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Der bekannte Yogalehrer und mehrfache Bestsellerautor Mark Stephens verbindet in diesem umfassenden Handbuch traditionelles und modernes Yoga mit aktuellen Erkenntnissen der Medizin. Er hat ein fundiertes Yogaprogramm entwickelt, das zur Heilung und Therapie vieler Krankheiten und Beschwerden angewendet werden kann. Die umfassenden Informationen zu Aufbau und Funktionen verschiedenster Körperbereiche sowie häufigen Krankheitsbildern schaffen die nötige theoretische Grundlage. Eine Vielzahl an Asanas, Atemübungen und Meditationen können dann gezielt zur Vorbeugung oder Behandlung von Erkrankungen im Bewegungs- oder Fortpflanzungsapparat sowie von mentalen oder emotionalen Beschwerden angewendet werden.
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Seitenzahl: 1070
Mark Stephens
YOGA-THERAPIE
Mark Stephens
Methoden und Übungen zurBehandlung von Beschwerdenund Krankheiten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
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Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
2. Auflage 2021
© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
D-80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 bei North Atlantic Books, unter dem Titel Yoga Therapy. © 2017 by Mark Stephens. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Andrea Panster
Redaktion: Matthias Michel
Umschlaggestaltung: Maria Wittek
Umschlagabbildung: Martovka/shutterstock.com
Satz: Daniel Foerster, Belgern
Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-0556-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0113-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0112-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Für Royal Sarah Stephens
Royal Sarah Stephens in Bhujangasana (Kobra), Santa Cruz Mountains, 1931.
Vorwort
Über dieses Buch
Dank
Einleitung: Yoga für Ganzheit und Heilung
Der gesunde Mensch
Das Heilversprechen des Yoga
Teil IDie Ursprünge und Quellen der Yogatherapie
1Yoga
Was ist Yoga?
Ein sehr kurzer Abriss der Geschichte des Yoga
Hatha Yoga
2Ayurveda
Ursprünge, Quellen und Entwicklung des Ayurveda
Philosophie und Prinzipien des Ayurveda
Ätiologie: Krankheitsursachen in der ayurvedischen Lehre
3Moderne Medizin
Vom Mystizismus zur wissenschaftlichen Methode
Wissenschaftlicher Fortschritt
Fazit
4Die Integrierung von Heilkünsten und Naturwissenschaften
Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Medizin
Möglichkeiten und Grenzen der ganzheitlichen Medizin
Heilen und kurieren: Hin zu einem integrativen Ansatz
Die Praxis der integrativen Medizin
Grundüberlegungen zu Gesundheit und Heilung
Teil IIDie wichtigsten Organsysteme des menschlichen Körpergeists
5Die Haut: Das Integumentsystem
Epidermis, Dermis und Hypodermis
Tiefe Faszien
Häufige Hauterkrankungen
Was Sie für ein gesundes Integumentsystem tun können
6Knochen und Gelenke: Das Skelettsystem
Die Knochen
Die Gelenke
Stabilität und Bewegung der Gelenke
Anatomische Lage- und Richtungsbezeichnungen
Bewegung in den Bewegungsebenen
Häufige Knochen- und Gelenkerkrankungen
Was Sie für ein gesundes Skelettsystem tun können
7Die Muskeln: Das Muskelsystem
Die Skelettmuskulatur
Der Stütz- und Bewegungsapparat
Häufige Muskelerkrankungen
Was Sie für ein gesundes Muskelsystem tun können
8Das Nervensystem
Das zentrale Nervensystem
Das periphere Nervensystem
Häufige neurologische Erkrankungen
Was Sie für ein gesundes Nervensystem tun können
9Wissenschaft und Biomechanik der Bewegung
In die Stille kommen
Vom Wesen menschlicher Bewegung
Propriozeption und Verfeinerung der Bewegung
10Herz und Blut: Das Herz-Kreislauf-System
Herz und Seele
Herz und Kreislauf
Häufige Herzerkrankungen
Was Sie für ein gesundes Herz tun können
11Reinigen und schützen: Das lymphatische System
Flüssigkeiten in Bewegung
Lymphatische Organe
Natürliche Schutz- und Heilungssysteme
Häufige Erkrankungen des lymphatischen Systems
Was Sie für ein gesundes lymphatisches System tun können
12Der Atem: Das respiratorische System
Pneuma und der Austausch von Energie
Die Atmungsorgane
Häufige Erkrankungen des respiratorischen Systems
Was Sie für ein gesundes respiratorisches System tun können
13Die Drüsen: Das endokrine System
Hormone als Kommunikatoren
Häufige Erkrankungen des endokrinen Systems
Was Sie für ein gesundes endokrines System tun können
14Die Verdauung: Das Verdauungssystem
Wie sehr sind Sie, was Sie essen?
Der Verdauungstrakt
Mund und Hals
Die Zähne
Der Magen
Der Dünndarm
Der Dickdarm
Die Rolle von Leber und Gallenblase bei der Verdauung
Die Bauchspeicheldrüse
Häufige Erkrankungen des Verdauungssystems
Was Sie für ein gesundes Verdauungssystem tun können
15Loslassen: Das Harnsystem
Filtertätigkeit
Die Nieren
Die Harnblase
Häufige Erkrankungen des Harnsystems
Was Sie für ein gesundes Harnsystem tun können
16Die größte Schöpferkraft des Menschen: Das Fortpflanzungssystem
Die geschlechtliche Fortpflanzung
Das Fortpflanzungssystem des Mannes
Das Fortpflanzungssystem der Frau
Empfängnis und Entwicklung des Menschen
Häufige Erkrankungen des Fortpflanzungssystems
Was Sie für ein gesundes Fortpflanzungssystem tun können
Teil IIIWie man anderen hilft, Heilung durch Yoga zu finden
17Integrität in der Yogatherapie: Lehrer, Heiler und Therapeuten
Die Yogatherapie als klar definierte Praxis
18Kommunikation und Interaktion in der Yogatherapie
Leitlinien für die Heilbeziehung: Kriyas und Yamas
Grundregeln und Fertigkeiten für den Umgang mit Schülern und Klienten
So entwickeln Sie heilende Kommunikationsfähigkeiten
Achtsames Zuhören
Aufmerksame Präsenz
Direktive Gesprächsführung
Nicht direktive Gesprächsführung
19Beurteilung und Planung therapeutischer Übungen
Die Selbst- und die Klienteneinschätzung
Befragung und Einschätzung
Das Verhältnis der Doshas
So erstellen Sie einen yogatherapeutischen Übungs- und Behandlungsplan
So setzen Sie einen yogatherapeutischen Übungs- und Behandlungsplan um
Teil IVYogatherapeutische Übungen
20Asana
Das Herz der Asanapraxis
Körpergeist, Somatik und die persönliche Heilentscheidung
Die Grundzüge der Asanapraxis
Eine flexible Praxis
21Pranayama
Entdeckung und Entwicklung von Pranayama
Grundlegendes Atemgewahrsein
Den Atemfluss verfeinern
Die Pranayamatechniken vertiefen und verfeinern
22Meditation
Patanjalis Weg der Isolation: Pratyahara, Dharana, Dhyana
Einen Sitz einnehmen
Sechs geführte Meditationen
Der richtige Zeitpunkt für die Meditation
Meditieren im Fluss von Körper und Atem
Teil VÜbungen bei häufigen Beschwerden und Erkrankungen
23Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats
Probleme mit Füßen, Sprunggelenken und Unterschenkeln
Knieprobleme
Probleme der Oberschenkel und Hüften
Erkrankungen der Wirbelsäule
Erkrankungen der Schultern, Arme und Hände
24Geistige, emotionale und verhaltensbezogene Beschwerden
Die Pflege der geistigen und emotionalen Gesundheit
Alzheimer-Krankheit
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Suchtmittelmissbrauch
Depression und Angst
Schlaflosigkeit
25Übungen für ein gesundes Fortpflanzungssystem
Übungen für die weiblichen Geschlechtsorgane
Unfruchtbarkeit
Endometriose
Prostatitis
Erektile Dysfunktion
Teil VIEpilog: Die vielversprechende Zukunft der Yogatherapie
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Anmerkungen
Bereits in frühester Kindheit denken wir über Gesundheit und Heilung nach, wenn wir uns verletzen und krank werden. Ich bin in den Bergen unweit der kalifornischen Stadt Santa Cruz mit zwei älteren Geschwistern aufgewachsen, mit denen ich durch die wilden Wälder rannte und auf Mammutbäume kletterte, noch bevor ich in den Kindergarten kam. Trotz eines Gefühls von Ganzheit inmitten der Schönheit der Natur hatte es den Anschein, als machten wir beinahe täglich intensive körperliche Erfahrungen mit verstauchten Knöcheln, Giftefeu, Bienenstichen und Dornen, Schnitten und blauen Flecken. Wir brachten auch in viele unserer Unternehmungen und Abenteuer – ob Sport oder Schach – die Energie eines spielerischen Wettstreits ein. Dabei war die Freude, dabei zu sein, oft wichtiger als die Verletzungen oder Herausforderungen für unseren Körpergeist.
Hinzu kamen die ganz normalen Krankheiten, die Kinder im Laufe ihrer frühen Entwicklung eben so haben. Alle Erkrankungen wurden so behandelt, wie unsere Mutter – eine Krankenschwester – dies jeweils für am besten hielt. Als Kleinkind bekam ich eine akute Lungenentzündung und litt in der Folge unter lebensbedrohlicher Dehydration (Flüssigkeitsmangel), die meine Mutter nach meinem Krankenhausaufenthalt letztlich dadurch behandelte, dass sie mir teelöffelweise Wasser einflößte. Sie besaß ein großes schulmedizinisches Wissen, griff aber dennoch oft zu den Hausmitteln, die sie von ihrer Mutter und Großmutter kannte, und stützte sich auf ihre Erfahrungen, die sie als Krankenschwester in einem Reservat des Indianerstamms der Hoopa gesammelt hatte. Ob Grippe, Masern oder sogenannte normale Erkältungen: Alle Beschwerden wurden mit verschiedenen natürlichen sowie schulmedizinischen Methoden behandelt. Dabei vermittelte sie uns das Gefühl, dass Schmerz und Leiden zwar zum Leben gehörten, dass man sie jedoch lindern oder konstruktiv damit umgehen konnte. Andererseits brachte sie uns nicht viel darüber bei, wie man sie – abgesehen von einer gesunden Ernährung, Bewegung, Ruhe und einer positiven Lebenseinstellung – verhindern konnte.
