ZEIT Verbrechen 3 - Sabine Rückert - E-Book

ZEIT Verbrechen 3 E-Book

Sabine Rückert

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Beschreibung

Neue Fälle aus Deutschlands bestem True-Crime-Podcast

Im Jahr 2018 ging der Podcast ZEIT VERBRECHEN an den Start - und zählt seither zu den beliebtesten und erfolgreichsten Podcasts Deutschlands. Die ehemalige Gerichtsreporterin und stellvertretende ZEIT-Chefredakteurin Sabine Rückert berichtet darin gemeinsam mit Andreas Sentker auf fesselnde Weise von Kriminalfällen, die sie begleitet hat, und begeistert damit regelmäßig Millionen von Fans - inzwischen auch live vor ausverkauften Hallen.

Der dritte Begleitband zum Podcast versammelt wieder die Originalartikel von Sabine Rückert und ihren ZEIT-Kolleg:innen zu den beliebtesten Folgen; wie immer höchst fesselnd, erschütternd und bewegend.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 172

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Änderungshinweis

Zu diesem Buch: WARUM ES WICHTIG IST, VON VERBRECHEN ZU ERZÄHLEN

Mord in Berlin: IN DER GEFRIERTRUHE

Bankraub: DOPPELLEBEN

Profiling: TATORTANALYSE

Gerichtsprozess: KINDSTOD NACH PLAN

Staatsexamen: DER ANGEKLAGTE RICHTER

Rassismus: SCHWIERIGE WAHRHEIT

Mordprozess in Dresden: EINSAMER HASS

V-Männer: FORSTER FÜHLT SICH VERRATEN

Vergewaltigung: GEFESSELT

Patientenmorde: DER BERUFSKILLER

Betrug: BLIND VOR LIEBE

Über das Buch

Was bringt eine junge Mutter dazu, ihre eigenen Kinder zu töten? Was einen fürsorglichen Krankenpfleger, wehrlose Patient:innen umzubringen? Und warum wird ein liebevoller Familienvater zum Vergewaltiger?

Vor inzwischen fünf Jahren ging der Podcast ZEIT Verbrechen an den Start – und zählt nach wie vor zu den erfolgreichsten Podcasts überhaupt. Die ehemalige Gerichtsreporterin und stellvertretende ZEIT-Chefredakteurin Sabine Rückert berichtet immer wieder auf fesselnde Weise von Kriminalfällen, die sie begleitet hat, und begeistert damit Millionen von Fans. Der dritte Begleitband zum Podcast versammelt nun wieder zehn packende und erschütternde Fälle – Gänsehaut garantiert!

Über die Autorin

Sabine Rückert, Jahrgang 1961, ist stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, Herausgeberin des ZEIT-Magazins Verbrechen und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Kriminalistik. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als ressortunabhängige Gerichtsreporterin und erhielt für ihre Reportagen zahlreiche renommierte Journalisten-Preise, darunter den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis oder den Deutschen Reporterpreis; sie deckte zwei Justizirrtümer auf. Seit 2018 ist sie Host des höchst erfolgreichen ZEIT Verbrechen-Podcasts, in dem sie Hunderttausende Zuhörer mit spannenden Kriminalfällen begeistert.

Sabine Rückert (Hg.)

VERBRECHEN 3

Packend und abgründig – neue Fälle aus dem True-Crime-Podcast Nr. 1

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

© Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG

Umschlaggestaltung: © FAVORITBUERO, MünchenUmschlagmotiv: © Raggedstone/shutterstockeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4270-2

luebbe.delesejury.de

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir die Namen und andere persönliche Details mehrerer Protagonist:innen in den Texten geändert. Des Weiteren haben wir uns vorbehalten, die älteren ZEIT-Artikel an die heutigen sprachlichen Gepflogenheiten anzupassen.

