Zeitwanderer - Karin Wurzacher - E-Book

Zeitwanderer E-Book

Karin Wurzacher

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Beschreibung

Ein eher unscheinbares Schloss in den Osttiroler Bergen zieht die erzählende Heldin magisch an. Diese unerklärliche Faszination veranlasst sie, das alte Gemäuer zu betreten. Dort trifft sie auf den Geist einer weiß gekleideten Frau, die ihr als "Auserwählte" eine Aufgabe stellt. Gemeinsam mit zwei Freunden und drei Schlüsseln reist die Erzählerin in die Vergangenheit. Das Heldentrio stolpert durch so manches Abenteuer und schafft es - dank der zauberhaften Hilfe einer weißen Hexe - die Herausforderung zu meistern.

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL I

WIE ALLES BEGANN

KAPITEL II

ARMELLAS GEIST

KAPITEL III

DIE PROPHEZEIUNG

KAPITEL IV

SCHLÜSSELERLEBNIS

KAPITEL V

REISE IN DIE VERGANGENHEIT

KAPITEL VI

ANNO 1742

KAPITEL VII

DANA & EULANDA

KAPITEL VIII

DAS TAGEBUCH

KAPITEL IX

VERLIES & FOLTERKAMMER

KAPITEL X

SIR BALDUIN DER ZAUBERER

KAPITEL XI

RETTUNG DER ELFE

KAPITEL XII

DAS GEHEIMNIS AM SEE

KAPITEL XIII

NOEL

KAPITEL XIV

WIE ALLES ENDETE

KAPITEL I

WIE ALLES BEGANN...

Vor 18 Jahren zog ich aus einer deutschen Großstadt in ein kleines österreichisches Bergdorf. Ohne Vorwarnung tappte ich in eine Liebesfalle und eh ich es mir versah, wurde mir von dem einheimischen Tischlermeister mein Herz geklaut. Für ein Leben an seiner Seite brach ich die heimatlichen Brücken ab und heiratete den frechen "Dieb" kurz darauf mit dickem Babybauch, da ich mit unserem inzwischen 17-jährigen Sohn schwanger war. Das Leben in den Bergen ist so ganz anders, als ich es 34 Jahre lang gewohnt war. Manchmal kann ich selbst kaum glauben, dass ich es bereits so viele Jahre in diesem vermeintlich idyllischen Nest aushalte und an meinem beschaulichen Dasein größtenteils auch noch Gefallen finde.

Immerhin hat sich unser Schöpfer bei dem wunderschönen Fleckchen Erde augenscheinlich besonders viel Mühe gegeben. Allein für diese atemberaubende Landschaft lohnte sich die Umsiedlung. Wer würde nicht gerne stinkenden Industriesmog gegen frische Bergluft eintauschen? Die Liebe tat ihr übriges. Damit meine ich natürlich nicht nur die Liebe zur Natur...

Mit einer Arbeitsstelle sah es hierzulande allerdings ziemlich schlecht aus. Zwar hatte ich als gelernte Rechtsanwaltsgehilfin eine Anstellung gefunden, diese jedoch nach ein paar Jahren aufgrund der Tatsache, dass Recht und Gerechtigkeit meist zwei Paar Stiefel sind, wieder verloren. Jene Kanzlei befand sich in einer Kleinstadt, die ca. 15 km von meinem Wohnort entfernt liegt. Bereits am ersten Arbeitstag erblickte ich auf dem Weg ins Büro ein altes Schloss, das majestätisch auf einem Felsen thront. Auch wenn die Fassade dieser antiken Immobilie bereits bröckelte, gewann sie meine Aufmerksamkeit. Obwohl das Anwesen im Vergleich zu einem Prunkbau wie beispielsweise Neuschwanstein eher unscheinbar wirkt, zog es mich von der ersten Sekunde an in seinen Bann. Das war vor genau 15 Jahren. Seit diesem Zeitpunkt überfielen mich jedes Mal die sonderbarsten Gefühle, sobald ich das Schloss erblickte. Da ich von je her ein Faible für Schlösser und Burgen habe, machte ich mir über meine Schwärmerei zunächst keine Gedanken. Allerdings wollten diese eigenartigen Regungen, die das Schloss in mir hervorrief, sobald es in meinen Fokus trat, einfach nicht verschwinden.

Vielmehr stieg mein Interesse stetig weiter an. Nachdem zu befürchten stand, dass dieses Anwesen mir früher oder später auch noch schlaflose Nächte bescheren könnte, wollte ich mehr darüber erfahren. Ich erkundigte mich bei Einheimischen, die mir erzählten, dass der Schlossherr aus Deutschland stamme und viele Jahrzehnte in seinem Chateau gewohnt habe. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters sei er allerdings vom Schloss ins Dorf gezogen und seitdem stehe das antike Gebäude leer.

So beschloss ich spontan, einen Spaziergang dorthin zu machen. Wieso kam mir dieser Einfall eigentlich nicht schon viel früher?

Je weiter ich mich dem Haupthaus näherte, desto stärker klopfte mein Herz. Eine unerklärliche Unruhe übermannte mich, die mir bis dahin fremd war. Bei jedem Schritt wuchs das Verlangen, ins Innere des Schlosses zu gelangen. Als ich vor dem Hoftor stand, drückte ich erwartungsvoll die Klinke herunter. Zu meiner Enttäuschung war die Pforte verschlossen, aber einen Versuch war es wert. Was dachte ich mir denn? Dass der Eigentümer für jeden dahergelaufenen Touristen Tür und Tor offenstehen ließe? Wohl kaum! Aufmunternd sagte ich zu mir selbst: "Wenigstens bin ich schon mal bis zu den Außenmauern vorgedrungen und mit meinem ersten Annäherungsversuch ganz zufrieden."

