Zeit und Zufall - Andreas Thalmaier - E-Book

Zeit und Zufall E-Book

Andreas Thalmaier

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Beschreibung

Warum gibt es Vorgänge, die sich scheinbar zeitlos wiederholen wie die Bewegung der Erde um die Sonne. Sonne und Erde - ein System, das nicht zu altern scheint. Was unterscheidet dieses System von anderen, die eine klare Zeitrichtung haben? Wenn wir morgens in den Spiegel schauen, merken wir sofort: Alternde Systeme sind ziemlich real! Zudem: Noch nie hat jemand eine goldbraune Flüssigkeit beobachtet, die auf einmal in Wallung gerät, sich von selbst entmischt, und nach ein paar Sekunden Milch und schwarzer Kaffee fein säuberlich getrennt nebeneinander zur Ruhe kommen. Ist bei Systemen mit erkennbarer Zeitrichtung die unerwartete Verwandtschaft von Zeit und Zufall die entscheidende Zutat? Überhaupt - was ist Zufall? Ist es der Mangel an Kenntnis oder aber die grundsätzliche Abwesenheit einer Ursache? Diese und andere, letztendlich physikalische Fragen, die auch vor Relativitätstheorie und Quantenphysik nicht Halt machen, stellt der Autor sich und seinen Lesern. Und auf allgemeinverständliche Art beantwortet er ein paar davon...

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Für meine Familie

Die zwei größten Tyrannen der Erde - der Zufall und die Zeit"1

Gottfried Herder (1744 - 1803)

Vorwort

Herder schrieb diesen bemerkenswerten Satz in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" nieder, die er in den Jahren 1783 - 1791 verfasste. Am Ende der Epoche der Aufklärung, der auch Herder seinen Stempel aufdrückte, hatte sich der europäische Kontinent ein Stück weit emanzipiert. Der Glaube hatte Konkurrenz bekommen: den Zweifel!

In der Folge nahm die Bedeutung der Naturwissenschaften rasant zu. Zwar gab es noch kein gesichertes Wissen über die Existenz von Atomen und auch die Elektrizitätslehre steckte noch in den Kinderschuhen, doch die Gesetze von Gravitation und Mechanik waren bekannt. Durch sie ließen sich die Bewegungen der Gestirne mit sagenhafter Genauigkeit vorausberechnen. Mithilfe von Teleskopen, die seit Beginn des 17. Jahrhunderts verfügbar waren, ließ sich die Theorie bestätigen. Experimentell nachprüfbare Aussagen konnten weder absolutistische Herrscher noch Klerus dauerhaft ignorieren, auch wenn die katholische Kirche nach Galileis Tod weitere dreieinhalb Jahrhunderte benötigte, um den großen Gelehrten endlich zu rehabilitieren.

Ohne die Aufklärung als Wegbereiterin hätte der Siegeszug der Naturwissenschaften wohl kaum stattfinden können. Und obwohl Herder Philosoph und kein Naturforscher war, hätte er sicher gerne mehr über seine beiden Tyrannen erfahren: Wie tief sie in der Naturwissenschaft verwurzelt und wie sie eng miteinander verwandt sind, vor allem aber, dass sich ihr Herrschaftsgebiet weit über die Erde hinaus erstreckt. Leider kam er für derartige Erkenntnisse zwei Jahrhunderte zu früh auf die Welt.

Zeit und Zufall ziehen die Menschen nicht erst seit der Aufklärung in ihren Bann, doch erst seit dieser Zeit haben auch die Naturwissenschaften ihren Blick auf sie gerichtet. Dabei hat es sich insbesondere die Physik zur Aufgabe gemacht, entscheidende Fragen zu stellen und wenigstens ein paar davon zu beantworten.

Heutzutage wissen die meisten Menschen, dass Albert Einstein viel über die Zeit nachgedacht und die gängigen Auffassungen von Raum und Zeit beiseitegeräumt hat. Was genau der Räumungsaktion zum Opfer gefallen ist, wissen hingegen die wenigsten. Dass neben der berühmten Relativitätstheorie auch andere Teilbereiche der Physik ein wenig Licht in das Geheimnis um die Zeit gebracht haben, ist weitgehend unbekannt.

Das vorliegende Buch ist der in Worte und Bilder gefasste Versuch, Herders „Tyrannen" aus der Perspektive der Naturwissenschaften zu umreißen. Auch wenn man dabei um die Betrachtung sehr kleiner und sehr großer Zahlen nicht ganz herumkommt, liegt das Hauptaugenmerk gerade nicht auf der Mathematik. Die Physik spielt darin die Hauptrolle, wobei fast ausschließlich Konzepte Beachtung finden, die in Schule und Hochschule seit wenigstens einem halben Jahrhundert als gesichertes, physikalisches Grundlagenwissen gelten.