ZU DIESEM BUCHWARUM ES WICHTIG IST, VON VERBRECHEN ZU ERZÄHLEN

Wer von Verbrechen berichtet, steht mitunter im Verdacht, die niederen Motive der Leser bedienen zu wollen, ihre vermeintliche Gier nach Blut, Gemetzel, Sex und dem Untergang (anderer Menschen). Und in der Tat stößt man in der Boulevardpresse, auf Privatsendern oder im Netz immer wieder auf Sensationsberichte, deren Autoren sich offenbar vorgenommen haben, die Gier medialer Gaffer zu bedienen. Nicht selten werden ihre Darbietungen noch angereichert mit Kampagnen gegen Verdächtige (die dann gern unverpixelt abgebildet werden), mindestens aber mit einem Unwerturteil gegen Angeschuldigte oder einem Angriff gegen den »Saustall Justiz«, der den Bösewichtern angeblich viel zu unentschlossen entgegentritt.

Solche Auswüchse sind durchaus ein Problem. Sie sollten aber einen seriösen Kriminalreporter oder eine investigative Journalistin, die einem Verbrechen auf den Grund gehen will, nicht beeindrucken. Denn Kriminalreportagen erfüllen eine wichtige Funktion: Sie zeigen zum einen die Natur des Menschen und die Bedingungen, unter denen verbrecherisches Verhalten gedeiht; zum anderen gewähren sie einen tiefen Blick in die Verfasstheit jenes Staates und jener Gesellschaft, in der wir leben. Kriminalreportagen sind also immer politisch. Kriminalität durchdringt alle Schichten und Communitys gleichermaßen.

Was gilt überhaupt als Verbrechen? Was vom Staat als kriminell verfolgt wird, sagt viel über den Staat selbst aus. Der russische Rechtsanwalt, Putin-Gegner und Widerstandskämpfer Alexej Nawalny hat bei seiner Verurteilung (er wurde unschuldig in ein Arbeitslager geschickt) vor dem Moskauer Gericht eine eindrucksvolle Rede gehalten: Sie handelte von Richtern, die sich ihre Urteile von Politikern diktieren lassen, und von Staatsanwälten, die nicht dem Recht zum Durchbruch verhelfen, sondern dem Unrecht. Strafprozesse sind immer ein Spiegel des aktuellen Zustands der Gesellschaft.Wie in Russland geht es im deutschen Rechtsstaat nicht zu – und doch, auch hier gibt es Kräfte, die auf die Strafjustiz einzuwirken suchen. Sie haben die unterschiedlichsten Motive, und nicht alle meinen es gut. Populistische Gruppierungen oder bestimmte Medien versuchen gezielt, Einfluss zu nehmen auf Gerichte oder den Gesetzgeber selbst. Wenn es Richtern und Parlamentariern unter öffentlichem Druck aber weniger darum geht, Recht durchzusetzen oder Gerechtigkeit herzustellen, sondern eher darum, den Massen zu gefallen, keine schlechte Presse zu bekommen und die nächste Wahl zu gewinnen, dann führt das über kurz oder lang ins Unrecht.

Wie entsteht Verbrechen? Auch das ist letztlich eine politische Frage, denn das Verbrechen ist keine Privatangelegenheit, sondern immer ein Spiegel jener Gesellschaft, in der es begangen wird. Es erzählt von Chancengleichheit oder besser: von deren Abwesenheit. Es illustriert den sozialen Unfrieden. Es erzählt von der Brutalisierung der Menschen unter den Bedingungen mangelnder Zuwendung, mangelnden Respekts und mangelnder Aufmerksamkeit (auch vonseiten der Behörden). Und es erzählt von der Angst, der Einsamkeit und der Verzweiflung jener, die Beute von Kriminellen werden. Wem wird geglaubt, wenn er ein Verbrechen anzeigt – und wem nicht? Nach wem sucht die Polizei sofort, und bei wem lässt sie sich Zeit – auch das sind politische Entscheidungen.

Wer die Geschichten in diesem Buch liest, wird weder zum Gaffer noch zum Zyniker. Die Leserin und der Leser werden ins Nachdenken geraten, werden Mitgefühl empfinden mit den Menschen, auf denen das Schicksal herumgetrampelt hat. Werden vielleicht empört sein über die Art und Weise, wie Polizei und Amtspersonen mit ihren Bürgern umgehen. Und so mancher wird dem Schicksal dankbar sein, selbst nie in eine so schreckliche Lage geraten zu sein wie all die Protagonisten dieses Buches. Denn die sind nicht erfunden. Es gibt sie wirklich – und manche gab es einmal und gibt es jetzt nicht mehr.

