Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga - John Galsworthy - E-Book

Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga E-Book

John Galsworthy

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Beschreibung

Der fulminante Abschluss der Generationen überspannenden Forsyte-Saga: Fleur, die Tochter von Soames Forsyte und seiner zweiten Frau Anette, verliebt sich, und das ausgerechnet in Jon, den Sohn von Soames' Cousin und Rivalen Jolyon und Irene, Soames geschiedener Ehefrau. Die Kinder ahnen nichts von der Vergangenheit ihrer Eltern. Als diese aber von die Liaison erfahren, verbieten sie beiden den Umgang miteinander. Noch komplizierter wird es, als Michael Mont, ein Mann von hohem Adel, auf der Bildfläche erscheint und beginnt Fleur zu umwerben. Dies würde einen Aufstieg der Forsytes aus dem Bürgertum hinauf in die wahre Aristokratie bedeuten. Soames wähnt sich nahe an einem großen Ziel.Inklusive des literarischen Zwischenspiels "Erwachen", das unmittelbar an den Vorgängerband anknüpft. -

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John Galsworthy

Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga

Übersezt von Leon Schalit; Luise Wolf

Saga

Zu vermieten – Teil 3 der Forsyte-Saga

 

Übersezt von Leon Schalit; Luise Wolf

 

Titel der Originalausgabe: To Let

 

Originalsprache: Englisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1921, 2022 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728344057

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Erwachen – Zweiter Einschub

Durch das breite Oberlicht in der Halle von Robin Hill fiel die Junisonne um fünf Uhr nachmittags gerade auf die Stelle, wo die breite Treppe eine Biegung machte; und in diesem hellen Lichtstrahl stand der kleine Jon Forsyte im blauen Leinwandanzug. Sein Haar leuchtete, und auch seine Augen unter der gerunzelten Stirn, denn er überlegte gerade, wie er dieses letztemal noch von den unzähligen Malen die Treppe hinunterkommen sollte, das letztemal, ehe seine Eltern nach Hause kamen. Vier auf einmal und fünf zum Schluß? Alt! Das Geländer hinunterrutschen? Aber wie? Auf dem Gesicht, die Füße zuerst? Uralt! Auf dem Bauch, seitwärts? Kleinigkeit! Auf dem Rücken, die Arme links und rechts herunterhängend? Verboten! Oder Gesicht nach unten, Kopf voraus, etwas, das bis jetzt nur er fertigbrachte? Deshalb das Stirnrunzeln auf dem Antlitz des kleinen Jon, das von der Sonne beschienen war ...

In jenem Sommer des Jahres 1909 hatten die einfachen Leute, die damals schon die englische Sprache vereinfachen wollten, natürlich keine Ahnung von der Existenz des kleinen Jon, sonst hätten sie ihn zu ihrem Jünger erkoren. Aber man kann in diesem Leben auch zu einfach sein, denn sein wirklicher Name war Jolyon; sein Vater und verstorbener Stiefbruder hatten schon längst die andern möglichen Abkürzungen, Jo und Jolly, mit Beschlag belegt. Und tatsächlich hatte der kleine Jon sein möglichstes getan, sich der Konvention zu fügen und seinen Namen anfangs Jhon und dann John geschrieben. Erst als sein Vater ihm erklärt hatte, warum er durchaus Jon schreiben müsse, fügte er sich.

