Zimmer 55 - Helena Kubicek Boye - E-Book + Hörbuch

Zimmer 55 Hörbuch

Helena Kubicek Boye

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Beschreibung

Eine Klinik für Schwerverbrecher, eine junge Psychologin und ein dunkles Geheimnis: Der abgründige Psychothriller »Zimmer 55« von Helena Kubicek-Boye jetzt als eBook bei dotbooks. Tief im dunklen Wald von Dalarna liegt Schwedens berühmteste Klinik für Forensische Psychiatrie. Hier werden Schwerverbrecher untergebracht, die zu krank sind, um ihre Strafe im Gefängnis zu verbüßen. Als die junge Psychologin Anna Varga in der renommierten Anstalt eine Stelle bekommt, freut sie sich über die Herausforderung: Endlich kann sie ihre Karriere voranbringen und Stockholm hinter sich lassen. Doch aus dem Traumjob wird bald ein Albtraum: Anna scheint verfolgt zu werden und erhält anonyme Briefe mit seltsamen Botschaften, die auf ein dunkles Geheimnis in Zimmer 55 hinweisen. Kurz darauf wird ein Patient tot aufgefunden. Was geht in der altehrwürdigen Anstalt vor sich? Wem kann Anna noch trauen? Und ist ihr Leben ebenfalls in Gefahr?  Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende skandinavische Thriller »Zimmer 55« von Helena Kubicek-Boye wird alle Fans von Anna Jansson und Sarah Pearse begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:8 Std. 11 min

Sprecher:Katja Pilaski
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Über dieses Buch:

Tief im dunklen Wald von Dalarna liegt Schwedens berühmteste Klinik für Forensische Psychiatrie. Hier werden Schwerverbrecher untergebracht, die zu krank sind, um ihre Strafe im Gefängnis zu verbüßen. Als die junge Psychologin Anna Varga in der renommierten Anstalt eine Stelle bekommt, freut sie sich über die Herausforderung: Endlich kann sie ihre Karriere voranbringen und Stockholm hinter sich lassen. Doch aus dem Traumjob wird bald ein Albtraum: Anna scheint verfolgt zu werden und erhält anonyme Briefe mit seltsamen Botschaften, die auf ein dunkles Geheimnis in Zimmer 55 hinweisen. Kurz darauf wird ein Patient tot aufgefunden. Was geht in der altehrwürdigen Anstalt vor sich? Wem kann Anna noch trauen? Und ist ihr Leben ebenfalls in Gefahr? 

»Zimmer 55« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Helena Kubicek Boye ist eine Psychologin und Autorin. Ihre Arbeitserfahrung in einer Psychiatrie nutzte sie als Inspiration für die Anna-Varga-Serie, die in ihrer Heimat als »Schwedens Twin Peaks« gefeiert wird.

Die Autorin im Internet:

www.helenakubicek.se/

www.facebook.com/helena.kubicekboye

www.instagram.com/helena_kubicek_boye

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eBook-Ausgabe Januar 2024

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem Originaltitel »Innan snön faller«.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2018 Bokfabriken

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2023 by Helena Kubicek Boye und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive

von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-896-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Helena Kubicek Boye

Zimmer 55

Thriller

Aus dem Schwedischen von Christine Heinzius

dotbooks.

Kapitel 1

Die zwei Männer waren einen Augenblick lang ineinander verflochten wie eine Statue im Park einer mitteleuropäischen Hauptstadt, die eine Kampfszene verewigte. Der eine Mann erhob sich über den anderen in einer Wut, die unmöglich aufzuhalten war. Unter ihm kämpfte der andere Mann um sein Leben.

Doch die Situation war weit von einem hübschen Marmorkunstwerk entfernt. Anstatt in einem Park befanden sie sich in einer stickigen Wohnung in Dalarna, und die Männer trugen unattraktive Alltagskleidung. Sie waren knallrot im Gesicht, und an den Schläfen des Mannes, dessen Körper von den fünfundneunzig Kilo Muskeln des anderen Mannes auf das zerkratzte Parkett gedrückt wurde, standen die Adern wie geschwollene Regenwürmer hervor. Spucke schäumte in den Mundwinkeln, mit Tritten und Faustschlägen versuchte er sich zu befreien.

»Du bekommst alles, was du willst …« Die Worte, ausgestoßen wie kurzes Stöhnen, waren wirkungslos, was man in den aufgerissenen Augen sah, die im schwach beleuchteten Wohnzimmer wie zwei Vollmonde schienen. Es war nicht bloß die Kraft explosiver Muskeln, die ihn übermannte, sondern die Gewalt, die ihm angetan wurde. Sie speiste sich aus jahrelang aufgestauter Wut, die sich jetzt Bahn brach.

Der Mann, der rittlings auf ihm saß, war entschlossen. Seine Lippen trennten sich in einem breiten Grinsen, er lachte über die Angst des anderen, um ihn noch mehr zu erniedrigen. Wie hatte dieser erbärmliche Mann Macht über sein Leben haben können?

Er blickte in die schreckgeweiteten Augen, die aussahen, als würden sie gleich aus den Höhlen springen. In diesem Augenblick befanden sich die Männer nicht irgendwo am Stadtrand von Avesta, sondern in einer anderen Dimension, einer Ebene zwischen Leben und Tod, wo die Wirklichkeit schwebte und die Sinneswahrnehmungen keine Gültigkeit mehr hatten. Die Gewalt hatte nichts mit der Gegenwart zu tun. Sie war Rache, Erleichterung und damit das Gefühl, das er, solange er sich erinnern konnte, fühlen wollte.

Er lehnte sich vor und presste den Ellbogen fest auf den Kehlkopf des Mannes, so dass dessen Gesicht blau anlief. Der Mann versuchte, etwas zu sagen. Aber es kamen nur noch ein paar keuchende Töne.

Nein, er würde ihn nicht erwürgen. Sein Blut sollte fließen, es sollte brutal und grausam sein. Das wäre die endgültige Lösung.

Sollte er es sein lassen? Sollte er den Mann überleben lassen, ihn mit der Angst leben lassen, dass er eines Tages ermordet würde? Wäre das die bessere Lösung? Nein, er hatte sich entschieden.