Auf den Besitzer selbst wurde ich wenig später bei meinem Hausarzt aufmerksam, als er vor mir ins Behandlungszimmer gerufen wurde. Seitdem sah ich den alten Mann hin und wieder durchs Dorf laufen. Doch jedes Mal, wenn ich kurz davor war, ihn zu fragen, ob er mir Zutritt zu seinem Schloss gewähren würde, nahm mir seine unnahbare Aura sofort wieder jeglichen mühsam aufgebauten Mut. "Wo liegt das Problem?" hörte ich mich selbst fragen. Feigheit zählt eigentlich nicht zu meinen Schwächen. Allerdings wollte ich mir die Chance auf eine Schlossbesichtigung durch unüberlegte, impulsive Überrumpelungsaktionen nicht selbst zerstören. Somit wartete ich auf eine passende Gelegenheit, um dem geheimnisvoll wirkenden Mann gegenüber zu treten und ihm die für mich so bedeutende Frage zu stellen. Das heißt, die Frage selbst war mir nicht so wichtig als vielmehr eine positive Antwort darauf. Einstweilen suchte ich nach einer plausiblen Erklärung für meine Faszination gegenüber dem Schloss.

Im Geheimen ahnte ich, dass es eine Verbindung zwischen dem Anwesen und mir geben musste. Allerdings hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese aussehen sollte. Woher denn auch? Womöglich bildete ich mir das Ganze nur ein. Vielleicht spielte ich mittlerweile zu viele Computerspiele, sodass ich die Realität nicht mehr von der Phantasiewelt unterscheiden konnte. Um mit meiner Spinnerei für das alte Gemäuer ein für alle Mal aufzuräumen, suchte ich einen jungen Mann mit hellsichtigen Fähigkeiten auf. Wenn einer wusste, warum ich mich zu dem Schloss hingezogen fühlte, dann ja wohl er. Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, unterhielt ich mich mit dem Hellseher erst einmal über berufliche Aussichten und die Beziehung zu meinen Eltern. Im Laufe der Sitzung wagte ich es dann, ihm die Frage zu stellen, die so sehr in mir brannte: "Können Sie mir sagen, weshalb mir das Schloss in der Nähe meines Wohnortes seit Jahren keine Ruhe lässt und warum es mich derart magisch anzieht?" Seine Antwort darauf folgte wie aus der Pistole geschossen: "Ihr Interesse an dem Anwesen wundert mich überhaupt nicht. Sie haben in einem früheren Leben anno 1742 dort gelebt." Diese Äußerung warf mich bildlich gesprochen aus den Schuhen. Darauf war ich nun wirklich nicht gefasst. Mit meiner Konsultation des Sehers fand meine Euphorie für die antike Immobilie demnach nicht – wie erhofft – ihr Ende, sondern fing damit erst richtig an.

Mit dem Wissen im Seelengepäck, vor Jahrhunderten in dem Anwesen gelebt zu haben, fuhr ich ziemlich aufgewühlt nach Hause. Obwohl es gar nicht in meiner Absicht lag, zu dem alten Gemäuer zu fahren, wurde ich wie ferngesteuert dort hingelenkt. Auch wenn es mir verwehrt blieb, das Gebäude selbst zu betreten, war es mir doch ein unbedingtes Bedürfnis, zumindest die Außenwände zu berühren. Kaum befand ich mich in der Nähe des geheimnisumwitterten Bauwerks, ereilte mich wie auf Knopfdruck erneut dieses merkwürdige Gefühl und mein Herz schlug bis zum Hals. Zögerlich berührte ich die alten Steine mit den Fingerspitzen. Im selben Augenblick durchfuhr es mich urplötzlich wie ein Stromschlag vom Scheitel bis zur Fußsohle. Reflexartig zog ich die Hand vom Mauerwerk zurück, als ob ich auf eine heiße Herdplatte gegriffen hätte und schaute mich erschrocken um. Zum Glück war weit und breit niemand zu sehen, der diese sonderbare Begebenheit beobachtet haben könnte. Irritiert von der merkwürdigen Szenerie, lief ich schnell zum Auto und fuhr in mein kleines Bergdorf.

Das eigenartige Geschehen ließ mir keine Ruhe. Spätestens nach diesem außergewöhnlichen Ereignis war für mich sonnenklar: "Ich muss so bald als möglich ins Innere des Schlosses." Dass ich niemandem von meinen Erlebnissen und Gefühlen erzählen konnte, empfand ich als ziemliche Belastung. Wie gerne hätte ich mich jemandem anvertraut. Auf Anhieb fiel mir aber leider keine Person ein, die ich hätte ins Vertrauen ziehen können, ohne Gefahr zu laufen, als verrückt abgestempelt zu werden. Die Menschen neigen nun mal dazu, nur Dinge zu akzeptieren, die sich mit logischem Verstand erklären lassen. Dazu gehörte mein Erlebnis an der Schlossmauer definitiv nicht.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass hinter der maroden Festung jemand auf mich und meine Hilfe wartete. Nachdem das Schloss seit längerem unbewohnt war, handelt es sich bei dem "jemand" kaum um eine lebende Person, sondern wohl eher um den Geist einer solchen. Mangels Gespenstererfahrung sah ich einer eventuellen Gegenüberstellung entsprechend angstfrei entgegen. Noch fühlte ich mich stark und mutig. Doch wagte ich zu bezweifeln, dass meine Haltung auch dann noch so unbeeindruckt bleiben würde, stände ich tatsächlich eines Tages oder gar nachts einem Wesen aus einer anderen Dimension gegenüber.

Bevor ich weiter darüber nachdachte, stellte ich mir die primäre Frage: "Wie komme ich ins Schloss?" Es wäre wohl mehr als dreist und unklug, den unnahbar wirkenden alten Herrn mit den Worten zu überfallen: "Guter Mann, wenn Sie gerade nichts besseres vorhaben, dann zeigen Sie mir doch bitte Ihr Anwesen. Sie müssen wissen, dass ich dort bereits vor knapp 300 Jahren in einem meiner früheren Leben zuhause war und noch etwas Dringendes zu erledigen habe."

Die Vorstellung, der Schlossbesitzer würde mir daraufhin einen Aufenthalt in jener Anstalt nahelegen, in der Jacken vorzugsweise auf dem Rücken geschnürt werden, brachte mich unweigerlich zum Schmunzeln. Dass die Diagnose höchstwahrscheinlich Schizophrenie lauten würde, beendete meine Grinserei abrupt. Selbst wenn er mich nur erbost über meine Unverfrorenheit der Türe verweisen würde, käme ich dem Geheimnis, das sich im Schlossinneren verbirgt, dadurch keinen Millimeter näher. Ganz im Gegenteil!