Bis jetzt hatte dem Vater der kleine Teil seines Herzens gehört, den Bob, der Stallknecht, der Harmonika spielte, und seine Amme »Da« noch übriggelassen hatten. »Da«, die am Sonntag das violette Kleid trug und in jenem Privatleben, das merkwürdigerweise auch die Hausangestellten in manchen Stunden führen, Spraggins hieß. Es kam ihm fast vor, daß seine Mutter ihm nur in Träumen erschienen war, von einem süßen Duft umgeben, ihm über die Stirn strich, gerade ehe er einschlief, und ihm manchmal das Haar schnitt, das von goldbrauner Farbe war. Als er sich an dem Ofenvorsetzer der Kinderstube ein Loch in den Kopf geschlagen hatte, war sie zur Stelle, um mit Blut überströmt zu werden; und hatte er Alpdrücken, dann saß sie an seinem Bett und preßte seinen Kopf an ihre Wange. Sie war etwas Köstliches, aber sie war weit fort, während »Da« so nahe war, und für zwei Frauen gleichzeitig ist kaum Platz im Herzen eines Mannes. Mit seinem Vater verbanden ihn natürlich noch ganz besondere gemeinsame Interessen, denn Jon wollte auch Maler werden, wenn er groß war, nur mit dem kleinen Unterschied, daß sein Vater Bilder malte, und der kleine Jon wollte Decken und Wände bemalen, in einer schmutzig-weißen Schürze auf einem Brette stehend, das auf zwei Leitern gelegt war, während alles so herrlich nach Tünche roch! Er durfte auch mit seinem Vater ausreiten, in den Richmondpark, auf seinem Pony, das wegen seiner grauen Farbe »Maus« genannt ward.

Der kleine Jon war mit einem silbernen Löffel im Mund geboren, und dieser Mund war ziemlich groß, aber sehr hübsch. Niemals hatte er seinen Vater oder seine Mutter ein ärgerliches Wort sagen hören, nicht zueinander, nicht zu ihm und auch zu sonst niemand; Bob, der Stallknecht, Jane, die Köchin, Bella und die übrige Dienerschaft, sogar »Da«, die einzige, die seinem Unternehmungsgeist Grenzen zog, alle diese hatten einen ganz besonderen Klang in der Stimme, wenn sie zu ihm sprachen. Deshalb war er der Meinung, die Erde sei ein Ort, wo nichts als Vornehmheit und ewige Freiheit herrsche.

Als Kind des Jahres 1901 kam er zum Bewußtsein seiner selbst, gerade als sein Land nach dem Burenkrieg, diesem schlimmen Fieberanfall, sich für die liberale Ära des Jahres 1906 vorbereitete. Jeder Zwang war unpopulär geworden, und die Eltern übertrieben den Gedanken, ihren Sprößlingen ein angenehmes Leben zu bereiten. Sie zerbrachen ihre Ruten, schonten die Kinder und schwelgten in den zu erwartenden Erfolgen. Jon war ein außerordentlich gescheites Kind gewesen, sich einen so liebenswürdigen Mann von vierundfünfzig Jahren zum Vater zu erwählen, der seinen einzigen Sohn schon verloren hatte, und zu seiner Mutter eine Frau von achtunddreißig, deren erstes und einziges Kind er war. Was ihn davor bewahrt hatte, so ein Mittelding zwischen einem verwöhnten Schoßhund und einem Herrensöhnchen zu werden, das war die Verehrung seines Vaters für seine Mutter, denn sogar der kleine Jon konnte sehen, daß sie nicht gerade nur seine Mutter war, und daß er im Herzen seines Vaters die zweite Geige spielte. Was er im Herzen seiner Mutter spielte, daß wußte er noch nicht. »Tante« June, seine Halbschwester (aber so alt, daß sie schon nicht mehr seine Schwester war), die liebte ihn, gewiß, aber sie war zu hitzig. Auch seine ihm sehr ergebene »Da« hatte einen spartanischen Zug. Sein Bad war kalt und seine Knie nackt; er wurde nicht darin ermutigt, sich selbst zu bemitleiden. Und was die verzwickte Frage seiner Erziehung anbetraf, so teilte der kleine Jon die Ansicht derer, die dafür waren, daß man Kinder nicht zwingen solle. Mademoiselle, die jeden Morgen zwei Stunden mit ihm Französisch lernte und ihn auch in Geschichte, Geographie und Rechnen unterwies, hatte er ganz gern; und die Musikstunden, die ihm seine Mutter gab, waren auch nicht unangenehm, denn sie verstand es, ihn von Melodie zu Melodie zu locken, und ließ ihn nie eine üben, die ihm nicht gefiel. So verlor er nie den Ehrgeiz, zehn Daumen in acht Finger zu verwandeln. Bei seinem Vater lernte er zeichnen: Glücksschweinchen und andere vergnügliche Tierchen. Er war kein sehr wohlerzogener kleiner Junge; und doch, im großen ganzen hat der silberne Löffel seinem Kindermund nichts geschadet, wenn auch »Da« manchmal sagte, daß mehr Kinder »ein wahrer Segen für ihn wären«.

