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Ein junger Mann bringt scheinbar aus dem Nichts seine ganze Familie und sich selbst um; ein medizinisches Experiment endet tödlich; ein verschwundenes Kind und die Suche nach den Schuldigen - Sabine Rückert und ihre Kolleg:innen aus der ZEIT-Redaktion haben erneut die spannendsten und spektakulärsten Kriminalfälle zusammengetragen und intensiv beleuchtet. In diesem Begleitbuch zum beliebten Podcast erzählen sie von ihnen - fachkundig, fesselnd und immer mit Mut zu den Zwischentönen der Geschichte.
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Seitenzahl: 189
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Änderungshinweis
Zu diesem Buch: SABINE RÜCKERT ZU DIESEM BUCH
Polizei (1): 110 – BEI ANRUF TOD
Polizei (2): LANGER WEG ZUM RECHT
Stalking: HAB MICH LIEB!
Kriminalsoziologie: DER TODESPLAN
Gewaltausübung im Amt: STRAFSACHE POLIZEI
Fehlurteil: DER SÜNDENBOCK
Gehirnwäsche: HINTER SCHLOSS UND RIEGEL
Forensische Psychiatrie: IN DER LEBENS-VERSICKERUNGS-ANSTALT
Familiendrama: DER FLUCH DER BÖSEN TAT
Kindsmord: DER LANGE WEG IN DEN ABGRUND
Scharlatanerie: WAHNSINNIGE HOFFNUNG
Über das Buch
Ein junger Mann bringt scheinbar aus dem Nichts seine ganze Familie und sich selbst um; ein medizinisches Experiment endet tödlich; ein verschwundenes Kind und die Suche nach den Schuldigen – Sabine Rückert und ihre Kolleg:innen aus der ZEIT-Redaktion haben erneut die spannendsten und spektakulärsten Kriminalfälle zusammengetragen und intensiv beleuchtet. In diesem Begleitbuch zum beliebten Podcast erzählen sie von ihnen – fachkundig, fesselnd und immer mit Mut zu den Zwischentönen der Geschichte.
Über die Autorin
Sabine Rückert, Jahrgang 1961, ist stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, Herausgeberin des ZEIT-Magazins Verbrechen und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Kriminalistik. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als ressortunabhängige Gerichtsreporterin und erhielt für ihre Reportagen zahlreiche renommierte Journalisten-Preise, darunter den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis oder den Deutschen Reporterpreis; sie deckte zwei Justizirrtümer auf. Seit 2018 ist sie Host des höchst erfolgreichen ZEIT Verbrechen-Podcasts, in dem sie Hunderttausende Zuhörer mit spannenden Kriminalfällen begeistert.
Sabine Rückert (Hg.)
VERBRECHEN 2
Die spannendsten Kriminalfälle aus Deutschland
DAS BUCH ZUM PODCAST
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln© Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KGUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenUmschlagmotiv: © epicurean/getty-imageseBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0950-7
luebbe.delesejury.de
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir die Namen und andere persönliche Details mehrerer Protagonisten in den Texten geändert. Des Weiteren haben wir uns vorbehalten, die älteren ZEIT-Artikel an die heutigen sprachlichen Gepflogenheiten anzupassen.
Liebe Leserinnen und Leser!
Das Bild unten zeigt Andreas Sentker und mich im Herbst 2019 unmittelbar vor einem Live-Auftritt in der Berliner Urania. In wenigen Minuten werden wir vor großem Publikum den unglaublichen Fall des Briefkastenbombers Peter J. besprechen, dessen verbrecherischer Hassexzess seine Ursache letztlich in familiärer Zerrüttung und staatlichem Versagen hatte. Das Gespräch ist später unter der Überschrift »Brüderchen und Schwesterchen« in unserem Podcast ZEIT Verbrechen gesendet worden und ist dort immer noch abrufbar.
Seit April 2018 erzählen wir in unserem Podcast alle zwei Wochen einen Kriminalfall. Es handelt sich um aufwendig recherchierte Polizei- oder Gerichtsreportagen, die bereits als Artikel in der ZEIT erschienen sind. Manche sind zum Zeitpunkt der Podcast-Ausstrahlung erst wenige Wochen alt, andere mehrere Jahre. Doch auf die verstrichene Zeit kommt es nicht an. Verbrechen erzählen eine Menge über die Natur des Menschen – und die ändert sich nicht.