Mit der anderen Hand zog er nun das Messer von seinem Gürtel, hob den Arm, ließ gleichzeitig den Kehlkopf los, beugte sich vor und flüsterte dem Mann ins Ohr: »Das bekommst du für die Kette … du Dreckskerl … Kette … Kette …« Dann stach er zu.

Es knirschte, als das Messer auf die Knochen im Brustkorb traf. Schlüsselbein, Brustbein, Brustkorb, verdammt, so viele Knochen. Die Augen rollten nach hinten, so dass nur noch das Weiße zu sehen war. Ein zischender Atem, der keuchende Versuch, ein letztes Mal Luft zu holen. Er stach wieder zu. Und noch einmal. Der Körper unter ihm zuckte ein letztes Mal und sackte dann zusammen. Das Blut strömte stoßweise aus dem Schnitt im Oberkörper des Mannes, floss herab und auf den Boden.

Villy lehnte sich zurück und schaute an die Decke, wo sich der Ventilator drehte und Schatten an die Wand warf. Er atmete erleichtert auf. Ruhe breitete sich aus. Die Stille, nach der er sich so lange gesehnt hatte.

Es war nicht schwer, einen Menschen zu töten. Also, die eigentliche Tat.

Doch sich dazu zu entschließen und es durchzuführen hatte Jahre gedauert.

Er legte das Messer in die Blutlache, stand auf, nahm sein Handy aus der Tasche und rief die Polizei an. Jetzt war er ein Mörder.

Kapitel 2

»Was du heute fühlst, fühlst du vielleicht morgen nicht mehr. Alles verändert sich«, las er als Worte des Tages in der Södra Dalarnes Tidning.

Nein, das stimmt nicht, überhaupt nicht. Manche Dinge verändern sich nie, dachte er und schlug die Zeitung verärgert zu. Heute schreiben sie sowieso meistens Unsinn. Irgend so ein neu erfundener Positivismus, um zu verbergen, wie düster und elend das Leben eigentlich ist.

Die Kaffeetasse klapperte, als er sie auf den Unterteller stellte. Der Kaffee war schwarz wie Teer, und er sah die Küchenlampe darin gespiegelt.

Manche Dinge fühlt man immer. Sie hören nie auf, wehzutun. Die Gedanken lassen den Schmerz nie gehen. Der Schmerz sucht die Gedanken. Der Körper erinnert sich, und das Herz erinnert sich. Erinnert sich an das, was einmal war und verloren ging.

Mit dem, was geschehen war, leben lernen. Das hatte man ihm gesagt. Vielleicht hatte er gelernt zu überleben. Aber sollte es so sein? Sollte er die restliche Zeit, die ihm noch blieb, in Kältestarre verharren? Er wollte wieder anfangen zu leben. Bevor es zu spät war.

Daher musste die Wahrheit ein für alle Mal heraus.

Kapitel 3

Anna

Es war Lina Vikingson, Annas alte Freundin aus Reiseleiterzeiten, die sie dazu gebracht hatte, sich als Psychologin in der rechtspsychiatrischen Klinik in Säter zu bewerben. Lina, die zur Verwunderung aller nach der gelinde gesagt dekadenten Zeit bei den Charterreisen Medizin studiert hatte, machte nun ihre Facharztausbildung in Säter.

Sie hatte Anna ganz begeistert erzählt, dass Säter alle ihre bisherigen Arbeitsstellen überträfe. Zu dem Zeitpunkt hatte Anna sich bereits mehrfach beworben und verzweifelte langsam. Trotzdem hatte sie gezögert, als sie die Anzeige gelesen hatte. Aus Stockholm nach Dalarna ziehen – machten einen die Wälder nicht wahnsinnig? In Säter befanden sich einige der kränksten Menschen Schwedens. Kriminelle, die ihre Strafe nicht im Gefängnis absitzen durften und die so entsetzliche und unfassbare Straftaten begangen hatten, dass die sich nicht mal für eine Netflix-Serie eigneten. In der Anzeige suchte man außerdem den Psychologen der Zukunft. War sie die Richtige für diesen Titel?

Gleichzeitig erkannte Anna die Chance, die diese Stelle für ihre Karriere bedeuten könnte. In Säter gab es Patienten, die sie treffen musste, um noch mehr über die menschliche Psyche zu lernen und den dunkelsten Grund im Menschen zu verstehen. Danach würde sie praktisch überall arbeiten können. Außerdem stieg man in kleineren Gemeinden schneller die Karriereleiter hinauf, und Anna würde die Möglichkeit gern wahrnehmen. Im Vergleich zu den Patienten in Säter würden sich alle zukünftigen Stellen leicht und locker anfühlen. Aber brachte sie das mit, was nötig war, um in einem solchen Umfeld zu arbeiten? Das wusste sie noch nicht, und auch da zweifelte sie, selbst wenn bei ihr fast immer der Willen über die Gefühle gewann. Ihr war der Gedanke gekommen, dass es einfacher wäre, ihren ersten Psychologiejob an der Westküste anzunehmen, deprimierte Fischer therapieren, Krabben futtern und am Wochenende segeln gehen. Oder wie es einige ihrer Kommilitonen getan haben, nach Norwegen ziehen und dort das Doppelte verdienen. Für den Moment wäre es gut, aber es würde sie nicht dorthin bringen, wo sie hinwollte. Jetzt würde sie in einem kleinen Ort wohnen, umgeben von dichten Wäldern, und sich im Epizentrum der menschlichen Psyche und der besten Experten des Landes befinden. Die Alternative, in Stockholm zu bleiben, war sowieso immer weniger gegeben – sie war auf ihre Bewerbungen hin nicht mal zum Vorstellungsgespräch geladen worden. Außerdem war Lina in Dalarna, eine ihrer besten Freundinnen.

Der Personalchef aus Säter hatte noch am selben Tag angerufen, an dem ihre Bewerbung eingetroffen war. Vielleicht hatte sich sonst niemand getraut, sich zu bewerben? Der Ort war schließlich bekannt oder eher berüchtigt. Sie hatten ein längeres Telefongespräch mit ihr geführt, Referenzen eingeholt und ihr dann die Stelle am Telefon angeboten, und sie hatte sofort zugesagt. Außerdem war das Gehalt höher als das, was die meisten ihrer Kommilitonen in den größeren Städten bekamen.