Mir stand nur ein einziger Versuch zur Verfügung, den alten Herrn zu überreden, das Tor zu seinem Anwesen für mich zu öffnen. Scheitert dieser, dann war es das! Meine Gedanken vermischten sich mit aufsteigender Nervosität und ich wollte nicht noch weitere kostbare Zeit verlieren. Sollte der in die Jahre gekommene Besitzer nämlich seine Augen erst mal für immer schließen, könnte ich meine Hoffnung auf eine alsbaldige Schlossbesichtigung gleich mit begraben.

KAPITEL II

ARMELLAS GEIST

Meine Neugierde sowie mein Helfersyndrom, das anscheinend selbst vor Geistern nicht Halt macht, überstiegen mein Unbehagen, seitens des mürrischen Schlossherrn abgewiesen zu werden. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, um den betagten Mann endlich persönlich aufzusuchen und ihn darum zu bitten, sein Anwesen betreten zu dürfen.

Als ich vor seiner Wohnungstüre stand und die Klingel betätigte, zitterte meine Hand vor Aufregung wie Espenlaub. Ob ich ihn wohl nicht geweckt hatte? Schließlich war es noch ziemlich früh am Morgen. Die Uhrzeit meines Handys zeigte 8.15 Uhr. Ach was, ich sollte mich nicht immer so verrückt machen! Ältere Menschen zählen meines Wissens zu den Frühaufstehern. Herannahende Schritte rissen mich aus meinen Gedanken. Langsam öffnete sich die Tür. Zum Vorschein kam der finster dreinblickende Schlossherr, der mit unfreundlicher Stimme fragte: "Ja? Was wollen Sie?" Für einen kurzen Moment war ich drauf und dran, auf dem Absatz kehrt zu machen und die Flucht zu ergreifen. Doch meine innere Gewissheit, dass ein wie auch immer geartetes Wesen auf meine Hilfe wartete, ließ mich wie einen zementierten Betonklotz verharren. Ich begann auf den Mann einzureden und erklärte ihm meine besondere Vorliebe für sein Schloss. Je länger ich quasselte, desto mehr erhellte sich seine Miene und er hörte mir immer belustigter zu. Womöglich sah er in mir eine etwas verrückte, aber willkommene Abwechslung seines eintönigen Alltags. Nachdem mein Redeschwall versiegte, war sein düsterer Blick verschwunden. Stattdessen stand er mit breitem Grinsen und leuchtenden Augen vor mir. Der gute Mann willigte zu meiner Überraschung sofort ein, mir das Schloss zu zeigen. Während ich mein Glück noch gar nicht fassen konnte, nahm er seinen Lodenmantel vom Garderobenhaken, setzte einen Hut auf, griff nach dem Gehstock und verließ in meiner Begleitung die Wohnung. Völlig baff und irritiert registrierte ich, dass er mir sein Anwesen auf der Stelle zeigen wollte. Ich liebe Männer mit schnellen Entschlüssen, auch wenn sie nicht mehr taufrisch waren. Wobei der alte Herr mit Lausbuben-Mine wesentlich jünger wirkte, als mit griesgrämigem Antlitz.

Er nahm auf der Beifahrerseite meines Autos Platz und ich startete den Motor, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte. Während der Fahrt wies mich der Schlossbesitzer in freundlichem, aber bestimmendem Ton an: "Stellen Sie Ihr Fahrzeug bitte an der Zufahrt des Grundstückes ab". Da ich darauf etwas verwundert reagierte und murmelnd erwiderte: "Okay, wird gemacht!" fügte er an: "Der unbefestigte Weg zum Chateau ist ziemlich holprig und ich möchte mir außerdem ein wenig die Beine vertreten." Nachdem ich mein Auto geparkt hatte, schlenderten wir schweigend über die lange unwegsame Auffahrt. Dann endlich hatten wir das Hoftor erreicht. Mein Puls beschleunigte rasant, als der betagte Herr den Schlüssel drehte und die Pforte öffnete. Ich konnte es kaum erwarten, das Atrium zu betreten und wäre vor lauter Aufregung am liebsten über den alten Mann hinweggesprungen. Glücklicherweise konnte ich mich gerade noch beherrschen und wartete geduldig, bis er den Innenhof erreicht hatte. Damit meine Begeisterung nicht mit mir durchging, folgte ich ihm in vermeintlich gelangweilter Haltung. Innerlich jedoch zerriss es mich beinahe vor Spannung. Zu sehen gab es außer einer maroden Fassade erst mal nichts Nennenswertes, zu spüren hingegen eine ganze Menge.

Die Anzeichen von Zerfall machen, zumindest für mich, das Flair eines solch antiken Gebäudes überhaupt erst aus. Zudem stieg mir ein leicht modriger Geruch in die Nase und ich fühlte mich wie ein Statist beim Dreh eines Vampirfilms. Dieses Schloss überdauerte unterschiedlichste Epochen und zeigte sich mir in seinem vom Alter gezeichneten ursprünglichen Zustand. Als ob er meine Gedanken erraten hätte, erklärte mir der Besitzer: "Ich musste eine Menge Geld investieren, um wenigstens das Notwendigste instandsetzen zu lassen." Ich nickte verständnisvoll, wenngleich mir Reparaturarbeiten auf den ersten Blick nicht unbedingt ins Auge stachen. Das Schloss bewahrt seine Geschichte mit jedem einzelnen Stein, was mich zutiefst beeindruckte.

Voll unbändiger Neugier fieberte ich dem Augenblick entgegen, endlich die Schwelle des Haupthauses übertreten zu dürfen. Während der Eigentümer nach dem passenden Schlüssel suchte, ließ er mich mit leiser Stimme wissen: "Gespenstische Wesen lauern hinter diesen Mauern. Seien Sie also gewarnt!" Von seinen geisterhaften Andeutungen zeigte ich mich – zumindest nach außen hin – ziemlich unbeeindruckt und erwiderte: "Das macht die Besichtigung ja gerade so spannend." Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und schloss mit spitzbübischem Blick die Tür auf.