Sabine Rückert

MORD IN BERLININ DER GEFRIERTRUHE

Am Prenzlauer Berg in Berlin verschwinden zwei alte einsame Menschen und werden jahrelang nicht vermisst. Nur die Rente wird weiter ausbezahlt – an den Mörder

Alexander O.* ist der Plagegeist der Mietergemeinschaft eines Wohnblocks in der Hosemannstraße, gelegen im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Er hat mit allen Nachbarn Streit. Er gerät in Rage, wenn er auf der Haustreppe eine Tüte sieht, die da nicht hingehört. Vor allem nimmt er Gerüche wahr, die niemand außer ihm riecht.

Wegen des angeblichen Gestanks aus dem Erdgeschoss hat er im Lauf der vergangenen zehn Jahre schon so oft die Notrufnummer 110 gewählt, dass die Polizei ihn verwarnte. Seine Beschwerdebriefe an Wohnungsgenossenschaft, Hausverwaltung und Gesundheitsamt füllen Aktenordner. Nichts geschah. Der von ihm bemerkte modrige Gestank blieb. Der Kampf gegen die Qualen seiner Wohnsituation hat Alexander O. derart zermürbt, dass er nicht mehr arbeitsfähig und Hartz-IV-Empfänger ist. Die gerötete Schwellung um seine Augen verrät Schlaflosigkeit, sein Redestrom psychischen Hochdruck.

Aber nur ein überreizter Mensch wie Alexander O. war in der Lage, Polizei und Staatsanwaltschaft auf die Spur eines grauenvollen Verbrechens zu bringen. Nur Alexander O. fand es unnormal, dass der Rentner Heinz N. aus dem Erdgeschoss seit Herbst 2006 nicht mehr zu sehen war, der Zähler im Keller dennoch einen anhaltend hohen Stromverbrauch in seiner Wohnung anzeigte. Niemand befasste sich mit dem Verschwinden des 80-jährigen Mannes. Nur der Plagegeist ahnte: Hier stinkt was zum Himmel.

Am Abend des 9. Januar 2017 alarmiert er wieder einmal die Polizei. Dieses Mal ruft er direkt beim nächsten Revier an, wo seine schrille Verzweiflung tatsächlich Gehör findet. Zwei Beamte fahren zum Haus in der Hosemannstraße. Die Wohnungstür des Rentners macht sie stutzig. Im Schloss steckt ein Metallnagel, der Türrahmen ist mit Silikonmasse verklebt. Dass Alexander O. beides bewerkstelligt hat, um so auf die Verwaisung der Wohnung aufmerksam zu machen, sagt er nicht. Aber seine Aktion hat Erfolg: Die Polizisten beschließen, sich kurzerhand Zugang zur Wohnung des Heinz N. zu verschaffen, und rufen die Feuerwehr, die ein gekipptes Badezimmerfenster aufhebelt.

Ein Feuerwehrmann klettert als Erster hinein. Die Wohnung macht auf ihn einen unbelebten Eindruck, die Toilettenschüssel ist ausgetrocknet, auf den Waschtischarmaturen liegt Staub. In der Küche fällt ihm eine große Gefriertruhe ins Auge. Er hebt den Deckel an, sieht einen robusten roten Plastiksack, darum herum ein paar Joghurt- und Zazikibecher, schließt den Deckel wieder und überlässt die genauere Wohnungsinspektion den Polizisten. Als einer von ihnen die Gefriertruhe öffnet und den roten Plastiksack entfaltet, ruft er seinem Kollegen zu: »Da isser!« Vor ihm liegt der Rumpf einer männlichen Leiche. Die Arme sind vor der Brust gefaltet und mit Klebeband fixiert. Kopf und Beine finden sich in drei weiteren Plastiksäcken darunter.

Von der eingefrorenen, zersägten Leiche des Heinz N., der heute 90 Jahre alt wäre, ging keinerlei Verwesungsgeruch aus. Alexander O. hatte etwas gerochen, das es ausschließlich für seinen siebten Sinn gab.