Die Gleise unter dem Zug donnerten wie der Herzschlag, und der dösende, ältere Mann neben ihr nickte im Takt des Zuges. Sie blickte zur Gepäckablage hoch, um nachzusehen, ob ihr Koffer noch dalag. Es wäre ein Ding, wenn der auf den Mann fiele und ihm im Schlaf den Nacken bräche. Aber er war so gut gepackt und vollgestopft, dass er festgekeilt war und sich durch die Bewegungen des Zugs nur wenige Millimeter rührte. Darin befand sich alles, was sie in Säter bräuchte. Es fühlte sich irgendwie komisch an, dass man das ganze Leben in einen Koffer packen konnte.

Als Anna die Stelle angenommen hatte, hatte Lina vor Freude aufgeschrien, aber ihr auch mit leiser Stimme erzählt, dass Säter anders war als irgendwo sonst. Auch wenn es in der Klinik und in den umgebenden Wäldern mucksmäuschenstill war, war die Lautstärke höher, die Farben innerhalb und außerhalb der Mauern kräftiger und die Kontraste zwischen den Menschen intensiv. Und man wusste nie, wie der nächste Tag aussehen würde. Besser konnte sie es nicht beschreiben, den Rest würde Anna dann selbst erleben. Anna war schon früher Linas fast manische Faszination für Säter aufgefallen und erkannte ihre Freundin in dieser Begeisterung kaum wieder.

Nach dem Vorstellungsgespräch hatte Anna erfahren, dass die Psychologin Karin Vinterberg ihre Ausbilderin würde. Der Chefarzt und Klinikchef in Säter war einer der bekanntesten Psychiater Schwedens und wurde fast immer befragt, wenn es um eine zerstückelte Frauenleiche in einem U-Boot oder einen toten Säugling in einer Gefriertruhe ging.

Anna wusste, dass sie Dinge lernen würde, die sie in einem Ärztezentrum oder einer Unternehmensberatung, wo einige ihrer Kommilitonen jetzt in bequemen Sesseln saßen, nicht lernen würde. Säter würde alles andere als bequem, dessen war sie sich sicher. Daher war ihr etwas flau im Magen. Was bedeutete es, psychisch so krank zu sein, dass man einen Menschen zerstückelte oder sich an einem kleinen Jungen vergriff? Und wie viel bewegten sich die Patienten unter normalen Menschen? Konnte der Mann neben ihr ein Insasse von Säter auf Hafturlaub sein? Sie schielte zu ihm und bemerkte, dass ihm etwas Speichel aus dem Mundwinkel lief. Sie schüttelte sich und trank einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher, den sie sich im Speisewagen geholt hatte.

Auf dem Tisch vor ihr blinkte ihr Handy. Wie geht’s? Wenn ihre Stelle in Säter sie nervös machte, dann würde sie bei ihrer Mutter für eine Depression sorgen. Das war heute sicher schon die zehnte SMS von ihr. Anna seufzte tief. Ihre Mutter hatte sie mit ihrer Angst und Sorge immer auf Trab gehalten. Annas Funktion war mehr oder weniger ihr ganzes Leben lang gewesen, die Ängste ihrer Mutter zu dämpfen und in ihr Freude und Zufriedenheit zu schaffen, da die unfähig war, dies selbst zu tun. Es war, als hätte ihre Mutter ein leeres, schwarzes Loch im Brustkorb, das andere füllen mussten. Das hatte immer sehr viel Energie und Kraft gekostet, und Anna war dadurch zeitweise selbst seelisch erschöpft. Sie hoffte, dass ihre Mutter sie durch die räumliche Trennung stärker loslassen und lernen würde, sich selbst um ihre Gefühle zu kümmern. Doch auf gewisse Weise musste sie ihrer Mutter wohl auch danken, denn das Aufwachsen als Beschützerin und Therapeutin ihrer Mutter hatte ihr schon als Kind eine fast übernatürliche Fähigkeit verliehen, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu spüren. Das war etwas, das sie nie hätte lernen können und was ihr in ihrer neuen Berufsrolle zum Vorteil gereichen würde.

Bis zuletzt hatte ihre Mutter versucht, ihr diese Stelle auszureden, und als Anna die SMS sah, hörte sie erneut die besorgte Stimme ihrer Mutter und bemühte sich, sie schnell zu verdrängen. Die Stimme ihrer Mutter hatte eine Wirkung auf sie, selbst wenn sie es nicht wollte, schließlich war sie trotz allem ihre Mama. Es war nicht ihre eigene Stimme, sondern die ihrer Mutter. Sie durfte sich nicht von ihr steuern lassen, leider hatte sie das früher schon öfter.

Mir geht es super. Schöne Natur und im Zug ist es ruhig und bequem, tippte sie und drückte auf Senden. Es war anstrengend, nicht ganz ehrlich sein zu können, sondern die Wahrheit zu beschönigen. Aber es war nötig. Sie konnte nicht mehr ihre Eltern über sich bestimmen lassen. Auch wenn sie kaum direkten Kontakt zu ihrem Vater hatte, so wusste sie, dass sein demonstratives Schweigen während der letzten Jahre bedeutete, dass er ihre Lebensentscheidung stark missbilligte und hinterfragte.

Das einzige Mal, dass er sie in den letzten zwei Jahren kontaktiert hatte, war, als der Hund starb. Damals hatte er ein Bild des beim Tierarzt eingeschläferten Hundes geschickt.

Durch die neue Arbeit entfernte sie sich nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von Stockholm. Sie war inzwischen immer häufiger traurig, leer und oft einsam. Sie empfand Sinnlosigkeit, wenn sie durch eine Straße ging, deren Namen sie nicht kannte, oder in ein Café sah, in dem sich alle über ihre Handys beugten. Die meisten Freunde waren aus der Stadt hinaus in kleine Reihenhäuser gezogen oder zurück in ihre Heimatorte, um sich niederzulassen. Ein paar waren schwanger, und andere hatten bereits Kinder. Anna hatte das Gefühl, dass sie nicht nach Hause zurückziehen konnte, weil sie dann ihren Eltern zu nah wäre. Sie hatte sich bemüht, durchzuhalten. Damals hatte sie ja noch Mathias gehabt, und sie hatten versucht, in seiner Wohnung zusammenzuwohnen. Doch seit sie sich getrennt hatten, hatte sie nicht mal mehr ihn.