Innerlich rief ich zu mir selbst: "Abenteuer, ich komme!"

Der Schlossherr setzte sich sogleich erschöpft auf eine Kiste, die einsam und verlassen direkt neben dem Entrée der riesigen Eingangshalle stand und nur auf ihn zu warten schien. Dann wandte er sich an mich: "Gehen Sie nur Kindchen. Schauen Sie sich in Ruhe alles an. Ich werde hier auf Sie warten." Ich nickte ihm freudestrahlend zu und eilte davon. Er rief mir noch nach: "Erwarten Sie nicht zu viel von kahlen Steinmauern und leeren Räumen". Ich hatte mich schon zu weit von ihm entfernt, um darauf zu antworten. Während ich durch das Gebäude stolzierte, konnte ich mein Glück noch immer kaum fassen. Vielleicht kam mir darin ja sogar irgendetwas bekannt vor, nachdem ich vor ca. 300 Jahren hier gelebt habe. Langsam und bedächtig schritt ich wie eine Königin durch die imposanten Räumlichkeiten. Der alte Mann hatte nicht übertrieben. Das Schloss war tatsächlich wie leergefegt und es gab kein einziges Möbelstück darin zu entdecken. Dennoch war das Schloss von einer außergewöhnlichen Atmosphäre ausgefüllt, die mich erschaudern ließ. Obwohl mich das inzwischen vertraute wie eigenartige Gefühl stärker als je zuvor überkam, fühlte ich mich in diesen Mauern geborgen. Am liebsten wäre ich für immer dortgeblieben, so sehr war ich von dem Zauber gefesselt. "Genug der Schwärmerei!" rief ich mich selbst zur Raison. Die Konzentration richtete sich wieder auf das Wesentliche und so führte mich meine Intuition kurzerhand zum rechten Turm des Schlosses. Es gab noch einen zweiten auf der linken Gebäudeseite, der mich allerdings weitaus weniger interessierte. Als ich direkt vor der Tür stand, machte sich eine undefinierbare Unruhe in mir breit und meine zitternden Finger berührten die Klinke.

Doch beim Herunterdrücken passierte nichts. Auch nach einem zweiten, kraftvolleren Versuch ließ sich die Pforte nicht öffnen. Mit ziemlicher Enttäuschung musste ich einsehen, dass sie abgeschlossen war.

Schnellen Fußes lief ich zurück in die Eingangshalle, um den Schlossherrn nach dem Turmschlüssel zu fragen. Er saß zwar noch immer auf der schäbigen Kiste, jedoch inzwischen laut schnarchend. Sein Anblick rührte mich, doch sehr viel hatte mein Aufenthalt hier noch nicht mit Abenteuer zu tun. Nun gut, ich sollte mich in Geduld üben und Ruhe bewahren. Nachdem das Spukwesen – ich bin mir ziemlich sicher, dass es eines gibt – bereits so viele Jahrhunderte ruhelos durch das Gemäuer geisterte, würde es in den nächsten Tagen wohl auch noch hier sein.

Während ich mir den schlafenden Herrn genauer betrachtete, musste ich unweigerlich grinsen. Irgendwie hatte er im Schlaf so gar nichts Furchterregendes an sich. Im Gegenteil, sein vom Leben gezeichnetes Gesicht gab im entspannten Modus sogar gutmütige Züge frei. Was er wohl im Lauf der Jahrzehnte, die er in den alten Steinmauern verbrachte, so alles erlebt hatte? Seinen Erzählungen, die sicherlich spannender als ein Tatort-Krimi wären, würde ich liebend gerne lauschen. Vielleicht ergab sich irgendwann die Gelegenheit dazu.

Da ich den betagten Herrn noch nicht wecken wollte, trottete ich auf den Balkon und schaute verträumt ins Tal. Endlich hatte sich mein lang ersehnter Wunsch erfüllt. Während ich darüber nachdachte, dass mich weder im Gebäude selbst noch auf dem Schlossgelände irgend etwas an mein früheres Leben erinnerte, streifte ein plötzlicher Windhauch meinen Arm. Aufgeschreckt fuhr ich herum, konnte aber niemanden sehen. Stattdessen blieb mein Blick einmal mehr an dem Turm hängen, der mir den Zutritt verwehrte. Da ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, bringen mich leider nur geöffnete Türen ans Ziel. Für das Geisterwesen hingegen dürfte festes Mauerwerk kein Hindernis darstellen. Warum tauchte es dann nicht auf? Vielleicht ist an dem Mythos was dran, dass Geister erst um Mitternacht oder zumindest während der Dunkelheit in Aktion treten. War dies tatsächlich der Grund, dass ich die geisterhafte Gestalt am helllichten Tag nicht zu Gesicht bekam?

Zwangsläufig beschloss ich, meine Verabredung mit dem Abenteuer zu vertagen und den alten Mann zu wecken, damit ich ihn zu seiner Wohnung zurückfahren konnte.

Also ging ich zurück in die Eingangshalle und flüsterte ihm zu: "Hallo mein Herr, wachen Sie auf! Es ist an der Zeit, nach Hause zu gehen." Etwas benommen erhob er sich von der Kiste und meinte: "Nun bin ich doch tatsächlich eingenickt. Entschuldigten Sie bitte meine Schläfrigkeit." Fröhlich entgegnete ich ihm: "Das macht gar nichts. Was der Körper verlangt, soll man ihm geben". Und um mein Verständnis zu unterstreichen, schenkte ich dem Schlossherrn mein schönstes Lächeln. Wir liefen schweigend zu meinem Auto, stiegen in den Wagen und als ich den alten Mann vor seinem Haus absetzen wollte, sagte er zu meiner Überraschung: "Ich würde mich freuen, wenn Sie auf einen Sprung mit hineinkämen." Dabei strahlten seine Augen freundlich und hellwach. Das kleine Schläfchen während meiner Erkundungstour durch sein Schloss schien ihm sehr gut getan zu haben.