Alterseinsamkeit, dieses Gespenst individualisierter moderner Gesellschaften, hat man während des Prozesses am Berliner Landgericht, wo der »Stückelmord« genannte Fall seit Oktober 2017 verhandelt wird, beklemmend vor Augen. Zehn Jahre lang wurde der verwitwete, kinderlose Rentner von niemandem vermisst – außer von seinem nervlich angeschlagenen Nachbarn. Nach dem Tod seiner Ehefrau muss um Heinz N. ein soziales Vakuum geherrscht haben.

Erschreckend an dieser Geschichte ist noch etwas anderes: die Gleichgültigkeit öffentlicher Verwaltungsapparate gegenüber dem fragilen Dasein alter Menschen. Heinz N. wurde auch von keiner Behörde und keiner Institution vermisst. Der Krankenkasse fiel nicht auf, dass es von dem Senior nach seinem letzten Arztbesuch am 7. November 2006 nie mehr ein Lebenszeichen, aber auch keine Sterbemitteilung gab. Und die Rentenversicherung zahlte zehn Jahre lang an einen Toten. 2000 Euro flossen monatlich in die Hände des mutmaßlichen Mörders, der es laut Anklage genau darauf abgesehen hatte. Sein Verbrechen zeugt von skrupelloser Gier und barbarischer Grausamkeit. Aber auch von jener abgebrühten Strategie, die Systemlücken kriminell zu nutzen weiß.

Auf der Anklagebank sitzt der 56-jährige Josef S., ein gebürtiger Pole, der schon zu DDR-Zeiten nach Deutschland kam. Hat man die Tat im Kopf, die ihm vorgeworfen wird, glaubt man in der gedrungenen Statur, den fleischigen Gesichtszügen und dem verkniffenen Mund die Merkmale des Schlächtertypus zu erkennen. Stünde Josef S. als Paketbote vor der Tür, sähe man nur einen durchschnittlichen Zeitgenossen. Am ersten Prozesstag versammeln sich vor dem Gerichtssaal Nachbarn, Freunde und Gelegenheitsbekannte des Angeklagten, denen nicht in den Kopf geht, dass der joviale, immer gut gelaunte und hilfsbereite »Joschi« ein Killer sein soll, der einen Menschen in vier Teile zersägt hat.

Josef S. selbst äußert während des gesamten Prozesses kein Wort. Zeugenaussagen ergeben, dass er ein handwerklich begabter Gelegenheitsarbeiter war, der hier Fliesen verlegte, dort eine Bistroküche einbaute und mit Altwaren handelte. In der Langhansstraße, ein paar Fußminuten von der Hosemannstraße entfernt, hatte er zuletzt einen Trödelladen, in dessen Hinterräumen er wohnte. Von den zwei Tätigkeiten, mit denen Josef S. seine Freizeit verbrachte, gilt die eine als beruhigend, die andere als suchtanfällig. Er war ein passionierter Angler, verzog sich gern mit Schlafsack und Kocher an brandenburgische Seen. Und er verzockte Unsummen an Spielautomaten.

Zwischen dem Fund der Leiche und der Festnahme von Josef S. vergingen keine 48 Stunden. Bilder der Überwachungskamera des ec-Automaten, an dem er vom Girokonto des getöteten Heinz N. kurz zuvor Geld abgehoben hatte, brachten die Mordkommission auf seine Spur. Bei der Durchsuchung des Trödelladens kamen zwei Tüten zum Vorschein, darin der Personalausweis, die ec-Karte und Kontoauszüge von Heinz N. Es war die Requisitenkammer, derer Josef S. sich bediente, um den Toten offiziell weiterleben zu lassen. Er fälschte seine Unterschrift, zahlte in seinem Namen Miete, verfasste Steuererklärungen, korrespondierte mit der Hausverwaltung. All das lässt sich rekonstruieren – über das Datum des Todes von Heinz N. jedoch nur spekulieren.