Doch man täusche sich nicht: Klassische Mechanik, statistische Physik, Relativitätstheorie und Quantenphysik sind alles andere als ein alter Hut! Sie bilden die Rahmenthemen der ersten vier Kapitel und sie eint die Tatsache, gemeinsam zu einem tieferen Verständnis von Zeit und Zufall beizutragen.

Erst im fünften Kapitel unternehmen wir einen kurzen Ausflug zu neueren Untersuchungen des Weltraums. Die Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung und die Beobachtung sehr weit entfernter Objekte hat uns nach gängiger Lehrmeinung zu der Erkenntnis geführt, dass die Zeit vor etwa 13,8 Milliarden Jahren zusammen mit dem Rest des Universums geboren wurde.

Auch im sechsten und letzten Kapitel finden sich Bezüge zur Physik, namentlich zu sehr komplizierten physikalischen Objekten, den sogenannten nichtlinearen, offenen Systemen. Zu diesen gehören u. a. alle Lebewesen und um genau die geht es hier. Außerdem wird mit Blick auf unser Dasein das Phänomen Zufall in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt. Weil die Erforschung des Lebens noch immer einer weitgehend weißen Landkarte gleicht, müssen hier Plausibilitätsbetrachtungen bisweilen an die Stelle gesicherter Kenntnisse treten. Ich hoffe, es gelang mir immer, dies deutlich zu machen.

Mit diesem Buch richte ich mich an alle, die Zeit und Zufall über die Alltagserfahrung hinaus ein wenig genauer kennenlernen wollen, aber kein mathematisch orientiertes Studium nachholen möchten. Angst vor Formeln muss man nicht haben, im ganzen Buch sind es gerade mal zwei. Beide sind berühmt, beide sind von herausragender Bedeutung und beide sind vor allem schön - so schön, dass ich nicht auf sie verzichten wollte. Unbedingt notwendig sind aber auch sie nicht.

„So abstrakt wie nötig, so anschaulich wie möglich!" Dieser Leitgedanke steht über dem Buch und er gilt auch für Phänomene, die ihrer Natur nach unanschaulich sind. Bestimmt hat deswegen an manchen Stellen die Genauigkeit ein bisschen Federn gelassen, doch dafür ist es vielleicht auch für diejenigen Leserinnen und Leser interessant, die sonst über eine mathematische Sprachbarriere gestolpert wären.

Es würde mich freuen, wenn sich Menschen, die in ihrem Leben bereits intensiveren Kontakt zur Physik hatten, durch die ein oder andere ungewohnte Veranschaulichung überraschen ließen. Gerade bei der Feynman'schen Interpretation des Doppelspaltexperiments könnte dies der Fall sein.

Wen auch immer dieses Buch erreicht: Allen, die sich auf Fragen rund um die Zeit und die unerwartete Verbindung zum Zufall mit diesem Buch einlassen möchten, wünsche ich eine anregende Lektüre.

München im Mai 2024

1 Vgl. Zur Verwendung von Zitaten

Kapitel I

Rhythmus

Warum wir schon seit Jahrtausenden Uhren verwenden, aber erst seit Isaac Newton verstehen, warum sie funktionieren

„Je n'ai pas le temps!"–„Ich habe keine Zeit!"

Ein Satz, den man nicht so gerne hört, denn nicht selten kommt er als schlecht getarnte Lüge daher und hält Enttäuschungen parat: Mitarbeiter sind enttäuscht, wenn die Chefin mal wieder keine Zeit hat, um sich anzuhören, dass man seit Monaten jenseits der Belastungsgrenze arbeitet. Ehepartner sind enttäuscht, wenn der Job so wichtig ist, dass leider keine Zeit für gemeinsame Unternehmungen bleibt. Kinder sind enttäuscht, wenn die Eltern keine Zeit zum Spielen haben, sondern die Zeitung lesen müssen.

Der Umgang mit einem schnell dahingesagten „Ich habe keine Zeit!" ist nicht besonders ehrlich, denn eigentlich ist gemeint: "Ich habe zwar Zeit, aber leider nicht für dich, denn etwas anderes ist mir wichtiger!" Wir priorisieren und gemäß dieser Rangliste nehmen wir uns Zeit.