Es war daher eine Zerstörung all seiner Illusionen, als sie eines Tages den fast Siebenjährigen auf den Rücken legte und in dieser Stellung unbeweglich festhielt, weil er etwas tun wollte, das sie nicht billigte. Dieser erste Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines freien Forsyte machte ihn schier rasend. Die gänzliche Hilflosigkeit seiner Lage war entsetzlich, und die Ungewißheit, ob er überhaupt lebendig davonkommen würde. Wenn sie ihn nun nie wieder losließe! Fünfzig Sekunden lang litt er diese Höllenqualen und schrie mörderisch. Schlimmer als alles war die Erkenntnis, daß »Da« diese ganze Zeit gebraucht hatte, um seine Todesangst zu begreifen. So kam es ihm mit erschreckender Klarheit zu Bewußtsein, wie wenig Verständnis die Menschen füreinander haben! Als er wieder aufstehen durfte, war er überzeugt, daß »Da« ein Verbrechen begangen hatte. Obgleich er sie nicht verklatschen wollte, mußte er doch ganz einfach aus Angst vor einer Wiederholung zu seiner Mutter gehen und sagen: »Mam, erlaub es nicht, daß »Da« mich noch einmal auf den Rücken legt.«

Seine Mutter steckte gerade mit erhobenen Armen ihre Zöpfe fest, ihr schönes Haar – »couleur de feuille morte «, wie der kleine Jon es zu nennen damals noch nicht gelernt hatte; sie schaute zu ihm hin mit Augen wie kleine Fleckchen seiner braunen Samtjacke und erwiderte:

»Nein, Liebling, ich werd' es nicht erlauben.«

Da die Mutter nur zu wollen brauchte und es geschah, so war der kleine Jon beruhigt; besonders als er, unter dem Frühstückstisch versteckt, wo er darauf lauerte, einen Pilz zu stibitzen, die Mutter zum Vater sagen hörte:

»Willst du mit ›Da‹ sprechen, Liebster, oder soll ich es tun? Sie hängt so sehr an ihm.«

Und sein Vater entgegnete:

»So darf sie's ihm nicht beweisen. Ich weiß genau, was es heißt, hilflos niedergehalten zu werden. Kein Forsyte hält das eine Minute aus.«

Als er sich bewußt ward, daß sie ihn nicht unter dem Tisch vermuteten, überkam den kleinen Jon ein ganz neues Gefühl der Verlegenheit, und er blieb regungslos sitzen, von Sehnsucht nach dem Pilz verzehrt.

Das war sein erster Sturz in die dunklen Abgründe des Menschenlebens gewesen. Danach war ihm nichts Besonderes mehr enthüllt worden, bis er eines Tages in den Kuhstall ging, wo Garrat gerade gemolken hatte, um sich seinen Trunk Milch frisch von der Kuh zu holen, und da sah er Clovers Kalb tot daliegen. Ganz außer sich und von dem erschreckten Garrat gefolgt, war er davongelaufen, um »Da« zu suchen; aber plötzlich ward ihm klar, daß sie jetzt nicht die richtige Person war, er wollte zu seinem Vater und rannte statt dessen in die Arme seiner Mutter. »Clovers Kälbchen ist tot! Oh! Oh! Es sieht so lieb aus!«

Seine Mutter zog ihn an sich, und ihr »Ja, mein Liebling, komm, komm!« hatte sein Schluchzen beruhigt. Aber wenn Clovers Kälbchen sterben konnte, dann konnte ja jeder sterben – nicht nur Bienen, Fliegen, Käfer und Küken – und so sanft aussehen wie das Kälbchen! Das war schrecklich – und bald vergessen!