Man kann ein Leben wählen, das die Gefahr von Verletzungen dramatisch reduziert. Man muss es nur so machen wie der Hypochonder, den Woody Allen in seinem Film Manhattan spielt. Ich dagegen habe mich für ein spannenderes Leben entschieden – erfüllt von der Ehrfurcht und von dem Schmerz, den die natürliche Erfahrung all seiner Aspekte mit sich bringt. Mit vier Jahren kletterte ich furchtlos auf einen Baum und riss mir dabei an einem rostigen Nagel die Handfläche auf. Ich bekam meine erste Tetanusspritze und die Hand musste mit mehreren Stichen genäht werden. Meine Sportverletzungen waren meist harmlos, nur mit neun Jahren zog ich mir beim Football einen Bruch des rechten Ellenbogens zu. Mit 14 Jahren wog ich ungefähr 57 Kilogramm, aber als ich mit Freunden unterwegs war, drückte ich eine 55 Kilogramm schwere Hantelstange über den Kopf. Leider verlor ich das Gleichgewicht, kippte nach hinten, brach mir ein Handgelenk und verstauchte mir das andere schwer. Mit 16 Jahren krachte ich mit meinem Motorrad in die Seite eines Wagens, der vor mir in die Straße bog, und renkte mir die Schulter aus. Es war das erste Mal von vielen. Einige Jahre später renkte ich mir die andere Schulter aus, als ich von der exponierten Ostwand des Mount Whitney in der kalifornischen Sierra Nevada 12 Meter in die Tiefe fiel. Mit 25 Jahren stürzte ich mit dem Mountainbike, landete auf dem Kopf und erlitt eine Gehirnerschütterung. Die verschiedenen Verletzungen vermittelten mir viel Verständnis für die Verletzlichkeit (und die enorme Torheit) des Menschen sowie große Demut.
Die typisch menschliche Verletzlichkeit zeigte sich auch beim Yoga. Obwohl ich in dem ersten Jahr, in dem ich regelmäßig praktizierte, bei den Asanas meist große Vorsicht walten ließ, trieb mich mein Ego schon bald dazu, so intensiv wie möglich und ohne großes Gespür für die Balance zwischen Anstrengung und Leichtigkeit zu üben. Während ich in der Ashtanga-Vinyasa-Praxis große Fortschritte machte, überlastete ich meine hinteren Oberschenkelmuskeln, meine Knie, meinen unteren Rücken, meine Schultern und Handgelenke so oft, dass ich mich gar nicht mehr an alle Verletzungen erinnern kann. Es sollte noch viele Jahre dauern, ehe ich die Vorzüge einer nachhaltigen gegenüber einer leistungsbetonten Praxis zu schätzen lernte. Wir können darin Probleme mit aparigraha erkennen: Ich begehrte einen tieferen Ausdruck der Asanas und hätte eher ahimsa (Gewaltlosigkeit) und satya(Wahrhaftigkeit; angefangen damit, die flehentlichen Bitten meines Körpergeistes zu erhören, es langsamer anzugehen) aufgegeben, als mich irgendwie zu mäßigen.
Die Schmerzen und Leiden meiner Kindheit und meines jugendlichen Überschwangs verblassen neben der Brustkrebsdiagnose meiner Mutter, als ich zehn Jahre alt war. Meine Mutter war eine Heilerin und führte ein sehr gesundes Leben mit bekömmlicher Nahrung, Familie und guten Freunden, viel Lachen und Fröhlichkeit, konzentrierter Arbeit, kreativen Projekten und Gemeindearbeit, inspiriert und bereichert von ihrem tiefen, unerschütterlichen christlichen Glauben und ihrer christlichen Praxis. Aufgrund ihrer guten medizinischen Ausbildung und ihrer großen Erfahrung hatte sie – vor allem wegen ihrer drei Kinder und ihrem Mann – furchtbare Angst, als sie erfuhr, dass sie an einer Brustkrebserkrankung litt, die man heute als metastasierenden Brustkrebs im 4. Stadium bezeichnen würde. Trotz einer radikalen Mastektomie und der Entfernung der Lymphknoten sowie einer Strahlenbehandlung fand der Krebs in nur sechs Monaten den Weg in ihr Gehirn und setzte ihrem Leben ein Ende.
Der Tod meiner Mutter war sowohl Trauma als auch Weckruf. Ich hatte ihr sehr nahegestanden und frage mich bis heute, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie länger gelebt hätte. Ihr Tod war meine erste Erfahrung mit großem Verlust und tiefer Trauer. Ihre Krankheit offenbarte mir zum ersten Mal das aggressive Potenzial einer bösartigen Erkrankung, die große Zerbrechlichkeit des menschlichen Organismus, die Unsicherheit des menschlichen Lebens und dass der Verlust jedes Lebens ein Verlust für viele weitere Menschen sein kann.
Ihr Tod lehrte mich aber auch Widerstandskraft und innere Stärke, Liebe und Freundschaft, Hoffnung und Gebet. Es mag seltsam klingen, aber in ihrem Sterben gebar mich meine Mutter ein zweites Mal, schenkte mir ein deutlicheres Empfinden für die Lebendigkeit des Seins und dafür, dass wir uns in jedem Augenblick – unabhängig von unseren Umständen – für ein wacheres, bewussteres Leben entscheiden können. Ich halte dies für einen wichtigen Abschnitt des Weges, der mich bereits in früher Jugend dahin führte, dass ich mich mit der Natur des Lebens und des Bewusstseins beschäftigte und lieber aus dem Leben selbst lernte, als auf die High-school zu gehen. Als ich 17 Jahre alt war, brachte er mich schließlich zum Yoga (wozu ich größtenteils von Alan Watts inspiriert wurde), während ich in einem winzigen Nest in der staubigen südkalifornischen Mojave-Wüste lebte, das kulturelles Brachland war.
In den ersten Jahren drehte sich meine Yogapraxis ausschließlich um den Geist und die Erkundung des Spirituellen – obwohl sie auch Asanas und Pranayama beinhaltete. Ich war neugierig und wollte wissen, wie wir denken und fühlen; warum wir so denken und fühlen, wie wir es tun; warum wir auf eine bestimmte Weise reagieren. Ich interessierte mich für die Macht geistiger und emotionaler Gewohnheiten und die Möglichkeit, den Geist zu klären und das Herz zu öffnen. Ich las Bücher von Herbert Marcuse und Aldous Huxley über Carl Rogers und Fritz Perls bis hin zu Joseph Campbell und Anaïs Nin, die fantastische Versprechungen über das Potenzial des Menschen machten. Ich fasste den festen Entschluss, jeden Tag zu meditieren, und stützte mich dabei auf die beschränkten Erkenntnisse, die ich in Büchern finden und den Radiosendungen von Alan Watts entnehmen konnte. Ich saß, atmete, machte Asanas, atmete noch mehr und saß noch länger.
Daneben interessierte ich mich auch für andere Dinge, vor allem für Abenteuer in der freien Natur und für etwas, woraus das leidenschaftliche lebenslange Bemühen entstehen sollte, die Welt im sozialen und ökologischen Bereich besser zu machen. Viele Jahre lang widmete ich mich intensiv der akademischen und aktivistischen Arbeit, während ich gleichzeitig mit dem Rucksack umherreiste, Ski fuhr, surfte, kletterte, Triathlons absolvierte, Gewichte stemmte und in Sachen Sport und Fitness alle Möglichkeiten ausprobierte, die sich mir boten. Die früheren Fragen zu Sein und Bewusstsein waren zwar noch da, aber sie gingen zunehmend in meiner akademischen Arbeit in der kulturvergleichenden und historischen Sozialforschung und in meinem aktivistischen Engagement im Bereich des Community Organizing (Organisationsarbeit in Stadtteilen, Städten, Gemeinden und Regionen) sowie in weiteren Bemühungen um progressiven gesellschaftlichen Wandel auf. Je mehr ich mich diesen Themen – vor allem in den sieben Jahren meiner Promotion an der University of California in Los Angeles – widmete, desto weiter entfernte ich mich von den Kernfragen, die mich ursprünglich zur Erkundung im Rahmen des Yoga veranlasst hatten. Ich kam gewissermaßen vom Wege ab. Durch die völlige Vertiefung in die Arbeit wurde ich zunehmend gestresster; aber dann erinnerte ich mich an Yoga.
Im Jahr 1991 kehrte ich zum Yoga zurück und habe seither nie mehr aufgehört zu praktizieren. Einen der ersten Kurse absolvierte ich bei dem ebenso unbeschwerten wie spirituell inspirierenden Steve Ross, dessen scheinbar natürliche Fröhlichkeit die Praxis einfach ansteckend machte. Bald darauf begegnete ich Erich Schiffmann, bei dem ich einige Jahre lang intensiv studierte und Techniken erlernte, wie ich noch tiefer in mich gehen und mich in der Asanapraxis selbst anleiten konnte. An diese beiden Lehrer denke ich bis heute mit großer Zuneigung und tiefer Dankbarkeit zurück für das, was sie mich gelehrt haben. Jeder ist auf seine Weise ein Heiler, und beide haben vielleicht unbewusst dazu beigetragen, mir den Weg zu einer nachhaltigen Yogapraxis zu weisen – einen Weg, der trotz der vielen Details der Praxis, mit der ich mich bald näher beschäftigen sollte, freudvoll und spontan war.