Als der gerade einmal zwanzigjährige Evariste Galois2 diesen Satz an den Rand eines Briefes schrieb, den er seinem Freund Auguste Chevalier am Morgen des 30. Mai 1832 übergeben wollte, verhielt es sich anders. In einem gewissen Sinn hatte Galois tatsächlich keine Zeit. Denn ein Pistolenduell mit einem überaus treffsicheren Schützen stand unmittelbar bevor und die Wahrscheinlichkeit, in ein paar Stunden tot zu sein, war erschreckend hoch.

Extreme Situationen wie diese kennen die meisten Menschen zum Glück nur aus dem Film. Man muss sich wundern, wie der junge Evariste es schaffte, in Anbetracht der herannahenden Ereignisse überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen und besagten Brief zu schreiben. Die einzig wirklich wichtige Sache für ihn war in diesen Stunden seine Theorie, die nach seiner Ansicht revolutionär war und grundlegend neue mathematische Erkenntnisse lieferte.

Zu seinem Bedauern blieb er bis zu seinem Schicksalstag allein mit dieser Meinung, denn bei allen großen Mathematikern war er abgeblitzt, meistens bekam er nicht einmal eine Gelegenheit, um vorzusprechen. Dieser Brief war die letzte Möglichkeit für ihn, sich nochmals an die bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit zu wenden. Er musste sie dazu zu bringen, sich seiner Arbeit zu widmen, auch wenn er selbst gar nicht mehr am Leben wäre. In den wenigen verbleibenden Stunden musste es gelingen, einen überzeugenden Brief zu formulieren. Dafür und nur dafür hatte er Zeit.

Nun, der bedauernswerte Galois wurde erwartungsgemäß totgeschossen, der treue Auguste hielt Wort und übersandte, dem letzten Willen Galois' folgend, Brief und Theorie der Gemeinde der Gelehrten. Doch all das nützte nichts. Die Zeit war Galois ein zweites Mal nicht gewogen, er war seiner Zeit einfach zu weit voraus. Selbst der „Fürst der Mathematiker", Carl Friedrich Gauß, reagierte nicht. Vielleicht erhielt er Brief und Arbeit nicht, vielleicht erkannte er ihren Wert nicht - wahrscheinlich hatte er einfach keine Zeit. Noch elf weitere Jahre sollten vergehen, bis sich endlich ein Mathematiker von Rang und Namen etwas Zeit nahm. Der Franzose Joseph Liouville würdigte Galois' Arbeit, veröffentlichte sie und verhalf ihr zum Durchbruch. Die Galoistheorie ist seitdem fester Bestandteil der modernen Mathematik und bis heute für viele Studierende eine Angelegenheit von Schweiß und Tränen.

Abb. 1.1 Evariste Galois (1811 – 1832) starb bei einem Pistolenduell im Alter von nur 20 Jahren. Er war ein mathematisches Ausnahmetalent und schuf die Theorie, die man nach seinem Tod nach ihm benannte. Aus dieser leitet sich unter anderem ab, dass man im Allgemeinen einen Winkel allein mit Zirkel und Lineal nicht in drei gleich große Winkel teilen kann. Seine Theorie ist eines der Fundamente der modernen Algebra und findet - obwohl vor 200 Jahren erfunden - heutzutage u.a. Anwendung in der modernen Elementarteilchenphysik.

Der geniale Galois hatte kein Glück mit der Zeit und auch wir haben ein besonderes Verhältnis zu ihr. Wir wollen selbst über unsere Zeit verfügen, sie ist uns kostbar und wir finden es unerhört, wenn uns jemand unsere Zeit stiehlt. Außerdem hören wir von Menschen, die es besonders eilig haben, gelegentlich die Bemerkung, man habe ja nicht ewig Zeit. Während wir die Ausführungen über das knapp bemessene Gut meist wortlos ertragen, artikulieren Kinder schonungslos den Wunsch nach mehr Zeit: Zum Spielen, zum Fernsehen, zum Lesen, zu allem Möglichen - nur nicht zum Schlafen.

Sobald in uns während der Kindheit allmählich das Bewusstsein erwacht, entwickeln wir unwillkürlich eine Vorstellung von der Zeit. Sehr frühe Erinnerungen können wir chronologisch zwar noch nicht so richtig einordnen, doch wir lernen schnell: Wenn wir etwas Schönes erleben, vergeht die Zeit wie im Flug, während sie in unangenehmen Situationen nur so dahin kriecht. Jeder kennt die verschlossenen Türen, die auf das individuelle Zeitempfinden drastisch Einfluss nehmen, je nachdem, auf welcher Seite man sich gerade befindet.