ZEIT Verbrechen ist weit davon entfernt, Unterhaltung zu sein oder auch nur sein zu wollen. Im Gegenteil: Unser Ziel ist die Information – über das Wesen und die Ursache von Kriminalität und über die (manchmal hervorragende, manchmal aber auch katastrophale) Arbeit von Ermittlungsbehörden und Gerichten. Die Zeitlosigkeit der Fälle, die Intensität der Recherchen, der politische Anspruch und der journalistische Ernst, der in der Beschäftigung mit dem Phänomen Verbrechen steckt, bescheren unserem Podcast einigen Erfolg. Eine Menge Menschen – darunter nicht wenige Experten aus Kreisen der Polizei, der Strafverfolgungsbehörden oder der Strafrichter – hören uns regelmäßig zu. Anfang 2020 wurden Andreas Sentker und ich außerdem mit dem erstmals verliehenen Deutschen Podcast-Preis ausgezeichnet, in der Kategorie »Beste journalistische Leistung«.
Im Laufe der Zeit gingen wir dazu über, immer mehr Gäste in unseren Podcast einzuladen, und auch sie bringen uns und unserem Publikum jeweils eine Kriminalgeschichte mit. Sämtliche Gäste sind Autoren und Reporterinnen der ZEIT, die für unsere Zeitung über Kriminalfälle schreiben. Und auch bei ihnen beruht jede Podcast-Folge auf intensiver Recherche und einem Artikel, der in unserer Zeitung erschienen ist.
Aus solchen ZEIT-Texten besteht dieses Buch. Es ist schon das zweite Begleitbuch zu unserem Podcast ZEIT Verbrechen (das erste ist nach wie vor im ZEIT-Shop erhältlich). Wer es liest, blickt sozusagen in die Fundamente hinein, auf denen der Podcast ruht: spannend geschriebene Reportagen, für das Buch angereichert mit Auszügen aus den jeweiligen Akten und mit Fotografien.
Da ist das erschütternde Schicksal eines Abiturienten, der von Polizisten nachts alkoholisiert in der winterlichen Einsamkeit ausgesetzt wird und dort umkommt. Da ist der junge Mann, der von seiner besessenen Freundin verfolgt und bedroht wird und nirgendwo Hilfe findet – gerade weil er ein Mann ist. Da ist der Vater, der sich und seine ganze Familie anzündet, weil die Realität nicht mit seinem überblähten Selbstbild mithalten kann. Und da ist der Arzt, der sich in den Wahn hineinsteigert, ganz allein ein Mittel gegen den Krebs gefunden zu haben – eine Idee, die schließlich nicht nur einen Patienten das Leben kostet, sondern auch den Arzt selbst. Packende und anrührende Schicksale von Menschen, die gleichzeitig sehr viel erzählen über die Gesellschaft, über das Land, in dem wir leben.
Wir wünschen Ihnen spannende und nachdenkliche Stunden mit diesem Buch.
Ihre
Sabine Rückert
Hamburg, im Januar 2021
Zwei Polizisten setzen einen volltrunkenen Schüler in einer Winternacht an einem unbewohnten Ort nahe Lübeck ab. Kurz darauf wird er überfahren. Die Eltern glauben zunächst an einen tragischen Unfall. Dann beginnen sie, Fragen zu stellen
Wer sich in einer Dezembernacht ohne Mantel in die Einsamkeit der Kronsforder Hauptstraße bei Kilometer 10,6 stellt, kann das Entsetzen spüren, das Robert Syrokowski zuletzt gepackt haben muss. Bald umschließt die Kälte wie eine Klammer die Brust, die Finsternis steht wie eine Wand vor den Augen. Die Füße versinken in der eisigen Böschung, Robert war barfuß. Wenn Fahrzeuge vorbeidonnern, taucht in ihrem Scheinwerferkegel ganz kurz ein Holzkreuz am Straßenrand auf. Es erinnert daran, dass Robert in den frühen Morgenstunden des 1. Dezember 2002 hier starb – fast erfroren und auf der Fahrbahn sitzend. Da war er gerade 18.
