Zehn Tage, die die Welt erschütterten - John Reed - E-Book

Zehn Tage, die die Welt erschütterten E-Book

John Reed

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Beschreibung

Die berühmten Augenzeugenberichte und Reportagen John Reeds von der Russischen Revolution 1917 sind gerade heute angesichts der revolutionären Entwicklungen in den arabischen Ländern hochaktuell. "Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben." John Reed

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Warum sind sie wieder da?

Warum sind sie wieder da?

80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrt Deutschland zu einer aggressiven Großmachtpolitik zurück, und all der Schmutz, der lange als überwunden galt, kommt wieder hoch. Wie in den 1930er Jahren reagiert die herrschende Klasse auf die tiefe Krise des Kapitalismus mit Rassismus, Nationalismus und Militarismus. Rechte Terrornetzwerke reichen bis tief in den Staatsapparat hinein.

Das Buch »Warum sind sie wieder da?« weist detailliert nach, wie der Aufstieg der AfD durch Professoren, Medien und Parteien ideologisch und politisch vorbereitet wurde. Es untersucht die Parallelen und Unterschiede zu 1933 und erklärt, weshalb die wachsende Opposition von Arbeitern und Studierenden gegen rechts heute wie damals ein sozialistisches Programm erfordert.

John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten

Aus dem Amerikanischen von Willi Schulz

Mehring Verlag

Inhalt

I. Hintergrund

II. Der heraufziehende Sturm

III. Am Vorabend

IV. Der Sturz der Provisorischen Regierung

V. Im Sturmschritt voran

VI. Das Komitee für die Rettung Russlands und der Revolution

VII. Die revolutionäre Front

VIII. Die Gegenrevolution

IX. Sieg

X. Moskau

XI. Festigung der Macht

XII. Der Bauernkongress

Bemerkungen und Erklärungen

I. Hintergrund

John Reed

Gegen Ende September 1917 besuchte mich ein ausländischer Professor der Soziologie in Petrograd. Ihm war von Männern der Wirtschaft und von Intellektuellen erzählt worden, dass die Revolution im Abebben sei. Der Herr Professor schrieb darüber einen Artikel und durchreiste dann das Land; er besuchte Fabrikstädte und Dorfgemeinden, wo zu seinem großen Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen schien. Unter den Lohnarbeitern und der werktätigen Landbevölkerung ertönte immer öfter der Ruf: »Alles Land den Bauern!« »Alle Fabriken den Arbeitern!« Wenn der Herr Professor die Front besucht hätte, so hätte er hören können, wie in der ganzen Armee von nichts als dem Frieden die Rede war …

Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund; beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer, die Volksmassen radikalisierten sich.

In den Reihen der Geschäftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein das Gefühl, dass die Revolution weit genug gegangen war und schon allzu lange währte; dass es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser Auffassung waren auch die herrschenden »gemäßigten« sozialistischen Gruppen, die sozialpatriotischen Menschewisten und Sozialrevolutionäre, die die Provisorische Kerenski-Regierung unterstützten.

Am 14. Oktober erklärte das offizielle Organ der »gemäßigten« Sozialisten:

»Das Drama der Revolution hat zwei Akte: die Zerstörung der alten Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert. Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als möglich zu Ende zu führen. Von einem großen Revolutionär stammt das Wort: ›Eilen wir uns, die Revolution zu beenden. Wer sie zu lange währen lässt, läuft Gefahr, um ihre Früchte zu kommen‹ …«

Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen Überzeugung, dass der »erste Akt« noch lange nicht zu Ende gespielt war. An der Front stießen überall die Armeekomitees mit den Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gewöhnen konnten, die Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern gewählten Landkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von der Regierung angeordneten Landbestimmungen durchzuführen; und die Arbeiter in den Fabriken mussten einen schweren Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen führen. Die zurückkehrenden politischen Verbannten wurden als »unerwünschte Bürger« vom Lande ausgeschlossen und in manchen Fällen wurden Menschen, die aus dem Auslande in ihre Dörfer zurückkehrten, wegen der im Jahre 1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert.

Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die »gemäßigten« Sozialisten nur eine Antwort: die Konstituierende Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und schön; doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die Russische Revolution gemacht worden war, für die die revolutionären Märtyrer, die in den Massengräbern des Marsfeldes lagen, ihr Blut verspritzt hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter über die Industrie. Die Konstituierende Versammlung war bisher immer wieder vertagt worden – und würde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, solange vielleicht, bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen zu verzichten. Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und wenig genug zu sehen …

Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie einfach desertierten; die Bauern brannten die Gutshäuser nieder und setzten sich in den Besitz der großen Güter; die Arbeiter streikten … Die Fabrikanten, Gutsbesitzer und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einfluss ein, um jedes demokratische Zugeständnis zu verhindern …

Die Politik der Provisorischen Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdrückung. Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, dass die Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten dürften. Bei den Truppen an der Front wurden die »Agitatoren« der oppositionellen politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die Todesstrafe gegen revolutionäre Propagandisten angewandt. Versuche wurden unternommen, die roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten …

Diese Maßnahmen wurden von den »gemäßigten« Sozialisten und ihren Führern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden Klassen für notwendig hielten, gutgeheißen. Die Volksmassen wandten sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki über, die für Frieden, Land, für die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie und für eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September 1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den überwältigenden Willen des Landes gelang es Kerenski und den »gemäßigten« Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten; das Resultat war, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre das Vertrauen des Volkes endgültig verloren.

Ein Artikel im »Rabotschi Putj«, um die Mitte des Oktobers, unter dem Titel »Die sozialistischen Minister«, brachte die Meinung der Volksmassen über die »gemäßigten« Sozialisten wie folgt zum Ausdruck:

Hier eine Liste ihrer Leistungen:

Zeretelli: entwaffnete die Arbeiter mit Unterstützung des Generals Polowzew, brachte den revolutionären Soldaten eine Niederlage bei und stimmte der Todesstrafe in der Armee zu.

Skobelew: begann mit dem Versuch, eine hundertprozentige Steuer auf die Profite der Kapitalisten zu legen und endete – und endete mit dem Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkstätten und Fabriken aufzulösen.

Awksentjew: warf einige 100 Bauern ins Gefängnis, die Mitglieder der Landkomitees, und unterdrückte Dutzende von Arbeiter- und Soldatenzeitungen.

Tschernow: unterzeichnete das »Kaiserliche« Manifest, das die Auflösung des Finnischen Landtages anordnete.

Sawinkow: schloss ein offenes Bündnis mit dem General Kornilow. Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so ist das auf Gründe zurückzuführen, die seinem Einfluss nicht unterlagen.

Sarudny: kerkerte mit Zustimmung Alexenskis und Kerenskis einige der besten Revolutionäre, Soldaten und Matrosen, ein.

Nikitin: handelte als ordinärer Polizist gegen die Eisenbahner.

