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Es ist nicht nur Spekulation, dass Thomas Mann sich gerade mit diesem Roman Goethes besonders gut identifizieren konnte, spielt darin doch das Motiv der nicht ausgelebten Leidenschaft und der Entsagung eine zentrale Rolle. Zu einem gewissen Grad erkannte er sich wohl selbst darin wieder und sah in der literarischen Auseinandersetzung eine Art Ausweg. Entstanden ist der Text als Nachwort für eine 1925 im Paul List Verlag (Leipzig) erschienene Neuausgabe des Romans: Mit der Epikon-Reihe, von deren dreißig geplanten Bänden immerhin siebzehn erschienen, verfolgte man auch dort das Ziel, vermehrt klassische Literatur unters Lesevolk zu bringen. Die Besprechung erschien wie geplant und wurde außerdem im April 1925 in der Neuen Rundschau 36 abgedruckt. Auf die Edition geht Mann weiter in seinem sechsten ›Brief aus Deutschland‹ ein.
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Seitenzahl: 24
Thomas Mann
Zu Goethes »Wahlverwandtschaften«
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Der Schreiber dieser Zeilen gesteht, einigen Einfluß auf die Entscheidung gehabt zu haben, welcher Roman von Goethe in das epische Pantheon dieser Sammlung aufgenommen werden sollte: »Wilhelm Meister« oder »Die Wahlverwandtschaften«. Die von jenem ausgehende Lockung war groß. Die äußere Neugestaltung und zwanglose Wiederauflegung eines Werkes der großen Literatur bedeutet immer eine glückliche Erfrischung und Aktualisierung solchen Besitzes: Das unbefangen moderne Gewand, die philologiefreie Art der Darreichung schafft die Möglichkeit, ihn jugendlich unmittelbaren und unhistorischen Auges zu betrachten; vom Duft des Museums befreit, wird das Meisterwerk wieder Natur und Leben und übt einen starken Reiz, es auf veränderter Lebensstufe neu zu durchdringen und es dem eigenen inneren Haushalt und dem der Zeit auf vielleicht unvermutete Weise wieder fruchtbar zu machen. Das deutsche Publikum beim gegenwärtigen Stand seiner Reife und Erfahrung in neue und freie Berührung mit der Welt des »Wilhelm Meister« zu bringen, mit dieser Welt des Abenteuers und der Bildung, in der aus dem Bekennerischen das Erzieherische, aus diesem die soziale Idee und die des Staates so rein organisch erwächst, das war ein Gedanke, dessen Anziehungskraft wir hinlänglich gekostet haben, um das Bedürfnis zu spüren, unsere schließliche Option für die »Wahlverwandtschaften« vor uns selbst zu rechtfertigen.
Vor allem, wir wurden der Sphäre von »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden« mit dieser Entschließung nicht untreu. Man weiß, daß die »Wahlverwandtschaften« ursprünglich als novellistische Einschaltung in den Gang des epischen Lebenswerkes gedacht waren, nicht anders, als etwa {965}»Der Mann von fünfzig Jahren«, »Die wandernde Törin« und weitere solche Geschichten und Märchen. Der Autor hatte sich über die räumlichen Ansprüche des Gegenstandes getäuscht, ihn anfänglich zu klein gesehen; ein Werk wollte hier, wie das gehen mag, sich selber viel größer, als sein Erzeuger es gemeint hatte. »Ein solches Werk«, sagte Goethe später darüber, dankbar dafür, daß ein einsichtiger Freund das Buch als ein für sich bestehendes, mit eignem Leben begabtes Ganzes empfand, »ein solches Werk wächst einem unter den Händen und legt einem die Notwendigkeit auf, alle Kräfte aufzubieten, um seiner Meister zu bleiben und es zu vollenden.« Und was denn also 1809, nach zweijähriger Arbeit, nachdem der Sechzigjährige »was er vermochte, daran gewendet«, bei Cotta in Tübingen ans Licht kam, war ein Kapitalwerk des Dichters, ein wohlausgewachsener Roman in zwei Teilen und Bänden, – der größte nicht, aber der höchste der Deutschen.