Mehr als fünf Jahre später beschäftigt das Ende des Lübecker Gymnasiasten den Bundesgerichtshof. Robert ist nämlich nicht bloß das Opfer irgendeines tragischen Verkehrsunfalls – wäre er in jener Nacht nicht in die Hände der Polizei gefallen, würde er heute noch leben. Zwei Beamte hatten ihn in Gewahrsam genommen und dann an unbewohnter und ihm unbekannter Stelle ausgesetzt. Die beiden Polizisten sind vom Landgericht Lübeck am 31. Mai 2007 wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen von jeweils neun Monaten verurteilt worden. Ob das Urteil jetzt rechtskräftig wird oder ob die Umstände, die zum Tode des Jungen geführt haben, neu verhandelt und bewertet werden müssen, darüber wird der Dritte Strafsenat in Karlsruhe nächste Woche befinden.
Die letzte Nacht des Robert Syrokowski nimmt ihren Anfang in einer Landdiskothek im Weiler Groß Weeden, etwa 20 Kilometer von Lübeck entfernt. Es ist Sonnabend, Robert ist das erste Mal hier, seine Freunde haben ihn mitgebracht, in ihrer Gesellschaft trinkt er kräftig Bier und Wodka mit Orangensaft. Bei seinem Tod am Sonntag früh wird er immer noch fast zwei Promille im Blut haben. Um 2.45 Uhr verlässt der Junge die Diskothek allein und ohne seinen Kameraden Bescheid zu sagen. Will er frische Luft schnappen? Jedenfalls trägt er nur ein T-Shirt und darüber einen dünnen Baumwollpullover. Draußen ist es trocken, aber bitterkalt: vier Grad über null.
Eine Viertelstunde später findet eine Zivilstreife Robert etwa 300 Meter von der Disco entfernt an der Einfahrt zu einer Sondermülldeponie halb auf der Straße liegend. Er ist »leichenblass und nicht ansprechbar«. Die Beamten hüllen den Zusammengebrochenen in eine Wärmedecke und rufen den Rettungswagen. Robert kommt wieder zu sich und kann auch sagen, wie er heißt. Den Rettungsassistenten kommt Robert betrunken, aber nicht volltrunken vor – sie rücken wieder ab. Später werden sie angeben, den Jungen in der Obhut der Streifenbeamten zurückgelassen zu haben, die ihrerseits beteuern, ihn den Rettungsassistenten anvertraut zu haben. Wer die Unwahrheit sagt, wird nicht geklärt, sicher ist nur, dass Robert um 3.40 Uhr allein in der Nacht zurückbleibt.
Kurze Zeit später klingelt es kräftig an der Tür der Eheleute B., die mit ihren fünf Kindern das Haus an der Einfahrt zur Sondermülldeponie bewohnen. Herr B. öffnet, draußen steht ein sehr junger Mann und will herein. Es ist Robert, der leicht hin und her schwankt und mit halb geschlossenen Augen und schwerer Zunge behauptet, hier zu wohnen. »Meine Eltern haben dieses Haus gekauft«, sagt er schleppend. Vergeblich versuchen die B.s, dem – wie sie fälschlich glauben – unter Drogen stehenden Besucher den Unsinn auszureden. Robert, der mit seiner Familie tatsächlich am Vortag in ein neues Haus innerhalb Lübecks umgezogen ist, wankt ums Eigenheim der B.s, wobei er immerzu in sein Handy spricht. Schließlich versucht er von hinten durch den Wintergarten einzudringen. Er habe den Schlüssel vergessen, ruft er, aber er wisse schon, wie er hereinkomme. Er sei so müde und friere und wolle in sein Bett. Er kommt den B.s hilflos vor, »wie ein kleines Kind«.
Weil sich die B.s mit ihrem offensichtlich verwirrten Gast keinen anderen Rat wissen, wählen sie die Nummer, die jedem deutschen Bürger im Notfall Hilfe verspricht: 110. Daraufhin erscheinen Hans Joachim G. und Alexander M., zwei erfahrene Polizisten. Von der Einsatzleitstelle wissen sie bereits, dass eben gerade schon ein Polizeifahrzeug bei Robert Syrokowski gewesen ist. Mit dem Auftauchen der Beamten nimmt die Sache in den Augen der Eheleute B. eine befremdliche Wendung. »Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten«, stellt M. sich dem inzwischen unruhig hin und her trippelnden Robert vor, »und das«, er weist auf den Kollegen, »ist Micky Mouse.« Robert lächelt. Er scheint das Abwertende dieser Ansprache nicht zu begreifen. Die Beamten weisen ihn vom Gelände der B.s, und als Robert sich zum Gehen wendet, fahren auch sie ab.
