiden einfach vergessen haben sollte ihm davon zu erzählen. Andererseits konnte dieses Gebilde auch unmöglich neu sein – und Waiden war in letzter Zeit schon mehrmals durch gewisse Unzuverlässigkeiten aufgefallen. Er beschloss, unmittelbar nach seiner Rückkehr noch einmal eingehender mit seinem Assistenten über dieses Versäumnis zu reden, und setzte seinen Weg ins Tal hinab fort.
Allerdings erwies sich dieses Unternehmen als gar nicht so einfach, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Der Wald endete zwar zu beiden Seiten des Tales auf dem Grat und die sanft abfallenden Hänge waren nur spärlich bewachsen, aber die Straße wurde auch immer schlechter. Die Schlaglöcher erreichten bald eine Tiefe von einem Meter oder mehr, und die Risse waren keine Risse mehr, sondern Gräben, über die er mehr als einmal nur mit gewagten Sprüngen hinwegsetzen konnte.
Schließlich verschwand die Fahrbahn ganz. Vor ihm lagen jetzt nur noch einige fast formlose, nicht mehr miteinander verbundene Teerflecke, die keinem erkennbaren Muster mehr folgten. Selbst wenn er diese ärgerliche Wagenpanne nicht gehabt hätte, wäre er mit dem Ford auf diesem Weg nicht bis zur Farm gekommen.
Da es nun keinen Weg mehr gab, dem er folgen konnte, visierte er den einzigen Durchgang in dem Erdwall rings um die Farm an und marschierte in direkter Linie darauf zu. Er kam allerdings immer noch nicht annähernd so schnell vorwärts, wie er wollte, denn der Hang war mit zwar meist nur kniehoher, aber sehr dichter Vegetation bewachsen. Manchmal waren Büsche und Unterholz so ineinander verfilzt, dass es einer Machete bedurft hätte, um hindurchzukommen, und er traf immer wieder auf große Ansammlungen eines zähen, mit spitzen Dornen bewehrten Gebüschs, dem er lieber im großen Bogen aus dem Weg ging. Obwohl er auf seinem Weg nach unten so vorsichtig wie nur möglich war, war seine gesamte Erscheinung vollkommen derangiert, als er die Lücke im Erdwall endlich erreichte.
Er blieb noch einmal stehen und versuchte seine Kleider in Ordnung zu bringen, mit allerdings höchst mäßigem Erfolg. Hemd und Jacke waren vollkommen verdreckt, und in seiner Hose entdeckte er zu seinem großen Ärger einen gezackten Riss, den er nach seiner Rückkehr nach Providence wohl für viel Geld würde kunststopfen lassen müssen. Trotzdem tat er, was er konnte, um seine Erscheinung wenigstens einigermaßen in Ordnung zu bringen. Schließlich war er eine Amtsperson und in einer hochoffiziellen Mission hier, und es war seinem Anliegen sicher nicht von Nutzen, wenn er wie ein abgerissener Bettler vor Morrison trat.
Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war und aufsah, erblickte er eine Gestalt, die unter der Tür eines der beiden größeren Gebäude stand und zu ihm herübersah. Obwohl die Entfernung zu groß war, um viele Einzelheiten zu erkennen, wusste er sofort, dass er Morrison gegenüberstand, dem Besitzer der Farm. Waiden hatte ihm ihn hinlänglich beschrieben. Der Mann war ein Krüppel. Seine verwachsene Gestalt war trotz der großen Entfernung deutlich zu erkennen, und er hielt ein Schrotgewehr in den Armen. Auch das war etwas, was er von Waiden wusste: Morrison verließ das Haus niemals ohne seine Waffe.
Coppelstone klemmte sich seine Papiere unter den linken Arm, straffte sich und marschierte hoch aufgerichtet und mit energischen Schritten los. Von Waiden wusste er, dass Morrison schwierig war, aber manchmal genügte bei diesen einfachen Leuten vom Lande schon ein energisches Auftreten und ein selbstbewusster Habitus, um den Großteil aller Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.