Kerenski: Über den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner Leistungen würde zu lang werden …

Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschloss eine Resolution, die wie folgt begann:

»Wir fordern die sofortige Beseitigung des politischen Abenteurers Kerenski, der die große Revolution und mit ihr die revolutionären Massen durch seine schamlosen politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet, aus den Reihen der Provisorischen Sozialistischen Regierung …«

Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki …

Seit dem März 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den Taurischen Palast die widerstrebende Kaiserliche Duma zwang, die Macht in Russland zu übernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie stürzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt die russischen Friedensvorschläge verkündete: »Keine Annexionen, keine Entschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker!« Und wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats, das zum zweiten Male den Taurischen Palast stürmte und die Forderung erhob: Übernahme der Regierungsgewalt in Russland durch die Sowjets.

Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des völligen Misserfolges der Erhebung war, dass sich die öffentliche Meinung gegen sie kehrte. Ihre führerlosen Massen fluteten in das Wyborg-Viertel zurück, dem St. Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin und Sinowjew mussten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die bolschewistischen Zeitungen wurden unterdrückt. Provokateure und Reaktionäre wurden nicht müde, die Bolschewiki als deutsche Agenten zu bezeichnen, bis es in der ganzen Welt geglaubt wurde.

Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die Dokumente, die die prodeutsche Verschwörertätigkeit der Bolschewiki beweisen sollten, wurden als Fälschungen enthüllt. Und die Bolschewiki wurden, einer nach dem anderen, aus den Gefängnissen entlassen, ohne jeden Prozess, gegen nominelle oder ohne jede Bürgschaft, bis nur sechs Verhaftete übrig blieben. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen so wertvolle Losung auf: »Alle Macht den Sowjets!«, und sie taten das nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit gehörte die Mehrheit in den Sowjets den »gemäßigten« Sozialisten, ihren wütendsten Gegnern.

Doch mehr noch, sie übernahmen die elementaren, einfachen Wünsche der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm. Und während die sozialpatriotischen Menschewisten und Sozialrevolutionäre sich verwirrten in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen. Im Juli waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den großen Städten stattfanden, waren dafür bezeichnend; nur 18 Prozent der Gewählten waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gegenüber mehr als 70 Prozent im Juni …

Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist, den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: Das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets, die Zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post- und Telegrafenarbeiter und der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gewählt worden, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch eine ungeheure Anhängerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus oder verhinderten sie sogar. So hätte beispielsweise den Bestimmungen der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemäß der Allrussische Sowjetkongress zum September einberufen werden müssen; doch das Zentrale Exekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen, unter dem Vorwand, dass die Konstituierende Versammlung in spätestens zwei Monaten tagen würde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der Sowjets erledigt wäre und sie abzutreten hätten. Mittlerweile eroberten die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem andern der örtlichen Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten- und Matrosenmassen. Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den rückständigen ländlichen Gebieten das politische Bewusstsein sich nur langsam entwickelte; außerdem hatte seit einer ganzen Generation die Agitation unter den Bauernmassen in den Händen der Sozialrevolutionäre gelegen … Doch selbst unter den Bauern begann sich ein revolutionärer Flügel zu bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als der linke Flügel der Sozialrevolutionäre sich abspaltete und eine neue politische Partei bildete, die Partei der Linken Sozialrevolutionäre.

Gleichzeitig waren allenthalben Anzeichen vorhanden, dass die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann. In der Troizki-Komödie in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske mit dem Titel »Die Sünden des Zaren« von einer Monarchistengruppe gestört, die die Schauspieler zu lynchen drohten, weil sie »den Zaren beleidigt« hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem »russischen Napoleon« zu rufen.

Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem großrussischen Kapitalisten, Stefan Georgewitsch Lianosow, bekannt als der »russische Rockefeller«, seiner politischen Parteizugehörigkeit nach ein Kadett.

»Die Revolution«, sagte dieser, »ist eine Krankheit. Früher oder später werden die fremden Mächte intervenieren müssen, gerade so, wie man intervenieren muss, um ein krankes Kind zu heilen oder es laufen zu lehren. Natürlich wird das mehr oder weniger unangenehm sein, aber die Nationen müssen sich klar werden über die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen Ländern, über die Gefährlichkeit so ansteckender Ideen, wie die der proletarischen Diktatur und der sozialen Weltrevolution … Es besteht eine Möglichkeit, dass diese Intervention nicht notwendig ist: Das Transportwesen ist zerstört, die Fabriken schließen ihre Tore und die Deutschen sind im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage möchten vielleicht das russische Volk zur Vernunft bringen …«

Herr Lianosow erklärte entschieden, dass die Kaufleute und Fabrikanten unter keinen Umständen sich mit der Existenz der Fabrikkomitees abfinden oder zugeben könnten, dass die Arbeiter irgendeinen Einfluss auf die Leitung der Industrie gewinnen.

»Was die Bolschewiki anbelangt, so könnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden: Die Regierung kann Petrograd räumen, dann den Belagerungszustand erklären, womit der Militärkommandant des Gebiets die Möglichkeit erhalten würde, mit diesen Herrschaften, ungehindert durch gesetzliche Formalitäten, abzurechnen … Oder aber, falls die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopische Neigungen zeigen sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinander getrieben werden …«

Der Winter rückte heran – der schreckliche russische Winter. Ich hörte Kapitalisten über ihn wie folgt sprechen: »Der Winter war immer Russlands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution befreien.« An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und zu sterben, ohne Begeisterung. Die Eisenbahnen brachen zusammen, die Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren und die Niederlage an der Front zu organisieren. Riga war preisgegeben worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller Öffentlichkeit erklärt hatte: »Vielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen müssen, um das Land zum Bewusstsein seiner Pflicht zu bringen.«

Für Amerikaner mag es unglaublich klingen, dass der Klassenkampf sich dermaßen zuspitzen kann. Aber ich habe persönlich an der Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den militärischen Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erzählte mir, dass der Zusammenbruch des ökonomischen Lebens des Landes ein Teil der Kampagne war, der die Revolution diskreditieren sollte. Ein Ententediplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe, bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich weiß von gewissen Kohlenbergwerken in der Nähe von Charkow, die von ihren Besitzern in Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau, deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerstört hatten, von hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie die Lokomotiven zu zerstören im Begriff waren …

Ein großer Teil der besitzenden Klassen zog die Deutschen der Revolution vor – selbst der Provisorischen Regierung – und zögerte nicht, dies auszusprechen. In der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die Ordnung und Ruhe bringen würden … Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie vorzögen, »Wilhelm oder die Bolschewiki«. Zehn stimmten für Wilhelm …

Die Spekulanten nützten die allgemeine Desorganisation aus, um Reichtümer aufzuhäufen, die sie in phantastischen Schwelgereien vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel und Brennmaterial wurden versteckt oder im Geheimen nach Schweden verkauft. In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die Lebensmittelreserven fast in voller Öffentlichkeit aus den großen städtischen Speichern Petrograds geplündert, bis von den Getreidevorräten, die für zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug übrig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen … Nach dem offiziellen Bericht des letzten Ernährungsministers in der Provisorischen Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Großeinkauf für zwei Rubel das Pfund gekauft, während die Konsumenten in Petrograd dreizehn Rubel bezahlen mussten. In den Speichern der großen Städte waren große Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen konnten sie kaufen.

Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie, die sich der Spekulation zugewandt hatte. Die drei Söhne hatten sich vom Militärdienst gedrückt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte im Geheimen Gold aus den Lena-Gruben an geheimnisvolle Interessenten in Finnland. Der dritte besaß die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik, die die örtlichen Genossenschaften versorgte – unter der Bedingung, dass die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte. Während die Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte er im Überfluss Weißbrot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter … Das hinderte diese saubere Familie nicht, die erschöpften Soldaten, die an der Front infolge der Kälte, des Hungers nicht mehr kämpfen konnten, als »Feiglinge« zu beschimpfen, dass sie sich »schämten«, »Russen« zu sein … und dass sie, als die Bolschewisten große Mengen versteckter Vorräte entdeckten und beschlagnahmten, diese als »Räuber« bezeichneten.

Unter all dieser äußeren Aufregung arbeiteten die alten reaktionären Kräfte, die sich seit dem Sturze Nikolaus’ II. nicht geändert hatten, im Geheimen, still und sehr aktiv. Die Agenten der berüchtigten Ochrana waren noch immer in Funktion, für und gegen den Zaren, für und gegen Kerenski – je nachdem, von wem sie bezahlt wurden … Geheime Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bemüht, in der einen oder andern Weise die Reaktion wiederherzustellen.

In dieser Atmosphäre der Fäulnis, der halben Wahrheiten, ließ sich, tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki: »Alle Macht den Räten!«, »Alle Macht den direkten Vertretern der Millionen und Abermillionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!«, »Land, Brot!«, »Schluss mit dem sinnlosen Krieg!«, »Schluss mit der Geheimdiplomatie!«, »Schluss mit der Spekulation und dem Verrat!« … »Die Revolution ist in Gefahr und die Sache des Volkes der ganzen Welt!«

Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem Gipfel nahe. Russland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter ins 20. Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution – der formal politischen und der sozialen.

Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese Russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Russland besser kennen sollen.

Blickt man zurück, so scheint das Russland vor dem Novemberaufstand einem andern Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepasst. In dem Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski »ein Konterrevolutionär«; die »mittleren« sozialistischen Führer, Zeretelli, Dan, Liber und Awksentjew waren zu reaktionär für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Viktor Tschernow, ja sogar Maxim Gorki, gehörten zum rechten Flügel …

Gegen Mitte Dezember 1917 besuchte eine Gruppe sozialrevolutionärer Führer privatim Sir George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig, nichts davon zu erwähnen, dass sie bei ihm gewesen waren, weil sie als »zu weit rechts stehend« betrachtet wurden.

»Man bedenke«, sagte Buchanan, »dass noch vor einem Jahr die englische Regierung mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er ein so gefährlicher Linker war.«

Der September und der Oktober sind die schlimmsten Monate im russischen Jahr, besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die kürzer werdenden Tage noch dunkler machte, strömte unaufhörlicher Regen. Der Schmutz in den Straßen lag knietief, schlüpfrig, schlimmer als gewöhnlich, infolge des völligen Zusammenbruchs der Stadtverwaltung. Aus dem Meerbusen von Finnland fegte ein feuchter Wind, die Straßen waren in kalten Nebel gehüllt. Des Nachts waren sowohl aus Gründen der Sparsamkeit wie aus Furcht vor den Zeppelinen die Straßen nur ganz unzureichend beleuchtet; in den privaten Wohnungen und Mietshäusern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis Mitternacht, wollte man außer dieser Zeit Licht haben, so war man auf Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das Stück kosteten. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags finster. Überfälle und Einbrüche nahmen zu. In den Mietshäusern mussten die Männer jede Nacht mit geladenen Gewehren Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.

Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die tägliche Brotration fiel von anderthalb russischen Pfund auf drei Viertel, dann auf ein Viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot überhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht auf zwei Pfund im Monat, vorausgesetzt, dass man überhaupt welchen erhielt, was selten der Fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Kandis, ohne jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, mindestens einen Dollar. Milch gab es für die Hälfte der Säuglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen bekamen sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden Äpfel und Birnen für etwas weniger als einen Rubel das Stück an den Straßenecken verkauft …

Um Milch und Brot, Zucker und Tabak musste man stundenlang im kalten Regen anstehen. Als ich einmal aus einer die ganze Nacht währenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen, meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen anzustellen begannen … Carlyle hat in seiner Geschichte der Französischen Revolution das französische Volk als das Volk bezeichnet, das in der Kunst des Anstehens alle anderen Völker übertreffe. Russland hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus’, Gelegenheit, sich in dieser Kunst zu üben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gewöhnliche Zustand wurde.

Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen. Schaljapin sang. Im Alexandrinentheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois »Der Tod Iwans des Schrecklichen« gegeben. Und bei dieser Vorstellung erinnere ich mich, einen Zögling der Kaiserlichen Pagenschule beobachtet zu haben, der in den Pausen jedes Mal aufstand und vor der leeren, ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte. Das Kriwoje-Serkalo-Theater brachte eine prunkvolle Aufführung von Schnitzlers »Reigen«.

Obgleich die Eremitage und andere Gemäldegalerien nach Moskau überführt worden waren, gab es wöchentlich Gemäldeausstellungen. Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen über Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend günstige Zeit für Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum ersten Mal in Russland zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen, die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten.

Wie immer in solchen Zeiten, ging das alltägliche Leben der Stadt seinen gewohnten Trott, die Revolution soweit wie möglich ignorierend. Die Poeten machten Verse – doch nicht über die Revolution. Die realistischen Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Russlands – alles mögliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz kamen in die Hauptstadt, um Französisch zu lernen und ihre Stimme zu kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbrämten roten Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen Säbel in den Salons der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes Zuckerdöschen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte, – und wünschten sich den Zaren zurück, oder dass die Deutschen kommen sollten, oder irgendetwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu lösen geeignet war … Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags einen hysterischen Anfall, weil der weibliche Straßenbahnschaffner sie »Genossin« genannt hatte.

