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Es handelt sich um den Roman des Pastors de Buer, der seit acht Jahren in der Psychiatrie lebt im Glauben, er sei dort der Seelsorger. In Wirklichkeit ist er ein Patient, der vor neun Jahren sein Gedächtnis verloren hat. Durch eine Hypnosebehandlung gewinnt er sein Gedächtnis zurück und erfährt Schreckliches...
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Seitenzahl: 260
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Was ist los mit Johann de Buer, dem Pastor aus Schüttorf, einer Stadt in der Grafschaft Bentheim in der Nähe von Holland? Nun ist er schon lange – Wochen, Monate, Jahre? – auf der Station 8 der Psychiatrie des Grenzland-Klinikums.
Er ist dort Seelsorger. Oder er glaubt, es zu sein. Sein Gedächtnis hat schweren Schaden genommen.
Was ist der Grund? Die Ablehnung seines Buches? Eine Ehekrise? Ein schwerer Verkehrsunfall? Oder liegt der Grund im Dunkeln der Vergangenheit eines familiären Geheimnisses?
Ein Roman über eine große Lebenskrise, den Sinn des Lebens und über die Freundschaft.
Dr. Karl W. ter Horst ist Autor von theologischen und sozialwissenschaftlichen Büchern. Zeitschleife auf der ‚8‘ ist sein zweiter Roman. Er lebt in Ohne, einem Dorf in der Grafschaft Bentheim.
Teil I: Mittwoch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Teil II: Donnerstag
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Teil III: Frei...
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Am 9. April 2008 wurde Johann krank. So schwer, dass er sich in den folgenden neun Jahren nicht mehr von seiner Krankheit erholte.
Dieser 9. April war ein Mittwoch. Er hatte unruhig geschlafen, wurde immer wieder geweckt von innerer Nervosität. Weil es aber keine kranke Nervosität, sondern eine mit Vorfreude auf den folgenden Tag durchmischte war, konnte er immer wieder einschlafen. So ging das über den ganzen Vormittag, bis das Telefon klingelte. Halbschlafbedingt war er sofort hellwach, sah auf dem Wecker, dass es 5 vor 11 war und sprang aus dem Bett direkt in seine Filzpantoffeln.
Ich muss schnell die Treppe runter, ins Büro zum Telefon, dachte er, sonst legt der auf, wenn sich der Anrufbeantworter zu Wort meldet. Wäre Mist, wenn es ein Seelsorgefall wäre, könnten auch die vom Verlag sein, vielleicht wollen sie den Termin nach hinten schieben, dachte er, das wäre gut wegen der möglichen Staus auf der Autobahn ins Ruhrgebiet. Johann hasste Staus, er hatte Angst, in den Blechlawinen eingeschlossen zu sein, hilflos herumhängen zu müssen, und dazu hasste er es, zu spät zu kommen, besonders bei so einem Spitzengespräch im Verlag. Aber am meisten hasste er es, übermüdet zu sein. Womöglich im Stau zu stecken, zu spät zu kommen und übermüdet obendrein. Darum hatte er so lange wie möglich geschlafen oder es wenigstens versucht. Aber darum war es jetzt spät.
Es wäre doch gut, dachte er, wenn sie anriefen, um den Termin nach hinten zu legen. Und wenn sie nur mal so anrufen, könnte man das mit ihnen bereden, und im Bereden, dachte er, bin ich ja gut. Er war ganz schön schnell auf der Treppe, die einmal gewinkelt das Erdgeschoss des Pfarrhauses mit den oben gelegenen Schlafzimmern verband. Gedanken sind schneller als Blitze. Blitze kann man verfolgen, aber alles, was hier auf ein paar Stufen zusammengedacht wird, dachte er, ist doch wahnsinnig. Gar nicht zu begreifen.
Mit einem Schlag stieß er die Bürotür auf und riss den Hörer vom Telefon auf seinem Schreibtisch, der eigentlich kein Tisch, sondern eine Holzplatte auf ein paar Kanthölzern war.
Es war der Verlag. Genauer gesagt, die Lektorin. Das sollte ihn eigentlich beruhigen, aber in ihrer Stimme bemerkte er etwas Beunruhigendes, etwas richtig schlimm Beunruhigendes.
„Also, Herr de Buer, also, ich habe da nun doch noch Bedenken mit Ihrem Text. So ist das zu pauschal, das, was Sie da über die Pflegeheime schreiben, und überhaupt sind das sachliche Unzulänglichkeiten, die ...“
„Habe ich schon gesehen“, fuhr Johann dazwischen, „habe gestern Nacht schon Einfügungen und Fußnoten ...“
„Nun hören Sie bitte erst mal zu!“
Johann stockte der Atem, richtig Schlimmes schien sich anzubahnen.