Mitte der 1990er-Jahre vertiefte ich meine Yogapraxis – ich verpflichtete mich dem Ashtanga Vinyasa Yoga (und schloss schließlich die dritte Serie ab), studierte ausgiebig bei zahlreichen Iyengar-Lehrern, ging bei der scharfsinnigen Yoga- und Physiotherapeutin Jasmine Lieb in die Lehre, genoss den kreativen Flow mit Shiva Rea und fand immer mehr zu einer ganz persönlichen Praxis. Dabei machte ich durch Zufall eine prägende Erfahrung, die meine Art, Yogapraktiken zu vermitteln, verändern sollte: Yoga außerhalb etablierter Yogastudios. Ich arbeitete bereits seit Jahren mit jungen Bandenmitgliedern auf den Straßen und in den Gefängnissen des Los Angeles County. Es war der Höhepunkt der Bandenkriege in Los Angeles, bei denen jedes Jahr Tausende von Jugendlichen in mörderischen Straßenkämpfen ums Leben kamen und weitere 40 000 junge Menschen jährlich in Jugendgefängnissen landeten (in Los Angeles County gab und gibt es 19 Jugendgefängnisse).
Bei einem von vielen Projekten arbeitete ich mit der Samaya Foundation von Barry Bryant zusammen und wir erhielten vom Dalai Lama die Erlaubnis, sechs tibetische Mönche aus Dharamsala einfliegen zu lassen, damit sie in Jugendgefängnissen Meditationsunterricht gaben. Das Experiment, inhaftierte Jugendliche in der Meditation zu unterweisen, erwies sich als äußerst effektive Möglichkeit, wie sie eine gesündere Sicht auf ihr Leben und das Gefühl entwickeln konnten, dass sie positive Veränderungen bewirken und sofort damit beginnen konnten. Das Ende dieses Projekts inspirierte mich dazu, in Einrichtungen wie diesen Yoga zu unterrichten. Im Jahr 1997 gründete ich die Yoga Inside Foundation, um Yoga in über 300 Haftanstalten, Schulen, Alkohol- und Drogenrehabilitationszentren, Veteranenheime, Obdachlosenunterkünfte und an andere ungewöhnliche Orte in ganz Nordamerika zu bringen.
Als wir an diesen Orten unterrichteten, gelangten wir aufgrund der großen körperlichen, emotionalen und geistigen Herausforderungen der Menschen, denen wir halfen, zu wichtigen Einsichten – denn ihre Lebensumstände unterschieden sich erheblich von denen der üblichen Schüler, auf die man uns in der Yogalehrerausbildung und in weiteren Fortbildungen vorbereitet hatte. Es war offensichtlich, dass wir flexibler an die Yogapraxis herangehen mussten – und unter anderem bessere Möglichkeiten benötigten, um Heilung und Wohlbefinden in den körperlichen, geistigen, emotionalen und spirituellen Bereichen der Erfahrung zu fördern. Zu den klarsten Erkenntnissen gehört, dass diese (körperlichen, geistigen etc.) Bereiche Aspekte des ganzen Menschen sind und es bei Heilung und Selbsttransformation darum geht, zu einem gesunden Empfinden für diese Ganzheit zurückzufinden, obwohl jeder Bereich seine eigenen Erkenntnisse und Methoden hat. Vor diesem Hintergrund arbeiteten wir eng mit einer Fülle von ehrenamtlichen Helfern aus verschiedenen Berufsbereichen wie Yogalehrern, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, geistigen Führern und anderen zusammen, um verschiedene Möglichkeiten zu testen, wie wir Yoga und andere Heilkünste nutzen konnten, um die Praxis an unsere Schüler anzupassen. Seither greife ich im Unterricht und bei allem, was ich schreibe, auf diese Erkenntnisse zurück und baue sie weiter aus, um Yoga als flexible, integrative und transformative Praxis zu vermitteln. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich an ungewöhnlichen Orten mit besonderen Schülern oder irgendwo auf der Welt mit Schülern regulärer Kurse arbeite, die alle einzigartig und besonders sind und einen individuell auf sie zugeschnittenen Unterricht verdienen.
Die erste Serie des Ashtanga Vinyasa Yoga heißt yoga chikitsa, also »Yogatherapie«. Inzwischen weiß ich, dass es bei dieser Form der Yogatherapie in erster Linie darum geht, sich intensiv zu reinigen, den Fluss der Pranaenergie durch den ganzen Körpergeist anzuregen und eine gewisse geistige Ruhe und Klarheit auf dem Weg zur zweiten Serie zu erlangen. Meiner Erfahrung nach ist sie im Hinblick auf diesen und viele weitere Aspekte sehr vielversprechend – allerdings nur, wenn der Körpergeist eines Menschen den anstrengenden akrobatischen Verrenkungen gewachsen ist. Selbst die angebliche Anfängerstufe der ersten Serie ist nur für einen kleinen, körperlich besonders gesegneten Teil der Menschen machbar. Für die meisten anderen ist sie sogar kontraindiziert. Doch es gibt andere Formen von yoga chikitsa.
Je länger man übt, desto weiter entwickelt sich meist auch die eigene Art zu üben. In den letzten 25 Jahren hat sich meine Praxis verändert. In Anfangsjahren versuchte ich, mir über grundlegende Dinge in den Bereichen der körperlichen Kraft, der Beweglichkeit und des Gleichgewichts klar zu werden. Dann ging es mir immer mehr um die Verfeinerung. Ich wollte alles einfacher und dadurch intensiver machen. Oft regte sich mein jugendlicher Ehrgeiz, und dann trieb ich mich so heftig an, dass ich mir – meist nur leichte – Verletzungen zuzog. Vor ungefähr 15 Jahren wechselte ich vom Ashtanga Vinyasa Yoga und anderen dynamischen Yogastilen zu einer, wie ich finde, unvoreingenommeneren und stärker intuitiven Praxis. Ich verzichtete noch vollständiger auf jedes Leistungsstreben und stellte fest, dass sich die Pforten der Energie und des Gewahrseins leichter öffneten, wenn ich mich Pranayama und Meditation widmete. Heute empfinde ich meine Asanapraxis als ausgewogen. Sie hilft mir, gesund zu bleiben, mich auf intensiveres Pranayama vorzubereiten sowie leichter zu einer tieferen Meditation und einem klareren Gewahrsein zu finden. All dies geht mit dem Gefühl von aparigraha einher – nichts besitzen zu wollen und die Dinge einfach zu mir kommen zu lassen, wenn ich übe. Es ist gewissermaßen meine ganz persönliche Form der Therapie durch Yoga – um so gesund zu leben, wie ich nur kann.
Auf der Basis dieser weiter wachsenden Summe meiner Erfahrungen im Leben und in der Yogapraxis versuche ich nun, andere an Erkenntnissen teilhaben zu lassen, die ihnen möglicherweise zu einem gesünderen und besseren Leben verhelfen.
Viele Menschen kommen körperlich angeschlagen in den Yogaunterricht, leiden unter akuten oder chronischen Erkrankungen oder befinden sich in einem besonderen Lebensabschnitt wie der Schwangerschaft. Dies zeigt den Wert einer speziellen oder individuell zugeschnittenen Praxis. In der Regel gibt es in jedem größeren Yogakurs Schülerinnen und Schüler mit mindestens einem kleineren Wehwehchen oder Leiden, sodass Modifikationen der Yogahaltungen und Atemübungen empfehlenswert sind. Welche Modifikationen sind das? Wie kommuniziert man mit Schülern unterschiedlicher körperlicher Verfassung, wie schätzt man sie ein, wie leitet man sie an? Wie kann Yoga zur Heilung beitragen? Wie kann Yoga ein Gefühl von Ganzheit und größerer Lebendigkeit fördern? Wie kann man als Yogatherapeut Yoga bei der Arbeit mit privaten Klienten noch stärker als therapeutisches Werkzeug – yoga chikitsa – nutzen?
Dies sind einige der drängenden Fragen, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Wir werden ihnen so gut wie möglich auf den Grund gehen und uns in diesem Zusammenhang intensiv mit den uralten Weisheiten, der modernen Praxis und den neuesten Erkenntnissen über Yoga und verwandte Disziplinen auseinandersetzen, die uns heute zur Verfügung stehen. Eine der Schwierigkeiten bei der Prüfung der Sammlungen, Handbücher und anderen Quellen überlieferten Wissens besteht darin, dass ein großer Teil des Materials widersprüchlichen Ursprungs ist. Zunächst einmal müssen wir die grundlegenden Unterschiede zwischen der evidenzbasierten Schulmedizin und den durch göttliche Eingebung, intuitive Ahnung oder auf andere Weise empfangenen Einsichten im Yoga und Ayurveda verstehen. Wir sehen zwar beträchtliche Fortschritte bei ihrer Integrierung, aber in den Augen einiger Ärzte und Therapeuten werden diese Ansätze immer unvereinbar bleiben, da die Anhänger der einen Richtung die grundlegenden Hypothesen und Methoden der jeweils anderen generell als fehlerhaft ablehnen. Wir werden uns bemühen, diese Spannungen teilweise zu lösen, um praktische und sinnvolle Methoden aufzuzeigen, wie man therapeutischen Yoga unterrichten und eine Yogatherapie anbieten kann.
In Teil I, »Die Ursprünge und Quellen der Yogatherapie«, präsentieren wir die auf den ersten Blick widersprüchlich scheinenden Paradigmen zu Leben und Gesundheit, die einerseits im frühen und modernen Yoga und Ayurveda, andererseits in überwiegend schulmedizinischen Quellen zum Ausdruck kommen. Im Anschluss erörtern wir Behandlungsmethoden, die sich in integrativer Absicht sowohl da wie dort bedienen.