Um sie herum war das ganze große Russland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die Dienstboten, die man gewohnt war wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über 100 Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als 35 Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten, ihr Schuhzeug anzuziehen, wenn sie um Lebensmittel anstehen mussten. Aber – was weitaus schlimmer war – in dem neuen Russland durfte jeder Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: »Keine Trinkgelder!«, oder auch: »Die Tatsache, dass ein Mann seinen Lebensunterhalt verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch Trinkgeldgeben zu beschimpfen.«

Petrograd, Festung »Schlüsselburg«

An der Front setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken erlangten die Fabrikkomitees, diese einzigartigen russischen Organisationen, Erfahrung und Stärke, und kamen zum Bewusstsein ihrer historischen Mission durch den Kampf mit der alten Ordnung. Ganz Russland lernte lesen. Und was las es? Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte Wissen … In jeder Stadt, an der ganzen Front, hatte jede politische Partei ihre Zeitungen, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden von Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, solange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Aus dem Smolny-Institut allein gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert, – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis …

Und dann das gesprochene Wort: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen … Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken … Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, 40.000 Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten – wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte. Monate hindurch war in Petrograd, in ganz Russland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten, überall …

Und die Allrussischen Konferenzen und Kongresse, die die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten – Kongresse der Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos, der Nationalitäten, der Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Konferenz, die Moskauer Konferenz, der Rat der Russischen Republik. In Petrograd tagten ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte …

Wir waren bei der Zwölften Armee an der Front, die eben von Riga gekommen war, wo hungernde und barfüßige Soldaten in dem Moder der Schützengräben dahinkrankten; kaum sahen sie uns, als sie auch schon aufsprangen, mit ihren mageren Gesichtern und ihren blaugefrorenen Gliedern, die durch ihre zerrissenen Kleider schimmerten. Und das Erste, was sie fragten, war: »Habt ihr was zu lesen?«

Wenn aber auch an äußeren und sichtbaren Zeichen der Wandlung kein Mangel war: z. B. die Statue der »Großen Katharina« vor dem Alexandrinentheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt und andere – etwas verblichen – von allen öffentlichen Gebäuden herabwehten; die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt waren; an Stelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Straßen eine sanfte unbewaffnete Bürgermiliz patrouillierte, – so gab es dennoch zahllose wunderliche Anachronismen.

Beispielsweise existierte noch immer die Rangordnung, die Peter der Große Russland mit eiserner Hand aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Knöpfen und Achselstücken. Von fünf Uhr nachmittags an waren die Straßen gefüllt mit alten Herren in Uniform mit Aktenmappen, die von der Arbeit in den riesengroßen kasernengleichen Ministerien oder Regierungsinstitutionen kamen, wo ihre Tätigkeit darin bestehen mochte, auszurechnen, wie lange es währen würde, bis der Tod eines ihrer Vorgesetzten sie zum Rang eines Assessors oder Geheimrats aufsteigen lassen würde, mit der Aussicht auf Pensionierung mit einem einträglichen Ruhegehalt und womöglich mit dem St. Annenkreuz … Dem Senator Sokolow ist es passiert, in einem Moment, als die Revolution ihre höchste Welle erreicht hatte, dass er eines Tages zu einer Senatssitzung in Zivilkleidung erschien und nicht zugelassen wurde, weil er nicht die vorgeschriebene Livree des Zarendienstes trug.

Gegen diesen Hintergrund einer ganzen Nation in Gärung und Auflösung rollte die Erhebung der russischen Massen heran …

II. Der heraufziehende Sturm

Im September 1917 marschierte der General Kornilow auf Petrograd, um sich zum militärischen Diktator über Russland aufzuschwingen. Hinter ihm wurde plötzlich die Eisenfaust der Bourgeoisie sichtbar, die sich anschickte, mit verwegenem Schlag die Revolution niederzuschmettern. In die Verschwörung waren auch einige der sozialistischen Minister verwickelt. Kerenski selber war verdächtig. Sawinkow, von dem Zentralkomitee seiner Partei, den Sozialrevolutionären, aufgefordert, Aufklärung zu geben, weigerte sich und wurde ausgeschlossen. Soldatenkomitees verhafteten Kornilow, Generale wurden entlassen, Minister ihrer Ämter enthoben, und das Kabinett wurde gestürzt.

Kerenski machte den Versuch, eine neue Regierung zu bilden, mit Einschluss der Kadetten, der Partei der Bourgeoisie. Seine eigene Partei, die Sozialrevolutionäre, befahlen ihm den Ausschluss der Kadetten. Kerenski weigerte sich zu gehorchen und drohte mit seinem eigenen Rücktritt vom Kabinett, wenn die Sozialisten auf ihrer Forderung beständen. Indessen war die Aufregung der Volksmassen so groß, dass er sich – wenigstens für den Moment – nicht zu widersetzen wagte, und ein einstweiliges Direktorium von fünf der bisherigen Minister, mit Kerenski an der Spitze, übernahm die Macht bis zur endgültigen Regelung der Frage.

Die Kornilow-Affäre hatte alle sozialistischen Gruppen, von den Gemäßigten bis zu den Revolutionären, in einem leidenschaftlichen Impuls der Selbstverteidigung zusammengeführt. Es galt, das Auftauchen neuer Kornilows zu verhindern. Eine neue Regierung musste gebildet werden, die den der Revolution ergebenen Elementen verantwortlich war. So forderte denn das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets die Organisationen zur Beschickung einer »Demokratischen Konferenz« auf, die im September in Petrograd zusammentreten sollte.

Im Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets hatten sich von vornherein drei Richtungen bemerkbar gemacht. Die Bolschewiki forderten die Einberufung eines neuen (zweiten) Allrussischen Sowjetkongresses und die Übernahme der Macht durch die Sowjets. Das von Tschernow geführte Zentrum der Sozialrevolutionäre, die Linken Sozialrevolutionäre unter Führung von Kamkow und Spiridonowa, die Internationalistischen Menschewiki unter Martow und das Zentrum der Menschewiki, dessen Sprecher Bogdanow und Skobelew waren, traten für eine »rein sozialistische« Regierung ein. Zeretelli, Dan und Liber, die Führer der Rechten Menschewiki, und die Rechten Sozialrevolutionäre unter Awksentjew und Goz bestanden auf der Hinzuziehung der besitzenden Klassen bei der Bildung der neuen Regierung.

Im Petrograder Sowjet gelang es den Bolschewiki fast sofort, die Mehrheit zu gewinnen. Dem Beispiel Petrograds folgten schnell die Sowjets in Moskau, Kiew, Odessa und anderen Städten.

Aufs Höchste bestürzt, erklärten die das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets beherrschenden Menschewiki in einem Beschluss, dass die Gefahr Lenin mehr zu fürchten sei als die Gefahr Kornilow. Sie revidierten den für die Demokratische Konferenz aufgestellten Vertretungsmodus, indem sie den Genossenschaften und ähnlichen konservativen Organisationen eine größere Anzahl von Delegierten zusprachen. Selbst diese gesiebte Versammlung stimmte zuerst für eine Koalitionsregierung ohne die Kadetten. Nur Kerenskis offene Drohung mit dem Rücktritt und das Alarmgeschrei der »gemäßigten« Sozialisten, dass »die Republik in Gefahr sei«, erreichten, dass die Konferenz mit einer geringen Mehrheit sich zugunsten der Koalition mit der Bourgeoisie aussprach und der Errichtung einer Art beratenden Parlaments, ohne gesetzgebende Gewalt, zustimmte, das den Namen »Provisorischer Rat der Russischen Republik« erhielt.