Nach dem gerichtsmedizinischen Befund wurde er mit einem Steckschuss in die Stirn getötet. Staatsanwalt Reinhard Albers geht davon aus, dass es zwischen dem 30. Dezember 2006 und dem 1. Januar 2007 geschah. Der Täter könnte die Silvesterknallerei als akustische Kulisse genutzt haben. Zudem fand sich in der Wohnung von Heinz N. eine Rechnung, die den Kauf einer Gefriertruhe am 30. Dezember 2006 belegt. Hat sich der Ermordete ahnungslos seinen eigenen Sarg liefern lassen? Womöglich angeregt von seinem Mörder, der ihn von den Vorzügen haltbarer Tiefkühlkost zu überzeugen wusste?

Fest steht allerdings auch, dass Josef S. in der Silvesternacht 2006/07 bei der Familie eines Freundes feierte. Dieser tritt als Zeuge auf und bringt ein eigenes Video der Party mit, das der Richter auf dem Laptop vorführt. Man sieht Josef S. in vergnügter Runde beim Karaokesingen. Gut hörbar trällert er »Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt …« von Xavier Naidoo. Hat er Heinz N. am Silvesternachmittag getötet und dann aufs neue Jahr angestoßen? Völlig unbestimmbar sind Ort und Zeitpunkt des am Leichnam des Heinz N. mit einer Handsäge begangenen Massakers. In seiner Wohnung fand sich keine Blutspur, allerdings ein anklagerelevantes Indiz: Fingerabdrücke von Josef S. auf den roten Plastiksäcken in der Gefriertruhe.

Die Anklage wirft ihm Mord aus Habgier, Heimtücke und zur Ermöglichung einer anderen Straftat vor. Dazu schweren Raub, Urkundenfälschung und Verstoß gegen das Waffengesetz. Bei dem Gewehr, das Josef S. illegal besaß, handelt es sich allerdings nicht um die Mordwaffe.

Noch im Januar des Jahres 2017 nahm die Mordkommission in einem zweiten Fall Ermittlungen gegen Josef S. auf. Wieder geht es um einen betagten Menschen, um die Rentnerin Irma K. Ab dem Jahr 2000 wurde sie nicht mehr gesehen, 2002 ihre verwahrloste Erdgeschosswohnung in der Naugarder Straße 49 am Prenzlauer Berg zwangsgeräumt. Mehr geschah von Behördenseite nicht. Keine polizeiliche Nachforschung, keine Mitteilung an die Bank, Krankenkasse oder Rentenversicherung. Und wieder zahlte diese über Jahre hin an eine Verschwundene. Vom Konto der Irma K. wurden ihre 800 Euro Monatsrente jedoch per Dauerauftrag auf ein anderes Konto überwiesen: das des Angeklagten Josef S.

Die einzige Spur, die von der Rentnerin existiert, ist ihr Personalausweis. Er tauchte bei der Durchsuchung des Trödelladens auf, wo er dem von Heinz N. Gesellschaft leistete. Mit der makabren Effizienz, die das Handeln von Josef S. auszeichnet, hatte er nicht nur das Vermögen und die Dokumente der beiden Alten zusammengeführt, sondern auch ihre Post. Auf einem Briefkasten seines Wohnhauses Langhansstraße standen untereinander ihre Namen. Josef S. ließ sich die Post seiner Opfer mittels Nachsendeanträgen einfach an seine persönliche Wohnadresse schicken.

Aber sind seine Taten auch juristisch nachweisbar? Im Fall von Heinz N. dürften die Indizien für eine Verurteilung genügen. Eine pathologische, seine Schuldfähigkeit eventuell mindernde Spielsucht erkennt die psychiatrische Gutachterin beim Angeklagten Josef S. nicht. Im Fall der Irma K. erscheint die Täterschaft von Josef S. wahrscheinlich. Nur fehlt für eine Anklageerhebung die Leiche der Frau. »Ich kann sie auch nicht aus dem Wald herbeizaubern«, sagt Staatsanwalt Albers auf dem Gerichtsflur und hebt die Hände zum Kopf, als wolle er sich die Haare raufen.