Seine positive Ausstrahlung ging sofort auf mich über und so gab spontan zur Antwort: "Danke, sehr freundlich von Ihnen. Ich nehme ihre Einladung gerne an." Nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen, Mantel, Hut und Stock ordentlich an der Garderobe abgelegt hatte, schlurfte der betagte Herr langsam aber zielsicher zu einem wunderschönen antiken Schrank und nuschelte: "Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Haben Sie nur einen kleinen Moment Geduld". Ich blieb bei der Sitzgruppe stehen und staunte über die gigantischen Ausmaße des Möbelstücks. Das Monstrum füllte beinahe das halbe Zimmer aus. In dessen Inneren könnte ich problemlos den gesamten Kleidungsbestand meiner 3-köpfigen Familie unterbringen. Bei dem edlen Kasten handelte es sich vermutlich um eines der letzten Erinnerungsstücke an seine Tage als stattlicher Schlossherr.

Er öffnete bedächtig die schwere Schranktür, um sodann geschäftig in einer Schublade zu kramen. Da er mich sicherlich nicht grundlos gebeten hatte, ihm in seine Behausung zu folgen, würde ich wohl auch erfahren, wonach er suchte. Der Schlossbesitzer schien endlich fündig geworden zu sein, denn er kam mit einer kleinen Schatulle in der Hand auf mich zu und deutete wortlos auf einen Sessel, in dem ich artig Platz nahm. Er selbst setzte sich auf einen Diwan und schaute mich verheißungsvoll an. Was das wohl alles zu bedeuten hatte? Erfreulicherweise ließ er mich nicht lange zappeln, sondern fing direkt an zu erzählen. Gespannt lauschte ich seinen Worten und traute meinen Ohren kaum, was aus seinem Mund zu vernehmen war.

"Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie überaus glücklich ich bin, diesen Augenblick noch erleben zu dürfen. Bis jetzt habe ich niemandem davon erzählt, da mir die Leute keinen Glauben schenken würden. Sie sind jedoch anders und vor allem ein ganz besonderer Mensch". Seine Worte machten mich verlegen. Er fuhr in seinen Ausführungen fort: "Während meiner Zeit auf dem Schloss war ich nicht alleine dort. Eine Geisterfrau, die bereits seit mehreren Jahrhunderten dort gefangen ist, zeigte sich mir immer häufiger und erzählte mir ihr Schicksal. Liebend gerne hätte ich sie von ihren Qualen befreit, doch ich konnte ihr leider nicht helfen". Also doch, meine Intuition hatte mich nicht getäuscht. Es gibt einen Geist! Voller Spannung zappelte ich im Sessel herum und wollte wissen: "Wie sieht die Erscheinung denn aus und warum befindet sie sich noch immer im Schloss?" Der alte Mann hob beschwichtigend die Hand und meinte: "Langsam Kindchen, eins nach dem anderen. Nachdem ich für die arme Seele keine Hilfe darstellte, hörte ich ihr stets aufmerksam zu. Das war das mindeste, was ich für sie tun konnte. So vertraute sie mir an, schon bald werde ihre Erlöserin auftauchen. Sie sagte mir auch, ich werde diese Person sofort erkennen, sobald sie vor mir steht. Damals begriff ich ihre Worte nicht. Dafür verstehe ich sie jetzt um so besser." Die Geschichte klang total abgefahren und ehrlich gesagt, konnte ich den Ausführungen des Schlossbesitzers nicht ganz folgen. Mein Verstand begann Purzelbäume zu schlagen, als der alte Herr noch eins draufsetzte und mir ohne Vorwarnung verkündete: "Sie sind die auserwählte Retterin, Kindchen!" Mit großen Augen starrte ich ihn an, als ob er sich gerade in einen Zombie verwandelt hätte. Stotternd kam mir über die Lippen: "Da... da... das kann nicht sein". Der gute Mann musste urplötzlich die Kontrolle über seine geistige Gesundheit verloren haben. Oder hatte er vielleicht vergessen, wichtige Medikamente einzunehmen? Alte Leute schlucken doch immer irgendwelche Pillen. Als ob er Gedanken lesen könnte, tätschelte er beruhigend meine Hand und lächelte dabei so warmherzig, dass sich in mir auf wundersame Weise völlige Ruhe ausbreitete. Mein Vertrauen zu dem Schlossherrn wuchs von einer Sekunde auf die andere ins Unermessliche. Just in dem Moment rutschte mir heraus: "Wissen Sie, was ich glaube? Meine Begeisterung für Ihr Anwesen rührt in erster Linie daher, dass ich selbst vor einigen Jahrhunderten während eines früheren Lebens darin zuhause war." Im nächsten Augenblick hätte ich mir die Zunge abbeißen können für meine Geschwätzigkeit. Schon war die vor kurzem erlangte innere Ruhe wieder futsch. Warum ist es nur so schwer, erst zu denken und dann zu reden? Manchmal habe ich das Gefühl, ich lerne die Einhaltung dieser Reihenfolge nie! Dabei lehrt einen die Erfahrung, dass Ehrlichkeit nicht immer der beste Ratgeber ist. Durch meine Impulsivität hatte ich mir wahrscheinlich gerade selbst wieder alles verdorben. Doch überraschenderweise zeigte sich der Schlossherr über meine unbedachte Äußerung weder irritiert noch erstaunt. Vielmehr nickte er wissend und reichte mir die Schatulle, die er zuvor aus dem alten Holzgiganten geholt hatte. Ich nahm sie entgegen und schaute zögerlich, aber auch neugierig hinein.