Teil II, »Die wichtigsten Organsysteme des menschlichen Körpergeists«, gibt medizinischen Laien eine Einführung in den Bau, die Funktion und die häufigen Erkrankungen der wichtigsten Organsysteme. In den Kapiteln 5 bis 8 und 10 bis 16 werden wir uns Haut, Knochen, Muskeln, Nerven, Bewegung, Herz und Blut, Lymphe, Atmung, Hormonen, Verdauung, Ausscheidung und Fortpflanzung widmen. Darüber hinaus werden wir uns in Kapitel 9 eingehend mit der Biomechanik und der Wissenschaft der Bewegung beschäftigen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem neuromuskulären System und der Frage, wann man sich eher fest und leicht oder eher wackelig und mühsam im Raum bewegt.
In Teil III, »Wie man anderen hilft, Heilung durch Yoga zu finden«, untersuchen wir zunächst, was Yogatherapie eigentlich ist. Wir versuchen, den Tätigkeitsbereich klarer abzugrenzen, um die Yogatherapie von anderen Heilverfahren zu unterscheiden und Licht in die Arbeit des Yogatherapeuten zu bringen. Wir werden die Qualität der Kommunikation und der Interaktion in therapeutischen Beziehungen erörtern und schließlich Richtlinien für die Einschätzung von Klienten und die Planung maßgeschneiderter Yogaübungen geben, die ihre Genesung unterstützen.
In Teil IV, »Yogatherapeutische Übungen«, geht es um die wesentlichen Elemente und grundlegenden Werkzeuge der Yogatherapie: Asana, Pranayama und Meditation. Jedem dieser zentralen Elemente ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
In Teil V, »Übungen bei häufigen Beschwerden und Erkrankungen«, nutzen wir Yogaübungen, um verschiedene menschliche Leiden zu heilen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats, psychischen Schwierigkeiten sowie Problemen der Fortpflanzungsorgane. Viele körperliche Erkrankungen sprengen den Rahmen dieses ohnehin sehr dicken Buches. Wo es eindeutige Beweise für eine heilende Wirkung des Yoga gibt, geben wir freilich Hinweise auf die bekanntesten Übungen.
In Teil VI, »Epilog: Die vielversprechende Zukunft der Yogatherapie«, finden Sie Überlegungen zur künftigen Entwicklung in diesem Bereich.
Für eine Autorin oder einen Autor sind alle Erfahrungen, die ihren oder seinen Körpergeist geformt haben, ein großes Glück. Beim Schreiben dieses Buches waren alle Begegnungen mit Menschen auf dem Yogaweg ein großes Glück für mich. Dies gilt vor allem für die Erfahrungen, die ich mit meinen Schülerinnen und Schülern gemacht habe, denn sie sind meine Lehrer. Sie haben mich gelehrt zuzuhören und zu würdigen, dass sie sich besser kennen, als ein anderer dies je könnte, und sie zu unterstützen, indem ich ihnen die Perlen anbiete, die zu sammeln ich in meiner eigenen Yogapraxis und meinen Studien das Glück hatte.
Die Schüler meiner offenen Yogastunden gestatten es mir, mit ihnen die unterschiedlichen gesundheitlichen Probleme zu erkunden, die ihrer Wege kommen. Diese reichen von leichten Verletzungen durch wiederholte Beanspruchung und schwermütigen Phasen bis hin zur chronischen Depression und Krebs im Endstadium. Die Schüler in den Stunden der Yoga Inside Foundation – in Gefängnissen, im Drogenentzug, in Obdachlosenheimen und Schulen – geben mir Gelegenheit, Yoga auf eine Weise zu vermitteln, die es mir erlaubt zu erkennen, dass er das Leben aller Menschen verbessern kann, sofern wir unsere Herzen dieser Wahrheit öffnen. Die Schülerinnen und Schüler meiner Workshops und Lehrerausbildungsprogramme unterstützen mich bei der Vertiefung meines Verständnisses der Asana-, Pranayama- und Meditationspraktiken. Sie tun dies zum Teil dadurch, dass sie meine Leidenschaft für das Lernen und meine intensiven Bemühungen erdulden, ihnen so viel wie möglich mitzugeben.
Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich mich nach Kräften bemüht, die relevantesten und aussagekräftigsten Quellen zu den behandelten Themen zu finden. Einige von ihnen mögen überraschen – vor allem jene, die von einer neueren Generation von Denkern und Machern im Bereich des Yoga und der Heilkünste stammen, die unter Umständen noch nicht zum Kreis der etablierten Mitglieder professioneller Yogakonferenzen und Yogaeinrichtungen gehören. Relevanz und Einsicht waren meine einzigen Auswahlkriterien, und ich habe beide unter den Aspekten der Genauigkeit und der Richtigkeit betrachtet, statt mich auf die vermeintliche Autorität einer Quelle zu verlassen. Ich bitte all jene um Verzeihung, die sich dadurch möglicherweise gekränkt fühlen, und lade zu stichhaltigen Kommentaren und einer offenen Diskussion für künftige Ausgaben dieses Buches ein.
Ich verneige mich in tiefer Dankbarkeit vor Tim McKee, Emily Boyd und Vanessa Ta von North Atlantic Books für ihre Bestätigung, dass das vorliegende Buch geschrieben werden sollte, sowie für ihre Geduld und ihr Wohlwollen, während ich recherchierte und daran schrieb. Louis Swaim betreute freundlich und kompetent die Verwandlung des Manuskripts und der Illustrationen in ein fertiges Buch. Rebecca Rider las, redigierte und machte den ganzen Text besser. Der aussagekräftige Entwurf des Einbands durch Suzanne Albertson und die klare Satzgestaltung durch Maureen Forys von Happenstance Type-O-Rama, die aus dem Manuskript ein Buch machte, sprechen für sich. Andrea Pansters mustergültige Übersetzung des englischen Originals enthält wichtige Verdeutlichungen und Korrekturen wesentlicher inhaltlicher Aspekte.
Melinda Stephens-Bukey ist eine meiner Lehrerinnen und begleitet mich schon mein Leben lang. (Sie ist außerdem die beste Schwester, die man sich vorstellen kann.) Sie ermutigte mich zu den intensiven Studien, die für dieses Projekt nötig waren. Mein Bruder Michael Stephens gewährte mir die angesichts der Schwierigkeiten des Schreibens und des Reisens dringend benötigte Unterstützung in Sachen Heim, Herd und Heiterkeit. Unzählige Schülerinnen und Schüler meiner Fortbildungsseminare übernahmen unabhängige Studienprojekte aus den Bereichen Yoga und Heilung und halfen mir damit, mich in dem Meer von Quellen zu den einzelnen Gesundheitsproblemen zurechtzufinden. Michael Lerner opferte wertvolle Zeit für Spaziergänge entlang der Klippen rund um das Commonweal-Institut und für Gespräche über die höchsten Quellen der Heilung, die ihren Sitz im Herzen haben. Janice Gates teilte während einer Wanderung auf dem Mount Tamalpais ihre Erkenntnisse über Yoga und Heilung mit mir. Sie entspringen ihrer jahrelangen yogatherapeutischen Praxis und ihrer Führungstätigkeit in der International Association of Yoga Therapists (IAYT, dt. »Internationaler Verband der Yogatherapeuten«), unter anderem als dessen Präsidentin. Nischala Joy Devi erinnerte mich daran, dass die größte Heilung aus liebevoller Kommunikation erwächst. Anne Tharpe führte unzählige Unterhaltungen über zahlreiche Themen in diesem Buch und half beim Zusammentragen und Erstellen der Bilder. Dr. med. Jennifer Stanley erforscht unvoreingenommen alles Menschliche, Spirituelle und Rätselhafte. Sie unterzog meine Ideen einer unerbittlichen Prüfung und gewährte mir gleichzeitig freundschaftliche Unterstützung. Darüber hinaus saß und stand sie geduldig für Aufnahmen vieler Asanas Modell. Reema Prasad unterstützte mich zum einen bei den Recherchen und posierte zum anderen zusammen mit J. K. Hooper für Asanaaufnahmen. Kyla Roessler half beim Literaturverzeichnis. Mike Rotkin setzte sein über 35-jähriges Engagement als mein Mentor fort. Er zeigt mir, dass nur bewusstes Handeln die Welt zu einem Ort macht, an dem es sich besser leben lässt – und ist gleichzeitig immer für mich da. Während des gesamten Projekts inspirierte mich meine gute Freundin und Kollegin Dagmar Stuhr, einen Ausgleich zwischen disziplinierter intellektueller Arbeit und einem gesunden, von Lachen erfüllten Tagesablauf zu finden, bewusster zu leben, zu arbeiten und aus der Wahrheit, Weisheit und Liebe heraus zu schreiben, die jeder Mensch in jedem Atemzug finden kann.
In früheren Texten habe ich betont, dass man den besten Lehrer, den man je haben wird, in sich trägt, und dass die Praxis zu einem großen Teil darin besteht zu lernen, dem inneren Lehrer zu lauschen und auf ihn zu hören. Im Hinblick auf die Yogatherapie wäre es klug, diese Vorstellung noch weiter auszudehnen. Der äußere Heiler hat seine Berechtigung. Aber in der Yogapraxis, in der wir zuweilen auch anderen zur Heilung verhelfen, ist der Schüler oder Klient der wichtigste Heiler. Wir als Yogalehrer oder Yogatherapeuten haben die Aufgabe, unsere Schüler und Klienten nach bestem Wissen und Gewissen anzuleiten und zu unterstützen.
Yoga bietet die verschiedensten Ressourcen für ein gesünderes und besseres Leben. Die Asana-, Pranayama- und Meditationsübungen sind ausgefeilte Werkzeuge, um ein dauerhaftes Gefühl von Ganzheit im Leben zu entwickeln und eine breitere Würdigung des Lebens als Teil der erhabenen menschlichen Existenz zuzulassen. Sie lassen sich auch für eine maßgeschneiderte Yogapraxis nutzen, die uns hilft, von gängigen Erkrankungen und Verletzungen zu genesen – einschließlich derjenigen, die wir uns beim Yoga selbst zuziehen können.