Das nächste war gewesen, daß er sich auf eine Hummel gesetzt hatte, eine schmerzliche Erfahrung, die seine Mutter viel besser als »Da« verstanden hatte, und danach war ihm nichts Wichtiges mehr widerfahren, bis das Jahr zu Ende ging. Damals, nach einem Tag, an dem ihm unsagbar elend zumute war, erfreute er sich einer Krankheit, die aus roten Flecken, Bettruhe, Kaffeelöffel voll Honig und vielen Mandarinen bestand. Damals war es, als die Welt für ihn zu blühen begann. Seiner »Tante« June verdankte er dieses Frühlingsblühen, denn kaum hatte sie erfahren, daß sie Samariterin spielen konnte, als sie auch schon von London herbeigeeilt kam und all die Bücher mitbrachte, die ihren eigenen Rebellengeist genährt hatten, der im Jahre 1870 geboren war. Die alten, in allen Farben leuchtenden Bücher waren vollgestopft mit den ungeheuerlichsten Ereignissen. Diese las sie dem kleinen Jon vor, bis er sich selber vorlesen durfte, worauf sie wie ein Wind nach London zurücksauste und ihn auf einem Berg von Büchern allein ließ. In diesen Büchern schwelgte er, bis er nichts mehr dachte und träumte als Seekadetten und arabische Kauffahrteischiffe, Piraten, Flöße, Sandelholzhändler, Schiffsschnäbel, Haifische, Überfälle, Tataren, Rothäute, Luftballons, Nordpole und andere extravagante Genüsse. Kaum durfte er wieder aufstehen, als er sein Bett auftakelte, Segel vorn und hinten, ein Boot aussetzte – es war eine kleine Badewanne – und über das grüne Teppichmeer zu seinem Felsen fuhr, den er auf den Schubladenknöpfen einer Mahagonikommode erstieg, um mit seinem Trinkbecher, den er ans Auge gepreßt hielt, den Horizont nach rettenden Segeln abzusuchen. Er baute sich täglich eine Barke mit Hilfe des Handtuchhalters, des Servierbrettes und seiner Kissen. Aufgesparten Pflaumensaft füllte er in eine leere Medizinflasche, und mit dem Rum, der daraus ward, verproviantierte er seine Barke; auch mit Fleischkuchen, den er aus gesparten Stückchen Hühnerfleisch fabrizierte, auf die er sich draufsetzte und die er dann am Feuer dörrte; auch Zitronensaft gegen Skorbut stellte er her aus Orangeschalen und ein wenig übriggebliebenem Saft. Aus seinem gesamten Bettzeug baute er eines Morgens den Nordpol und erforschte ihn in einem Birkenrindenkanoe (im Privatleben der Ofenvorsetzer), nach gefahrvollen Kämpfen mit einem Eisbären, der aus seinem Bettpolster und vier Kegeln als Beinen bestand und mit »Da's« Nachthemd ausstaffiert war. Nach diesem Abenteuer brachte ihm sein Vater, um seine Phantasie zu beruhigen, »Ivanhoe«, den »Kampf des Ritters Bevis mit dem Riesen«, ein König-Artus-Buch und »Tom Browns Schulzeit«. Er las das erste und baute, verteidigte und stürmte drei Tage lang Front de Boeufs Schloß, er selber spielte jede Rolle, nur Rebekka und Rowena nicht, und stieß gellende Schreie aus: »En avant, de Bracy !« und dergleichen. Als er das Buch vom König Artus gelesen hatte, war er fast nichts anderes mehr als Ritter Lamorac de Galis. Obgleich wenig mit ihm los war, war dieser Name Jon doch lieber als der irgendeines andern Ritters; und mit einer langen Bambuslanze bewaffnet, ritt er sein altes Schaukelpferd zuschanden. Den »Ritter Bevis« fand er langweilig, außerdem kamen Wälder und Tiere darin vor, die es in seiner Kinderstube nicht gab; nur die beiden Katzen, Fitz und Puck Forsyte, waren da, und die verstanden keinen Spaß. Für »Tom Brown« war er noch zu jung. Das ganze Haus atmete erleichtert auf, als er nach der vierten Woche wieder hinunter und ins Freie durfte.