Gleich danach kehren sie zurück, um zu prüfen, ob Syrokowski sich an das Verbot hält. Der hat inzwischen wieder versucht, von hinten in sein vermeintliches Elternhaus zu gelangen, und kommt den Beamten jetzt aus der Zufahrt zur Deponie entgegengelaufen. Dabei stürzt er schwer über die armdicke Stahlkette, die den Weg absperrt. Trotzdem erhebt er sich sofort und rennt wie ein Automat weiter, ohne auf Verletzungen zu achten oder sich den Staub abzuklopfen. Alexander M. erwischt Robert am Arm: »Jetzt ist Schluss, Freundchen, du kommst jetzt mit und kannst dich ausnüchtern.« Sie setzen den Jungen in den Fond des Polizeiwagens und fahren ab.
Das geschieht um 4.15 Uhr. Um 5.30 Uhr wird Robert zehn Kilometer nördlich, mitten in der stockdunklen Verlassenheit der Krummesser Heide, von einem Pkw erfasst und getötet werden. Doch wie ist er an diesen Ort gelangt?
Sämtliche Angaben über das, was Robert Syrokowski in diesen 75 Minuten widerfuhr, stammen von den beschuldigten Beamten – der einzige Zeuge ist tot. In der Hauptverhandlung behaupteten die Angeklagten, sie hätten Robert in sein Elternhaus nach Lübeck fahren wollen, der aber habe darauf bestanden, vorzeitig auszusteigen. Und weil er 18 Jahre alt gewesen sei, im Auto keinen betrunkenen, sondern einen durchaus vernünftigen Eindruck gemacht habe, außerdem im Besitz eines Handys gewesen sei und sich ein Taxi habe rufen wollen, habe man ihn einige Kilometer vor Lübeck an einer durch Straßenlaternen beleuchteten Stelle hinter dem Elbe-Lübeck-Kanal abgesetzt.
Diese fürsorgliche Version hat das Landgericht Lübeck den Beamten nicht geglaubt. Die Richter waren vielmehr davon überzeugt, dass Alexander M. und Hans Joachim G., die zur Polizei Ratzeburg gehören, den orientierungslosen Jungen aus ihrem Zuständigkeitsbereich heraus auf Lübecker Stadtgebiet transportieren wollten, um ihren Platzverweis durchzusetzen und »einen Störer los zu sein«. Sie hätten den geistig Beeinträchtigten, lediglich mit einem Pullover Bekleideten in der Winternacht im Stich gelassen, ohne zu prüfen, ob sein Handy funktioniert, ob er Geld dabei hat und ob er überhaupt weiß, wo er sich befindet.
Warum sonst hätten die Beamten gegen die Vorschriften verstoßen und ihrer Einsatzleitstelle die 15-minütige Fahrt mit Robert verschweigen sollen, wie sie es getan haben? Robert hatte nur noch 1,90 Euro in der Tasche, die Fahrt nach Hause konnte er gar nicht bezahlen. Auch war ihm die Gegend hinter dem Elbe-Lübeck-Kanal völlig fremd, welche Adresse hätte er dem Taxi nennen sollen? Und hatte er wirklich den richtigen Taxenruf im Kopf?
Fest steht, dass Robert noch im Polizeiauto sitzend auf seinem Handy vier Mal die Notrufnummer 110 gewählt hat – hatte er Angst? Fest steht auch, dass Robert – war er wirklich an der von den Beamten bezeichneten Stelle ausgesetzt worden – zwei Kilometer gelaufen sein musste, um zum Ort seines Todes zu gelangen. Und zwar zwei Kilometer in die falsche Richtung, weg von Lübeck durch den ganzen Ort Kronsforde hindurch und hinein in die pechschwarze Finsternis der Krummesser Heide. Darf man das glauben? Und warum haben ihn die Beamten – angenommen, er wollte wirklich selbst aussteigen –, nicht mitten in einer Ortschaft abgesetzt? Drei Dörfer haben sie mit Robert im Auto durchquert.
Der Lübecker Rechtsanwalt Klaus Nentwig, der Roberts Eltern als Nebenkläger im Prozess vertrat, hegt den Verdacht, dass der Junge gar nicht am Elbe-Lübeck-Kanal aus dem Polizeiwagen entlassen wurde, sondern vorher, auf einem unbeleuchteten Waldparkplatz unweit der Stelle, wo er starb. Diese Vermutung ist für die Verteidigung zwar nichts als »Spökenkiekerei«, würde aber erklären, warum der Junge sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mitten im Nichts auf die Landstraße setzte: So konnte er auch im Zustand der totalen Erschöpfung ein vorbeikommendes Auto auf sich aufmerksam machen.