Während er näher kam, blickte ihm Morrison wort- und reglos entgegen, und Coppelstone seinerseits unterzog die verwachsene Gestalt einer zweiten, eingehenderen Musterung. Morrison war wirklich sonderbar – Coppelstone erinnerte sich jetzt, dass Waiden das Wort unheimlich benutzt hatte, und obwohl er mit solcherlei Attributen normalerweise höchst vorsichtig umging, konnte er ihm in diesem Fall nur beipflichten.
Dabei konnte er – mit Ausnahme des Gesichts, das ein reiner Albtraum war – nicht einmal genau sagen, welcher Art seine Verkrüppelung war. Er hatte zwei Arme, zwei Beine und an jeder Hand fünf Finger, doch seine gesamte Gestalt schien irgendwie … verschoben, als hätte jemand eine menschliche Gestalt aus Lehm geformt und anschließend ein paarmal kräftig auf den Boden gestaucht, sodass zwar alles da, aber irgendwie nicht mehr ganz an seinem üblichen Platz und irgendwie auch nicht mehr richtig proportioniert war. Morrisons linke Hand zum Beispiel war wesentlich dicker als die rechte, die Finger kürzer und plumper, und seine Schultern bildeten keine gerade Linie, sondern fielen steil zu einer Seite ab. Sonderbarerweise konnte Coppelstone nicht sagen, zu welcher – es schien immer gerade die zu sein, die er ansah, als befände sich seine gesamte Gestalt in unentwegter Bewegung, die noch dazu von der Blickrichtung seiner Augen abhängig war. Auch mit seinen Beinen stimmte etwas nicht. Entweder er trug einen dicken Verband unter der Hose, oder sein rechtes Knie war so unförmig angeschwollen, dass es den zerschlissenen Stoff beinahe zu sprengen drohte.
Dies alles aber war nichts im Vergleich zu seinem Gesicht. Seine rechte Hälfte war verwachsen: Stirn und Augenbraue schienen ein gutes Stück nach unten gerutscht zu sein und dabei an Größe zugenommen zu haben, doch wo das Auge, die Nasenflügel und der rechte Mundwinkel sein sollten, wucherte ein Fladen aus rotem, nässendem Fleisch, dessen Ausläufer bis über das Ohr hinauf- und so weit am Hals hinunterwuchsen, dass sie im Kragen der schäbigen schwarzen Jacke verschwanden. Das Haar auf dieser Seite des Schädels war dünn und strähnig, und an vielen Stellen schimmerte die nackte, wie es schien, entzündete Kopfhaut durch. Morrisons linke Gesichtshälfte war vollkommen unversehrt. Wäre die rechte Hälfte anders gewesen, so hätte Morrison vermutlich sogar gut ausgesehen: ein kräftiges, markantes Gesicht, in das die Jahre und die Witterung ihre Spuren gegraben hatten, ohne ihm indes wirklich etwas anhaben zu können. So aber schien die Unversehrtheit dieses halben Antlitzes die Verwüstungen auf der anderen Hälfte nur noch zu betonen.
»Hams mich jez lang genuch anestarrt?«, fragte Morrison.
Coppelstone fuhr spürbar zusammen. Morrisons Stimme hatte einen schrillen, unangenehmen Klang, und seine Art zu sprechen erschien sehr mühsam; als setzten sich die Verwachsungen auch im Inneren seines Körpers fort, sodass seine Stimmbänder nicht mehr mit der gewohnten Mühelosigkeit funktionierten, sondern zu jedem einzelnen Wort gezwungen werden mussten. Außerdem hatte er natürlich recht: Coppelstone begriff plötzlich, dass er seit mindestens einer Minute dagestanden und dieses zerstörte Gesicht angestarrt hatte.