Der Tapetenwechsel würde hoffentlich auch dabei helfen, sich nach der Beziehung weiterzuentwickeln, selbst wenn ihre Mutter bestürzt war und ausgerufen hatte:

»Mathiaaaasss … Du hättest ihn nicht einfach so verlassen sollen. Das macht eine Frau nicht. Du solltest jetzt mit ihm zusammen sein … Kinder bekommen … Du bist bald dreißig.« Dass ihre Eltern eine klare Meinung hatten, wie sie leben sollte, hatte dazu geführt, dass sie oft darum kämpfen musste, die Grenzen zu überschreiten, um aus diesen Vorstellungen herauszukommen. Am liebsten wäre ihnen, dass sie nach Hause nach Simrishamn zog und eine Familie gründete. Sie durften ihre Ansichten haben, sie wollte ihr Leben haben.

Der Kaffee war noch warm, sie trank einen Schluck und schaute hinaus, wo sie sah, dass die Fichten und Kiefern immer höher wurden, der Himmelsstreifen immer schmäler und die kleinen Orte vorbeisausten, während sie sich ihrem neuen Wohnort näherte. Der Himmel wirkte dunkler und der Wald dichter. Hier und da blitzten rote, im Schatten halb verborgene Holzhäuser auf. Der Zug legte sich schief, so dass sie Kaffee auf ihr Knie verschüttete. Sie fluchte und stellte die Tasse wieder auf den Tisch. Der Mann neben ihr grummelte und streckte sich.

»Nächster Halt Avesta«, hörte man die Stimme des Zugführers durch die Lautsprecher. Säter näherte sich. Das Rauschen Stockholms verstummte in ihr, und ein kribbelndes Gefühl erfüllte sie, das sie schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.

Sie wäre die erste Psychologin für Kognitive Verhaltenstherapie, und unter einem der landesweit am meisten bewunderten und gefürchteten Psychiater und Klinikchefs zu arbeiten könnte zu einer steil steigenden Karriere führen. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln und schwankte im Takt der Zugbewegungen. Was sie nicht wusste, war, dass die Entscheidung, die Stelle in Säter anzunehmen, ihr Leben für immer verändern würde.

Kapitel 4

Anna

Der Zug hatte fünfzehn Minuten Verspätung, und das Taxi, das sie vorbestellt hatte, wartete hinter dem Bahnhof auf sie. Der Taxifahrer, dem ein dicker Bauch über den Hosenbund hing, stieg aus dem Auto, als sie näher kam. Er öffnete den Kofferraum, damit sie ihr Gepäck hineintun konnte.

»Sie sind also die neue Psychologin?«, fragte er mit einem Lächeln durch den dichten Bart. Anna verbarg ihr Erstaunen, dass er wusste, wer sie war, und nickte, während sie sich auf die Rückbank setzte.

Als sie losfuhren, vibrierte Annas Handy. Sie blickte aufs Display und drückte den Anruf ihrer Mutter weg, dann schaute sie hinaus. Der Weg zum psychiatrischen Zentrum führte über die Hauptstraße durch den alten Stadtkern, dann über eine Brücke über den Säterå, am Sägewerk vorbei, wo es typisch süßlich duftete, und schließlich auf dem Gamla Sjukhusvägen am See entlang.

»Im Winter kann man auf dem See übers Eis gehen«, sagte der Taxifahrer und sah sie im Rückspiegel an. Jetzt, da die Sonne durch den Wald strahlte und der See dunkel und glatt dalag, fiel es schwer, sich vorzustellen, dass Säter in wenigen Wochen zu einem eiskalten, schneeweißen Ort würde. Die hohen Holzstapel am Sägewerk verdeckten teilweise den Blick zum See Ljustern, an dem Säter lag. Im See sollten sich angeblich so viele Medikamentenreste befinden, dass man, sollte man beim Schwimmen etwas verschlucken, von Depressionen und Schlafproblemen geheilt wäre.

»Wissen Sie, was sich im See verbirgt?« Der Fahrer sah sie wieder im Rückspiegel an. »Der See speist sich aus fünf Zuläufen, das Wasser ist also frisch, aber es gibt Gerüchte darüber, was sich eigentlich in dem See verbirgt … und wozu man ihn nutzt.« Er machte eine kleine Pause. »Sie können sich das ja sicher denken, Sie sehen wie ein kluges Mädchen aus.«

Anna lief es bei seinen Worten eiskalt den Rücken hinunter, doch als sie sich den gigantischen Gebäuden mit vergitterten Fenstern näherten, vergaß sie, was er da hinterm Lenkrad gesagt hatte. Jetzt empfand sie keine Nervosität, sondern Sorge. All das Böse, das sich hinter den Fenstern dieser hübschen Gebäude verbarg, was sollte sie damit anfangen? Sollte sie umkehren, den Fahrer bitten, sie zum Bahnhof zurückzufahren?

Vor und hinter ihnen fuhren Autos, die in die Parkplätze der verschiedenen psychiatrischen Abteilungen und Kliniken einbogen. So viele arbeiteten hier, fast wie in einer ganz eigenen Welt.

Als der gesprächige Taxifahrer anhielt, schoss eine Frau in marineblauer Regenhose auf einem Fahrrad an ihnen vorbei, so dass Anna die Tür schnell zumachen musste. Sie vermutete, dass es eine Physiotherapeutin war. Die waren immer so drahtig und schnell.

Das kribbelige Gefühl ließ für ein paar Sekunden nach, als sie aus dem Wagen gestiegen war und über den Hang zum See und über die dunklen, knisternden Wälder sah. Das blauschwarze Wasser des Ljustern bot einen Kontrast zum klarblauen Himmel und den hellen Wolken. Plötzlich überkam sie ein rauschendes Glücksgefühl. Diese Umgebung hatte etwas Machtvolles und Magisches. Doch als sie ein paar scharfe Sonnenstrahlen trafen, musste sie den Blick schnell abwenden.

Sie drehte sich um und ging auf den Eingang des riesigen Gebäudes zu.

Kapitel 5

Lina

Sie saßen alle da und warteten auf den Chefarzt und Klinikchef Sven Bjurberg. Lina vermutete, dass er gerade vor dem Gebäude rauchte. Er kam immer als Letzter, und im selben Moment, in dem sie das dachte, öffnete sich die Tür, und er trat ein.