„Nicht nur ich habe da sachlich motivierte Bedenken. Meine Produktleiterin sieht das auch so, mit der traf ich mich heute früh. Sie hat darüber hinaus, unsere Meinungen gehen da auseinander, auch ernste Bedenken bezüglich der Beispieltexte Ihrer Bürgerprojekte. Das Buch würde zersplittern, zu viele Einzelteile, und dann gibt es keine nationalen Bezüge, das alles ist zu regional.“
„Nein ist es nicht, da sind Bremen und Göttingen dabei.“
Johann hatte trockene Lippen. Und die kommen, dachte er, nicht nur dann davon, dass man vor dem Frühstück am Telefon so eine Debatte führen muss.
„Um es kurz zu machen“, fuhr die Lektorin fort, „also, ich, wir möchten Ihnen nicht zumuten, extra die weite Fahrt zu machen, um Ihnen dann zu sagen, dass es nichts wird ...“
Jetzt war sein ganzer Mund trocken. Wenn ich jetzt was sage, dachte er, merkt sie es, und was überhaupt kann man sagen, um das Steuer noch rumzureißen. Bloß nicht pampig werden, Ruhe bewahren, nachdenken, alle Zellverbände auf Trab bringen, Ausschau halten in alle noch so undenkbare Richtungen. Aber sind sie dann noch denkbar? Das ist doch nebensächlich, dachte er, metakognitiver Quatsch, jetzt, wo es ans Eingemachte geht.
Je mehr sie sprach, sich wand und rausredete, je mehr spürte er das Eingemachte, Magen und Gedärme, wie sie mehr und mehr nach unten sackten. Im Sitzen fühlte er sich so flau, dass er meinte, jeden Moment vom Stuhl zu kippen.
„Aber“, hörte er sich nach Luft schnappend sagen, „es kann doch nicht sein, dass Sie in einer Blitzsitzung in Momenten das zerstören, was über Wochen und Monate herangereift ist. Selbst der Geschäftsführer ...“ Genau der falsche Ansatz.
„Der Geschäftsführer! Sie sind ja den ungewöhnlichen Weg von oben nach unten gegangen. Normal ist es ja umgekehrt, und der Geschäftsführer wird sich nicht gegen seine Produktleiterin, die kompetent und gut ist, wenden. Und darum geht es ja: Ihre Leute wissen was von Solarenergie, alternativer Altenpflege, dezentralen Kläranlagen. Wir wissen, wie man Bücher macht und wann der Punkt gekommen ist, ein Projekt zu beenden. Und dann muss man auch dazu stehen, und das tue ich und habe die unangenehme Aufgabe auf mich genommen, Ihnen das zu sagen.“
„Und mein Kontakt zu den Medien ...“
„Gewiss, Herr de Buer, vielleicht sehen wir Sie in einem Jahr mit Nina Hagen bei Kerner mit dem Buch in Ihrer Hand, und das von einem anderen Verlag. Und dann ärgern wir uns, aber das Risiko gehen wir ein. Die Entscheidung ist unumkehrbar. Sie werden sich jetzt ärgern, traurig sein, vielleicht nachher aggressiv. Heute Nachmittag können Sie mich ja gern noch mal anrufen – sind Sie noch da?“
„Ja, ja“, Johann konnte nichts mehr, als das „Wiederhören“ leise erwidern.
Er war machtlos, ohne Sprache und Kraft. Alles purzelte in ihm zusammen, all die Projekte, die sich in seinem Innersten abgebildet hatten, aus der äußeren Wirklichkeit, wo sie sich an unterschiedlichsten Orten befanden, in ihm gestaltet, ausgereift, umgebildet und entfaltet hatten. In ihm wie in einer eigenen Welt, ein Jahrmarkt mit bunten Buden, Karussells. Jetzt stürzte sie zusammen wie billige Kartenhäuschen, eins gegen das andere. Alles platt mit einem Schlag, dunkel, leer, wie eine Höhle. Eine „Höhle“ ist noch ein schlechter Vergleich, dachte er, eher eine Hülle, aus der die Luft entweicht. Unumkehrbar.
Johann fühlte, wenn er überhaupt noch etwas fühlte, wie er in sich zusammensackte.
Johann wartete auf seine Tochter, die ihren Besuch für den späten Nachmittag angekündigt hatte. Der Raum, in dem er wartete, glich durch eine angefügte Glaskonstruktion einem Wintergarten, nur gab es keine Pflanzen, die dort hätten überwintern können. Schaute man nach oben, sah man einen graublauen Himmel. Aber Johann schaute nicht hinauf, er mied das helle Licht, das Licht machte ihn unruhig, manchmal aggressiv. Bei Regenwetter war dieser Raum erträglich. Wenn die Regentropfen auf das Glasdach prasselten, hatte das etwas Beruhigendes. Dann schaute er schon mal nach oben und sah dabei zu, wie die Tropfen beim Aufschlagen in viele Einzelteile zersplitterten.