In der Schule lernen wir, dass die Zeit in Stunden und Minuten gemessen wird und wie man sie an dem komplizierten Ding mit den beiden Zeigern abliest. Und wir merken, dass dabei das Zählen eine entscheidende Rolle spielt: Noch zehn Minuten, dann ist die Mathestunde endlich vorbei! Noch siebenmal Schlafen, dann kommt das Christkind!

So ist es mit der Zeit: Sobald wir denken können, ist sie irgendwie da. Sie begleitet uns durch das ganze Leben und scheinbar fließt sie dahin. Wir sind in ihrem Fluss gefangen, gleichzeitig bewegen wir uns in ihr. Wenn man sich fragt, was Zeit eigentlich sei und die gängigen Quellen unserer Zeit zurate zieht, dann liest man von der Abfolge von Ereignissen, zwischen denen die Zeit liege. Und man erfährt, dass sie eine Richtung habe, die durch den Zuwachs der Entropie vorgegeben sei. Das klingt gescheit, hilft den meisten Leuten aber nicht weiter. Man stößt aber auch auf einen Satz, der wegen seiner vermeintlichen Banalität ein wenig irritiert.

„Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“

Die meisten Menschen würden vermutlich vor Scham im Boden versinken, müssten sie diesen Satz, der an scheinbarer Plattheit kaum zu überbieten ist, in der Öffentlichkeit laut aussprechen. Aber Vorsicht, er stammt von einem, der es wissen muss: Albert Einstein hat sich getraut, ihn zu sagen und er hat ihn durchaus ernst gemeint. Und niemand wird bestreiten, dass Albert Einstein etwas von der Zeit verstand. Es lohnt sich also, das Einsteinzitat genauer unter die Lupe zu nehmen. Wenn man etwas über die Zeit wissen möchte, dann muss man wissen, was eine Uhr ist.

Es gibt unzählige Arten von Uhren: Sonnenuhren, Sanduhren, Kirchturmuhren, Kuckucksuhren, Standuhren, Quarzuhren, Atomuhren und seit einiger Zeit auch noch die Apple-watch. Es gibt natürliche Uhren, deren Lauf durch die Bewegung der Gestirne vorgegeben ist. Diese prägen den Lebensrhythmus der Menschen, der Tiere, überhaupt aller Lebewesen nahe der Erdoberfläche seit je her. Unendlich tief ist er in uns verwurzelt.

„Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf, im Westen will sie untergeh'n, im Norden ist sie nie zu seh'n". Mit diesem Sprüchlein kann man sich nicht nur in seiner Umgebung orientieren, es zeigt auch, wie sehr wir diesen immer gleich ablaufenden Prozess verinnerlicht haben. Die Sonne taucht auf, erreicht irgendwann ihren höchsten Punkt und verschwindet wieder hinter dem Horizont. Wenn wir etwas warten und die Nacht über durchhalten, sehen wir die Sonne nach einer Weile auf der anderen Seite wieder aufgehen. Nach unserer Wahrnehmung, aber vor allem nach unserer Erfahrung können wir behaupten, nun sei schon wieder ein Tag vergangen. Kaum ist dies geschehen, beginnt auch schon der nächste. Der Lauf der Sonne bzw. die Rotation der Erde um ihre Achse, die ja eigentlich dahintersteckt, definiert auf natürliche Weise ein Zeitintervall. Für dieses gibt es in jeder Sprache völlig selbstverständlich ein Wort, obwohl ein Zeitintervall eine eher abstrakte Angelegenheit ist.

Der Monat ist die zweite natürliche Zeiteinheit. Üblicherweise zählt man bei einem Monat die Anzahl der Tage von einem Vollmond zum nächsten und kommt dabei auf gut 29½. Gern nimmt man an, der Mond umrunde in dieser Zeit genau einmal komplett die Erde. Das ist aber nicht ganz richtig, denn bekanntlich legt die Erde während eines Monats selbst ein ordentliches Stück auf ihrem Weg um die Sonne zurück. Knapp 1/12 ihrer Jahresstrecke schafft sie in dieser Zeit. Um von der Erde aus erneut als Vollmond in Erscheinung treten zu können, muss sich der Erdtrabant also ein Stückchen weiterdrehen und zusätzlich noch 1/12 einer vollen Umdrehung dranhängen3. Wenn man es etwas genauer haben möchte, nennt man die Zeitspanne von einem Vollmond zum nächsten einen synodischen Monat. Die gut zwei Tage kürzere Zeitspanne, die einer exakten 360°-Drehung gegenüber dem Fixsternhimmel entspricht, ist der siderische Monat.