Um 5.30 Uhr knallt der VW Golf einer jungen Frau, die mit 90 Stundenkilometern über Land unterwegs ist, in den auf dem Asphalt sitzenden Gymnasiasten. Er stirbt noch am Unfallort. Robert trägt weder Schuhe noch Strümpfe, wahrscheinlich als Folge der sogenannten Kälte-Idiotie. Gerichtsmediziner kennen dieses Phänomen bei unterkühlten Betrunkenen: In eisiger Umgebung drängt es sie – von Hitzehalluzinationen irregeführt –, sich auszuziehen. Kälte-Idiotie ist ein Zeichen des nahenden Erfrierungstodes.
In der letzten Stunde seines Lebens hat der umherirrende Robert noch verzweifelt versucht, mit dem Handy eine Menschenseele zu erreichen: Seine Freundin hatte ihr Mobiltelefon abgestellt, bei allen anderen Nummern kamen die Gespräche nicht zustande. Auch zu Hause hat Robert es versucht, zwei Mal wollte er die Nummer seiner Eltern eingeben, beide Male hat er sich verwählt.
Die Syrokowskis erfuhren von den Umständen, die zum Tode ihres Kindes geführt hatten, zunächst gar nichts. »Ihr Sohn ist bei einem Autounfall umgekommen«, teilte die Polizei ihnen am Morgen mit. Sie begruben den Toten im Glauben an ein tragisches Unglück. Und vielleicht wären sie heute noch dieser Meinung, hätten nicht plötzlich die Eheleute B. aus Groß Weeden vor ihrer Haustür gestanden: Sie hatten von Roberts Unfall im Radio gehört und berichteten nun den Eltern Syrokowski von dem merkwürdigen Polizeieinsatz in ihrer Grundstückseinfahrt.
Zwischen diesem Besuch und der Verurteilung der beiden Beamten liegen viereinhalb Jahre. Die Aufklärung der Todesumstände des Gymnasiasten ist weniger von den Strafverfolgungsbehörden geleistet worden als vielmehr von seinen Eltern und deren Rechtsanwalt Klaus Nentwig. Die Staatsanwaltschaft Lübeck dagegen war mäßig interessiert. Drei Tage nach Roberts Tod meint die zuständige Staatsanwältin, es lägen keine Anhaltspunkte für einen Pflichtverstoß der Polizeibeamten vor, dabei stützt sie sich auf die Aussagen der Beamten G. und M., die von einer Hilflosigkeit des Jungen nichts bemerkt haben wollen. Als Nentwig sechs Wochen später die Akte einsieht, ist sie so gut wie leer. Der Anwalt fordert die Staatsanwältin auf, endlich tätig zu werden: Unterlagen zu beschlagnahmen, Zeugen zu vernehmen, Gutachten in Auftrag zu geben – doch die hat es nicht eilig. So gehen die Tonbandmitschnitte der beiden Polizeieinsätze jener Nacht verloren, und auch die Notrufe, die Robert aus dem Polizeiwagen unter 110 abgesetzt hat, sind inzwischen gelöscht.
Am 16. September 2003 stellt die Staatsanwaltschaft ihre spärlichen Ermittlungen ganz ein: Der Tod des Robert Syrokowski sei ein »tragischer Unglücksfall«, niemand sei verantwortlich. Weil Nentwig sich vergeblich beim Generalstaatsanwalt beschwert, muss er schließlich das schleswig-holsteinische Oberlandesgericht anrufen, um die Staatsanwaltschaft Lübeck zur Wiederaufnahme der Ermittlungen zu zwingen. Sein Antrag hat zunächst Erfolg, doch im November 2004 werden die Ermittlungen abermals eingestellt. Auch diese Verfügung greift der Rechtsanwalt mit der Beschwerde an, die der Generalstaatsanwalt wiederum verwirft.
Wieder ruft Rechtsanwalt Nentwig das Oberlandesgericht an, dieses führt noch einige Ermittlungen selbst durch und ordnet dann die Erhebung der Anklage wegen »Aussetzung des Robert Syrokowski« an. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Lübeck kämpft die zum Jagen getragene Staatsanwaltschaft nicht für die Verurteilung, sondern für die Freisprechung der beiden Angeklagten. Trotzdem werden sie verurteilt, wenn auch nicht wegen Aussetzung, sondern wegen fahrlässiger Tötung.