Eigentlich zersplittern sie nicht, dachte er, sie bilden beim Aufschlagen neue Tröpfchen, manche so klein, dass sie sich sofort wieder mit der Luft verbinden. Sie verflüchtigen sich, dachte er und schaute nicht nach oben, weil es keine Tropfen gab, nur kurz durch die großen Seitenfenster nach draußen, wo drei große Kirschbäume in voller Blüte standen. Später, wenn die Sonne tiefer stände, würde sich ihr Licht im Geäst und den weißen Blüten brechen. Im Gegenlicht sähe man ihre Feingliedrigkeit in schimmernder Transparenz. MariLu hat für so etwas einen Blick, dachte er, wenn sie später da ist, wird sie sich am Licht und seinen Farben erfreuen. Sie kann so was beschreiben, sie ist die Schriftstellerin der Familie.
Johann mied das Licht, wann immer es ging. Darum hatte er sich am Nachmittag nach ein paar Regenfällen zurückgezogen in das Bett seines dunklen Zimmers. Zuvor hatte er die Außenjalousie des einzigen Fensters heruntergelassen. Durch eine leichte Spannung des Rollobandes hatten sich die obersten Lamellen leicht hochgezogen und zwischen ihnen feine Lichtschlitze gebildet. Er hatte deshalb das Rolloband einige Zentimeter aus der Wand gezogen, in die schmale Austrittsöffnung einen Bleistiftstummel gepresst und es so verkeilt. Die Jalousie hatte nun das gehalten, was sie versprach: Dunkelheit.
Alle Außenreize waren erloschen, als hätten sie Platz machen wollen für die inneren seines Nervensystems. In einem leichten Funkenflug hatten sich konfuse Lichtbilder seines Innenlebens geformt und verformt, hatten sich gedreht und gewendet, um wie in einem Hologramm vor seinen Augen im Schwarz seiner Umgebung zu erscheinen – dreidimensional, farbig und voller Leben. Das Hologramm – Johann hätte es nie als solches definiert – hatte sich vor ihm bewegt und mit noch stärkerer Kraft über ihm entfaltet, wenn er selbst in liegender Position gewesen war, aber es hatte sich nicht einfach mit ihm in die Horizontale gedreht, sondern angefangen, ihn zu umhüllen, so dass es langsam selbst sein Raum geworden war.
Wenn er sich nun den Tag vor Augen führte, diesen schlimmen Tag seiner Niederlage, so war das viel mehr als ein erinnerndes Wiederaufleben von Situationen und Figuren. Er tauchte ein in die Dimension dieses Tages, mit allen Sinnen, stieß auf Wahrnehmungsfelder, die der Tag verborgen hielt, und rührte an Gefühle, die er jetzt erlebte.
Er spürte den Druck ihrer kleinen Hände, die seine Handgelenke umklammert hatten. Sie versuchte sein Gesicht zu befreien von den großen Händen, in die er es vergrub.
„Komm zu dir, Papa!“ Sie stand hinter ihm, die Arme um ihn gelegt und riss mit ihrem doppelseitigen Klammergriff ruckartig die Hände von seinem Gesicht. So plötzlich seiner Gesichtsstützen beraubt, hätte es nicht viel gefehlt, und sein Kopf wäre auf die Kiefernholzplatte seines provisorischen Schreibtisches geknallt. „Pastorentochter erschlägt Vater am Schreibtisch“, sah er die Überschrift in den einschlägigen Boulevardblättern. Dann ist man wenigstens auf so eine Weise berühmt geworden, dachte er und spürte, wie ihm seine Tochter von hinten ins rechte Ohr blies, dann pfiff und schließlich hineinschmetterte: „Hoch, du altes Nachtgespenst, ich hab schon Feierabend und du sitzt hier immer noch im Schlafanzug. Bin heute früher von der Schule zurück. Los jetzt: Anziehen, Zähne putzen, Mama ist draußen, wir warten am Auto auf dich.“ Zwei Befehle und zwei Informationen, nicht schlecht für einen kurzen Satz, dachte Johann und leistete den Befehlen Folge.
Kurz darauf schlurfte er durch den Garten zur Hofauffahrt, wo seine Frau an seinem Alfa Romeo, einer alten Gulia Super in weiß, mit den Autoschlüsseln winkte.
„Ich musste die Kleine von der Schule abholen. Wir wollten uns jetzt nur eben von dir verabschieden.“
„Ich fahre nicht!“
„Wie, du fährst nicht?!“
„Die haben angerufen vom Verlag. Das Projekt ist gestorben. Die wollen das Buch nicht drucken.“
Sie wirkte betroffen, ging auf ihn zu, nahm ihn in den Arm und ermutigte ihn: „Lass mal, irgendwas wird sich finden. Wir machen jetzt mal was zusammen. Jetzt hast du doch wenigstens den ganzen Tag Zeit. Wir können ja nach Holland fahren.“
„Ja, Papa, bloß nicht unterkriegen lassen“, stimmte die Kleine mit ein. „Lass uns nach Holland fahren, wenigstens hast du jetzt Zeit.“
Sie fläzte sich auf die Rückbank des Wagens, und er setzte sich auf den Beifahrersitz. Normalerweise wäre er gern selbst den Alfa gefahren, hätte sich an den Geräuschen scheppernder Ventile und einer surrenden Steuerkette des alten Motors erfreut. Aber das war ihm nun auch vermiest.