Von Anbeginn der Beschäftigung mit dem Yoga im Indien der vedischen Zeit (etwa 1500 v. Chr.) versuchten Seher, Sadhus und spirituell Suchende, Leiden zu lindern oder zu beseitigen, um das Leben besser zu machen. Dies ist das Leitmotiv des Yoga. Einige Yogis betrachten das Leiden als festen Bestandteil des menschlichen Daseins, mit dem man sich auf dem Pfad ritualistischer Praktiken der Selbsttranszendenz letztlich beschäftigt. Andere sehen im Yoga einen Weg, wie man unabhängig vom eigenen Befinden oder den eigenen Umständen gesünder und freudvoller im gegenwärtigen Augenblick leben kann. Wir gehen eher den letztgenannten Weg und erkunden, wie wir hier und jetzt am besten Heilung erlangen und mehr Freude empfinden können.
Das Verständnis für die menschliche Gesundheit ist im Laufe der Jahrtausende bis zur Gegenwart gewaltig gewachsen. Viele Verbesserungen führen dazu, dass wir uns von Methoden verabschieden, die man früher für die wirksamsten oder heilkräftigsten hielt. Viele frühe Yogis und ihre Kollegen aus den heilenden Künsten – vor allem die Pioniere des Ayurveda – bemühten sich nach Kräften, mithilfe von Nachsinnen (oder, wie viele behaupten, göttlicher Eingebung) und Experimentieren die Natur des Menschen und die gesündeste Art zu leben zu ergründen. Im Nebel der frühen indischen Kultur lassen sich zwar einige gesunde Yogapraktiken finden, doch das wachsende moderne Verständnis für den menschlichen Organismus bringt präzisere und effektivere Heilwerkzeuge hervor, wenngleich einige moderne Entwicklungen die Ursache schwerer Erkrankungen sind. Vor dem Hintergrund unseres größeren Wissens können wir erkennen, dass einige der frühen Praktiken wohltuend, andere dagegen wirkungslos oder gar schädlich sind, während wir auch innovative Methoden oder Verfahren in Betracht ziehen, die bis heute neu entstehen.
Yoga ist eine sich ständig weiterentwickelnde Praxis der Selbstkultivierung und Selbsterweckung und lädt uns ein, über die überlieferten klassischen Praktiken hinauszugehen. Daher möchte dieses Buch im Geiste einer lebendigen, sich stetig weiterentwickelnden Yogatradition Erkenntnisse aus dem klassischen und dem modernen Yoga, Ayurveda sowie dem gern als Schulmedizin bezeichneten Fachgebiet anbieten. Daneben zeigt es Methoden der Heilung für die Probleme auf, die uns auf der Matte und abseits davon plagen.
Glaubt man der jüngsten landesweiten Erhebung unter Yogaschülerinnen und Yogaschülern in den Vereinigten Staaten1, sorgt eine regelmäßige Yogapraxis dafür, dass man sich besser fühlt – dass man in Stresssituationen ruhiger bleibt, eine positivere Lebenseinstellung und mehr Selbstakzeptanz besitzt. Dank dieser segensreichen Wirkungen führt Yoga normalerweise dazu, dass man auch besser für sich sorgt: mit einer gesünderen Ernährung, besserem Schlaf und ausgewogener Bewegung. Wenn man an sich arbeitet, hat das auch einen gesellschaftlichen Nutzen. Man kommuniziert klarer, hat mehr Verständnis für menschliche Vielfalt und kümmert sich besser um seine Mitmenschen und den Planeten.
Die Yogapraxis wirkt sich auf alle physiologischen Systeme aus. Eine immer umfangreichere Literatur beweist, dass Yogaübungen eine spezielle Wirkung auf diese Systeme haben, dass sie unter anderem ein paar immer häufiger auftretende Erkrankungen heilen können und eventuell Behandlungsmöglichkeiten für Leiden bieten, die der modernen medizinischen Wissenschaft nach wie vor größtenteils ein Rätsel sind. Die Wirkung des Yoga auf den menschlichen Organismus gibt ebenfalls Rätsel auf – besonders, da so viele verschiedene Praktiken als Yoga bezeichnet werden und die Menschen, die damit arbeiten, im Hinblick auf ihre Verfassung und ihre Absichten sogar noch vielfältiger sind.2 Je weiter wir ins 21. Jahrhundert vordringen, desto mehr Forschungsarbeiten offenbaren, dass diverse Yogapraktiken gesundheitlichen Schaden, Nutzen und manchmal sogar beides verursachen.3
In den Publikationen der modernen medizinischen Wissenschaft finden wir ebenfalls zahlreiche Erkenntnisse zu Gesundheit und Heilung, wenngleich viele schulmedizinische Verfahren einigen Anhängern des Yoga und der Alternativmedizin ein Gräuel sind und zuweilen sogar Schaden anrichten können. Wir sind offen für Heilwissen aller Art, ungeachtet der Quelle – ob aus dem Osten oder Westen, ob Allopathie oder Ayurveda, ganzheitlich oder komplementär. Denn so können wir dem Yoga, dem Ayurveda und der Schulmedizin all das entnehmen, was sie uns zur Heilung unserer Leiden bieten.
Yoga entspricht dem Zeitgeist vieler westlicher Gesellschaften – in einer Zeit, in der die Fortschritte in den Bereichen der Gesundheit, des Wohlbefindens und der Lebenserwartung bedroht sind. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Schnelllebigkeit und des zunehmenden sozioökonomischen Drucks ist Stress eine der hauptsächlichen Krankheitsursachen und einer der wichtigsten Anreize für die Yogapraxis. Darüber hinaus ist unser globales Umfeld bedroht von rasantem Klimawandel, resistenten Infektionserregern sowie sozialen Verwerfungen und Entfremdung, welche die Globalisierung – an der die meisten von uns aktiv beteiligt sind – widerspiegeln und von ihr noch verschärft werden. Und doch ist der Mensch von Natur aus gesund. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit »nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen, sondern ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens.«4 Die alternative Gesundheitsdefinition von Dr. Andrew Weil als »dynamisches und harmonisches Gleichgewicht aller Elemente und Kräfte, die einen Menschen ausmachen und umgeben«, legt eine ebenso starke Betonung auf Ganzheit – auf das »Heilsein«, das eine ähnliche etymologische Grundlage hat.5
Wir sind natürlich bestrebt, mit all der Kraft und Vitalität zu leben, die uns die Natur verliehen hat. Wir erhalten und steigern unsere Gesundheit, indem wir uns und anderen Nahrung, Bewegung, Schlaf, Liebe, Rituale und Optimismus schenken. Wir machen unser Leben noch gesünder, indem wir sicherstellen, dass wir Zugang zu einer angemessenen Unterkunft, Bildung und Gesundheitsversorgung haben; uns in sicheren sozialen Räumen bewegen und soziale Beziehungen haben, die uns helfen, unser Potenzial voll auszuschöpfen; uns für die Gesundheit des Planeten einsetzen, damit gesundes Leben gedeihen kann; und uns den höheren, im Universum erkennbaren Kräften auf eine Weise öffnen, die unserem Leben einen tieferen Sinn verleihen kann.
Dennoch können unsere Gene, unser Lebensstil und unsere Umwelt eine Herausforderung für unsere Gesundheit sein. Das Erbe unserer Eltern spielt eine wichtige Rolle in unserem Leben. Es macht uns anfällig für bestimmte Krankheiten, Leiden, Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die Ähnlichkeit mit dem haben, was die frühen Yogis samskaras nannten. Die physischen und sozialen Verhältnisse in der natürlichen sowie der von uns geschaffenen Umgebung können uns vergiften, was sich in Form von Erkrankungen äußert. Unsere Art zu leben – mit unseren Werten, Überzeugungen, Beziehungen, Hygiene, körperlicher Aktivität und Ernährung – kann Stress, Angst, Depression verursachen und uns anfälliger für Verletzungen und Krankheiten machen. Alles in allem können diese Faktoren die Homöostase beeinflussen – die Regulierung und Stabilisierung des Gleichgewichts unseres gesamten Seins.
Die jedes Jahr von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhobenen Daten zeigen eine Momentaufnahme der Gesundheit aller Menschen auf der Welt (WHO 2016 World Health Statistics):6
1,1 Milliarden Menschen rauchen Tabak.
156 Millionen Kinder unter fünf Jahren zeigen ein gehemmtes Wachstum, und 42 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind übergewichtig.
1,8 Milliarden Menschen trinken verunreinigtes Wasser, und 946 Millionen Menschen erledigen ihre Notdurft im Freien.
303 000 Frauen sterben an Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt.
5,9 Millionen Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag.
2 Millionen Menschen wurden neu mit HIV infiziert, es gibt 9,6 Millionen neue Fälle von Tuberkulose sowie geschätzte 214 Millionen (Spannweite: 148 bis 304 Millionen) Fälle von Malaria.
1,7 Milliarden Menschen müssen wegen verschleppter Tropenkrankheiten behandelt werden.
Über 10 Millionen Menschen sterben vor dem 70. Lebensjahr an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.
800 000 Menschen begehen Selbstmord.
1,25 Millionen Menschen sterben an den Folgen von Verkehrsunfällen.
4,3 Millionen Menschen sterben an den Folgen der Luftverschmutzung in Innenräumen, die von den zum Kochen verwendeten Brennstoffen verursacht wird.
3 Millionen Menschen sterben an den Folgen verschmutzter Außenluft.
475 000 Menschen werden ermordet, 80 Prozent davon Männer.
Die aktuelle Situation bezüglich der Gesundheit und des Wohlbefindens weltweit gibt dringend Anlass, darüber nachzudenken, wie wir leben und wie wir dieses Leben mit allen anderen Bewohnern des Planeten teilen. Die Daten zur Weltgesundheit verdeutlichen die Beziehungsstrukturen zwischen wirtschaftlicher Entwicklungsstufe, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Gesundheit und Lebensqualität. Zwischen 2000 und 2015 ist die Lebenserwartung weltweit um fünf Jahre gestiegen. Gleichzeitig gibt es bei der Lebenserwartung erhebliche Unterschiede, die mit den wirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen.