Abb. 1.2 Der synodische Monat ist die Zeitspane von einem Vollmond zum nächsten. Er dauert 2 Tage und 5 Stunden länger als der siderische Monat. Nach einem siderischen Monat hat der Mond exakt eine 360°-Drehung um die Erde vollzogen und nimmt gegenüber dem Fixsternhimmel wieder die gleiche Position ein.

Weil weder der siderische noch der synodische Monat mit unseren Monaten übereinstimmt und diese auch noch wahlweise 28, 30, 31 und in seltenen Fällen auch mal 29 Tage dauern können, lassen wir den Monat als natürliche Zeiteinheit beiseite, obwohl die Mondphasen kulturhistorisch und nicht zuletzt biologisch von höchstem Interesse sind. Stattdessen wenden wir uns dem Lauf der Erde um die Sonne zu.

Seit seiner Entstehung hat unser Heimatplanet die Sonne bereits einige Milliarden mal auf einer Ellipsenbahn umrundet. Diese Bewegung vollzieht sich mit großer Gleichmäßigkeit, die dafür benötigte, stets gleiche Zeitspanne ist das Jahr, das für den Rhythmus des Lebens von gleichrangiger Bedeutung ist wie der Tag.

Der Jahresrhythmus ist der Taktgeber für das Leben auf der Erde. Deshalb sind für die Entwicklung einer funktionierenden Landwirtschaft auch möglichst genaue Kenntnisse über die zu erwartenden klimatischen Verhältnisse entscheidend. Hauptsächlich aus diesem Grund war die Vermessung und Vorausberechnung des Laufs von Sonne, Mond und Sternen in vielen Kulturen Chefsache, sprich, die Aufgabe der spirituellen Elite.

Doch woran merkt man, dass exakt ein Jahr vergangen ist? Für uns ist das einfach: Wir werfen einen Blick auf den Kalender und schon wissen wir Bescheid. Aber wie machte man das, bevor es einen Kalender gab?

Die einfachste Methode, die in vielen Kulturen Anwendung fand, besteht darin, Tag für Tag den Höchststand der Sonne zu vermessen. Irgendwann in der wärmeren Jahreszeit gibt es einen Tag, da erreicht die Sonne um die Mittagszeit eine höhere Position als an jedem anderen, dem Tag der Sommersonnenwende, der in unserem Kalender um den 21. Juni herum liegt. Von da an werden die Tage wieder kürzer und der Sonnenstand um die Mittagszeit wird immer niedriger. Nach 182 bis 183 Tagen sind die Tage besonders kurz und die Sonne erreicht die geringste Mittagshöhe. Danach geht es wieder aufwärts.

Abb. 1.3 Bei der Sommersonnenwende (vergrößerte Darstellung links) auf der Nordhalbkugel treffen die Sonnenstrahlen durch die Schräglage der Erdachse in Rom (R) zur Mittagszeit fast senkrecht ein. Die Sonne steht deshalb zur Mittagszeit sehr hoch. Bei der Wintersonnenwende (rechts) fallen am selben Ort zur gleichen Tageszeit die Lichtstrahlen unter einem vergleichsweise flachen Winkel ein. Selbst zur Mittagszeit steht die Sonne deshalb erheblich tiefer als ein halbes Jahr zuvor.

Wenn man diese Beobachtungen mit ausreichender Präzision durchführt, zählt man von einer Sommersonnenwende zur nächsten gut 365 Tage, wobei sich dieser Termin mit der Zeit ein bisschen verschiebt. Über einen längeren Zeitraum hinweg stellt man fest, dass sich der Sonnenhöchststand mit großer Genauigkeit alle 365% Tage wiederholt. Ein Jahr dauert also normalerweise 365 Tage, wobei man alle 4 Jahre einen Tag einfügen muss, um eine allmähliche Verschiebung der Jahreszeiten zu verhindern. Heutzutage lernt man in der Schule, dass die Ursache für den sich alle 365% Tage wiederholenden Sonnenhöchststand in der Schräglage der Erdachse und der Bewegung der Erde um die Sonne liegt. Zu Beginn der menschlichen Kulturgeschichte wusste man davon nichts.