Jetzt nicht auch noch die Familienstimmung verderben, dachte er, während sie losfuhr. Das wäre das Letzte, was man nach so einem Tiefschlag gebrauchen könnte. Und man soll doch froh sein, dass man eine Familie hat, gerade in so schweren Momenten des Lebens.
„Von wegen, irgendetwas anderes finden ... Ist praktisch unmöglich heutzutage einen Verlag zu finden. Man ist richtiggehend ausgeliefert. Da hocken sich zwei so Karriere-Tanten in der Kantine zusammen, spucken einem in die Suppe und kicken einen Autor mal eben raus!“
„Natürlich, es sind mal wieder die Frauen“, reagierte sie gereizt und setzte noch einen drauf: „Und zum Schluss bin ich mal wieder schuld.“
„Du immer mit deiner Schuld!“
„Hört auf, euch zu streiten!“, schallte es von hinten.
Er verharrte in betroffener Stille und spürte, wie die Gefühle von Verzweiflung und Trauer in ihm wieder aufzuwallen begannen. Für einen Moment streifte sein Blick die typische Weidelandschaft seiner Grafschafter Heimat. Eine Gruppe schwarzbunter Kühe fraß sich gelangweilt durch den Mittag. Johann fühlte sich missverstanden und suchte nach Worten, die seine verzweifelte Lage zum Ausdruck bringen sollten. Ein Beispiel muss her, dachte er und sah weg von den Kühen. Ein Beispiel, das die Lage auf den Punkt bringt, den Abgrund verdeutlicht. Am besten eins, das frauentypisch ist, das Frauen sofort begreifen, etwas mit Kindern oder Säuglingen vielleicht. Er dachte nicht weiter und sprach sofort drauf los: „Wir Männer können nun mal keine Kinder bekommen, und für uns ist ein lange vorbereitetes Produkt, ein Kunstwerk, ein Buch .... das ist eben wie ein Kind. Kannst du dir vorstellen, du verlierst ein Kind, auf das du dich monatelang gefreut hast.“ Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als hätte sie einen rettungslos Schwachsinnigen neben sich. Gleichzeitig spürte er die Hand seiner Tochter, die leicht über sein Kopfhaar strich, und im nächsten Moment die Fingerknöchel derselben, zur Faust geballten Hand, die sie mit einem kurzen heftigen Schlag in seinen Nacken rammte.
„Bist du verrückt. Das tut weh!“
„Ach du merkst noch was, Papa? Immerhin funktionieren die Reflexe noch“, hörte er von hinten, was offensichtlich als Aufmunterung gemeint war.
Besser überhaupt nichts mehr sagen, am besten ganz aufhören zu denken, dachte er und sah gedankenverloren in den grauen Fußraum vor dem Beifahrersitz seines Alfa Romeo.
So hatte er nicht bemerkt, wie sie die Grenze hinter sich gelassen hatten. Erst das Poltern und Rucken, verursacht von einem Schweller, einem „schlafenden Polizisten“, wie er die Straßenbuckel zur gewaltsamen Drosselung der Geschwindigkeit nannte, ließen ihn aus seiner geknickten Position hochfahren. Holland, dachte er, als läge vor ihnen der Raumschiffhafen einer anderen Galaxie. Obwohl Holland nicht von einem anderen Stern war, bemerkte Johann nicht nur an den dunkler gebrannten Ziegelsteinen und den akkurat gestrichenen Fensterrahmen der hübschen holländischen Häuser, dass sie Deutschland hinter sich gelassen hatten. Overijssel und die Twente waren wie die benachbarte Grafschaft auf deutscher Seite geprägt von kleinen Orten und mittelständischen Bauernhöfen inmitten einer Landschaft von Wäldchen, Weiden und – weiter im Norden – kultivierten Moor- und Venngebieten, auf denen „Nickesel“ Öl aus unterirdischen Vorkommen pumpten, die keine Grenzen kannten. Doch auf holländischer Seite war die Kulturlandschaft noch kultivierter, jedes Gehöft glich mit seinen Grünanlagen einem Kleinpark, und selbst das Nutzvieh wirkte auf den vorbeiziehenden Betrachter so, als wäre es eigens für ihn herausgeputzt worden. Von Bäumen gesäumte Radwege waren breit angelegt und die Mittelmarkierungen auf der Autostraße hinter der Grenze gleich weggelassen. Mit dem Fehlen der gekennzeichneten Zweispurigkeit sollte jedem Raser der Zahn gezogen werden, durch zügiges Überholen schnell voranzukommen. Johann bemerkte, wie seine Frau seit dem Grenzübergang eine Spur bedächtiger fuhr, so wie hier alles eine Spur bedächtiger zu laufen schien, auch das Auf und Ab unablässig pumpender Nickesel.
„Wieso kann man durch die Häuser durchgucken?“, fragte MariLu.