Tabelle I.1: Die fünf Länder mit der höchsten und der niedrigsten Lebenserwartung im Jahr 2015
Höchste Lebenserwartung
Niedrigste Lebenserwartung
Japan 83,7
Elfenbeinküste 53,3
Schweiz 83,4
Tschad 53,1
Singapur 83,1
Zentralafrikanische Republik 52,5
Australien 82,8
Angola 52,4
Island 82,7
Sierra Leone 50,1
Ist die Qualität unseres Lebens bedroht, stehen uns eine Reihe von Verteidigungsmechanismen zur Verfügung, um innere oder äußere Angriffe auf den Körpergeist abzuwehren und auf diese Weise die Gesundheit zu optimieren.7 Wenn Mikroorganismen, Giftstoffe oder Chemikalien von außen angreifen, erfüllen Haut, Schleimhäute, Zilien (Flimmerhärchen) und Speichel eine wichtige physische Barriere- und Filterfunktion. Dringen schädliche Krankheitserreger ein, unterscheidet unser hochsensibles Immunsystem bravourös Freund von Feind und erzeugt über 100 Millionen verschiedene Antikörper, die effektiv unser Überleben sichern. Berücksichtigt man zudem, dass wir normalerweise husten und niesen, um Reizstoffe postwendend aus dem Körper zu befördern, dass wir Interferone produzieren, um Tumoren zu bannen, und dass Entzündungen entstehen, um Bakterien zu töten oder verletztes Gewebe zu heilen, sind wir ziemlich gut geschützt.
Der Körpergeist weiß um alle diese Vorgänge, obwohl wir das gerne vergessen, wenn wir geistig abschweifen, uns Gedanken und Sorgen machen. Indem wir es vergessen – indem wir das Bewusstsein dafür verlieren, dass wir von Natur aus gesund sind –, schwächen wir häufig unsere Verteidigungsmechanismen. Bei Infektionen oder Verletzungen denken wir: »Ich bin krank.«, oder: »Ich bin verletzt.«. Wir definieren uns über reduktionistische Begriffe, mit denen wir uns selbst herabsetzen, statt zu sagen: »Ich bin ein gesunder Mensch und lebe mit oder erhole mich von diesem Leiden, das mein Gesundheitsempfinden stört.« Wenn wir ständig denken, wir seien nicht gesund, kommt es häufig auch so. Wir geben uns irrationalen Neurosen und ungesunden Aktivitäten hin und beeinträchtigen dadurch unsere natürliche heilende Resonanz.
Oft werden diese Neurosen greifbarer, wenn wir über unsere Sterblichkeit nachdenken. Wenn wir erkennen, dass die Gesundheit dieses Körpergeists vergänglich ist, bekommen wir häufig Angst, wollen es nicht wahrhaben und klammern uns an tröstliche Überzeugungen, ob sie nun eine wahre Grundlage haben oder nicht. Jede Kultur bietet mindestens ein Glaubenssystem, meist eine Religion, das alle Geschehnisse von der Geburt bis zum Tod (und in vielen Religionen sogar Wiedergeburt, Transzendenz oder gar Transmutation) erklärt. Wenn wir einwilligen, uns an bestimmte Vorschriften zu halten und dieses statt jenes zu glauben, dieses statt jenes zu tun, garantiert dieser Handel, der oft einem Pakt mit dem Teufel gleicht, die endgültige Befreiung vom Leiden und vielleicht sogar das ewige Leben.
Diese Erfahrungen machten alle Menschen zu allen Zeiten in allen Kulturen und Zivilisationen, die alle mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchten, das Leben zu verbessern. Dieses Verbesserungsprojekt der Menschheit findet seinen Ausdruck in Ritualen, Gebeten, Meditation, wissenschaftlichen Experimenten und deren Umsetzung. Die Folge davon ist eine große Zahl von Verfahren, von denen man glaubt oder weiß, dass sie die Gesundheit fördern und bewahren. Eines davon ist Yoga. Er ist in diesem Buch die wichtigste Quelle des Heilwissens. Im Ayurveda und der wissenschaftlichen Medizin finden wir eine wunderbare Ergänzung.
Yoga macht das Leben besser. Das wissen wir aus persönlicher Erfahrung. Für viele Menschen ist dies der Grund, weshalb sie Yoga praktizieren. Oberflächlich betrachtet macht er den Körper gesünder – stärker, beweglicher, geschmeidiger, mit einer besseren Einbindung und Funktion aller Organsysteme. Er verhilft uns zu einer nachhaltigeren und ausgewogeneren Energieversorgung. Er kann uns helfen, unsere Gedanken und Gefühle zur Ruhe zu bringen, uns mehr Selbsterkenntnis und einen besseren Umgang mit anderen ermöglichen. Für viele ist er auch eine spirituelle Praxis, die uns einen besseren Eindruck von der Welt in unserem Inneren und weit darüber hinaus verschafft und unserem Alltag einen tieferen Sinn verleiht.
Auf diese und andere Weise verheißt Yoga allen Menschen auf der Welt unabhängig von ihrem Alter oder ihren Umständen persönliches Wachstum und Transformation. Damit er seine positive Wirkung im Leben eines Menschen entfalten kann, muss freilich jeder den für ihn richtigen Yogaweg finden. Das heißt, der praktizierte Yoga sollte angesichts der aktuellen Umstände und Absichten sinnvoll sein, wobei unsere Umstände unsere Absichten prägen.
Die große Vielfalt der Umstände und der Absichten, die über das ganze menschliche Spektrum hinweg existieren, verlangt von Yogalehrern, dass sie auf Yogawegen Übungen anbieten und vermitteln, die für die Einzelnen aufgrund der Gegebenheiten ihres Lebens sinnvoll sind. Viele Yogastile, -marken und -gurus propagieren nur ihre Methode, die für alle Menschen richtig sein soll. In Wirklichkeit sind wir organische menschliche Wesen, und unsere Einzigartigkeit legt nahe, dass sich auch unsere Yogapraxis ganz oder teilweise von der Yogapraxis aller anderen Menschen unterscheiden sollte – oder dass wir ähnliche Übungen auf unterschiedliche Weise ausführen sollten.8 Unsere einzigartigen Eigenschaften offenbaren, welche Übungen für uns geeignet sind und welche nicht. Ein gesunder Sportler, ein kleines Kind, eine schwangere Frau, ein älterer Mensch mit fortgeschrittener Osteoporose, ein Kriegsveteran mit posttraumatischer Belastungsstörung und eine Patientin, die gerade eine Chemotherapie macht, dürften von unterschiedlichen Übungen profitieren. Doch heute findet der Yogaunterricht meist in Gruppen statt, in denen alle Schülerinnen und Schüler im Wesentlichen gleich unterwiesen werden – dies gilt sogar für die Modifikationsvorschläge, die Verwendung von Hilfsmitteln und die Erkundung von Variationen. Bei einigen Stilen sind die Asanas, die Übungsfolgen, das Tempo und die grundsätzliche Anleitung für alle gleich. Allerdings haben feste Übungsfolgen und Anweisungen unter Umständen nur dann einen Sinn, wenn alle Teilnehmer in gleich guter Verfassung sind und die Stunde entsprechend geplant und unterrichtet wird. Doch das ist unwahrscheinlich.
Eine vernünftige, das heißt auf die tatsächlichen Umstände eines Menschen abgestimmte Yogapraxis, wirkt für gewöhnlich heilend. Wenn wir Yoga therapeutisch einsetzen, setzen wir auf eine noch stärkere Anpassung der Yogaübungen, um die Heilung und Ganzheit des Einzelnen zu fördern – ob es sich dabei um einzelne Unterrichtsteilnehmer oder private Klienten handelt – und Gesundheitsprobleme gezielter anzugehen als in der allgemeinen Yogapraxis. Dieser Ansatz wird auch als »Yogatherapie« bezeichnet (und hat seinen Ursprung in dem uralten Konzept von yoga chikitsa, das auch für die höchst dynamische und oft verletzungsträchtige erste Serie im Ashtanga Vinyasa Yoga steht). Die International Association of Yoga Therapists (IAYT) definiert die Yogatherapie als »Prozess, der es den Einzelnen durch die Anwendung der Lehren und Übungen des Yoga ermöglicht, auf eine bessere Gesundheit und mehr Wohlbefinden hinzuarbeiten«.9 Ihre zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten sind in vielen Situationen eine Hilfe, unter anderem bei der Unterweisung von Schülerinnen und Schülern, die verletzt, schwanger, körperlich oder geistig erkrankt sind (was stets miteinander verknüpft ist) oder an einer der zahllosen schwächenden oder anderweitig problematischen Krankheiten leiden.
Mit seiner Anpassungsfähigkeit fordert ein heilender Yoga uns auf, den aktuellen Gesundheitszustand einer Schülerin oder eines Schülers als Ausgangspunkt zu nehmen, um ihn oder sie in der Yogapraxis anzuleiten. Da Yoga meist in Gruppen stattfindet, müssen Yogalehrer häufig Schüler mit Verletzungen oder in besonderen Lebenssituationen unterrichten. Dazu müssen sie über das Wissen und die Fähigkeiten verfügen, Schüler mit den entsprechenden Anpassungen anzuleiten. Auch Yogaschüler müssen dieses Grundwissen erwerben, wenn sie Yoga zur Selbstheilung nutzen möchten. Damit dies gelingt, müssen Lehrer und Schüler aus tiefen Quellen des Wissens und der Erfahrung schöpfen und Asanas, Pranayama, Meditation sowie weitere Elemente erkunden, die es uns ermöglichen, uns besser zu fühlen und so gut wie möglich zu leben. Dieses Buch stellt die nötigen Ressourcen zur Verfügung und bietet Ihnen die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, wie der Körpergeist funktioniert, was seine Funktion stört und wie man ihn mithilfe einer adaptiven Yogapraxis heilen kann.