Die neue Regierung wurde praktisch von den besitzenden Klassen beherrscht, und auch in dem neugeschaffenen »Rat der Russischen Republik« hatten diese eine unverhältnismäßig große Zahl von Sitzen inne.

Das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets hatte faktisch aufgehört, die Auffassungen der Sowjets zu vertreten. Es weigerte sich, den im September fälligen neuen Allrussischen Sowjetkongress einzuberufen, und war auch nicht gewillt, seine Einberufung durch andere zu dulden. Das offizielle Organ des Komitees, »Iswestija«, begann sogar anzudeuten, dass die Funktion der Sowjets beendet und ihre baldige Auflösung zu erwarten sei. Zur selben Zeit bezeichnete die neue Regierung als einen wesentlichen Teil ihrer Politik die Liquidierung aller »unverantwortlichen Organisationen«, womit die Sowjets gemeint waren.

Die Bolschewiki antworteten hierauf mit der Aufforderung an die allrussischen Sowjets, sich am 2. November in Petrograd zu versammeln und die Regierungsgewalt zu übernehmen. Gleichzeitig zogen sie ihre Vertreter aus dem Rate der Russischen Republik zurück, erklärend, dass sie es ablehnten, an einer »Regierung des Volksverrates« teilzunehmen.

Der Rücktritt der Bolschewiki ließ den unglückseligen Rat indes keineswegs zur Ruhe kommen. Die besitzenden Klassen, wieder im Besitz einer Machtposition, wurden arrogant. Die Kadetten erklärten, dass die Regierung nicht berechtigt gewesen sei, Russland zu einer Republik zu proklamieren. Sie forderten strenge Maßnahmen in Armee und Flotte zur Unterdrückung der Soldaten- und Matrosenkomitees und griffen die Sowjets heftig an. Auf der anderen Seite traten die Internationalistischen Menschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre für den sofortigen Friedensschluss ein, für die Übergabe des Landes an die Bauern und für die Durchführung der Arbeiterkontrolle über die Industrie, was praktisch auf das Programm der Bolschewiki hinauslief.

Ich habe Martows Antwortrede an die Kadetten gehört. Todkrank wie er war, hielt er sich mit Mühe am Rednerpult aufrecht, und mit einer Stimme, so heiser, dass man ihn kaum zu hören vermochte, drohte er nach den rechten Bänken hinüber:

»Ihr schimpft uns Verräter; aber die wahren Verräter sind jene, die um ihrer egoistischen Interessen willen den Friedensschluss so lange hinauszögern möchten, bis von der russischen Armee nichts mehr übriggeblieben sein wird, und Russland nur noch ein Schacherobjekt der verschiedenen imperialistischen Gruppen ist.«

Zwischen diesen beiden Gruppen schwankten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre – mit unwiderstehlicher Gewalt nach links getrieben durch den Druck der steigenden Unzufriedenheit der Massen. Eine tiefgehende Feindschaft teilte so den Rat in Gruppen, die miteinander auszusöhnen unmöglich war.

So war die Lage, als die langerwartete Ankündigung der Pariser Alliiertenkonferenz die brennende Frage der Außenpolitik auf die Tagesordnung setzte.

In der Theorie waren alle sozialistischen Parteien für den schnellstmöglichen Friedensschluss auf demokratischer Grundlage. Schon im Mai 1917 hatte der Petrograder Sowjet, damals noch unter menschewistischer und sozialrevolutionärer Führung, die berühmten russischen Friedensbedingungen proklamiert und die Alliierten aufgefordert, eine Konferenz einzuberufen, zur Besprechung der Kriegsziele. Diese Konferenz, für den August versprochen, wurde ein erstes Mal bis zum September, dann bis zum Oktober vertagt und sollte jetzt endgültig am 10. November stattfinden.

Die Provisorische Regierung hatte zwei Vertreter vorgeschlagen, den General Alexejew, einen reaktionären Militär, und Tereschtschenko, den Minister des Auswärtigen. Die Sowjets erwählten Skobelew zu ihrem Sprecher und entwarfen ein Manifest, den berühmten »Nakas« (Instruktionen). Die Provisorische Regierung lehnte Skobelew und seinen Nakas ab. Die Gesandten der Alliierten protestierten, und zu guter Letzt erklärte Bonar Law im englischen Unterhaus in Beantwortung einer an die Regierung gerichteten Anfrage kühl: »Soweit mir bekannt, wird die Pariser Konferenz die Kriegsziele überhaupt nicht diskutieren, sondern nur die Methoden der Kriegführung …«

Die konservative russische Presse jubelte, wohingegen die Bolschewiki riefen: »Da seht ihr, wohin die Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit Ihrer Kompromisstaktik gelangt sind!«

Mittlerweile waren an der Tausende Kilometer weiten Front die Millionen Soldaten der russischen Armeen in Bewegung geraten. Höher und höher gingen die Wogen der Erregung, immer neue Delegationen fluteten in die Hauptstadt, mit dem Ruf: Friede, Friede!

Ich ging eines Abends nach dem jenseits des Flusses gelegenen Zirkus »Modern«, in eine der großen Volksversammlungen, die, jeden Abend zahlreicher, in der ganzen Stadt veranstaltet wurden. In dem schmucklosen Amphitheater, von fünf winzigen, an einem dünnen Draht herabhängenden Glühlampen unzureichend erleuchtet, drängten sich von der Arena bis hoch unterm Dach, unübersehbare Massen von Soldaten, Matrosen, Arbeitern und Frauen, alle mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschend, als ob es um ihr Leben ging. Ein Soldat redete von der 548. Division:

»Die an der Spitze verlangen von uns immer neue Opfer und Opfer, aber wir müssen sehen, dass die, die im Besitze sind, völlig ungeschoren bleiben.

Wir führen Krieg gegen die Deutschen. Würde es uns einfallen, die Arbeiten unseres Stabes deutschen Generalen anzuvertrauen? Stehen wir nicht auch mit den Kapitalisten im Kriege, und doch laden wir diese ein, an unserer Regierung teilzunehmen.

Der Soldat will wissen, wofür er kämpfen soll. Für Konstantinopel oder für ein freies Russland? Für die Demokratie oder für die kapitalistischen Räuber? Wenn man ihm beweisen kann, dass er die Revolution verteidigt, dann wird er hingehen und kämpfen, auch ohne die Todesstrafe, mit der man ihn zwingen will.