Eine Entschuldigung hätte die Situation erst vollends peinlich gemacht, und so räusperte sich Coppelstone nur, straffte seine Gestalt noch einmal und sagte: »Mister Morrison, nehme ich an, Sir?«
Morrison blinzelte mit seinem einen verbliebenen Auge und sagte: »Keina nennt mich Mista. Aar ich bin Morrisn. Wa wollnse hie? Hamse sich verirrt?«
Es war Coppelstone unmöglich, zu sagen, ob Morrison nun einen besonders fürchterlichen Slang sprach, oder seine Behinderung es ihm unmöglich machte, deutlicher zu reden. Auf jeden Fall war es ihm unangenehm, ihm zuzuhören.
»Mein Name ist Coppelstone, Mister Morrison«, antwortete er. »Joffrey Coppelstone. Ich bin der stellvertretende Direktor des Straßenbauamtes in Providence.«
»Providence. So.« Morrison kniff nun auch noch das intakte Auge zu und schien einen Moment in sich hineinzulauschen, als müsste er über die Bedeutung dieses Wortes nachdenken. »Dann sinse weit wech von zhause«, sagte er schließlich.
»Oh, so weit nun wieder nicht«, antwortete Coppelstone. Es fiel ihm immer schwerer, Morrison anzusehen. Sein Verstand sagte ihm, dass Morrison ein bedauernswerter Mann war, der nichts anderes als sein Mitleid verdiente. Zugleich aber empfand er einen immer stärker werdenden Ekel vor diesem verwachsenen Gesicht, der allmählich an körperliche Übelkeit grenzte. »Das ganze Gebiet von Providence hinunter nach Arkham gehört zu meinem Bezirk, wissen Sie? Ihre Farm übrigens auch.«
»Mein Farm gehört mia«, antwortete Morrison. Seine aufgedunsene Hand strich über den Kolben der doppelläufigen Schrotflinte, die er in der Armbeuge trug wie eine Mutter ihren Säugling. Coppelstone war nicht sicher, ob in der Geste irgendeine Art von Drohung lag, hielt es aber für besser, dies vorauszusetzen. Waiden hatte ihn gewarnt. Morrison war nicht nur schwierig, sondern mochte auch durchaus gefährlich werden.
»Das bestreitet auch niemand«, sagte er hastig. »Trotzdem ist es notwendig, dass wir uns unterhalten, Mister Morrison. Sie wissen doch, weshalb ich gekommen bin. Ich bin sicher, Mister Waiden hat Ihnen gesagt, dass die Angelegenheit dringend einer Klärung bedarf.«
Er war sicher, mit diesem – bewusst – komplizierten Satzgebilde Morrisons Auffassungsgabe hoffnungslos überfordert zu haben; eine Taktik, mit der er schon mehr als einmal Erfolg gehabt hatte. Es bedurfte nicht immer einer Waffe, um jemanden einzuschüchtern. Tatsächlich antwortete Morrison auch nicht, sondern sah ihn nur verständnislos an, sodass Coppelstone nach einer Weile eine entsprechende Bewegung mit den Papieren unter seinem linken Arm machte und fortfuhr:
»Ich habe alle notwendigen Unterlagen dabei, um Ihnen die Situation noch einmal in allen Einzelheiten darlegen zu können, Mister Morrison. Ich bin sicher, wir …«
»Schiemse sich Ihr Untelagn in Asch«, sagte Morrison grob. Seine Hand klatschte auf den Gewehrkolben. »Keena vertreibt mich von meine Fam.«
»Ja. Mister Waiden hat mir gesagt, dass Sie … ein hartnäckiger Verhandlungspartner sind«, seufzte Coppelstone. Sein Blick streifte nervös das Gewehr. »Warum gehen wir nicht ins Haus und reden in aller Ruhe über alles? Ich bin sicher, wir finden eine Lösung, die für beide Seiten zufriedenstellend ist.«
»Ich habs dem annern schon gesacht, unich sachs Ihna auch nur eimal: Sis mein Fam, unnich geh hiea nich wech, ehde Zeit gekomm is.«
Coppelstone schwieg einen Moment. Er war nicht sonderlich überrascht über Morrisons Reaktion. Ganz im Gegenteil wäre er höchstwahrscheinlich eher überrascht gewesen, wenn Morrison so schnell aufgegeben hätte. Er konnte den alten Mann sogar verstehen: Er war vermutlich hier geboren und aufgewachsen, und mit großer Wahrscheinlichkeit gehörte er zu jenem überwiegenden Teil der Landbevölkerung, der seine Heimat zeitlebens niemals verlassen hatte. Die Vorstellung, von hier wegzugehen, musste für ihn durch und durch entsetzlich sein. Aber der Fortschritt verlangte nun manchmal Opfer. Das mochte bitter für die Betroffenen sein, war aber leider notwendig.