Die natürlichen Uhren sind nicht nur für unser Zeitverständnis essenziell, sondern auch für das aller Pflanzen und Tiere auf der Erde. Sie unterliegen genau wie wir einem Tag-Nacht-Rhythmus und passen ihre Überlebens- und Fortpflanzungsstrategie dem Jahreszyklus an. Es ist nicht völlig abwegig anzunehmen, dass das Zeitempfinden anderer, hoch entwickelter Lebewesen dem unseren einigermaßen ähnlich sein könnte, vorausgesetzt, sie sind wenigstens ein paar Jahre am Leben.

Die Wahrnehmung von Zeitintervallen und die Fähigkeit, deren Länge miteinander zu vergleichen, ja das Prinzip der Zeitmessung an sich, ist einerseits unmittelbar an das Vorhandensein periodischer Vorgänge geknüpft. Genauso wichtig ist es andererseits, die Kunst des Zählens zu beherrschen. Denn die Dauer eines Zeitraums bemisst sich allein daran, wie viele immergleiche Zyklen eines bestimmten periodischen Prozesses durchlaufen werden. Nur deswegen wissen wir, dass der März (31 Tage) länger dauert als der April (30 Tage). Ohne Systeme wie die rotierende Erde oder die Bewegung der Erde um die Sonne besäßen wir sicher ein anderes, vermutlich jedoch überhaupt kein Zeitgefühl. Aber letztendlich ist diese Fragestellung rein akademischer Natur, denn ohne den gleichmäßigen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten hätte sich das Leben nahe der Erdoberfläche in der uns bekannten Form gar nicht entwickeln können.

Bei der Rotation der Erde gehen wir intuitiv davon aus, dass sie völlig gleichmäßig abläuft, denn wir nehmen mit keinem unserer Sinne eine Abweichung wahr. Doch dieser Eindruck täuscht, denn in Wirklichkeit ist die Erdrotation4 mit winzigen Schwankungen übersät und ihre Erforschung eine äußerst diffizile Angelegenheit. Das liegt unter anderem an der Anwesenheit des Mondes, der weitgehend flüssigen Erdoberfläche und dem ebenfalls flüssigen Erdinneren. Aber dazu etwas später.

Wenn man es mit der Genauigkeit nicht auf die Spitze treiben will, kann man vereinfachend annehmen, die Erde rotiere ohne Schwankungen absolut gleichmäßig.

Ein Gesetzbuch für Bewegungen

Der Beginn der systematischen Erforschung der Naturgesetze ist mit zwei großen Namen verbunden: Galileo Galilei und Isaac Newton. Sie können als die Wegbereiter des modernen, naturwissenschaftlichen Denkens in Europa betrachtet werden.

Abb. 1.4 Galileo Galilei (1564 - 1642) war einer der berühmtesten Universalgelehrten der europäischen Geschichte. Er war Philosoph, Mathematiker, Physiker und Astronom. Auf ihn geht die Idee zurück, systematische Experimente durchzuführen und Gesetzmäßigkeiten mithilfe der Mathematik zu formulieren. Dass er für das von Kopernikus gefundene heliozentrische Weltbild Partei ergriff, brachte ihn in arge Bedrängnis. Im Jahr 1633 musste Galilei wider besseres Wissen seiner Überzeugung abschwören, um nicht im Namen der heiligen Inquisition zum Tode verurteilt zu werden. Ganze 359 Jahre, also bis ins Jahr 1992, brauchte die katholische Kirche, um ihr Urteil aus dem Jahr 1633 zu revidieren und den großen italienischen Gelehrten zu rehabilitieren.

Während Galilei als Begründer des naturwissenschaftlichen Experiments gelten kann, veröffentlichte Newton im Jahr 1687 seine berühmten Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. In diesem dreibändigen Werk, das eine der bedeutendsten Arbeiten der Wissenschaftsgeschichte darstellt, lieferte Newton unter anderem die theoretischen Grundlagen für die Lehre der Bewegung von Körpern, die klassische Mechanik. Ihm zu Ehren wird sie auch Newton'sche Mechanik genannt.

Abb. 1.5 Isaac Newton (1643 - 1727) ist bekannt für das von ihm gefundene Gravitationsgesetz und seine umfassende Theorie der Mechanik. Er beschäftigte sich auch mit der Optik, erfand das nach ihm benannte Spiegelteleskop sowie eine neue Art der Mathematik: Die Infinitesimalrechnung. Besonders bemerkenswert ist seine Erkenntnis, dass die Naturgesetze ganz allgemein mathematischen Prinzipien unterliegen. Newton gilt als der Begründer der theoretischen Physik und ihrer grundsätzlichen Methoden, die bis heute Anwendung finden.