Mit diesem Urteil wollen sich die Angeklagten und die Staatsanwaltschaft Lübeck nicht abfinden. Einträchtig fordern sie seine Aufhebung: Dem Gymnasiasten sei seine Volltrunkenheit und die damit einhergehende geistige Beeinträchtigung nicht unbedingt anzumerken gewesen, argumentieren sie. Die Beamten hätten einen Volljährigen, der aussteigen will, nicht gegen seinen Willen im Auto festhalten können. Er habe das Fahrzeug an beleuchteter Stelle verlassen und sei im Besitz eines Handys gewesen. Die furchtbare Entwicklung der Sache sei für die Polizisten nicht abzusehen gewesen.
Die Nebenklage denkt da anders. Sie findet, den erfahrenen Beamten konnte der hilflose Zustand des Schülers gar nicht entgangen sein, war er doch sogar von Laien wie den Eheleuten B. erkannt worden. Und auf den Willen eines erkennbar Verwirrten komme es nicht an. Statt den leicht bekleideten Robert heimzufahren oder zu seinen Freunden in die Disco zu bringen, hätten die Beamten ihn abtransportiert und seine Lage durch den Ortswechsel an eine unbewohnte Stelle »objektiv verschlechtert«. Gegen die Polizisten spreche auch, dass sie der Einsatzleitung diese Fahrt verheimlicht hätten. Die Nebenklage will, dass die neue Hauptverhandlung vor dem Landgericht Kiel stattfindet, damit eine andere als die Lübecker Staatsanwaltschaft an dem weiteren Verfahren mitwirkt.
Am 10. Januar 2008 wird der Bundesgerichtshof entscheiden, ob das Verfahren weitergeht. Der Vorsitzende des Dritten Strafsenats, Klaus Tolksdorf, weiß aus eigener Anschauung, was von einem Polizeibeamten erwartet und verlangt werden darf – er war früher selbst Polizist.
Aus: DIE ZEIT 2/2008, 3. Januar 2008, von Sabine Rückert
Wer trägt Schuld an Roberts Tod? Zwei Polizisten, urteilt das Kieler Landgericht
Ganz unmerklich hat sich das Unheil über Alexander M. und Hans-Joachim G. zusammengebraut. Nach dem Tod ihres Opfers Robert Syrokowski vor fast sechs Jahren, am 1. Dezember 2002, hatten sie noch allen Grund, zu hoffen, dass sie davonkommen könnten. Doch in der vergangenen Woche holte das Schicksal die beiden Ratzeburger Polizeibeamten ein: An diesem Tag verurteilte das Landgericht Kiel den 46-jährigen Alexander M. wegen Aussetzung einer hilflosen Person mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Die Strafe wurde zwar zur Bewährung ausgesetzt, für einen Polizeibeamten jedoch bedeutet ein solcher Schuldspruch das Ende seiner Laufbahn. Am Tag, an dem das Urteil rechtskräftig wird, ist M. aus dem Staatsdienst entlassen, und seine Pensionsansprüche erlöschen. M.s Untergebenen, den 59-jährigen Hans-Joachim G., bestraften die Richter wegen fahrlässiger Tötung mit neun Monaten Gefängnis auf Bewährung. G. wird wohl im Staatsdienst bleiben, weil seine Freiheitsstrafe unter einem Jahr ist.
In der Kieler Hauptverhandlung erklärten die Angeklagten, sie hätten vom vorhergehenden Polizeieinsatz nichts gewusst und das Ausmaß von Roberts Alkoholisierung nicht erkannt. Dass er meinte, in einem fremden Haus zu wohnen, hätten sie für einen Scherz gehalten. Sie hätten den Gymnasiasten nach Hause fahren wollen, weil der aber unbedingt auf halber Strecke habe aussteigen und ein Taxi nehmen wollen, hätten sie ihn abgesetzt – alles andere wäre Freiheitsberaubung gewesen.