»Bitte, Mister Morrison«, sagte er. »Ich kann jetzt gehen, wenn Sie darauf bestehen, aber dann müsste ich mit dem Sheriff wiederkommen, und das würde die ganze Angelegenheit nicht nur unnötig verkomplizieren, sondern auch für alle Beteiligten sehr viel unangenehmer machen.«
»Der Sheriff kommt nich her«, antwortete Morrison. »Er wa noch nie hia, unner kommt auch nicht.«
»In diesem Fall würde er kommen«, versicherte Coppelstone in jenem genau bemessenen Ton, der eine Drohung sein konnte, es aber nicht eindeutig war. Um ihn noch ein wenig zu entschärfen, lächelte er und fügte hinzu: »Lassen Sie uns doch ins Haus gehen und in Ruhe reden, Mister Morrison.«
Morrison schnaubte. Es hätte Coppelstone in diesem Moment nicht einmal mehr gewundert, hätte er sein Gewehr gehoben und ohne weitere Warnung abgedrückt. Doch stattdessen senkte er die Waffe plötzlich, trat einen ungeschickten, humpelnden Schritt zur Seite und machte eine Kopfbewegung auf die Tür hinter sich.
»Meinetwegn. Abers hat keen Zweck. Ich geh hia nich wech. Habich dem annern schon gesacht. Er hat gesacht, dasse kommn wern, aberich geh hia nich wech.«
Das war eine neue Information, die Coppelstone nicht nur aufs Höchste überraschte, sondern Waidens Missgeschick vom Vortag auch in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ. Es war niemals vorgesehen gewesen, dass er, Coppelstone, hierherkam. Möglicherweise war Waidens Ungeschicklichkeit eben keine Ungeschicklichkeit gewesen. Er nahm sich vor, ein wirklich eingehendes Gespräch mit seinem Assistenten zu führen, sobald er zurück in Providence war.
Dann trat er an Morrison vorbei ins Haus, und für einen Moment vergaß er sowohl Waiden als auch Providence und sogar den Grund seines Hierseins.
Das Erste, was ihm auffiel, war der Geruch; ein erbärmlicher, im wortwörtlichen Sinne atemberaubender Gestank, der eine fast materielle Konsistenz zu haben schien und sich wie ein klebriger Film über sein Gesicht und seine Atemwege legte. Es war ihm nicht möglich, ihn zu beschreiben; er schien gleichzeitig nach Tod und Verwesung wie auch nach etwas auf vollkommen falsche Weise Lebendigem zu riechen, und er führte eine fast unmittelbar einsetzende Assoziation von düsteren Dingen mit sich, die in den Schatten krochen.