Newtons fundamental neue Erkenntnis war, dass sich die Naturgesetze ganz allgemein in Form mathematischer Gleichungen präsentieren, und was wir heute vielleicht für eine Selbstverständlichkeit halten, war damals eine vollkommen neue Art zu denken: Die Sprache der Natur ist die Mathematik!

Neben den Gesetzen der Mechanik findet sich in Newtons Hauptwerk auch das nach ihm benannte Gravitationsgesetz, gemäß dem sich alle Körper, die eine Masse besitzen, gegenseitig anziehen. Je größer die beteiligten Massen und je näher sich die Körper sind, desto größer ist die Kraft.

Die Erde zieht einen Menschen an, das weiß jedes Kind und wir spüren es jeden Tag. Dass umgekehrt auch der Mensch die Erde mit der gleichen Kraft anzieht, machen wir uns hingegen nicht so oft klar. Wenn ein Mensch von einem Stuhl springt, kommt ihm die Erde demnach ein Stückchen entgegen, allerdings merken wir aufgrund des enormen Massenunterschieds zwischen Mensch und Erde davon nichts. Die durch den Sprung verursachte Bewegung der Erde liegt weit unterhalb der Nachweisbarkeitsgrenze, zudem wird sie von Abermillionen vergleichbarer Störungen überlagert.

Gemäß dem Gravitationsgesetz zieht die Erde den Mond und mit gleicher Kraft zieht auch der Mond die Erde an. Selbst zwei Elefanten, die nahe beieinanderstehen, ziehen sich allein aufgrund ihrer Masse gegenseitig mit einer Kraft an, deren Größe im messbaren Bereich liegt. Allerdings dürften selbst die sensibelsten Dickhäuter davon nichts spüren, denn die Kraft, die sie an die Erde bindet, ist rund hundert Millionen Mal so groß.

Aufgrund dieser Anziehungskraft, auch Gravitations- oder auch Schwerkraft genannt, saust die Erde nicht einfach geradeaus durchs Weltall, sondern wird von der Sonne auf ihrer Ellipsenbahn gehalten, ungefähr so, wie ein Hammerwerfer die Eisenkugel kurz vor dem Abwurf mit großem Kraftaufwand auf eine Kreisbahn zwingt.

Weil auch Venus, Jupiter und vor allem der Mond per Gravitationskraft ein bisschen an der Erde zerren, eiert sie in Wirklichkeit mit kleinen Schwankungen um die Sonne herum. Doch wenn man den Einfluss dieser Störenfriede unter den Tisch fallen lässt, was in aller Regel geschieht, umrundet die Erde auf einer nahezu perfekten Ellipse gleichmäßig einen Punkt, der fast genau im Zentrum der Sonne liegt.

Aber warum ist das so? Was führt dazu, dass sich die ungestörte Erde gleichmäßig um die Sonne bewegt, dabei um sich selbst rotiert und für eine Drehung um ihre eigene Achse offenbar immer gleich viel Zeit benötigt? Weshalb vollzieht sich die idealisierte Erdrotation stets in gleicher Weise? Die Erde könnte sich doch manchmal schneller und dann wieder langsamer drehen. Das würde uns zwar gehörig durchschütteln, doch selbstverständlich ist diese Gleichförmigkeit ganz und gar nicht. Man kann sich durchaus fragen, warum das so ist. Eine, die sich diese Frage besonders intensiv gestellt hat, war die brillante Mathematikerin und Physikerin Emmy Noether.

Abb. 1.6 Emmy Noether (1882 - 1935) war die zweite Frau, die in Deutschiand im Fach Mathematik einen Doktorgrad erwerben durfte. Sie lieferte herausragende Beiträge zur modernen Algebra und zur theoretischen Physik. Das nach ihr benannte Noether-Theorem stellt eine Beziehung zwischen sogenannten Erhaltungsgrößen in physikalischen Systemen und der Struktur von Gleichungen her, die diese Systeme beschreiben. Eine Konsequenz daraus ist der Energieerhaltungssatz, eine andere die Drehimpulserhaltung, die Eiskunstläuferinnen für ihre spektakulären Pirouetten nutzen.

Sie formulierte im Jahr 1918 einen nach ihr benannten Lehr­satz5. In diesem wird ein Zusammenhang zwischen der Symmetrie einer Gleichung, die einen physikalischen Sachverhalt beschreibt, und einer dazugehörigen Erhaltungsgröße hergestellt. Das klingt kompliziert und ist es ehrlich gesagt auch ein bisschen.