Darin lag eine silberne Halskette mit einem verschnörkelten Schlüsselanhänger. Was sollte ich denn damit? Gehörte dies etwa zum Familienschmuck? Wollte er mir das Schmuckstück schenken, da er selbst keine Nachkommen hatte? Tausend Fragezeichen tanzten vor meinem geistigen Auge und dementsprechend begriffsstutzig musste ich ihn wohl angeschaut haben. Er lächelte wieder und bestätigte meine Befürchtung: "Die Schlüsselkette gehört nun Ihnen. Die Geisterfrau hat sie mir zur Verwahrung überlassen. Der Zeitpunkt ist gekommen, sie weiterzugeben. Passen Sie gut darauf auf, denn der Schlüssel stellt einen wichtigen Bestandteil für Ihr Vorhaben dar." Die tausend Fragezeichen vor meinem geistigen Auge verschwanden durch seine Worte nicht etwa, sondern vermehrten sich stattdessen in Sekundenschnelle zu abertausenden davon. Ich stammelte nur: "Welches Vorhaben?" Was wusste der alte Mann, was ich nicht wusste? Okay, er hatte mir zumindest schon mal mehrere Unterredungen mit einem Schlossgeist voraus. Wenn ich es mir recht überlege, war das bereits eine ganze Menge Vorsprung. Ich wandte mich dem Eigentümer des Chateaus zu und flehte: "Bitte mein Herr, klären Sie mich über die Bedeutung der Silberkette auf. Und, was hat das alles mit mir zu tun? Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen." Doch anstatt einer Antwort erhielt ich nur ein geheimnisvolles Lächeln. Der alte Mann gab mir sodann folgenden Rat: "Ich kann Ihnen nur empfehlen, das Schloss so schnell als möglich wieder zu besuchen. Alleine und erst in den Abendstunden, wenn die Nacht anbricht! Bitte überstürzen Sie nichts. Bevor Sie zu einem erneuten Besuch aufbrechen, sollten Sie sich unbedingt damit vertraut machen, die "Auserwählte" zu sein." Aber klar doch! Es war ja auch das Normalste der Welt, im 21. Jahrhundert einem Geist aus der Patsche zu helfen, der seit hunderten von Jahren durch Schlossmauern schwebt. Diese Vorstellung ist doch total irrwitzig. Andererseits spürte ich seit dem eigenartigen Vorfall an der Schlossmauer, dass hinter den dicken alten Steinwänden eine Aufgabe auf mich wartete. In meiner Erregung bombardierte ich den betagten Herrn mit einem Fragenstakkato: "Warum erzählen Sie mir das alles? Wie kommen Sie darauf, dass ich die sogenannte "Auserwählte" bin? Was hab ich mit Ihrem Geist zu schaffen?" Erwartungsvoll schaute ich den alten Mann an, der sich jedoch in Schweigen hüllte. Um aufklärende Antworten zu erhalten, musste ich mich anscheinend tatsächlich an die Geisterfrau selbst wenden.

Irgendwie war das alles zu viel für mich. Mir wurde ganz flau im Magen und ich wollte nur noch nachhause. Als ich Anstalten machte, mich aus dem Sessel zu erheben, drückte mich der betagte Herr jedoch wieder in diesen zurück. Völlig verdattert blieb ich sitzen und fragte mich, ob ich wache oder träume. Diese absurde Szenerie konnte doch nicht ernsthaft der Wirklichkeit entsprechen. Wahrscheinlich befand ich mich in einem realitätsnahen Traum und wachte jeden Moment in meinem Bett auf. Sofern ich mich wider Erwarten doch im Wachzustand befinden sollte, hatte ich allerdings ein Problem.

Der Schlossherr erhob sich schwerfällig von der Couch und schlurfte erneut zu dem Holzriesen auf vier Steinfüßen. Dabei richtete er die Worte an mich: "Warten Sie, Kindchen! Das war noch nicht alles!" "Oh nein, bitte nicht noch eine Überraschung. Mein Bedarf daran ist eigentlich fürs Erste mehr als gedeckt!" lautete meine verzweifelte Reaktion darauf. Den alten Mann schien meine desolate Verfassung nach all den schwer verdaulichen Neuigkeiten wenig bis überhaupt nicht zu interessieren und kruschtelte erneut in einer Lade herum. Dieses Mal dauerte seine Suche um einiges länger. Mir verging hingegen jegliche Lust, auf eine weitere Hiobsbotschaft zu warten, die mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.

In diesem Moment drehte er sich abrupt um und schaute mir intensiv in die Augen. Von seinem durchdringenden Blick völlig verunsichert, rutschte ich nervös im Sessel herum. Konnte der alte Herr vielleicht doch meine Gedanken lesen? Ich begann mehr und mehr daran zu zweifeln, dass überhaupt noch Blut durch seine Adern floss. Vielleicht war er schon gar nicht mehr von dieser Welt? Vielleicht gehörte er längst zur Kategorie "Untoter" oder "Vampir"? Vielleicht war das ja auch ein und das selbe? Mein Kopf fühlte sich an, als ob ein wild gewordener Schwarm hungriger Bienen auf der Suche nach Honig darin herumschwirrten. Meine Nerven spielten mir einen Streich und die Phantasie ging offenbar völlig mit mir durch. Der in die Jahre gekommene Schlossherr schlurfte unbeirrt auf mich zu, ohne dabei den Blick von mir abzuwenden. In der Hand hielt er eine Schriftrolle und diverse Schlüssel.

Er ließ sich wieder auf dem Diwan nieder und fuchtelte mit dem Schriftstück vor meiner Nase herum. Klar und deutlich vernahm ich seine Worte: "Ich überreiche Ihnen nun dieses Dokument, das Sie zur Eigentümerin des Schlosses macht. So lautet die Prophezeiung!" Er drückte mir zudem den schweren Schlüsselbund in die Hand und meinte: "Die Schlüssel werden Ihnen alle Türen des Anwesens öffnen". Nee, das glaub ich jetzt echt nicht. Der alte Mann vermachte mir tatsächlich seine Immobilie. Das ist doch Wahnsinn! Zuerst schenkt er mir eine harmlos wirkende Silberkette mit Schlüsselanhänger, über deren genaue Bedeutung er sich beharrlich in Schweigen hüllt. Als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, folgt auch noch das komplette Schloss. Ich glaub, ich spinne! In dem Moment hatte ich vermutlich den allerdämlichsten Gesichtsausdruck, den man sich nur vorstellen kann. Wobei ein solcher, nach den sich überstürzenden Ereignissen dieses Tages, die mich quasi wie eine Lawine überrollten, nicht wirklich verwunderlich sein sollte.

Mir fiel in dem Moment nichts Besseres ein, als ihm vorzuschlagen: "Warum suchen Sie sich nicht eine andere "Auserwählte"? Ich will das alles nicht!" "Seiner Bestimmung kann man nicht entkommen, meine Liebe!" kam von seiner Seite die direkte wie klare Antwort.