„Das hängt mit der Religion der meisten Holländer zusammen. Die sind wie wir reformiert“, bemühte sich ihre Mutter um eine Antwort und erklärte weiter: „Sie berufen sich auf einen Schweizer Pastor, der den reformierten Glauben maßgeblich geprägt hatte. Der hieß Johannes Calvin und lehrte, dass Gott nicht nur schon alles im vornherein weiß, sondern auch alles, was geschieht, was wir tun und haben, bis ins Einzelne vorherbestimmt.“
„Und was hat das nun alles mit den fehlenden Gardinen zu tun?“
„Na ja, wenn Gott sowieso alles vorherbestimmt, dann kann man ja auch zeigen, was man hat und wodurch man von ihm gesegnet ist.“
„Deswegen haben wir im Pastorenhaus auch keine Gardinen“, warf sie von hinten ein.
„Bei uns war das nicht so“, murmelte Johann. „Wir wollten nur kein Geld für so überflüssige Textilien ausgeben.“
„Ist doch egal, was wir vor den Fenstern oder nicht davor haben, wenn man daran dem Kind ein Stück holländischer Tradition und Religionsgeschichte erläutern kann“, wandte sie ein und versuchte einigermaßen genervt einen schlafenden Polizisten zu umkurven, derweil das Kind keine Lust mehr auf holländische Kultur hatte und sich stattdessen auf seinen Gameboy konzentrierte.
Im Licht der noch niedrig stehenden Aprilsonne fielen lange Schatten der giebeligen Häuser auf die Straßen und Plätze von Ootmarsum. Steinerne Gassen und Stiegen lagen am frühen Nachmittag bereits ganz im Schatten. MariLu und Johann schlenderten über das Kopfsteinpflaster einer der größeren Straßen, die in einem leichten Bogen zum Marktplatz führte. Die Frau hatte es vorgezogen, in das Labyrinth der kleinen Gassen abzutauchen, um sich in den dort zahlreich vorhandenen Kunstausstellungen umzusehen. Um diese Zeit, mitten in der Woche, gab es kaum Spaziergänger. Die Leute waren in ihren Häusern, in den Geschäften und den Banken. Einige hatte die Frühlingssonne, die in diesem Jahr nur sparsam geschienen hatte, vor die Cafés gelockt.
„Lass uns in das Pfannekuchenhaus am Dorfplatz gehen“, schlug Johann vor.
„Ich mag aber das Speckzeug nicht“, wand sie sich und zog ihn in die Richtung eines Eiscafés, vor dem holländische Jungs auf Plastikstühlen herausfordernd zu ihr rüberschauten.
„Du brauchst ja keinen mit Speck zu essen, und da du noch kein Mittag hattest, bekommst du auf keinen Fall schon jetzt ein Eis.“
Normalerweise hätte sie weitergezogen, gequengelt und ihn rumgekriegt, aber mit Rücksicht auf seine niedergeschlagene Stimmung war sie bereit, ihm nachzugeben. Sie wusste auch von seiner Sorge um ihre hagere Figur mit einem Gewicht, das sich nur um ein paar Pfund oberhalb der kritischen Grenze bewegte. Im übrigen war sie eine hübsche Person, hochgewachsen, mit langem kastanienfarbigem Haar und Augen von beinahe gleicher Farbe. Auch um seinem obligatorischen „Du musst doch was essen!“ zuvorzukommen, lenkte sie ein und überquerte mit ihm die Straße hin zu dem kleinen Restaurant, in dem es nur Pfannekuchen, dafür aber in gleich 35 verschiedenen Sorten zum Essen gab.
Nun legte sie einen Schritt zu und steuerte durch einige Korbsesselgruppen, wo es auch noch freie Plätze gab, auf die doppelflügelige Eingangstür zu. Man hätte sich auch draußen hinsetzen können, aber sie wusste um die Abneigung ihres Vaters, im Freien zu essen, wegen der Insekten oder sonst vorbeiflanierender Leute, die ihm auf den Teller gaffen könnten, und so war der Innenbereich des Restaurants der angesagte Raum, zumindest in dieser Krisensituation. Die Gäste des Hauses saßen an Tischen, die allesamt ausstaffiert waren mit dicken Orientteppichen, und waren mit Pfannekuchen und ihren diversen Zutaten beschäftigt. MariLu entdeckte einen Teppichtisch mit drei Plätzen an der Fensterseite des Restaurants. Gerade hingesetzt, hatte sie schon ein dickes Menübuch in der Hand, das die Beschreibung der 35 Pfannekuchen mit ihren Zutaten enthielt. Das ist auch eine Möglichkeit, Literatur zu verfassen, dachte Johann und erblickte draußen auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Jungen, die weiter vor dem Café in ihren Plastikstühlen saßen, rumalberten und Faxen machten. Durch die Doppelglasscheiben konnte man sie sehen, aber nicht hören. Pubertät auf Niederländisch, dachte er, ist wie ein Stummfilm. Fehlt nur noch, dass man selber die Sprechblasen von ihrem dämlichen Rumgetue verfasst. Es ist schlimm, dachte er, dass ich mich jetzt auch noch über diese Blödmänner ärgere. Der eigentliche Ärger, und das vor einem Kind, das gerade erst 11 Jahre alt geworden ist, ist schon ärgerlich genug. Wenn die später erwachsen ist, dachte er, hat sie nicht nur einen Vater mit Niederlagen in Erinnerung, sondern auch noch einen, der ohne Plan war, diese Niederlagen zu bearbeiten. Ein in doppelter Hinsicht niedergeschmetterter Vater.