Wenn Menschen so radikal vereinsamen, dass sie unbemerkt verschwinden oder wochenlang tot in ihrer Wohnung liegen, verortet man das Drama gewöhnlich in der Lebenswelt großstädtischer Anonymität, wo Kontakte über ein stummes Nicken nicht hinausgehen. Der Kiez, in dem sich der »Stückelmord« zutrug, passt nicht recht zu diesem Bild. Es ist ein Viertel mit Gemeinschaftsgärten, alteingesessenem Gewerbe und Kioskbesitzern, denen kein Ehestreit ihrer Kundschaft entgeht. Es gehört zwar zum Bezirk Prenzlauer Berg, liegt aber an der Grenze zu Weißensee, in jeder Hinsicht weit entfernt vom bürgerlichen Kultquartier.

Der Angeklagte Josef S. war, so ein Prozesszeuge, im Kiez »bekannt wie ein bunter Hund«. Er trank morgens beim Getränkehändler einen Kaffee, traf sich mit Freunden im Automatenkasino, hatte für kopfschmerzgeplagte Nachbarn Aspirin parat. Wer »Joschi« durch eine Haustür gehen sah, nahm an, dass seine Handwerkskünste benötigt wurden, um einen Rohrbruch zu beheben oder eine durchgebrannte Stromleitung zu reparieren. Niemand wunderte sich, wenn er sein Fahrrad vor dem Haus in der Hosemannstraße abstellte, wo er ab und zu die Rollläden des toten Heinz N. hochzog, um die Wohnung belebt erscheinen zu lassen.

Josef S. kannte seine Opfer. Bevor er 2004 seine Zelte in der Langhansstraße aufschlug, wohnte er zwei Jahre bei einer Lebensgefährtin, im selben Haus wie sein späteres Opfer. Sie war Mieterin der Erdgeschosswohnung, die der des Ehepaares N. gegenüberlag. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Josef S. nach dem Tod von Frau N. im Frühjahr 2006 das Vertrauen des Witwers erschlich, ihn bei Alltagserledigungen unterstützte und mit inszenierter Anteilnahme einlullte. Nachweislich war Josef S. auch mit den Lebensverhältnissen von Irma K. vertraut. In den Neunzigerjahren wohnte er über ihr in der Naugarder Straße 49. Die Strecke zwischen den drei Häusern, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen, lässt sich in einer Viertelstunde ablaufen.

Der »Stückelmord« ereignete sich in einem Milieu, in dem jeder jeden vom Sehen kennt. Aber nicht alle werden mit der gleichen Aufmerksamkeit wahrgenommen. Wer könnte beschwören, den alten Mann, neben dem man zehn Minuten lang in der Kassenschlange stand, am nächsten Tag wiederzuerkennen? Nachlassende Lebenskraft ist nur ein Symptom des Alters – nachlassende Sichtbarkeit ein anderes. Der Blick schweift unwillkürlich über die kraftlosen, eintönig gekleideten Gestalten hinweg, deren Erscheinung alle Signale fehlen, die in unserer Kultur vor allem über Sichtbarkeit entscheiden: Vitalität und Individualität.

Er muss auch über Heinz N. und Irma K. hinweggegangen sein. Dass sie isoliert lebten, ist ein Grund für ihre Tragödie, dass ihr Verschwinden im Auge ihrer Umgebung keine alarmierende Lücke hinterließ, ein zweiter. In der Bundesrepublik gibt es rund 25 Millionen Rentenempfänger. Bis vor ein paar Jahren verlangte die Deutsche Rentenversicherung von ihnen regelmäßige »Lebensbescheinigungen«. Mittlerweile gilt dies nur noch für Rentner, die im Ausland leben. Der Aufwand, erklärt ein Sprecher, sei einfach zu hoch.