Diese fürsorgliche Version haben die Richter nicht geglaubt, nicht zuletzt deshalb, weil M. und G. ihrer Einsatzzentrale die Nachtfahrt mit Robert Syrokowski verheimlicht haben. Das Gericht ist vielmehr davon überzeugt, dass M. und G. sehr wohl Kenntnis davon hatten, dass Robert kurz zuvor schon einmal einen Polizeieinsatz verursacht hatte. Sie wussten außerdem, dass Robert alkoholisiert und dünn bekleidet war. Der Junge habe den Einsatzwagen alles andere als freiwillig verlassen, zumal er kaum mehr als einen Euro in der Tasche hatte. Die Polizisten hätten ihn ausgesetzt, um einen Störer los zu sein. »Sie haben ihn in jene Lage versetzt, die zu seinem Tode führte«, sagt der Vorsitzende bei der Urteilsverkündung. An dem schrecklichen Ende jener Nacht sind – so sehen es die Richter – die beiden Polizisten schuld.
Die Eltern des Toten nehmen als Nebenkläger am Prozess teil. Immer wieder muss die Mutter ihre Tränen hinter einer großen Sonnenbrille verbergen. Für die Eheleute Syrokowski ist der Schuldspruch eine späte Genugtuung.
Am 10. Januar 2008 hatte sich der Dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in öffentlicher Hauptverhandlung mit Roberts Todesumständen beschäftigt. Die Eltern wurden vom Hamburger Revisionsspezialisten Johann Schwenn vertreten. Die Anwälte der Angeklagten dagegen fehlten. Offensichtlich glaubten sie, sich ganz auf den Einsatz des Generalbundesanwalts verlassen zu können, der die Revision der Staatsanwaltschaft Lübeck vor dem BGH vertrat. Ein grober Fehler, denn in Karlsruhe hatte sich der Wind gedreht und die Bundesanwaltschaft ihren Standpunkt ohne Ankündigung geändert. Plötzlich hielt sie die Revision der Lübecker Staatsanwälte und die der Angeklagten für unbegründet und plädierte dafür, das Lübecker Urteil aufrechtzuerhalten.
Doch es kam noch schlimmer: Der Dritte Strafsenat verwarf nicht nur die Revision der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten – er hob das Lübecker Urteil auf die Revision der Eltern Syrokowski hin auf und verwies die Sache zurück – nicht mehr nach Lübeck, sondern ans Landgericht Kiel. Auch das hatten die Eltern gefordert. In seinem Urteil formuliert der Bundesgerichtshof »durchgreifende rechtliche Bedenken«, soweit das Landgericht Lübeck das Vorliegen einer Aussetzung mit Todesfolge verneint habe. Warum die beiden Angeklagten bloß fahrlässig gehandelt haben sollen, können die Bundesrichter dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen.
Die Kieler Landrichter sehen es jetzt teilweise genauso: Mindestens der Angeklagte Alexander M. hat Roberts Hilflosigkeit ihrer Ansicht nach erkannt, deshalb haben sie ihn auch härter bestraft – wegen Aussetzung mit Todesfolge. Er muss jetzt seine Hoffnung auf die vage Chance setzen, dass dem Landgericht Kiel irgendein schwerwiegender Rechtsfehler unterlaufen ist, der sich mit einer neuen Revision angreifen lässt. Dass er an dieser für ihn unheilvollen Verfahrensentwicklung auch noch selbst Schuld hat, weil er das milde Lübecker Urteil nicht akzeptieren mochte, macht M. fast zu einer tragischen Figur.
Auch sein Mitangeklagter Hans-Joachim G., der im zweiten Prozess vom Kieler FDP-Politiker Wolfgang Kubicki verteidigt wurde, will die erneute Revision. Ein ziemlich riskanter Schritt, denn es könnte ihm ergehen wie seinem Vorgesetzten Alexander M. Der Angeklagte G. hat jetzt nämlich provoziert, dass die Eltern Syrokowski sich mit dem milden Schuldspruch gegen ihn ein weiteres Mal nicht abfinden und ihrerseits Revision einlegen.
Aus: DIE ZEIT 40/2008, 25. September 2008, von Sabine Rückert
Ein Mann wird von seiner Ex-Freundin gestalkt und bedroht – doch die Justiz hilft ihm nicht
Christian Blaschke hat wirklich alles getan, um der Frau zu entkommen: Er hat sich aus den sozialen Netzwerken verabschiedet, eine neue E-Mail-Adresse zugelegt und zweimal neue Handynummern besorgt. Er hat sich eine neue Wohnung gesucht, und als das nichts half, ist er von Stuttgart nach München umgezogen, mehr als 200 Kilometer entfernt.
Trotzdem hat sie ihn gefunden.