Da es im März war, sahen die Bäume genau wie die Schiffsmaste aus, und für den kleinen Jon war das ein herrlicher Frühling, der nur seine Knie, seine Kleider und die Geduld von »Da«, die alles zu waschen und zu flicken hatte, auf eine harte Probe stellte. Sein Vater und seine Mutter, deren Fenster auf den Garten gingen, konnten ihn jeden Morgen beobachten, wie er gleich nach dem Frühstück aus dem Arbeitszimmer quer über die Terrasse ging und mit entschlossener Miene und leuchtendem Haar den alten Eichenbaum erkletterte. So begann er seinen Tag, denn um weit ins Feld hineinzulaufen, dazu war vor den Schulstunden keine Zeit mehr. Der alte Baum war zu allem zu gebrauchen, er besaß Großmast, Fockmast, Bramstenge, und stets konnte Jon sich an dem Schiffstau herunterlassen, das heißt an dem Strick der Schaukel. Wenn er um elf Uhr seine Schulstunden hinter sich hatte, pflegte er sich in der Küche ein dünnes Scheibchen Käse zu holen, einen Kek und zwei gedörrte Pflaumen, Proviant genug für eine Jolle, und aß es auf irgendeine phantasievolle Art. Dann begann er, bis an die Zähne bewaffnet mit Flinte, Pistolen und Säbel, die morgendliche gefahrvolle Kletterei, wobei er zahllose Kämpfe mit Sklavenhändlern ausfocht und auch mit Indianern, Piraten, Bären und Leoparden. Zu jener Tageszeit sah man ihn selten ohne ein Dolchmesser zwischen den Zähnen, nach dem Vorbild seines Lieblingshelden, zwischen rasch aufeinanderfolgenden Explosionen von Zündhütchen. Und gar viele Gärtner brachte er mit gelben Erbsen aus seinem kleinen Gewehr zur Strecke. Er führte ein Leben voll von Gewalttaten.

»Jon«, sagte sein Vater unter dem Eichenbaum zu seiner Mutter, »ist schauderhaft. Ich fürchte, er wird ein Seefahrer werden oder sonst so was Unmögliches. Kannst du irgendeinen Sinn für Schönheit bei ihm entdecken?«

»Nein, nicht den geringsten.«

»Na, Gott sei Dank, daß er sich nicht für Räder und Maschinen interessiert! Das kann ich am allerwenigsten vertragen. Nur möchte ich gern bei ihm ein bißchen Liebe zur Natur sehen.«

»Er ist sehr phantastisch, Jolyon.«

»Ja, aber blutrünstig-phantastisch. Liebt er eigentlich jetzt irgend jemand besonders?«

»Nein, er liebt einen jeden. Es gibt gar kein liebenswerteres und auch liebevolleres Kind als Jon.«

»Dein Sohn, Irene.«

In diesem Augenblick brachte sie der kleine Jon, der hoch über ihnen auf einem Aste lag, mit zwei Erbsen zur Strecke. Diese paar unverständlichen Worte, die er erlauscht hatte, brannten ihn in der Seele. Liebenswert, liebevoll, phantastisch, blutrünstig!

Die Bäume hatten sich wieder belaubt, und es war Zeit für seinen Geburtstag, der jedes Jahr am zwölften Mai wiederkam, ein denkwürdiger Tag wegen des Festessens, das aus gebackenem Kalbshirn, Pilzen, Makronen und Ingwerbier bestand.

Doch zwischen jenem achten Geburtstag und dem Nachmittag, als er im Glanz der Julisonne auf dem Treppenabsatz stand, lagen viele wichtige Ereignisse.