Das Personal war daran gewöhnt, zuzusehen, wie ihr Chef sich Kaffee eingoss, Zucker hineintat und dann nach der Milch fragte. Wenn er dachte, dass niemand ihn sah, warf er sich schnell eine Tablette des schnell abhängig machenden Beruhigungsmittels Stesolid in den Mund und schluckte sie, dabei warf er den Kopf kurz nach hinten.

Lina rutschte ruhelos hin und her. Die Krankenschwester, die heute die medizinisch Verantwortliche war, deutete schnell auf den geflochtenen Korb auf dem Konferenztisch, in dem die kleinen dreieckigen Tetra Paks mit Milch lagen, um den Ablauf dieses Mal etwas zu beschleunigen.

Ärzte, Psychiater unterschiedlicher Ränge sowie Krankenpfleger saßen in den niedrigen Sesseln rund um den Tisch, auf dem in der Mitte eine Plastikgeranie stand. Alle hatten Papierstapel auf dem Schoß und bunte Kugelschreiber unter ihren kobaltblauen Namensschildern in der Brusttasche stecken.

»Also, wie war die Nacht?«, fragte Bjurberg, wobei er einen Stuhl hinter sich und zwischen die Stühle von Psychiater Miro Cilic und Lina schob.

»Ja, dann schauen wir mal.« Die verantwortliche Krankenschwester blätterte in ihren Unterlagen und fand ein Papier, das sie ganz nach oben legte, dann nahm sie ihre Brille aus der Brusttasche.

Lina seufzte laut, damit die anderen ihre Frustration hörten. Was ist das hier denn für ein Irrenhaus, dachte sie und sah demonstrativ genervt auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde vergangen, dabei hatten sie noch nicht mal angefangen. Manchmal fragte sie sich, ob hier die Patienten oder das Personal verrückter war. Wie sollte sie Zeit für alle Patienten auf ihrer Liste haben, wenn die Besprechung so lange dauerte?

»Ja, hier ist es. Beginnen wir mit Station 11. Jenny wurde gestern sehr unruhig und aggressiv. Wir haben ihr zwei Benzos zum Schlafen und zur Beruhigung gegeben. Sie bat um ein Gespräch, aber es gab keinen Verantwortlichen, das Personal tat, was es konnte.«

Die Kollegen, die Jenny kannten, nickten, und Lina fiel auf, dass Miro Cilic sich etwas notierte.

»Hat sie gegessen, wie sie sollte?«

»Nein …« Eine Krankenschwester wand sich. »Nein, nicht viel, sie hat vor allem geraucht und … viel Kaffee getrunken.«

»Und da wundern Sie sich, dass sie unruhig war?«

Cilic schüttelte den Kopf und schrieb noch etwas auf.

»Achten Sie darauf, dass sie etwas isst, bevor Sie ihr erneut Medikamente geben. Wir dürfen nie vergessen, auf HALT zu prüfen – Hungry, Angry, Lonely, Tired.«

Lina gefiel es, dass Miro nicht so schnell den Rezeptblock zückte wie die anderen Psychiater. Das war übrigens nur eine von mehreren Sachen, die sie attraktiv an ihn fand. Leider war sie nicht die Einzige, die so für ihn empfand, und das ärgerte sie. Seine Pheromone war wohl was ganz Besonderes, nahm sie an. Die Krankenschwestern und -helferinnen wurden von ihm angezogen wie Bienen von Erdbeersaft an einem Sommertag.

»Und das Gespräch?«, warf Lina ein.

»Nein, was soll das bringen? Nächster.«

Lina merkte jetzt, dass Miro sie ansah, sein Blick auf ihrem Körper war wie eine Wärmelampe, die über die Beine und über die Hüfte bis hoch zur Brust glitt. Sie versuchte, nach unten auf ihre Papiere zu sehen, aber musste dann doch nachschauen, ob das, was sie spürte, wirklich stimmte. Sie hob den Blick und traf seinen.

Er sah ihr kurz, aber intensiv in die Augen und verzog den Mund so, dass nur sie es merkte. Durch diesen Millisekunden kurzen, bedeutungsschweren Augenkontakt brandete Begierde in ihr auf.

»Ja, das war alles bei den Frauen. Dann machen wir mit den Männern weiter. Ronny ist unruhig, seine Dosis Neuroleptikum ist erhöht worden, aber sollte er aggressive Tendenzen zeigen, müssen wir ihn fixieren. Vielleicht auch Risperdal geben, wenn er wieder psychotisch wird?« Die anderen nickten zustimmend.

»Sonst noch was?«, fragte Bjurberg.

»Ja, heute früh haben die Kollegen von Sala angerufen, wir bekommen eine Verlegung hierher. Es ist noch unklar, wann genau. Wir müssen die Station darauf vorbereiten, einen Patienten aufzunehmen. Das rechtspsychologische Gutachten ist unterwegs.«

»Wer ist der Patient? Können Sie eine kurze Zusammenfassung geben? Name, Alter und Urteil?«, erwiderte Bjurberg ohne von den Medikamentenlisten aufzusehen, die er gerade unterschrieb.

»Er kommt hierher, weil er aus Dalarna stammt und näher an seine Herkunftsregion soll. Er hat exemplarisch gute Führung gezeigt. Da erscheint ein Wechsel passend. Villy Svensson, fünfundfünfzig Jahre, zu Sicherheitsverwahrung verurteilt, nachdem er seinen jüngeren Bruder erstochen hat. Bis dahin keinerlei Vorstrafen. Irgendeine Art von psychotischem Zustand während der Tat.«

Bei dieser Information zog Bjurberg die Augenbrauen hoch.

»Laut den Unterlagen litt er in der Zeit vor der Tat an einer schweren psychischen Störung in Form von Wahnvorstellungen und wahrscheinlich auch an Tablettenmissbrauch. In Sala hat er sich gut benommen, und sie denken, dass wir den nächsten Schritt in der Behandlung angehen können und er laut dem Behandlungsplan reif für therapeutische Gespräche ist …«

Die Krankenschwester zog die letzten Wörter in die Länge und schaute verschämt und verlegen in ihre Unterlagen.