Über die große Menükarte, die sie jetzt mit beiden Händen hielt, blinzelte MariLu zu ihm herüber und sagte tröstend: „Lass mal gut sein, Papa, vergiss doch diese Fachbücher. Eigentlich solltest du Geschichten schreiben, das kannst du doch gut! Denk doch mal an die Trampelmöhrchen-Geschichten, die du mir früher immer erzählt hast. Darüber müsstest du mal ein Buch machen.“ Sie winkte der holländischen Kellnerin zu und bestellte irgendwas. Jetzt fehlt nur noch, dass sie mir vorschlägt, irgend so ein Jugendbuch zu schreiben, dachte er. Oder ein Buch mit vielen Bildern und möglichst wenig Text. Dann kam auch schon eine, in so eine Richtung weisende Idee: „Du kannst doch so wunderbar fotografieren. Dann machst du einfach die Bilder und ich schreibe ein paar flotte Texte dazu, das müsste sich doch prima vermarkten lassen, was meinst du?“ Sollte er durch diese Bemerkung nun gerührt oder provoziert sein, Johann wusste es nicht und schwieg einfach in sich hinein. Der Hinweis auf die Trampelmöhrchen-Geschichten deprimierte ihn noch mehr.
Früher hatte er sich Abend für Abend so eine Geschichte ausgedacht über den Waldhasen „Trampelmöhrchen“ und seinen Eichhörnchen-Freund. Wie hieß er noch gleich? „B-Hörnchen“, nicht gerade einfallsreich. Abend für Abend entstanden erzählend neue Geschichten, Hunderte von Geschichten. Mit der Zeit wurden Trampelmöhrchen und B-Hörnchen zu prägenden Figuren ihrer Kindheitsgeschichte. MariLu lebte mit ihnen auf der Lichtung in der Hasenstadt mitten in einem grenzenlosen Wald, der die beiden hinsichtlich Lebensart, Beweglichkeit und Körpergröße völlig verschiedenen Freunde zu immer neuen Abenteuern herausforderte. Einmal hatte B-Hörnchen vom Wipfel eines der höchsten Bäume einen in der Ferne schwelenden Waldbrand entdeckt, der alles Leben, auch das der vertrauten Hasenkolonie auf der Lichtung, vernichten sollte. Trampelmöhrchen ordnete sofort den geordneten Rückzug aller Hasenfamilien und alleinstehenden Hasen in das unterirdische Labyrinth der Hasenwinterquartiere an. Die Evakuierung zog sich hin, jugendliche Hasen ließen es an Disziplin mangeln, da sie das Ganze wie ein Abenteuer ansahen, einige der Althasen waren krank, gebrechlich oder gingen sonst wie am Stock. Wie Schiffskapitäne zuletzt das sinkende Schiff zu verlassen haben, entrannen Trampelmöhrchen und B-Hörnchen als Letzte der heranrollenden Feuersbrunst gerade noch mit heiler Haut – heilem Fell. Trampelmöhrchen hatte nach dem Hinabtauchen in den letzten noch offenen Erdschacht eine bereit gelegte Grasplanke über die Öffnung gezogen. Endlich in Sicherheit. Aber nun traf es B-Hörnchen, der unter einer schweren, durch ein Kindheitstrauma verursachten Klaustrophobie litt. In einem schweren Anfall von Platzangst war er kollabiert und lag nun in einem der Gänge des unterirdischen Labyrinths. In völliger Dunkelheit tastete, hastete Trampelmöhrchen zu seinem Eichhörnchenfreund, beugte sich über ihn und ... „... und dann, dann ficken die“, hörte er im selben Moment eine Stimme aus MariLus Kinderbett. Er hätte eigentlich etwas erzählen wollen von Wiederbelebung, Mund-zu-Mund-Beatmung und so fort, aber was da aus dem Kinderbett als ein Ergänzungsvorschlag an seine Ohren drang – ein vierjähriges Kind war sich der Tragweite des Gassenverbs „ficken“ wohl kaum bewusst – , erzeugte in seiner Fantasie eine Bildfolge seiner gattungsmäßig so ungleichen Freunde – der voluminöse Hase mit seinen großen Schlappohren oben und darunter zitternd und Zähne klappernd das zierliche B-Hörnchen – , die Johann zur Verblüffung seiner kleinen Tochter dazu brachte, laut loszulachen.
„Hey, Papa, du lächelst ja schon wieder!“
Johann kehrte zurück aus seinen Gedanken, die ihn für einen Moment in das zauberhafte Reich seiner Waldtiere entführt hatten. Nein, zum Lächeln gab es eigentlich gar nichts. Er verspürte auch keine Lust, ihr den Kinderbettjoke zu erzählen. Inzwischen waren die Pfannekuchen serviert worden, beide mit Speck.