Und Schatten gab es genug. Nachdem Coppelstone einen ersten, vorsichtigen Atemzug genommen und fast zu seiner Überraschung festgestellt hatte, dass er tatsächlich Luft bekam, trat er einen weiteren Schritt in den Raum hinein und sah sich um. Es gab allerdings nicht allzu viel zu sehen. Obwohl der Raum, der das gesamte Erdgeschoss des Gebäudes einzunehmen schien, über vier große Fenster verfügte, war es hier drinnen fast dunkel. Draußen vor den Fenstern herrschte strahlender Sonnenschein, aber hier drinnen schien das Licht … irgendetwas einzubüßen. Er konnte nicht genau sagen, was; es war kein sichtbarer Bestandteil, nichts, was man begreifen oder auch nur beschreiben konnte. Aber er spürte deutlich seine Abwesenheit. Das Licht, das durch die Fenster hereinströmte, schien die Umrisse der Dinge nicht richtig zu erhellen, sondern sie im Gegenteil zu fliehen. Der Anblick erinnerte ihn auf eine schwer in Worte zu fassende Weise an den, den die Farm vom Hang herab geboten hatte: Er erblickte kaum mehr als ein Konglomerat ineinanderfließender Schatten und Grauschattierungen, die in ihrer Gesamtheit einen fast lebendigen Eindruck machten. Er hatte das Gefühl, dass es überall kroch und sich regte.
»Setzense sich«, sagte Morrison. Er schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu, der in Coppelstones Ohren mehrfach und unheimlich verzerrt widerhallte. Er kam sich gefangen vor; auf eine nie gekannte Art eingesperrt und etwas ausgeliefert, von dem er nicht einmal genau wusste, was es war, und für einen Moment wurde das Gefühl so stark, dass er um ein Haar auf der Stelle herumgefahren und davongestürmt wäre. Aber dann wiederholte Morrison seine Aufforderung und machte dazu eine einladende Handbewegung, und in der künstlichen Dämmerung, die auch seine Gestalt auf wenig mehr als einen formlosen Schatten reduzierte, hatte die Bewegung etwas derart Zwingendes, dass Coppelstone gar nicht anders konnte, als ihr zu gehorchen und sich an dem groben Holztisch vor der Tür niederzulassen.
»Wollnsene Tasse trinken?«, fragte Morrison. »Ich hab geradne Kanne Malzkaffee aufgebrüht.«
Allein die Vorstellung, in diesem Raum irgendetwas zu sich zu nehmen, ließ Coppelstones latente Übelkeit zu einem ausgewachsenen Brechreiz werden. Aber Opfer mussten gebracht werden, und so nickte er wortlos und sah zu, wie Morrison sein Gewehr achtlos auf einer Kommode neben der Tür ablud und zum Herd schlurfte. Er hatte eine sonderbare, fast hüpfende Art zu gehen, die von seiner Behinderung herrühren musste und im hellen Tageslicht vielleicht sogar komisch ausgesehen hätte, hier drinnen aber durch und durch unheimlich wirkte. Während er ihm dabei zusah, wie er am Herd hantierte, begann er sich zu fragen, woher Morrisons Verunstaltungen wohl stammen mochten. Die Male in seinem Gesicht hätten von einer Verbrennung herrühren können, aber das erklärte nicht seine anderen Verwachsungen. Vermutlich war er das Ergebnis generationenlangen Inzests; etwas, was in dieser abgeschiedenen ländlichen Gegend häufig vorkam, auch wenn es gerne totgeschwiegen wurde.
»Bevor wir zum Thema kommen, Mister Morrison«, begann er, während Morrison sich herumdrehte und mit zwei verbeulten Emaillebechern zum Tisch zurückgeschlurft kam, »habe ich leider ein kleines … Problem. Mein Wagen ist oben auf der alten Teerstraße liegen geblieben, und ich fürchte, ich werde ihn aus eigener Kraft nicht wieder frei bekommen.«
»Aufe altn Teerstraße?« Morrison blieb so abrupt stehen, dass der heiße Kaffee aus seinen Bechern schwappte und ihm über die Hände lief. Er schien es nicht einmal zu spüren. »Om im Wald?«
Ende der Leseprobe