Die Worte therapeutisches Gespräch waren nach dem letzten Skandal, der die Klinik in Säter getroffen hatte, Munition für die Ärzteschaft. Alles schaute jetzt Bjurberg an. Der Schockwelle des Schweigens, die sich über die Gruppe der Ärzte legte, wenn sie über Psychotherapie sprachen, folgte oft ein zynischer Kommentar.

Lina rutschte hin und her und schämte sich etwas bei dem Gedanken daran, dass Anna auf die skeptische Einstellung der Ärzte zur Gesprächstherapie treffen würde. Dass sie nun nach dem Psychologen der Zukunft suchten, lag daran, dass die Therapiearbeit in Säter nach dem Skandal verändert werden sollte. Patienten hatten während der Psychotherapie Dinge gestanden, die glatt gelogen waren. Was sich als falsche Geständnisse herausgestellt hatte, hatte zu neuen Gerichtsurteilen geführt. Als entdeckt wurde, dass Patienten zu Unrecht verurteilt worden waren, war Kritik an Säter laut geworden.

»Therapeutische Gespräche«, murmelte er.

Dieses Mal war es Cilic, der sich anscheinend gezwungen sah, das Gesagte zu kommentieren.

Musste er sich auch so verhalten, dachte Lina und warf ihm einen raschen Blick zu. Er erwiderte ihn nicht. Aber es war ja klar, Cilic war auf Bjurbergs Seite.

Linas Meinung war, dass alle die Verantwortung für das trugen, was in den letzten Jahren in der Klinik geschehen war. Man konnte die Schuld nicht bloß bei den Psychologen suchen. Vor allem Bjurberg und die Leitung müssten ihre Fehler anerkennen, aber auch alle anderen, die hier gearbeitet und an die Methoden geglaubt hatten, die man an den Patienten angewandt hat. Doch die Psychologen galten als schuldig. Der Schatten lag jedoch auch auf vielen anderen, die bis heute noch hier arbeiteten, und Lina Vikingsson spürte diesen Schatten wie eine dunkle Wolke, die ab und zu aufzog.

»Ja, wir müssen sehen, wie wir zu deren vorgeschlagenem Behandlungsplan stehen. Ich denke, es wird eine übliche Übergabe sein, bei der wir das Treffen der Beteiligten organisieren. Wer kümmert sich von uns darum?«

»Frau Stark«, antwortete die Krankenschwester und notierte den Namen der Beteiligten.

»Welcher Arzt? Ich schlage Cilic vor,« sagte Bjurberg, ohne eine Antwort zu erwarten.

Cilic nickte.

»Und die therapeutischen Gespräche?« Cilic spielte die Frage an Bjurberg zurück.

»Das überlassen wir der neuen Psychologin, die heute anfängt. Anna Varga. Unsere neue Ausrichtung auf Verhaltenstherapie sieht gut aus. Damit ist die Konferenz beendet.«

Die Zeit war gerast, und jetzt mussten sie zu den Patienten. Cilic trat zu Bjurberg und murmelte leise etwas. Bjurberg nickte.

Lina stand auch auf, spülte die Kaffeetasse aus und stellte sie in die Spülmaschine. Sie wusste, dass keiner der anderen Ärzte das tat. Es war Zeit für ihre Visite, und sie spürte Widerstand in sich aufsteigen, aber verdrängte ihn und konzentrierte sich auf die Aufgabe.

Kapitel 6

Nils

Nils legte die Ruder parallel nebeneinander. Dann machte er einen Schritt nach oben und stellte sich ins nasse Gras am Ufer. Er ging in die Knie, um das Tau am Pfosten festzumachen, streckte die Beine und schaute aus reiner Gewohnheit über den See.

Der Nebel, der über der dunklen Oberfläche des Ljustern gelegen hatte, war verschwunden und die Sicht jetzt klar. Von seiner Position aus konnte er fast den ganzen See sehen. Ein Schwarm Stockenten platschte, als er abhob und über den See flog. Er atmete die klare Herbstluft ein. Säter war wie kein anderer Ort auf dieser Erde.

Das war sicher.

Die rechtspsychologische Klinik thronte hinter ihm, die ockergelbe Fassade mit Fenstern zum See gewandt. Es war eine außergewöhnlich schöne Aussicht für die Verurteilten und Kranken, dachte er. Waren sie es wert, an einem so schönen Ort zu wohnen? Oder war es genau das, was diese beschädigten Menschen brauchten, die für sich und andere eine Gefahr darstellten, so dass sie nicht mal in einem Gefängnis bleiben konnten?

Es war kein Zufall, dass man eines der schönsten Krankenhäuser des Landes mit all seinen Pavillons zu Anfang des 20. Jahrhunderts gerade hier gebaut hatte. Die Gegend lag abgeschieden von der Gesellschaft, aber doch nah genug für Transporter und für diejenigen, die dort arbeiteten. Die Gebäude waren so geplant, dass sie vor kalten Nordwinden geschützt lagen, mit fruchtbarer Erde und nah am Wasser – ein wunderschöner Ort, der damals denjenigen, die man wahnsinnige, verwirrte oder geisteskranke Patienten nannte, Ruhe und Frieden schenken sollte. In dem alten Pavillon, der am weitesten von den Gebäuden entfernt lag, waren die absolut gefährlichsten Menschen Schwedens eingesperrt. Was sich heute in den ausgebrannten, leeren Gebäuden mit den vergitterten Fenstern befand, war ein Mythos, und niemand ging freiwillig dorthin. Nils bekam Gänsehaut, wenn er in diese Richtung blickte.

Hinter ihm in den Büschen raschelte es. Er drehte sich schnell um. Dort zwischen den Zweigen bewegte sich jemand. War das ein Mensch? Es klang wie Schritte. Er versuchte, durch die Blätter zu spähen, um zu erkennen, was es war. Das Laub war wieder ganz still. Bildete er sich das ein?

Er blieb ein paar Sekunden absolut still stehen, aber es war nichts mehr zu hören, keine Bewegungen mehr. Verlor er jetzt den Verstand? Er war schließlich schon über achtzig, auch wenn der Arzt bei der letzten Kontrolle gemeint hat, dass er den Körper eines Sechzigjährigen hätte.

Es war jetzt Zeit für ihn, hoch zum Golfklub zu gehen. Er überprüfte noch einmal, dass das Boot ordentlich vertäut war, und ging los. Seine Knie beschwerten sich beim ersten Schritt mit einem Knacken.