„Du magst doch gar keinen Speck.“
„Ich wollte für dich mitbestellen, hab dann aus Versehen doppelt bestellt, kannst du mal sehen, wie sehr ich mit den Gedanken bei dir bin.“
Sie ist wirklich lieb, und sie will mir auch nur helfen, dachte er, jetzt nicht bloß noch mehr kaputt machen. Erst die Pleite beim Verlag, dann verliere ich das Gesicht vor dem Kind und jetzt, noch eins drauf gesetzt, weise ich ihre Hilfe ab, weil der große Autor sie für unqualifiziert, kindisch hält. Eigentlich sollte man stolz sein auf so eine Tochter mit so viel sozialem Gemüt, ihre Vorschläge annehmen, schon aus pädagogischen Gründen. Wenn die Vaterrolle nicht völlig einknicken soll, dann gilt es, mit jeder Bemerkung, jedem Wort achtsam umzugehen. Wenigstens soll sie merken, dass ich ihre Vorschläge ernst nehme und mich darüber freue, dass sie da ist.
„Ich weiß genau, was du denkst“, sie stocherte aus ihrem Pfannekuchen die Speckbröckchen heraus. „Du denkst, dass du die Geschichten nicht mehr so erzählen kannst, wie du sie früher erzählt hast. So spontan, wie das damals rüberkam, das kann man bestimmt nicht wiederholen. Wie wäre es denn, wenn ich die Geschichten neu erzähle, und du machst von den Tieren einfach Fotos dazu.“
Die Entmannung des Schriftstellers. „Wie stellst du dir das vor, solche Tiere kann man nicht einfach fotografieren!“ Er war schon jetzt ärgerlich über seine unüberlegte Kauzigkeit.
„Wir haben doch im Pastorengarten das Eichhörnchenpärchen, das den alten Ahornbaum immer rauf und runter flitzt. Und du, mit deinem Teleobjektiv, müsstest dann doch richtig tolle Fotos schießen können und mit der Sporteinstellung der Kamera sogar geile Actionaufnahmen.“
Johann versuchte es sachlicher: „Nun ist aber Trampelmöhrchen die Hauptfigur. Und so Hasen in freier Wildbahn, auf Feld und Wiese zu fotografieren, dürfte wohl mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein. Die haben sich nämlich dem alten Darwin in doppelter Hinsicht angepasst: sie vermehren sich wie die Karnickel und rennen im Zickzack, um dem Jäger zu entkommen. Da sind Aktionsaufnahmen oder gar fotografische Charakterstudien mit Porträtdetails des Hauptdarstellers praktisch ausgeschlossen.“
„Ich hab’ eine Idee: Wir holen Lotti von Svenja!“
„Wer ist Lotti und wer Svenja?“
„Svenja ist die von der 5c und Lotti ist ihr Hase, ein süßer kleiner Stallhase. Der ist ganz zahm und hält beim Fotografieren bestimmt still.“
War sie nun in der 5b oder in der 5d? So viel zum Thema Pädagogik, dachte er und sah mit dem Stallhasen neue Wolken am Konflikthimmel aufziehen. Schon immer wollte MariLu ein Haustier, und seine Frau, die von Johann, hatte sich diesem Wunsch stets energisch widersetzt. Er hatte sich da geschickt rausgehalten, war ihren Anbiederungsversuchen um des ehelichen Friedens willen nie erlegen gewesen. Nun gab es erstmals ein sachliches, gewissermaßen ein Produktionsmotiv für die Anschaffung eines solchen Tieres. Wenn ich mich jetzt völlig widersetze, dachte er, dann ist es aus mit allen pädagogischen Vorsätzen, im umgekehrten Fall aber auch mit dem ehelichen Frieden. Das Leben ist eine Abfolge von Dilemmata. Mit jeder Lösung eines Problems, ja, mit jedem Versuch einer Lösung brechen neue Krisenherde auf. Aber andererseits, dachte er, bedeutet die Anschaffung eines Haustieres ja noch nicht die Existenzkrise einer Ehe, höchstens eine kleine Krise, und die dürfte sich im Angesicht des tatsächlichen Konfliktherdes wohl nur marginal auswirken. Wenn man sich jetzt dem Hasenwunsch des Kindes ein bisschen zuwendet, wäre vielleicht das Dilemma, nur um der Pädagogik willen diese Idee einer zoologischen Fotogala zu vertiefen, verbunden mit der Entsendung des Autors in die Sprachlosigkeit, noch abzuwenden.
„Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ich meine gemeinsam mit Mama, ob du nicht auch so einen Hasen bekommst.“
„Es geht mir nicht um irgendein Haustier, es geht mir um dich und um die Rettung der Trampelmöhrchen-Geschichten“, insistierte sie.