Wenn das Land den Bauern gehören wird, die Fabriken den Arbeitern, wenn die Sowjets die Macht ausüben werden, dann haben wir etwas zu verteidigen, und dann werden wir auch kämpfen!«

Ein Vertreter der 8. Armee:

»Wir sind schwach, unsere Kompanien zählen nur noch wenige Mann. Wir brauchen Lebensmittel und Stiefel und Verstärkung, oder die Schützengräben werden bald verlassen sein. Frieden oder Verstärkung … Die Regierung muss den Krieg beendigen oder der Armee zu Hilfe kommen …«

Dann ein Redner, der für die Sibirische Artillerie sprach:

»Die Offiziere lehnen es ab, mit unsern Komitees zu arbeiten, sie verraten uns an den Feind, sie verhängen über unsere Agitatoren die Todesstrafe; und die konterrevolutionäre Regierung unterstützt sie. Wir glaubten, dass die Revolution den Frieden bringen wird. Jetzt aber verbietet uns die Regierung, von solchen Dingen auch nur zu reden, während sie uns gleichzeitig hungern lässt und uns die Munition nicht liefert, die wir brauchen, wenn wir kämpfen sollen …«

Überall in den Kasernen, in den Fabriken, an jeder Straßenecke zu den Massen redende Soldaten, alle die Beendigung des Krieges fordernd und erklärend, dass die Truppen die Schützengräben zu verlassen und nach Hause zu gehen entschlossen seien, wenn die Regierung keine ernstlichen Anstrengungen machen würde, um zum Frieden zu gelangen.

Dazu kamen aus Europa Gerüchte über einen Friedensschluss auf Kosten Russlands.

Die allgemeine Unzufriedenheit wurde noch gesteigert durch die Nachrichten über die Behandlung der russischen Truppen in Frankreich. Die Erste Brigade hatte dort versucht, ihre Offiziere durch Soldatenkomitees zu ersetzen, wie das ihre Kameraden zu Hause getan hatten, und sich geweigert, einem Befehl Folge zu leisten, der sie nach Saloniki beorderte. Sie verlangte, nach Russland geschickt zu werden. Man hatte die Brigade daraufhin eingeschlossen und ausgehungert, dann unter Artilleriefeuer genommen, wobei viele Soldaten getötet wurden.

Am 29. Oktober hörte ich in dem weißmarmornen, rotdekorierten Saal des Marienpalastes die von dem erschöpften und nach Frieden lechzenden Lande mit Ungeduld erwartete Erklärung Tereschtschenkos über die Außenpolitik der Regierung.

Diese äußerst sorgfältig vorbereitete, ganz unverbindliche Rede brachte indessen nichts als die sattsam bekannten Phrasen über die Zerschmetterung des deutschen Militarismus mit Hilfe der Alliierten, über das Staatsinteresse Russlands, über die durch Skobelews Nakas verursachten Verlegenheiten. Der Schluss war bezeichnend:

»Russland ist mächtig, es wird mächtig bleiben, was auch geschehen mag. Wir müssen Russland verteidigen. Wir müssen zeigen, dass wir die Vorkämpfer eines großen Ideals sind und Kinder einer großen Nation.«

Befriedigt war niemand. Den Reaktionären war es um eine starke imperialistische Politik zu tun, und die demokratischen Parteien wollten die Garantie haben, dass die Regierung nichts unversucht lassen würde, um zum Frieden zu gelangen.

Hier ein Artikel aus »Rabotschi i Soldat«, dem Organ des bolschewistischen Petrograder Sowjets:

Was die Regierung den Schützengräben zu sagen hat!

Der schweigsamste unserer Minister, Herr Tereschtschenko, hat endlich die Sprache gefunden, um den Schützengräben das Folgende mitzuteilen:

1. Wir sind auf das Engste verbündet mit unseren Alliierten (nicht mit den Völkern, sondern mit den Regierungen).

2. Es ist zwecklos für die Demokratie, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Winterfeldzuges zu diskutieren. Darüber entscheiden die Regierungen unserer Verbündeten.

3. Die Julioffensive war nützlich, und sie war eine sehr glückliche Sache. (Kein Wort über die Folgen!)

4. Es ist nicht wahr, dass sich unsere Verbündeten nicht um uns sorgen. Der Minister ist im Besitz sehr wichtiger Erklärungen. (Erklärungen? Wie ist’s mit den Taten? Das Verhalten der britischen Flotte? Die Unterredung des englischen Königs mit dem landesflüchtigen konterrevolutionären General Gurkow? Alles dies ließ der Minister unerwähnt.)

5. Der Nakas Skobelews taugt nichts; unsere Verbündeten wollen davon nichts wissen, auch die russischen Diplomaten wollen ihn nicht. In der Alliierten-Konferenz müssen alle eine Sprache sprechen.

Und das ist alles? – Das ist alles. Wo ist der Ausweg? – Vertrauen zu den Alliierten und zu Tereschtschenko! Wann wird der Friede kommen? – Wenn die Alliierten es erlauben!

Das die Antwort der Regierung auf die Frage der Schützengräben nach dem Frieden.

Da tauchte – vorläufig noch in unklaren Umrissen – im Hintergrund der russischen Politik eine gefährliche Macht auf: die Kosaken.

Kaledin, der Ataman der Donkosaken, von der Provisorischen Regierung wegen seiner Beteiligung an dem Kornilow-Abenteuer seines Postens enthoben, weigerte sich zu gehen, und von drei riesigen Armeen umgeben, lagerte er intrigierend und drohend bei Nowotscherkask. So groß war seine Macht, dass die Regierung seiner Gehorsamsverweigerung gegenüber die Augen verschließen musste. Ja, mehr als das, sie sah sich gezwungen, den »Rat des Verbandes der Kosakenarmeen« anzuerkennen und die neugebildeten Kosakensektionen der Sowjets für ungesetzlich zu erklären.

In der ersten Oktoberhälfte erschien eine Kosakendelegation bei Kerenski, die in arrogantem Ton die Niederschlagung der gegen Kaledin gerichteten Anklagen forderte und dem Ministerpräsidenten den Vorwurf machte, zu nachgiebig gegenüber den Sowjets gewesen zu sein. Kerenski erklärte sich bereit, Kaledin ungeschoren zu lassen. Außerdem soll er sich wie folgt geäußert haben: »In den Augen der Sowjetführer bin ich ein Despot und Tyrann … Die Provisorische Regierung hängt nicht nur nicht von den Sowjets ab, sie bedauert im Gegenteil, dass diese überhaupt existieren.«

Gleichzeitig erschien eine andere Kosakenmission bei dem englischen Gesandten und hatte die Kühnheit, mit ihm als Vertreter des »freien Kosakenvolkes« zu verhandeln.