Als er näher kam, sah er Autos auf das Krankenhausgelände zu fahren. Nils verzog das Gesicht und biss die Zähne zusammen. Die alte Nervenheilanstalt erwachte für einen weiteren Tag, und alle gesunden Menschen strömten dorthin, um sich um die Kranken zu kümmern. Aber wer dadrinnen war überhaupt gesund, und wer war krank?

Sosehr er sich auch bemühte, konnte er das, was er tatsächlich für die empfand, die dort arbeiteten, nicht verdrängen. In Säter gab es Menschen, die Geheimnisse für sich behielten. Große Geheimnisse über andere Menschen. Die Macht über das Leben der Menschen hatten. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken. Es machte ihn nur übellaunig. Er schüttelte den Kopf und vermied es, zum Krankenhaus zu sehen. Jetzt war es Zeit für sein Frühstücksbrötchen.

Er drehte sich noch einmal um und schaute zum Wäldchen am See. Es war ganz still.

Kapitel 7

Anna

»Patientin oder Personal? Oder … vielleicht Angehörige?« Der Mann, der vor ihr eingetreten war, musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Was?« Anna war von der Frage so überrascht, dass sie zuerst gar nicht wusste, was sie antworten sollte. »Äh, Personal, die neue Psychologin.«

»Aha, okay, dann darf ich vorgehen, ich hab’s eilig, wir sehen uns.«

Der Mann, der ein Kreuz auf dem Hals tätowiert hatte und zerrissene Jeans trug, drängelte sich an ihr vorbei durch den Eingang, hielt seine Zugangskarte hoch und verschwand im dunklen Loch. So wie er hineinging, arbeitete er wohl hier.

Sie schielte unwillkürlich nach sich selbst in der Glasscheibe. Sah sie wie jemand aus, der hier Patientin sein könnte? Die Haare waren gut gekämmt, die Kleider ganz und sauber. Sie ging etwas näher. Sie sah überhaupt nicht verrückt aus. Nein, das war wirklich eine Beleidigung. Jetzt war er jedenfalls drinnen, und sie könnte ihren ersten Arbeitstag in der Klinik damit beginnen, die Sicherheitssperren zu durchlaufen.

Die Sicherheitsregeln, um die rechtspsychologische Klinik in Säter zu betreten, waren nach einem Befreiungsversuch kürzlich verbessert und erweitert worden. Ein Angehöriger eines Patienten war eines Morgens mit seinem alten Ford direkt in die Eingangstür gerast. Er hatte einen bereits Teilzeit krankgeschriebenen Arbeitstherapeuten als Geisel genommen, um seinen Freund aus der Klinik zu holen. Die Polizei war schnell an Ort und Stelle gewesen und hatte ihn verhaftet und den Arbeitstherapeuten, der seitdem Vollzeit krankgeschrieben war, befreit. Danach wurden die Sicherheitsmaßnahmen neu geregelt.

Der Eingang war umgebaut, die Kameraüberwachung verbessert und das Alarmsystem mit vier Schleusen verbunden worden. Anna befand sich in der zweiten und sprach in eine Gegensprechanlage.

»Ich bin die neue Psychologin.« Sie wartete auf ein Signal und ging durch die nächste Schleuse zur Kontrolle. Die schweren Metalltüren schlossen sich donnernd hinter ihr. Es wurde totenstill.

Sie befand sich in einer fensterlosen Zelle. Eine Tür öffnete sich, und eine Wachfrau kam herein.

»Stellen Sie sich so hin«, sagte sie und stellte sich breitbeinig und mit seitlich ausgestreckten Armen hin. Anna tat wie geheißen, und die Wachfrau durchsuchte sie und strich mit weichen Händen über ihren Körper.

Kapitel 8

Sven Järring

Als Kriminalkommissar hatte man ein recht gutes Leben. Jedenfalls wenn man Sven Järrings Leben von außen betrachtete. Das sprichwörtliche »Volvo, Villa, Wauwau« hatte sich nur etwas später eingestellt. Sven war seine Morgenrunde mit dem Hund gelaufen, und zwar durch die besseren und die etwas schlechteren Viertel von Borlänge. Nach über dreißig Jahren in der Region wusste er mehr über die Stadt als die meisten.

Er war zufrieden damit, dass sie die meisten Fälle gelöst hatten, wie Mord und Gang-Kriminalität. Doch auch nach Feierabend konnte er mit seinem Beruf nicht abschließen, bevor er nicht die letzten Puzzlestücke zu dem gelegt hatte, was circa zwanzig Kilometer entfernt in Säter vor sich ging. Denn darüber machte sich Sven fast täglich Gedanken.

Mehrmals waren sie sehr nah daran gewesen, herauszufinden, was hinter den merkwürdigen Vorgängen in der geschlossenen Klinik steckte. Die Polizei hatte davon erfahren, aber dann war es ihm aus den Händen geglitten. Er vermutete, dass der letzte Skandal in der Klinik etwas viel Größeres verbarg.

Was ihn am meisten verblüffte, war, dass sich die verantwortliche Psychologin nach dem letzten Skandal in Luft aufgelöst hatte. Doch wie konnte ein Mensch einfach verschwinden? Es hieß, sie hätte gekündigt und wäre weggezogen, aber man wusste nicht wohin. Jemand meinte, sie würde jetzt vielleicht in Norwegen arbeiten. Komischerweise hatte sie keine Angehörigen, es war keine Leiche gefunden worden, und man hatte sie auch an keiner Landesgrenze oder bei Nachforschungen entdeckt. Sie war nicht als vermisst gemeldet, und es gab keinen Verdacht für ein Verbrechen. Jetzt war sie jedenfalls weg, und Järring hatte bemerkt, dass man nach einer neuen Psychologin gesucht hatte, die wahrscheinlich irgendwann bald anfangen würde.

Natürlich hatte er mehrfach mit Bjurberg über die verschwundene Psychologin gesprochen, im Zusammenhang mit dem Skandal in der Klinik, bei dem herauskam, dass die Psychologin zweifelhafte Therapien angewandt hatte. Doch alles wurde geleugnet, und es gab keinerlei Beweis für eine Verbindung. Die Psychologin war freiwillig gegangen, wegen des Medienskandals und der Scham, die sie empfand, so lautete Bjurbergs Standpunkt. Das war auch die gemeinsame Linie nach außen, und an die hielten sich alle Vernommenen. Doch Sven Järring zweifelte.