„Ist das nicht Holli? Guck mal, da draußen?“
Tatsächlich, da war Holli, zum ersten Mal war er vielleicht so etwas wie die Rettung aus dem Dilemma. MariLu klopfte gegen die Fensterscheibe, erst vorsichtig und dann, als sie die Doppelverglasung bemerkte, so heftig, dass einige der Gäste schon besorgt zu ihnen herüberschauten. Jetzt hatte Holli sie bemerkt und machte kehrt, um zum Eingangsbereich des Restaurants zu gelangen. An einer Leine hatte er einen mittelgroßen Hund, einen Mischling, halb Bär, halb Wolf, der nur widerwillig die plötzliche Kehrtwende seines Herrchens mitvollzog. Sekunden später kam Holli, wegen seiner enormen Körpergröße leicht nach vorne gebeugt, ein schmales Gesicht mit Adlernase vorneweg durch die Doppeltür des Restaurants gestiefelt. Er trug einen offenen, faltigen Trenchcoat, dessen Grautöne auf die des zotteligen Fells seines Hundes abgestimmt zu sein schienen. Der ganze Auftritt wiederum schien niemanden der Gäste aus der Ruhe zu bringen. Wahrscheinlich sind Holländer, dachte Johann, nur zu beunruhigen durch Deutsche im eigenen Land, die ordentlich Lärm machen. Holli setzte sich an ihren Tisch, der Hund verschwand darunter. Er legte den Arm um Johann und drückte ihn zur Begrüßung kurz an sich und schaute dann begeistert zu ihr: „Mensch, Marie-Luise, du bist auch schon fast erwachsen!“ Er war der Einzige, der ihren Namen vollständig aussprach, und wohl auch der Einzige, dem sie es erlaubte. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, ob sie das eben Gehörte für ein Kompliment halten sollte, und wandte sich ganz dem bei ihren Füßen liegenden Hund zu.
„Ist der süß! Wie heißt er denn?“
„Ich hab ihn Wölfi genannt. Er war in einem Tierasyl in Enschede, da habe ich ihn vor einem Jahr herausgeholt. Seitdem sind wir unzertrennliche Freunde“, antwortete Holli und rief der Kellnerin zu: „Een Kopje Koffie alstublieft!“ MariLu war nun ganz mit Wölfi beschäftigt, was ihm die Möglichkeit gab, sich auf Johann zu konzentrieren. „Mensch, Alter, wenn ich dich sehe, dann muss ich ganz an unsere frühere Zeit, meine Zeit als dein Assistent an der Uni denken.“
Johann lächelte. So wie jetzt tauchte Holli immer irgendwo aus der Versenkung auf. Er war in einem Heim aufgewachsen, und irgendwann gelang ihm die Bekanntschaft mit der elterlichen Familie von Johann, zu dessen Mutter mit ihrer spontanen, ehrlichen und einfühlsamen Art er sich besonders hingezogen fühlte. Dann verschwand er von einem Tag auf den anderen. Viele Jahre hatten sie nichts mehr von ihm gehört, bis er plötzlich in Münster – Johann war dort gerade als junger Dozent am Institut für Soziologie tätig – wieder auftauchte.
„Ich muss gerade daran denken, wie wir dich in Münster zum Universitätsassistenten hievten.“ Holli grinste übers ganze Gesicht, das dadurch nichts von seinen adlerhaften Konturen verlor. „Das war eine coole Kiste, damals, nicht Alter? Mit nichts auf der Tasche, keine Schulausbildung, keinen Beruf, kommt man dann so als Loser in so eine Großstadt, und du machst mich da vor Hunderten von Studenten einfach zu deinem Assistenten.“ Er schaute Johann mit listigen Augen an und rührte dabei in seinem eben servierten Kaffee herum.
Er ist ein irrer Typ, dachte Johann, wenn man bedenkt, wie er in einer Nacht das „Handbuch zur Psychiatrie“ von Giovanni Jervis durchhatte, um dann am nächsten Tag den Studenten im Soziologieseminar den Zusammenhang repressiver Familienpolitik mit der Sozialgeschichte der Psychiatrie zu erklären. Augenblicklich avancierte er zum Star unter den Studentinnen und Studenten, denen er Begriffe wie „geschlossene Systeme“ oder „totale Institution“ vor dem Hintergrund seiner eigenen Heimgeschichte praxisnah auseinandersetzen konnte, ohne dabei diese Geschichte selbst offen zu legen. Holli ist ein Jongleur, dachte er, einer, der sich die Menschen zu Nutze macht, ohne sie dabei auszunutzen, einer, der sich wie ein Chamäleon verwandeln kann, glaubwürdig eine Rolle spielt und dabei anderen hilft und nützlich ist. So wie damals für die Studenten, denen er schweres Soziologendeutsch zu leichter Kost verarbeitete, stets garniert mit einer Zutat seines frechen jugendlichen Humors. Er ist wie Phönix aus der Asche, dachte er. Denkt man, er geht unter in seinem eigenen Bildungsnotstand, dann taucht er auf als Lehrer an der Uni. Denkt man, er geht zu Grunde in Alkohol und Heroin, dann steht er wieder auf als Sozialarbeiter in Enschede mit holländischem Pass. Wenn er nicht heute schon wieder etwas anderes ist.