Im Don-Gebiet war eine Art Kosakenrepublik gebildet worden. Das Kuban-Gebiet proklamierte sich als unabhängiger Kosakenstaat. Die Sowjets von Rostow am Don und Jekaterinburg waren von bewaffneten Kosaken auseinander gejagt und der Hauptsitz des Bergarbeiterverbandes in Charkow überfallen worden. In allen diesen Manifestationen zeigte die Kosakenbewegung ihren antisozialistischen und militaristischen Charakter. Ihre Führer waren Adlige und große Gutsbesitzer von der Art Kaledins, Kornilows, des Generals Dutow, Karaulows und Bardijes, sie hatten die Unterstützung der mächtigen Kaufleute und Bankiers Moskaus …

Das alte Russland begann mit großer Schnelligkeit auseinander zu fallen. In Finnland, in Polen, in der Ukraine und Weißrussland wuchs die nationalistische Bewegung und wurde kühner. Die unter dem Einfluss der besitzenden Klassen stehenden lokalen Regierungen forderten Autonomie und weigerten sich, den Anordnungen Petrograds Folge zu leisten. In Helsingfors lehnte der finnische Senat es ab, der Provisorischen Regierung Geld zu leihen, proklamierte die Selbstständigkeit Finnlands und verlangte die Zurückziehung der russischen Truppen. Die bürgerliche Rada in Kiew zog die Grenzen der Ukraine so weit, dass sie die reichsten Agrargebiete Südrusslands, östlich bis zum Ural hin, umfassten, und begann mit der Aufstellung einer eigenen Armee. Ihr Premier Winnetschenko arbeitete auf einen Sonderfrieden mit Deutschland hin, und die Provisorische Regierung war hilflos. Sibirien, der Kaukasus forderten ihre besonderen Konstituierenden Versammlungen, und in allen diesen Ländern begann ein verzweifelter Kampf zwischen den Regierungen und den lokalen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Die Verwirrung wurde mit jedem Tage größer. Die Soldaten desertierten zu Hunderttausenden und begannen in ungeheuren Wellen plan- und ziellos über das Land zu fluten. Die Bauern der Gouvernements Tambow und Twer, des langen Wartens auf das ihnen versprochene Land müde und in Verzweiflung gebracht durch die Gewaltmaßregeln der Regierung, brannten die Gutshäuser nieder und massakrierten die Gutsbesitzer. In Moskau, Odessa und in den Kohlenbergwerken des Don-Beckens wüteten mächtige Streiks und Aussperrungen. Der Transport war lahmgelegt, die Armee hungerte, und in den großen Städten gab es kein Brot.

Die Regierung, hin- und hergerissen zwischen den reaktionären und demokratischen Parteien, konnte nichts tun, und wo sie gezwungenermaßen eingriff, geschah es stets im Interesse der besitzenden Klassen. Sie bot die Kosaken auf, um die Bauern zur Raison zu bringen und die Streiks niederzuschlagen. In Taschkent unterdrückten die Behörden den Sowjet. In Petrograd hatte sich der Wirtschaftsrat, dessen Aufgabe es sein sollte, das zerstörte Wirtschaftsleben des Landes wiederherzustellen, zwischen den feindlichen Kräften von Kapital und Arbeit festgefahren und wurde von Kerenski aufgelöst. Die Militärs des alten Regimes, die von den Kadetten gestützt wurden, forderten strenge Maßnahmen, um die Disziplin in Armee und Flotte wiederherzustellen. Umsonst wiesen der Marineminister, Admiral Werderewski, und der Kriegsminister, General Werchowski, darauf hin, dass nur eine neue, freiwillige, auf der Zusammenarbeit mit den Soldaten- und Matrosenkomitees basierte demokratische Disziplin die Armee und Flotte retten könnte. Ihre Vorschläge wurden nicht beachtet.

Die Reaktion war offenbar darauf aus, die Volksmassen zu provozieren. Der Kornilow-Prozess rückte näher und näher; immer unverhüllter nahm die bürgerliche Presse für den General Partei. Sie sprach von ihm als von dem »großen russischen Patrioten«. Burzews Zeitung »Obschtscheje Delo« erhob offen den Ruf nach einer Diktatur »Kornilow-Kaledin-Kerenski«.

Mit Burzew, einem kleinen, gebückt gehenden Mann, mit einem Gesicht voller Runzeln und kurzsichtigen Augen hinter dicken Brillengläsern, struppigem Haar und ergrautem Bart, hatte ich eines Tages eine Unterredung in der Pressegalerie des Rates der Republik.

»Hören Sie mir zu, junger Mann! Was Russland braucht, ist ein starker Mann. Wir sollten unser Denken endlich von der Revolution freimachen und auf die Deutschen konzentrieren. Politische Pfuscher haben Kornilow gestürzt; aber hinter diesen Pfuschern stehen deutsche Agenten. Ah! Kornilow hätte gewinnen sollen …«

Auf der äußersten Rechten traten die Organe der kaum verhüllten Monarchisten, Purischkewitschs »Narodny Tribun«, »Nowaja Rus«, »Shiwoje Slowo«, offen für die Ausrottung der revolutionären Demokratie ein.

Am 23. Oktober fand im Golf von Riga eine Seeschlacht mit einem deutschen Geschwader statt. Unter dem Vorwand, dass Petrograd in Gefahr sei, bereitete die Regierung die Räumung Petrograds vor. Zuerst sollten die großen Munitionswerke verlegt und über das ganze Russland verteilt werden; dann wollte die Regierung selber nach Moskau gehen. Die Bolschewiki wiesen sofort darauf hin, dass die Regierung die rote Hauptstadt nur preisgebe, um die Revolution zu schwächen. Man hatte Riga an die Deutschen verkauft; jetzt sollte Petrograd verraten werden!

Die bürgerliche Presse jubelte. »In Moskau«, so erklärte das Kadettenblatt »Rjetsch«, »wird die Regierung in einer ruhigeren Atmosphäre arbeiten können, ohne fortwährend von Anarchisten gestört zu werden.« Rodsjanko, der Führer des rechten Flügels der Kadetten, erklärte im »Utro Rossii«, dass die Einnahme Petrograds durch die Deutschen ein Segen wäre, da diese die Sowjets zerstören und die revolutionäre Baltische Flotte erledigen würden.

Angesichts des Protestes der Volksmassen musste die Regierung ihren Plan, Petrograd zu verlassen, jedoch aufgeben.

Währenddem hing, einer von Blitzen durchzuckten Gewitterwolke gleich, drohend über Russland der Kongress der Sowjets, bekämpft nicht nur von der Regierung, sondern auch von allen »gemäßigten« Sozialisten. Die zentralen Armee- und Marinekomitees, die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, die Bauernsowjets, vor allem aber das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets selbst, sparten keine Mühe, um das Zustandekommen des Kongresses zu verhindern.

Der Telegraf arbeitete, Delegierte wurden im Lande umhergeschickt, mit Anweisungen für die Komitees der lokalen Sowjets, für die Armeekomitees, die Wahlen für den Kongress einzustellen oder zu verzögern. Feierliche öffentliche Resolutionen gegen den Kongress wurden gefasst, Erklärungen, dass die demokratischen Elemente sich der Abhaltung des Kongresses in so unmittelbarer Nähe des Datums der Konstituierenden Versammlung widersetzten; Vertreter der Frontsoldaten, der Semstwoverbände, der Bauern, des Verbandes der Kosakenarmeen, des Offiziersbundes, der »Ritter des Heiligen Georg«, der »Todesbataillone« – alle waren sie vereinigt in einem einzigen großen Protest … Im Rat der Russischen Republik gab es nicht eine Stimme, die sich für den Kongress einsetzte. Der ganze, von der russischen Märzrevolution geschaffene Apparat funktionierte, um die Abhaltung des Sowjetkongresses zu verhindern.