Genauso zweifelte er an einigen schwer erklärbaren Entlassungen und Verlegungen und den unangebrachten Verbindungen, die zwischen Personal und Verurteilten zu bestehen schienen. Sobald er etwas auf der Spur gewesen war, lösten sich die Anhaltspunkte auf wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser.

In seinem Kellerzimmer hatte Sven die Porträts der drei letzten Klinikchefs über seinem Arbeitstisch aufgehängt. Auch an diesem Morgen betrachtete er eines davon besonders. Ein potenter, autoritärer Mann mit kräftigen, dunklen Augenbrauen. »Guten Morgen, Bjurberg, ein neuer Tag für Sie und mich. Was verbergen Sie?«

Kapitel 9

Anna

Eine kleine Frau, deren Haare definitiv auf großen Lockenwicklern frisiert worden waren, begrüßte Anna. Ihre Hand war warm und glatt, und sie stellte sich als medizinische Sekretärin vor, war also auf jeden Fall jemand, mit dem Anna sich gut stellen sollte. Hilfe bei den administrativen Dingen zu bekommen stand ganz weit oben auf der Liste der Sachen, die einem den Psychologenalltag erleichterten. Anna lächelte sie freundlich an und machte bewusst ein Kompliment über ihre hübschen Locken. Komplimente funktionierten immer. Die Frau errötete, aber strahlte auch wie eine kleine Sonne und bedankte sich.

»Wie war die Reise?«, fragte sie.

»Sehr gut. Alle waren sehr hilfreich, und wissen Sie was, sogar der Taxifahrer wusste, wer ich bin, ist das nicht seltsam?«

»Nein, das ist Säter, hier kennt man einander!« Die Frau lachte, so dass sich kleine Fältchen um ihre Mundwinkel bildeten.

»Aha, na daran muss ich mich dann wohl noch gewöhnen. So ähnlich war es auch in Simrishamn, wo ich aufgewachsen bin. Aber nicht in Stockholm.« Sie hatte ein wenig das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.

»Ach, Sie stammen aus Österlen. Eine schöne Gegend. Aber wissen Sie, was wir komisch finden. Da unten läuft es ja umgekehrt. Hier fällen wir die Bäume rund ums Haus, und dort unten versuchen Sie, so viele Bäume wie möglich rund ums Haus zu haben, und der Rest ist kahl.«

Anna musste über diese Bemerkung lächeln und nickte zustimmend. »Stimmt, so ist es.«

»Ich hoffe, Sie werden sich wohlfühlen, auch wenn hier oben alles etwas anders ist. Alles ist schon etwas … speziell hier in Dalarna.«

Anna nickte. Das würde sie sicher. Sie war zwar neugierig darauf, was hier speziell war, aber die Frau ging nun den Korridor entlang, so dass sie nicht mehr nachfragen konnte.

»Hier hinten liegt Ihr Büro. Die Psychologin, die es früher hatte … Sie ist jetzt weg …« Die Frau deutete mit ihren glänzenden, knallroten Nägeln.

Es entstand eine kurze Stille. Anna schaute sie neugierig an und hoffte, sie würde noch mehr sagen.

»Und hier ist der Personalraum, die Toiletten, und dort sitzen Ihre Kollegen.« Der Zeigefinger ging hin und her, hoch und runter, wie ein kleiner Vogelschnabel. Jede geschlossene Tür sah exakt gleich aus, und es gab keine Schilder.

»Ja, ich werde wohl schnell lernen, mich hier zurechtzufinden.«

»Dann verlasse ich Sie jetzt, ich habe nämlich noch viel zu schreiben. Noch mal herzlich willkommen«, sagte sie, drehte sich um und ging zurück.

Kapitel 10

Anna

Anna stand irgendwo mitten in dem riesigen Korridor. Die Stille um sie herum war fast surreal und dröhnte, obwohl nichts zu hören war. Das Zimmer ganz weit hinten war ihres. Sie zog den Koffer hinter sich her, und das Geräusch hallte an den Wänden wider und wurde störend laut, daher beschloss sie, ihn stattdessen zu tragen. Er war schwer, und ihr wurde durch die Anstrengung ganz warm, deswegen knöpfte sie die Jacke auf. Jetzt hörte man nur noch ihre Schritte und das Summen der Leuchtröhren, während sie an den geschlossenen und schallisolierten Türen vorbeiging.

Sie öffnete die Tür und sah, dass die Psychologin, die das Zimmer früher genutzt hatte, außer dem Schreibtisch und dem Bürostuhl noch eine vertrocknete Grünpflanze am Fenster, eine türkise Schreibtischunterlage und zwei abgenutzte Laminosessel hinterlassen hatte.

Anna hängte ihre Jacke an den Kleiderständer und schob den Koffer hinter die Tür. Der Raum fühlte sich seltsam trostlos an. Sie zog die Gardinen auf, damit mehr Tageslicht einfiel. Hier würde sie also ab jetzt arbeiten. Ihr Herz schlug heftiger, als sie durch die vergitterten Fenster in den Wald sah.

Sie atmete ein paar Mal tief ein, drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser ins Waschbecken ein, um sich nach der Reise zu waschen. Das Zimmer sollte wohl als Arztzimmer und auch für Krankenschwestern und Psychologen nutzbar sein. Sie trocknete die Hände ab und betrachtete sich im Spiegel. Jetzt war sie also hier. In Säter. Die Psychologin der Zukunft. Sie lehnte sich näher an den Spiegel und musterte sich. Die blauen Augen, von denen niemand wusste, von wem sie die geerbt hatte, weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten blaue Augen, sahen sie an, und sie betrachtete sich neugierig. War sie die Tochter des Briefträgers oder des Klempners? In ihrer Familie wurde immer darüber gescherzt, aber als Kind immer wieder so etwas zu hören war nicht sonderlich witzig.

Anna stand so nah vor dem Spiegel, dass er durch ihren Atem leicht beschlug. Auf dem Glas erahnte sie Buchstabenkonturen. Was war das denn? Sie trat einen Schritt zurück.

Es klopfte laut an ihre Tür, so dass sie zusammenzuckte und sich schnell umdrehte.

Kapitel 11

Lina