Eine Erhaltungsgröße ist zunächst einmal ein abstrakter mathematischer Ausdruck, doch bei manchen Gelegenheiten kann man die Magie einer Erhaltungsgröße auch mit eigenen Augen beobachten. Beispielsweise bei einem Fadenpendel nahe der Erdoberfläche: Einerseits ändert der Pendelkörper in jedem Augenblick seine Geschwindigkeit, andererseits variiert auch ständig seine Höhe über dem tiefsten Punkt. Trotzdem kann man sich darauf verlassen, dass ein ideales Pendel, bei dem man die Reibungseffekte vernachlässigt, immer wieder exakt seine Ursprungshöhe erreicht, diese aber auch niemals überschreitet. Die Konsequenz ist, dass ein ungestörtes Pendel im Idealfall beliebig lang seine Bewegung ausführt. Es gibt also offensichtlich eine abstrakte Größe, die ihren Wert dauerhaft beibehält. In diesen Fall heißt die (Erhaltungs-)Größe Energie, die die ganze Zeit unverändert bleibt und irgendwie im System Erde-Pendel steckt. Am tiefsten Punkt hat der Pendelkörper nur Bewegungsenergie, am höchsten Punkt nur die sogenannte potenzielle Energie. Die Summe aus Bewegungsenergie und potenzieller Energie ist die Gesamtenergie dieses einfachen Systems. Diese bleibt für alle Zeiten gleich, sofern das Pendel nicht abgebremst oder angestoßen wird. Wenn ein Pendelkörper von einem Kilogramm Masse bei der Pendelei immer wieder einen Höhenunterschied von 102 mm durchläuft, hat das Pendel für alle Zeiten eine Gesamtenergie von einem Joule.

Abb. 1.7 In den beiden äußeren Positionen bat der Pendelkörper eine größere Höbe als in der Mitte. Dafür ist er dort kurzzeitig in Ruhe und hat an diesen Außenpunkten nur die sogenannte potenzielle Energie. In der mittleren Position befindet sich der Pendelkörper hingegen an etwas tieferer Stelle, dafür besitzt er dort seine maximale Geschwindigkeit. Er hat dort nur Bewegungsenergie. Die Summe aus Bewegungsenergie und potenzieller Energie ist beim ungestörten Pendel immer gleich, solange seine Bewegung noch nicht durch die unvermeidliche Reibung gebremst wird.

Bei der Rotation der Erde geben zwei Erhaltungsgrößen für die Einhaltung der Bewegungsgesetze den Ton an: Energie und Drehimpuls. Über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten sind beide nahezu unverändert. Über viele Jahrtausende bis Jahrmillionen wird die Rotation der Erde jedoch durch Reibungseffekte ein bisschen abgebremst. Diese haben ihre Ursache in der Bewegung der Atmosphäre, der flüssigen Erdoberfläche, dem Einfluss des Mondes und dem ebenfalls flüssigen Erdinneren. Abgesehen davon hat die Erde wenig Gelegenheit, Rotationsenergie in Wärme umzuwandeln und Drehimpuls an andere Himmelskörper abzugeben. Weil es zudem niemanden gibt, der die Erde von außen anschubst, bekommen wir das Gefühl einer völlig gleichmäßigen Rotation.

In Wirklichkeit kommen zu der oben erwähnten, langfristigen Abbremsung unzählige kurzfristige, kleine Schwankungen der Rotationsgeschwindigkeit hinzu. Tatsächlich dreht sich die Erde mal schneller und dann wieder etwas langsamer. In erster Linie sind dafür unterschiedliche Tidenhübe der Meeresoberfläche verantwortlich, die in der unterschiedlichen Entfernung des Mondes begründet sind. Hinzu kommt die Verschiebung unterschiedlichen Materials im Erdinneren. Wenn schwere, flüssige Gesteinsmassen aufgrund einer komplizierten Dynamik Richtung Erdkern wandern und dort leichteres Gestein nach außen verdrängen, muss sich die Erde aufgrund der Drehimpulserhaltung eine Winzigkeit schneller drehen. Man kann die Erde in diesem Fall ein bisschen mit einer Eiskunstläuferin vergleichen, die bei einer Pirouette ihre Arme zum Körper zieht und so einen Teil ihrer Masse näher an die Rotationsachse heranführt, wodurch eine schnellere Rotation erzeugt wird. Erlaubt man sich hingegen, die Erde als perfekte, harte Kugel zu betrachten und den Mond außer Acht zu lassen, sorgen Energie- und Drehimpulserhaltung für einen perfekt gleichmäßigen Lauf und die Erde dreht sich präzise wie ein Uhrwerk.