Das Ganze konnte doch wohl nur ein übler Scherz sein! Ich wartete darauf, dass der Schlossherr im nächsten Moment aufspringen und laut verkünden würde: "Willkommen bei der versteckten Kamera!"

Doch als ich mich wie in Trance erneut aus dem Sessel erhob, sprang er weder auf noch hielt er mich zurück. Stattdessen vernahm ich seine Worte: "Ich wünsche Ihnen viel Glück und eine beträchtliche Portion Kühnheit für die Erfüllung Ihrer bevorstehenden Aufgabe." Also keine versteckte Kamera und da ich nicht aufwachte, war es demnach auch kein Traum, sondern Realität. Mein Gehirn befand sich mittlerweile offenbar im "stand by-Modus", denn ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wie hypnotisiert schlich ich wortlos zur Tür. Es hatte mir im wahrsten Sinn des Wortes die Sprache verschlagen. Als ich mich nochmals zu ihm umdrehte, war der alte Mann bereits eingeschlafen. Er lächelte im Schlaf und wirkte sehr entspannt. Was man von mir nicht behaupten konnte. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? In dem Moment bereute ich es beinah, das Anwesen überhaupt betreten zu haben. Wie sollte ich meinem Mann bitte erklären, dass ich von jetzt auf nachher zur Schlossherrin aufgestiegen war? Der denkt doch, ich wäre dem Wahnsinn verfallen. Demnach hielt ich es für klüger, ihm meine ungewollte Errungenschaft zu verschweigen. Irgendwann musste ich ja mal anfangen, erst zu denken und dann zu reden. Was sprach also dagegen, mit dieser erlangten Weisheit sofort zu beginnen? Sinnvollerweise sollte ich mich erst mal selbst sammeln, um das aufgewirbelte Chaos in meinem Kopf wieder zu beseitigen. Vor allem aber freute ich mich auf mein Bett, da mich ganz plötzlich eine bleierne Müdigkeit überfiel. Sobald ich am nächsten Morgen erwachte, würde ich hoffentlich feststellen, doch alles nur geträumt zu haben.

KAPITEL III

DIE PROPHEZEIUNG

Als ich meine Augen aufschlug, lachte mir die Sonne bereits ins Gesicht. Voller Energie und guter Laune sprang ich aus dem Bett. Während ich mir Jeans und T-Shirt angelte, kamen die Ereignisse wieder hoch. Ich erinnerte mich sogleich an die abgefahrene Story von dem Schlossherrn und meinem Besuch in dessen Anwesen. In der Überzeugung, diesen Irrsinn geträumt zu haben, schüttelte ich lachend den Kopf. Während mein Blick auf der Suche nach einem abgängigen Socken durchs Schlafzimmer streifte und am Nachttisch hängen blieb, ließ sich ein Aufschrei nicht vermeiden. Darauf lagen nämlich neben der Besitzurkunde des antiken Anwesens auch die Schlüssel sowie die Schmuckschatulle. Eine plötzlich eintretende Schockstarre vereitelte jede weitere Bewegung. Stattdessen wurde mir abwechselnd heiß und kalt, was ich ausnahmsweise nicht den nervigen Hitzewallungen zuschrieb, die mich seit einiger Zeit peinigten. Mein Gehirn versuchte zu begreifen, dass der gestrige Tag sehr wohl in meinem Leben vorkam und die Erlebnisse den Stempel der Realität trugen. Das bedeutete, ich war zu einem Schloss gekommen wie die Jungfrau zum Kind, durfte mich als sogenannte "Auserwählte" fühlen und nannte eine Silberkette mit Schlüssel mein Eigen, deren wahre Bestimmung ich nicht kannte.

Mein erster freier Gedanke gab mir Erleichterung darüber, dass sich mein Mann auswärts auf Montage befand. Er würde erst in ein paar Tagen wieder heimkehren und bis dahin musste ich mir, verdammt noch mal, im Klaren darüber sein, was ich tun sollte. Da es mir unmöglich schien, ihm meinen neuen Besitz plausibel zu erklären, versteckte ich erst einmal die Urkunde. Die Wahrheit konnte ich ihm keinesfalls auftischen, die glaubte ich ja selbst kaum. Um in der Kürze der Zeit eine halbwegs nachvollziehbare Geschichte zu erfinden, fehlte mir zum einen die Ruhe und zum anderen die nötige Phantasie. Ein geheimes Plätzchen für das Dokument war in dem Fall die schnellere und vor allem bequemere Lösung.

In der Kette hingegen sah ich keine Gefahr, die mich in eventuelle Erklärungsnot bringen könnte, also legte ich sie gleich an. Wahrscheinlich würde meinem Mann ein neues Schmuckstück an meinem Hals gar nicht auffallen. Dem männlichen Homo sapiens fehlt ja bekanntlich meist der Blick fürs Detail. Sollte er wider Erwarten doch auf eine Erklärung pochen, dann hab ich den Anhänger halt in einem Trödelladen erstanden.

Zufrieden brühte ich mir erst mal einen starken Kaffee auf und ließ den vergangenen Tag nochmals Revue passieren.

Das Unangenehmste an der ganzen Misere war noch immer, keiner Menschenseele über meine absurden Erlebnisse berichten zu können. Bei den meisten Dorfbewohnern galt ich ohnehin als durchgeknallter, deutscher Paradiesvogel. Diese Geschichte würde für die einheimische Bevölkerung sozusagen den Gipfel der Skurrilität bedeuten.

Demnach blieb mir keine andere Wahl, als das im Schlossturm auf mich wartende Abenteuer tatsächlich alleine anzugehen. Bevor ich über meine weitere Vorgehensweise nachdachte, googelte ich nach Informationen über die altertümliche Immobilie. Dabei stieß ich auf interessantes Material, das vor allem den besagten Turm betraf. Der wurde nämlich in längst vergangenen Tagen als Verlies genutzt. Dieses Wissen war schon hilfreich, denn dadurch bekam ich immerhin einen vagen Anhaltspunkt von dem, was mich erwarten würde. Ich vermutete nämlich, dass die Geisterlady vor ziemlich langer Zeit im Kerker ihr Leben fristete oder gar hingerichtet worden war.