»Da«, vielleicht müde geworden, seine Knie zu waschen, oder von jenem geheimen Instinkt ergriffen, der sogar die Ammen zwingt, ihre Pfleglinge im Stich zu lassen, »Da« verließ ihn unter strömenden Tränen gerade einen Tag nach seinem Geburtstag, um von allen Leuten ausgerechnet – einen Mann zu heiraten. Der kleine Jon, dem man es verheimlicht hatte, war einen Nachmittag lang untröstlich. Man hätte ihm so etwas sagen müssen! Zwei große Schachteln Soldaten und etwas Artillerie zusammen mit dem Buch »Die jungen Hornisten«, die er zum Geburtstag bekommen hatte, riefen in seinem bekümmerten Herzen eine Art Umkehrung der Leidenschaften hervor, denn anstatt selbst Abenteuer zu suchen und sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, dachte er sich die Kämpfe nur in der Phantasie aus, in denen er das Leben zahlloser Bleisoldaten, Kugeln, Steine und Bohnen riskierte. Solches Kanonenfutter sammelte er in Häuflein und focht abwechselnd den Spanischen Krieg, den Siebenjährigen, den Dreißigjährigen und andere Kriege, von denen er letzthin in einer dicken »Geschichte von Europa«, noch von seinem Großvater her, gelesen hatte. Er variierte sie mit eigenem Feldherrngenie und verwandelte den ganzen Boden seiner Kinderstube in ein Schlachtfeld, so daß niemand sich getraute einzutreten, aus Angst, Gustav Adolf, König von Schweden, in die Quere zu kommen oder auf eine Armee Österreicher zu treten. Mit Leib und Seele war er den Österreichern zugetan, weil der Klang des Wortes ihm so gut gefiel, und in seinen Spielen mußte er glorreiche österreichische Siege erfinden, da sie in Wirklichkeit so selten gesiegt hatten. Seine Lieblingsgenerale waren der Prinz Eugen, der Erzherzog Karl und Wallenstein. Für Tilly und Mack (»Varietéstars« hörte er sie seinen Vater eines Tages nennen, was das nur heißen mochte?) konnte man wirklich nicht viel übrig haben, obgleich sie Österreicher waren. Turenne jedoch war ihm wiederum aus euphonischen Gründen sympathisch.

Diese Phase seines Lebens, die seinen Eltern Sorge machte, weil er im Zimmer blieb, wenn er draußen sein sollte, dauerte den ganzen Mai und halben Juni hindurch, bis sein Vater den »Tom Sawyer« und den »Huckleberry Finn« ins Feld schickte und seinen Soldaten eine vernichtende Niederlage bereitete. Als Jon diese Bücher gelesen hatte, ging eine Wandlung in ihm vor, und er lief wieder ins Freie, auf der leidenschaftlichen Suche nach einem Strom. Aber es gab keinen auf den Gründen von Robin Hill, und so mußte der Teich sein Strom sein, der glücklicherweise von drei kleinen Weiden umstanden war, und in dem es Wasserlilien, Libellen, Mücken und große Binsen gab. Auf diesem Teich durfte er in einem kleinen zusammenlegbaren Kanoe herumfahren, nachdem sein Vater und Garrat sich vergewissert hatten, daß er nirgends mehr als zwei Fuß tief und der Grund fest war; hier paddelte er stundenlang im Wasser herum, und er lag auf dem Boden des Bootes, um dem Indianer Joe und andern Feinden zu entgehen. Auch baute er sich am Ufer des Teiches einen Wigwam aus alten Keksdosen, vier Fuß im Quadrat, und mit einem aus Zweigen geflochtenen Dach. Hier pflegte er kleine Feuer anzuzünden und die Vögel zu braten, die er mit seiner Flinte auf den Streifzügen in Feld und Dickicht nicht geschossen hatte; oder den Fisch, den er im Teiche nicht gefangen hatte, weil es keine gab. So verging der Rest des Juni und des Juli, als seine Eltern fort waren – in Irland. Während dieser fünf Sommerwochen führte er ein einsames Leben in den »Gefilden seiner Phantasie« mit Flinte, Wigwam, Wasser und Kanoe. Und wie sehr sein vielbeschäftigter kleiner Geist sich auch bemühte, ein Gefühl für Schönheit nicht aufkommen zu lassen, so streifte ihn doch hie und da Schönheit mit den Flügeln einer Libelle, die über den Wasserlilien in der Sonne glitzerte oder wie ein lichtblauer Schatten über seine Augen huschte, wenn er auf dem Rücken im Hinterhalt lag.