Hätte Alexander O., der Mann mit dem siebten Sinn, die Polizei nicht am 9. Januar 2017 dazu gebracht, in die Wohnung von Heinz N. einzudringen, wäre dessen Leiche wohl nie entdeckt worden. Die Wohnung war zum 1. Februar 2017 gekündigt, die Kündigung mit »H. N.« unterschrieben. Staatsanwalt Reinhard Albers geht davon aus, dass Josef S. den Inhalt der Kühltruhe zuvor in zwei großen Reisetaschen abtransportieren wollte. Sie standen schon im Schlafzimmer bereit. »Es war«, sagt Albers, »wirklich der letzte Moment.«

Für Alexander O. ist der Albtraum des Gestanks aus dem Erdgeschoss noch nicht vorbei. Nach wie vor kriechen entsetzliche Gerüche in seine Wohnung im ersten Stockwerk, wenn auch andere als früher.

Aus: DIE ZEIT 6/2018, 1. Februar 2018, von Ursula März

BANKRAUBDOPPELLEBEN

Seiner Frau sagt er, er arbeite bei einer Autofirma. Doch Maik I. hat einen anderen Job: Er überfällt Banken, 16 Jahre lang

Mehr als 16 Jahre lang hat Maik I. sie alle genarrt. 16 Jahre lang hat er niemandem ein Sterbenswörtchen gesagt über das Leben, das er wirklich führte. 16 Jahre lang hat er keine Schwäche gezeigt. Jetzt, auf der Anklagebank, da dauert es kaum eine Viertelstunde, bis Maik I. hemmungslos weint. Als würde er erst in diesem Moment, in dem die Staatsanwältin vorträgt, was sie diesem Mann zur Last legt, merken, dass sein Leben eine große Lüge ist. Dass er in all den Jahren nicht nur ein treusorgender Familienvater war und ein guter Fußballkumpel, sondern vor allem: ein Bankräuber.

Im Herbst 2018 muss sich der 45-jährige Maik I. vor dem Landgericht Limburg für eine der erstaunlichsten Überfallserien der deutschen Geschichte verantworten. Die Anklage wirft ihm vor, seit 2002 17 Sparkassen, eine Volksbank und zwei Geschäfte in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ausgeraubt und dabei rund 100 Bankleute und Kunden bedroht zu haben. Mehr als 400.000 Euro soll er erbeutet haben. Für bis zu 15 Jahre lang könnte er dafür ins Gefängnis gehen. Als ihm das Wort erteilt wird, sagt Maik I. leise: »Ich habe die Überfälle begangen.«

»Alle Überfälle aus der Anklage?«, fragt der Vorsitzende Richter.

»Ja, alle«, antwortet der schmale, glatzköpfige Angeklagte.

Maik I. kommt aus einem Dorf im Siegerland mit kaum mehr als 800 Einwohnern. Jeder kennt hier jeden. Es gibt einen Schützenverein, aber keinen Supermarkt. Grüne Hänge umrahmen hübsche Fachwerkhäuser, eine dörfliche Idylle. Allerdings nicht für Maik I. Sein Vater, sagt der Angeklagte unter Tränen, habe die Familie tyrannisiert und geschlagen. Und sich null für seinen Sohn interessiert. »Das Einzige, was er gemacht hat, war, den Kühlschrank zu füllen«, sagt I. 1993, als er in einer hessischen Universitätsstadt beginnt, Jura zu studieren, weigert sich der Vater, den Bafög-Antrag seines Sohnes auszufüllen. Und ebnet damit den Weg für die Bankräuberkarriere seines Sohnes – so will es jedenfalls der Bankräuber sehen.

Maik I. redet lange mit schmerzverzerrter Stimme über seine unglückliche Studentenzeit, die immer unglücklicher wurde. Als sich die Mutter endlich vom Tyrannenvater trennte, habe er sich um sie kümmern müssen und so den Anschluss im Jurastudium verloren. Weil das Leben nicht mehr zu finanzieren gewesen sei, habe er einen Kredit aufgenommen – und diesen irgendwann nicht mehr bedienen können. Nach zwölf Semestern bricht Maik I. sein Studium ab. Und kurz darauf auch beinahe sein Leben. Er habe versucht, sich selbst zu töten und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, erzählt Maik I. Aber es klappte nicht. »Mir ist mein ganzes Leben aus den Händen geglitten«, sagt er. Dann habe er eben zu rauben begonnen. Bei ihm klingt das wie Notwehr. Nur: gegen wen? Im Zuschauerraum weint seine Mutter.