Die sieben Ziele der Yogatherapie
Quälende Symptome beseitigen, lindern oder in Schach halten.Die Funktion verbessern.Das erstmalige oder wiederholte Auftreten zugrunde liegender Krankheitsursachen verhindern.Gesundheit und Wohlbefinden verbessern.Die Beziehung zu und die Identifikation mit gesundheitlichen Beschwerden verändern.Die Menschen befähigen, ihr eigener Lehrer und Heiler zu sein.Andere durch den Unterricht, die Weitergabe und die Vermittlung des Yoga unterstützen und sie inspirieren, in jedem Augenblick ihres Lebens wach, lebendig und voller Ehrfurcht zu sein.Nach den Richtlinien der International Association of Yoga Therapists (IAYT).
Die Gesundheitsvorstellung im Yoga hat üblicherweise ihre Wurzeln in philosophischen Vorstellungen vom spirituellen Sein, die den Zustand eines Menschen als Manifestation größerer Kräfte im Universum betrachten. Um welche Kräfte es sich dabei handelt und auf welche Weise sie zum Ausdruck kommen, wird in der Yogaliteratur und -praxis sehr unterschiedlich dargestellt. Es existieren buchstäblich Tausende von philosophischen, psychologischen und spirituellen Vorstellungen und Bezeichnungen. Oft kommt es vor, dass zahlreiche Begriffe im Grunde das Gleiche bezeichnen. Unterschiede weisen häufig eher auf eine Stimmung oder Betonung als auf wesentliche Abweichungen oder Uneinigkeit hin. Andererseits begegnen uns erhebliche Differenzen bei grundlegenden Vorstellungen zum Beispiel über den Yoga oder gar das Leben selbst. Die klare Erörterung therapeutischer Yogapraktiken wird zum Teil durch die Unterschiede in der zugrunde liegenden Philosophie und sogar der Sprache erschwert, in der darüber gesprochen wird. Mit diesem Buch machen wir den Versuch einer Zusammenfassung und Synthese der bedeutendsten Konzepte, die es uns gestatten, eine einheitliche und praktische Sicht des Yoga auf Leben, Gesundheit und Heilung des Menschen zu formulieren.
Angesichts einer Yogaszene, die beinahe täglich neue Marken und Stile hervorbringt, könnte der Eindruck entstehen, dass auch die Yogatherapie eine dieser Neuerungen ist. Ziehen wir dazu noch die neuesten maßgeblichen Forschungen in Betracht, wonach die meisten modernen Yogahaltungen erst in den letzten hundert Jahren entstanden sind – ein Widerspruch zu vielen Yogastilen, welche die unverfälschte und ununterbrochene Überlieferung angeblich uralter Formen und Methoden für sich in Anspruch nehmen –, ertappen wir uns dabei, dass wir das historische und philosophische Fundament des Yoga infrage stellen.1 Inzwischen können wir zwar mit Fug und Recht behaupten, dass die letzten hundert Jahre die vielleicht wichtigste Wende in der Entwicklung der Yogapraktiken und Yogatechniken einschließlich der Yogatherapie brachten. Dennoch existiert ein tiefer Quell heilenden Wissens in frühen, klassischen und modernen Texten, aus dem der zeitgenössische Yoga auf ganz unterschiedliche Weise schöpft.
Wenn zeitgenössische Yogis historische und philosophische Themen diskutieren, können sich Tatsachen und Vernunft leicht mit Mythos und Mysterium vermischen. Diese beiden Endpunkte des philosophischen Kontinuums behalten bei der Betrachtung aller Aspekte des Yoga nach wie vor ihre Gültigkeit. Wie immer behaupten einige, der gesamte Yoga werde aus einer ursprünglichen Quelle gespeist und sei in ununterbrochener Linie zu uns in die Gegenwart gelangt, wenngleich er dabei von jenen verwässert worden sei, die bestimmte Elemente geändert hätten. Andere sagen, der Yoga habe sich aus einer ursprünglichen Quelle entwickelt und im Laufe der Jahrtausende verschiedene Neuerungen erfahren, doch seine wahre Essenz sei im Kern bestimmter Praktiken (für gewöhnlich denen des eigenen Stils oder der eigenen Marke) erhalten geblieben. In einer Yogakultur, welche die Wahrheit als zentralen moralischen Wert propagiert, ist die beharrliche Wiederholung derartiger Behauptungen trotz überwältigender Gegenbeweise eine Ironie, wenn nicht gar ein Anlass zur Besorgnis.
Im Bereich der Yogatherapie sind diese Spannungen offensichtlich und können ihre Geschichte – wie beim Yoga im Allgemeinen wäre es zutreffender, von »Geschichten« zu sprechen – sowie alle dargelegten Prinzipien und Techniken vernebeln und verschleiern. Oft ist die Geschichte der Heilung durch Yoga untrennbar mit der Geschichte des Ayurveda und der Geschichte der wissenschaftlichen Medizin verknüpft. Wir werden versuchen, diese Beziehungen darzulegen, indem wir einen Überblick über Yoga, Ayurveda und wissenschaftliche Medizin von ihren Anfängen im Altertum bis heute geben, bevor wir prüfen und entscheiden, welche der überlieferten Weisheiten, Vorstellungen und Praktiken am besten geeignet sind, die Yogatherapie des 21. Jahrhunderts zu inspirieren.
Yoga ist Kunst und Wissenschaft des Lebens.
– INDRA DEVI
Wir beginnen mit einer einfachen Frage, auf die wir viele Antworten finden können: Was ist Yoga? Und während wir uns damit beschäftigen, kommen wir allmählich auch zu der zweiten Frage, die sich im Titel dieses Buches verbirgt: Was ist Heilung? Dieser Einstieg ist dem Wunsch nach Klarheit geschuldet, die das Herzstück des Yoga bildet: Eines der Grundanliegen der Yogapraxis ist es, Leiden durch ein klareres Bewusstsein und gesundes Handeln zu lindern. Diese Absicht finden wir sowohl in der Yogaliteratur von den Anfängen bis zur Moderne als auch in den Dingen, die wir natürlich in unserer Asana-, Pranayama- und Meditationspraxis erkennen können.1
Manch einer behauptet zudem, dass es bei der schriftlichen Auseinandersetzung mit einem Thema auf eine klare Wortwahl ankäme. Wörterbücher enthalten Definitionen, die eine gemeinsame, allgemein verständliche Verwendung von Wörtern erlauben. In unterschiedlichen Wörterbüchern findet man zwar gelegentlich leicht abweichende Definitionen der gleichen Begriffe, aber meist herrscht Einigkeit. Stellen Sie sich vor, wie verwirrend es wäre, wenn es 50 verschiedene Definitionen des Begriffs Wortschatz gäbe. Zum Glück ist dies nicht der Fall, und im Allgemeinen bezeichnet er die »Gesamtheit der Wörter einer Sprache«.2
Doch was Yoga angeht, sind die Definitionen alles andere als klar oder einheitlich. Das schafft Probleme bei dem Versuch, die Grundsätze einer therapeutischen Anwendung darzulegen. Yoga bedeutet für jeden etwas anderes. Den Quellen von den Anfängen bis zur Moderne können wir entnehmen, dass dies schon immer so war – und allem Anschein nach wird die Vielfalt immer größer. Wie wir sehen werden, hat diese Vielfalt und Vieldeutigkeit auch etwas Schönes, obwohl sie Diskussionen wie in diesem Buch erschwert. In der Tat werden wir zunächst bei der Verwirrung in vielen Bereichen ansetzen und uns zielstrebig bemühen, mehr Verständnis zu schaffen. Dieses Vorgehen spiegelt das Bild wider, das viele Menschen vom Weg der Yogapraxis haben.