Welches Drama sich tatsächlich hinter den alten Mauern abspielte und was eine arbeitslose Rechtsanwaltsgehilfin für die arme Seele tun konnte, würde ich vermutlich nur von ihr selbst in Erfahrung bringen können. Meine Neugier war zwar groß, doch mein Muffensausen noch um einiges größer. Nicht unbedingt vor der geisterhaften Erscheinung selbst, sondern vielmehr vor der Schlossbegehung in der Nacht. Obwohl die Dunkelheit alleine noch keinen Anlass zu furchterregenden Gedanken geben sollte, jagte mir die pure Vorstellung einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Warum wird die Finsternis eigentlich automatisch mit unheimlichen Begegnungen in Verbindung gebracht?

Während ich angewidert meinen inzwischen erkalteten Kaffee schlürfte, dachte ich über mein weiteres Handeln nach.

Vor nächsten Montag war eine Nachtwanderung zum Schloss unmöglich durchführbar. Das Wochenende stand nämlich vor der Tür und mit ihm mein Mann, der von der Montage zurückkam sowie mein Sohn, der freitags aus dem Schulinternat zuhause eintraf. Sobald ich meine "Männer" in die nächste Arbeits- bzw. Schulwoche verabschiedet habe, würde ich erst mal dem Schlossherrn einen weiteren Besuch abzustatten. Je länger ich über die Geschichte nachdachte, desto mulmiger wurde mir zumute. Vielleicht konnte ich ihn dazu überreden, mich bei der Nachtaktion zu begleiten. Im Grunde war die Frau aus dem Jenseits so was wie eine alte Bekannte von ihm. Die bessere wie klügere Idee wäre natürlich, dem alten Mann sein Geschenk-Set zurückzugeben und das Ganze einfach zu vergessen.

Das Wochenende, an dem mein schauspielerisches Talent zum Vorschein kam, um gegenüber meiner Familie Unbeschwertheit zu heucheln, zog sich wie Kaugummi. Dann endlich stand ich Montag Nachmittag erneut vor der Wohnungstür des alten Mannes und drückte auf den Klingelknopf. Aufgeregt tippelte ich von einem Fuß auf den anderen, denn ich konnte es kaum erwarten, ihm zu sagen, dass ich lieber doch nicht die "Auserwählte" sein möchte. Zu meiner Verwunderung blieb jedoch alles still. Auch auf mein nochmaliges Klingeln rührte sich nichts. Keine sich nähernden Schritte oder sonstige Geräusche. Der gnädige Herr war anscheinend nicht zuhause. Tja, das kann passieren, wenn man seinen Besuch schlauerweise nicht ankündigt. Da es keinen Sinn machte, länger zu warten, kehrte ich der Wohnungstür den Rücken, um das Haus unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Im selben Moment hörte ich eine Frauenstimme aus dem Parterre ins Treppenhaus rufen: "Hallo? Wer ist da? Was wollen Sie denn von dem alten Herrn?" Ich lief die Stufen hinunter und blieb direkt vor der Nase dieser neugierigen Person stehen, zu der diese schrille Stimme gehörte. Durch einen schmalen Spalt ihrer Wohnungstür lugte ein weißhaariges, altes Weib hervor, das mich mit zusammengekniffenen Augen argwöhnisch musterte. Obwohl mir solch wissbegierige Tratschtanten von je her ein Greuel waren, lächelte ich sie dennoch freundlich an. Um ihr Interesse zu befriedigen, antwortete ich: "Guten Tag, gnädige Frau! Der Herr, der über Ihnen wohnt, war vor ein paar Tagen so freundlich, mir sein Schloss zu zeigen. Ich wollte ihm spontan einen Besuch abstatten, um mich nochmals für die Besichtigung zu bedanken. Leider macht er nicht auf und ich nehme an, er befindet sich außer Haus." Offenbar hatten der weißhaarigen Alten meine Worte nicht gefallen, denn sie entfernte sich vom Türspalt ins Innere der Wohnung und ließ mich wortlos stehen. Was sollte das nun wieder? Erneut befand ich mich in einer rätselhaften Situation, die eine Horde Fragezeichen vor meinem geistigen Auge tanzen ließ. Mein Gefühl suggerierte mir allerdings, nicht gleich davonzuspringen, sondern abzuwarten. Wie sich herausstellte, war diese Entscheidung goldrichtig. Die Frau kam tatsächlich wieder zur Tür und reichte mir einen Umschlag mit den Worten: "Es tut mir leid, da kommen Sie zu spät. Der alte Mann ist vor zwei Tagen verstorben". Danach schloss sie die Tür und ich stand mit dem Brief in der Hand da, wie ein begossener Pudel. Na, das lief doch echt spitzenmäßig für mich! Der ehemalige Schlossbesitzer hatte im Gegensatz zu mir scheinbar all seine Aufgaben erfüllt, sodass ihm nichts Besseres einfiel, als sich still und heimlich von dieser Welt zu verabschieden. Wer beantwortete mir nun all meine Fragen, die noch immer wie ein Bienenschwarm auf der Suche nach Honig durch meinen Kopf schwirrten? Ja, ja, ich weiß die Antwort eh selbst!

Enttäuscht darüber, vom einzigen Verbündeten in diesem Wahnsinn im Stich gelassen worden zu sein, ging ich mit gesenktem Kopf zu meinem Wagen und ließ mich frustriert hinter dem Lenkrad nieder. Während ich mit dem Autoschlüssel den Umschlag aufriss, blickte ich mutlos geradeaus direkt auf das Schloss. Mein Schloss! An diese Tatsache werde ich mich – wenn überhaupt – so schnell nicht gewöhnen.

Ich überflog die Zeilen, die der alte Mann scheinbar noch am gleichen Abend unseres ersten und einzigen Treffens niedergeschrieben hatte. Als sehr aufschlussreich konnte man den Inhalt wahrlich nicht bezeichnen. Den einzigen Lichtblick entnahm ich der Äußerung, mich nicht fürchten zu müssen, wenn ich das Anwesen in der Dunkelheit betrete. Die Geisterfrau erwarte mich und er garantiere dafür, dass mir nichts zustoßen würde.