Dem gegenüber stand der vorläufig noch formlose Wille des Proletariats – der Arbeiter, gemeinen Soldaten und armen Bauern. Viele der lokalen Sowjets waren bereits bolschewistisch; daneben bestanden die Organisationen der industriellen Arbeiter, die Fabrik- und Werkstattkomitees, die revolutionären Armee- und Marineorganisationen. In einigen Orten hielten die Massen, an der regulären Wahl ihrer Sowjetdelegierten gehindert, Rumpfversammlungen ab, in denen sie aus ihrer Mitte heraus einen bestimmten, der nach Petrograd zu gehen hatte. In anderen jagten sie die alten, Obstruktion treibenden Komitees auseinander und bildeten neue. Die Kruste, die sich an der Oberfläche der seit Monaten schlummernden, revolutionären Glut gebildet hatte, kam in Bewegung und begann bedenklich zu krachen. Nur eine solche spontane Massenbewegung konnte den Allrussischen ­Sowjetkongress bringen.

Und die bolschewistischen Redner schleuderten Tag für Tag in allen Kasernen und Fabriken die heftigsten Anklagen gegen die »Regierung des Bürgerkrieges«. Eines Sonntags fuhren wir auf einem, über Ozeane von Schmutz rumpelnden ungefügen Dampfstraßenbahnwagen, an steif dastehenden Fabriken und riesigen Kirchen vorbei, zum Obuchowski Sawod, einer staatlichen Munitionsfabrik jenseits des Schlüsselburg-Prospekts.

Die Versammlung fand zwischen den ungeputzten Mauern eines mächtigen, im Bau unterbrochenen Hauses statt. Wohl an zehntausend dunkel gekleidete Männer und Frauen drängten sich um eine rotdrapierte Tribüne, saßen auf Balken oder Steinhaufen oder thronten auf hohen Gerüsten, voll grimmiger Entschlossenheit und ihren Willen mit Donnerstimme hinausschreiend. Durch den trüben, wolkenschweren Himmel brach dann und wann die Sonne, durch die leeren Fensteröffnungen einen rötlichen Schimmer über die zu uns aufgekehrten einfachen Gesichter gießend.

Lunatscharski, eine schmächtige, studentenhafte Erscheinung, mit einem sensitiven Künstlerantlitz, setzte auseinander, warum die Sowjets unter allen Umständen die Macht übernehmen müssten. Niemand anders könne die Revolution gegen ihre Feinde schützen, die mit Vorbedacht das Land und die Armee zugrunde richteten und einem neuen Kornilow das Feld bereiteten.

Ein Soldat sprach, von der rumänischen Front, abgemagert, voll bebender Leidenschaft: »Kameraden, wir hungern an der Front, wir frieren, wir sterben und wissen nicht wofür. Ich bitte die amerikanischen Kameraden, es in Amerika zu sagen, dass wir Russen unsere Revolution bis zum Tode verteidigen werden. Wir werden alles daransetzen, unsere Feste zu halten, bis die Massen der ganzen Welt sich erheben werden, um uns zu Hilfe zu eilen. Sagt den amerikanischen Arbeitern, dass sie aufstehen mögen zum Kampfe für die soziale Revolution!«

Petrowski redete, hart, unerbittlich:

»Jetzt ist keine Zeit für Worte, jetzt muss gehandelt werden. Die ökonomische Situation ist schlecht, aber wir müssen uns daran gewöhnen. Sie versuchen uns auszuhungern, im Frost umkommen zu lassen. Sie wollen uns provozieren. Aber sie sollen wissen, dass sie darin zu weit gehen können – dass, wenn sie es wagen sollten, an die Organisationen des Proletariats zu rühren, wir sie vom Antlitz der Erde wegfegen werden!«

Die bolschewistische Presse wuchs plötzlich an. Neben den zwei Parteizeitungen, »Rabotschi Putj« und »Soldat«, erschien eine neue Zeitung für die Bauern, »Derewenskaja Bednota« (Dorfarmut), die in einer Auflage von einer halben Million herauskam, und am 17. Oktober »Rabotschi i Soldat«. Dessen Leitartikel fasste den bolschewistischen Standpunkt wie folgt zusammen:

Ein viertes Kriegsjahr wird die Vernichtung der Armee und des Landes bedeuten … Petrograd ist bedroht … Die Konterrevolution freut sich über das Unglück des Volkes … Die zur Verzweiflung gebrachten Bauern gehen zum offenen Aufstand über; die Großgrundbesitzer und die Regierungsbehörden schicken blutige Strafexpeditionen gegen sie aus; Fabriken und Bergwerke werden geschlossen, den Arbeitern droht der Hungertod … Die Bourgeoisie und ihre Generale wollen eine blinde Disziplin in der Armee wiederherstellen … Von der Bourgeoisie unterstützt, bereiten sich die Kornilowisten offen darauf vor, den Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung zu verhindern …

Die Kerenski-Regierung ist gegen das Volk. Sie wird das Land zugrunde richten … Wir stehen aufseiten des Volkes und bei dem Volk – bei den besitzlosen Klassen, den Arbeitern, Soldaten und Bauern. Das Volk kann nur durch die Vollendung der Revolution gerettet werden … Und zu diesem Zweck muss die gesamte Macht in die Hände der Sowjets übergehen …

Wir treten für folgende Forderungen ein:

Alle Macht den Sowjets, in der Hauptstadt sowohl wie in der Provinz.

Sofortiger Waffenstillstand an allen Fronten. Ein ehrlicher Friede zwischen den Völkern.

Die großen Güter – ohne Entschädigung – in die Hände der Bauern.

Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion.

Eine auf ehrliche Weise gewählte Konstituierende Versammlung.

Hier noch eine interessante Stelle aus demselben Organ der Bolschewiki, die in der ganzen Welt als deutsche Agenten bezeichnet wurden:

Der deutsche Kaiser, an dessen Händen das Blut von Millionen Gefallener klebt, will seine Armee gegen Petrograd schicken. Man muss an die deutschen Arbeiter appellieren, an die Soldaten und Bauern, die den Frieden nicht weniger wünschen als wir, dass sie aufstehen mögen gegen diesen verdammten Krieg!

Das kann jedoch nur eine revolutionäre Regierung tun, die wirklich im Namen der Arbeiter, Soldaten und Bauern Russlands spricht, die über die Köpfe der Diplomaten hinweg sich direkt an die deutschen Truppen wendet, die die deutschen Schützengräben mit Proklamationen in deutscher Sprache überschwemmen würde … Unsere Flieger würden diese Proklamationen in ganz Deutschland abwerfen …

Im Rate der Republik vertiefte sich der Riss mit jedem Tage mehr.