Eine »Philosophie des Yoga« ist eine mehr oder weniger zusammenhängende, systematische und umfassende Herangehensweise an Praktiken, die man als Yoga bezeichnet. Wie es scheint, gibt es schon immer verschiedene Yogapraktiken – und wie es scheint, gibt es auch schon immer verschiedene Yogaphilosophien. Daher ist es sinnvoll, die Formulierung »traditionelle Yogaphilosophie« in den Plural zu setzen. Anders als bei einigen gängigen Missverständnissen beginnt die Verwirrung hier bereits bei dem Wörtchen »traditionell«. Manche Menschen verstehen darunter einen bestimmten Zeitraum, während andere es mit einer bestimmten Yogatradition verbinden (und wieder andere beides tun). Im ersten Fall finden wir Hinweise auf die »prävedische Zeit« oder die »Zeit des klassischen Yoga« und so weiter; im zweiten haben wir es mit Begriffen wie »Vedanta«, »tantrisch«, »Hatha« und wie es scheint noch vielen mehr zu tun.3
Wenn wir versuchen, die im Laufe der Jahrhunderte entstandene Bedeutung des Yoga zu ergründen, stoßen wir zunächst auf Vorstellungen, die nur wenig mit dem zu tun haben, was wir heute unter Yoga verstehen.4 Da ist das Wort yuj aus dem Sanskrit, das erstmals im Rigveda Verwendung fand, der vermutlich um 1500 v. Chr. entstand. Es bedeutete, »Pferde oder einen Streitwagen anjochen oder zusammenbinden oder anspannen oder anschirren« und meinte auch den Streitwagen selbst. Im Ramayana (etwa 200 v. Chr. bis 200 n. Chr.) kommt der Begriff in den Bedeutungen »bereit machen«, »vorbereiten«, »einrichten«, »ausstatten«, »anwenden« oder »eine Armee ausrüsten« vor. Gewaltige Bedeutungsunterschiede zeigen sich im Mahabharata, dessen früheste Verse (es existieren über 200 000 Zeilen aus der Zeit zwischen 300 v. Chr. und 300 n. Chr.) aus vedischer Zeit stammen: »Pfeile auf eine Bogensehne legen«, »ehelich verbunden sein«, »Fallen stellen«, »umarmen«, »jemanden berufen oder einsetzen wollen« und vieles mehr.5
Eine Gemeinsamkeit dieser und vieler weiterer früher Yogaschriften ist der Streitwagen. Er dient dazu, in den Himmel zu gelangen. Als Vorgeschichte des großen Kriegs, den das Mahabharata schildert, ist großes Unrecht im Reich geschehen: Die rechtmäßigen Herrscher wurden entmachtet und sind in den Dschungel geflohen. In dem Kampf, der Gerechtigkeit und Harmonie wiederherstellen soll, fällt Prinz Arjuna die Führung zu. Als er auf einem Streitwagen in die Schlacht zu Kurukshetra fährt, spricht sein Wagenlenker Krishna zu ihm über maya (die Illusion), rechte Wahrnehmung und dharma (den von Sinn erfüllten, ja sogar als Pflicht zu verstehenden Weg im Leben). Die praktische und zutiefst spirituelle Kernaussage ist, dass man die Maya der unmittelbaren Erfahrung nicht mit der Wahrheit göttlichen Seins, Lebens oder gar Transzendenz verwechseln soll. So, wie die Götter im Himmel ihre Streitwagen lenken – der ein Symbol dafür ist, dass man sich im Gottbewusstsein befindet oder ins Gottbewusstsein versetzt wird –, lenkt der Yogi den Streitwagen der Praxis, um die Illusion zu überwinden und dadurch Erlösung vom Leiden auf Erden zu finden. Krishna erklärt ferner, dass es nicht nur einen, sondern mindestens drei Yogapfade gibt. Damit präsentiert er uns die ersten Yogastile: bhakti Yoga (den Yoga der Hingabe), jnana Yoga (den Yoga des Wissens) und karma Yoga (den Yoga des selbstlosen Dienens).6
Die höchst unterschiedliche Verwendung des Begriffes yuj in den Veden weicht allmählich Vorstellungen, die mehr Ähnlichkeit mit der heutigen Yogakultur haben. Den Anfang macht die Kathaka Upanishad aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Sie enthält einige Schlüsselelemente, die im Zuge der weiteren Entwicklung der Yoga- und Yogatherapiepraktiken der nächsten Jahrhunderte immer wieder auftauchen werden: eine Yogaphilosophie, die Identifikation des individuellen Selbst oder der Seele mit dem universellen Selbst (brahman) sowie ein dualistisches System von Körper und Geist, in dem sich die Samkhya-Philosophie (einer der sechs Hauptzweige der indischen Philosophie) spiegelt.7 Bei allen diesen Elementen geht es darum, höhere Bewusstseinszustände zu erreichen; viele bezeichnen Mantras als unverzichtbar (besonders das Singen von Aum, dem Klang von Brahman); und die meisten erfahren eine immer stärkere Systematisierung, wobei spezielle kriyas (Handlungen) moksha (Befreiung von der Illusion und damit dem Leiden) bringen sollen.
Von Asanas ist in der Anfangszeit des Yoga kaum die Rede. Sie werden nur in zwei der 195 (oder 196, je nach Zählung) Aphorismen erwähnt, aus denen das Yogasutra des Patanjali aus dem frühen 4. Jahrhundert n. Chr. besteht, und kommen in der Bhagavad Gita überhaupt nicht vor – den beiden Werken über Yoga, die in moderner Zeit am häufigsten zitiert werden. Stattdessen dient Yoga als Instrument der Erlösung, die man erlangt, indem man die eigenen Erkenntnisfähigkeiten justiert, um die Wirklichkeit korrekt wahrzunehmen. Dies lässt sich in erster Linie durch disziplinierte Meditation erreichen, zuweilen begleitet von pranayamas (speziellen Atemtechniken). Das Yogasutra schildert eine Methode, für die Swami Vivekananda Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff des raja Yoga (des »königlichen« Yoga) prägen sollte – eine Synthese aus bestimmten Yogasträngen, die damals existierten (und die Vivekananda großzügig und kreativ mit Elementen aus verschiedenen Quellen, vor allem aus der Theosophie, ergänzte).8
Der Zweck des Yoga wird im zweiten Aphorismus mit citta vrtti nirodhah angegeben – der »Beruhigung der Bewegungen des Geistes«. Dies ist der Ausgangspunkt für Patanjalis verschlungene Yogapsychologie mit samskaras (ererbten gedanklichen Neigungen und Gewohnheiten), kleshas (den Geist trübenden Leidenschaften) und avidya (Nichtwissen, dem über allem stehenden Klesha) sowie für disziplinierte Methoden der Kontemplation, mit deren Hilfe man diese Probleme lindern oder überwinden kann. Dies ist der Inhalt seines ersten Kapitels, in dem er seinen methodischen Ansatz darlegt. Im zweiten Kapitel zeigt er eine Alternative zu diesem schwierigen Weg: die ausdauernde, aber nicht anhaftende Praxis des ashtanga Yoga (des achtgliedrigen Yoga), auf die wir erneut zurückkommen werden. Wer noch weitergehen möchte, kann übernatürliche Kräfte und Allwissenheit erlangen (Kapitel 3) und sein Bewusstsein so stark erweitern, dass er das Reich der Sterblichen gänzlich überwindet (Kapitel 4).9
Obwohl auch viele andere Vorstellungen über Yoga bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind, finden wir innerhalb weniger Jahrhunderte nach Patanjalis Yogasutra breite Anerkennung für den Gedanken, dass es im Yoga hauptsächlich um Erlösung durch rechte Wahrnehmung und klare Geistesfunktion gehe und dass Meditation und Mantra die Hauptformen der Praxis seien. White formuliert es so: »Gnosis – transzendente, unmittelbare, nicht konventionelle Kenntnis der höchsten Realität, der Realität hinter dem äußeren Schein – ist sowohl in diesen Erlösungslehren als auch in den wichtigsten philosophischen Schulen Indiens, die meist um den Beginn der christlichen Zeitrechnung entstanden, der Schlüssel zur Erlösung.«10 Es geht auch um erweitertes Pranayama, das zunehmend als fester Bestandteil der Praxis gilt. Später finden wir die weitere Ausarbeitung dieser Gedanken in tantrischen Schriften zum Aufbau von prana, einem wesentlichen Element der feinstofflichen Physiologie, welches das Gefühl erzeugt, Teil des gesamten Universums zu sein und Unsterblichkeit zu erlangen. Manche gehen sogar noch weiter, sprechen von Allwissenheit und übernatürlichen Kräften.
Wie erwähnt kursieren auch zur Geschichte des Yoga die verschiedensten Behauptungen, ja sogar umfangreiche Mythen, die trotz bestechender Beweise, dass sie frei erfunden sind, weiter Bestand haben. Gerne wird versichert, der eigene moderne Yogastil sei der reinste, wahrste oder ursprünglichste von allen. So mancher behauptet sogar, andere Ansätze würden vom wahren Pfad des Yoga abweichen. Wir stellen zudem fest, dass einige Mitglieder der Yogakultur der vielleicht tröstlichen, aber deshalb nicht weniger mythischen romantischen Vorstellung von dem einen Yoga anhängen, das heißt, dass die vielen verschiedenen Praktiken im Grunde allesamt Teil eines ursprünglichen Aktes, Impulses oder Gedankens seien. Manch einer erklärt, dass dieser eine Yoga auch heute noch sei, wie er immer war, und dass alles, was von diesem ursprünglichen und vermeintlich wahren Yoga abweiche, kein Yoga sei.11 Über den Yoga selbst stellen unzählige Autoren und Lehrer die beliebte mythische Behauptung auf, die Praxis reiche über 5000 Jahre zurück und sei eine der wenigen spirituellen Traditionen mit einer lückenlosen Geschichte. Dagegen steht eine beträchtliche Zahl wissenschaftlicher Forschungen, die von den Anfängen bis heute sowohl Unterbrechungen in seiner Geschichte als auch Neuerungen offenbaren. Die kuriose und falsche Vorstellung von dem einen Yoga wird seit Jahren im Wesentlichen unverändert wiederholt und wächst zur vielleicht größten Yogalegende heran, die meist als gängige Vorstellung akzeptiert wird (man könnte auch von einem klassischen Fall ideologischer Hegemonie im Yoga sprechen).12 Trotz allem ist sie ein Mythos.
Wieder andere sprechen von einem ursprünglichen Yoga, der sich im Laufe der Jahrtausende weiterentwickelt hat (statt immer gleich zu bleiben) und sich auch heute noch weiterentwickelt.13 Damit geht oft die kühne, aber haltlose Behauptung einher, der eigene Ansatz entspringe einer uralten und ursprünglichen Quelle, wie wir sie im Ashtanga Vinyasa Yoga, Bikram Yoga, Sivananda Yoga und vielen anderen Yogastilen finden.14 In der Tradition Krishnamacharyas ist sie weit verbreitet – angefangen bei der Behauptung von Krishnamacharya höchstpersönlich, dass er die von ihm unterrichteten Yogatechniken als göttliche Eingebung von Nathamuni, einem Weisen aus dem 9. Jahrhundert, empfangen habe und dass sie an moderne Bedürfnisse angepasst worden seien.15
Angesichts dieser Behauptungen, Ansprüche und Kritik kann einem der Kopf schwirren. Um Klarheit zu bekommen, werden wir noch einmal einen Schritt zurückgehen und eine vermeintlich einfache Frage stellen: Was ist Yoga?
Vorab können wir sagen, dass es in der Antwort um das weite Feld des Yoga, die Vielfalt der Ansätze, die Einzigartigkeit vieler Techniken und den Nutzen geht, den einzelne Elemente aller Ansätze für die Gesundheit und die Praxisabsichten vieler Schüler haben können. Für die Yogatherapie ist dieses weite Feld etwas Wunderbares, legt es doch nahe, dass es eine ähnlich große Auswahl an Möglichkeiten gibt, wie Sie am besten mit den individuellen Schülern in Ihren Kursen und Klienten im Rahmen von Behandlungen arbeiten können, um deren Heilung zu unterstützen.
Yoga entspringt dem ebenso breiten wie tiefen Fluss uralter Traditionen.16