»Tante« June, in deren Obhut er geblieben war, hatte einen »Erwachsenen« im Haus mit einem Husten und einem großen Klumpen Lehm, aus dem er ein Gesicht knetete; so kam sie nur ganz selten zu seinem Teich herunter. Einmal aber brachte sie noch zwei andere »Erwachsene« mit. Der kleine Jon, der mit seines Vaters Wasserfarben seine Nacktheit mit lichtblauen und gelben Streifen bemalt und ein paar Entenfedern in sein Haar gesteckt hatte, sah sie kommen und legte sich zwischen die Weiden in den Hinterhalt. Wie er es vorausgesehen, gingen sie sofort zu seinem Wigwam und knieten nieder, um hineinzuschauen, so daß er »Tante« June und die andere »erwachsene« Frau mit markerschütterndem Indianergeheul überfallen und sie fast vollständig skalpieren konnte, ehe sie ihn küßten. Die beiden »Erwachsenen« hießen »Tante« Holly und »Onkel« Val, der ein braunes Gesicht hatte und ein wenig hinkte und sich vor Lachen über ihn ausschütten wollte. »Tante« Holly, die scheinbar auch seine Schwester war, schloß er sofort ins Herz, aber beide gingen am Nachmittage wieder fort, und er sah sie nicht wieder. Drei Tage, ehe sein Vater und seine Mutter nach Hause kamen, fuhr auch »Tante« June weg, in schrecklicher Eile, und nahm den hustenden »Erwachsenen« samt seinem Klumpen Lehm mit. Und Mademoiselle sagte: »Der arme Mann war sehr krank. Ich verbiete dir, sein Zimmer zu betreten, Jon.« Der kleine Jon, der selten bloß deshalb etwas tat, weil man's ihm verboten hatte, ging wirklich nicht hinein, obgleich ihn Einsamkeit und Langeweile quälten. Die schönen Tage am Teich gehörten der Vergangenheit an, und bis in den letzten Winkel seines Herzens war er jetzt von Unruhe erfüllt, von einer Sehnsucht nach irgend etwas – was nicht ein Baum, nicht eine Flinte war –, nach irgendeiner Zärtlichkeit. Diese beiden letzten Tage erschienen ihm wie Monate, trotzdem er »Gestrandet« las und von dem Johannisfeuer der alten Hexe, das die Schiffer ins Verderben lockte. Hundertmal war er in diesen beiden Tagen die Treppe hinauf und hinunter gestiegen, und oft hatte er sich aus dem Spielzimmer, wo er jetzt schlief, in das Zimmer seiner Mutter gestohlen, sich um und um geschaut, ohne etwas zu berühren, und im Ankleidezimmer nebenan stand er auf einem Bein vor der Badewanne und flüsterte geheimnisvoll wie der Alte in seinem Buche: »Ho, ho, ho! Hund, hol meine Katzen!« Das sollte ihm Glück bringen. Dann stahl er sich zurück, öffnete den Kleiderschrank seiner Mutter und sog tief den Duft ein; das schien sein Verlangen zu stillen nach – ja wonach denn eigentlich?

Diesen Duft noch im Gefühl, stand er dann in dem Streifen Sonnenlicht und überlegte, auf welche Art er das Treppengeländer hinunterrutschen sollte. Alles kam ihm auf einmal so kindisch vor, und in einer plötzlichen Schwächeanwandlung stieg er die Stufen eine nach der andern langsam hinab. Während er so hinunterstieg, sah er seinen Vater deutlich vor sich – den kurzen grauen Bart, die guten, zwinkernden Augen mit der Falte dazwischen, das fröhliche Lächeln, die schlanke Gestalt, die dem kleinen Jon immer so groß vorkam; von seiner Mutter aber konnte er sich keine Vorstellung machen. Er erinnerte sich nur ihres leichten, schwebenden Ganges, an zwei dunkle Augen, die nach ihm zurückblickten, und spürte den Duft ihrer Kleider.

Bella stand in der Halle, zog die großen Vorhänge zur Seite und öffnete das Haustor. Der kleine Jon sagte schmeichelnd:

»Bella!«

»Ja, Jon.«

»Laß uns doch unter dem Eichenbaum Tee trinken, wenn sie kommen; ich weiß, daß es ihnen dort am besten gefällt.«

»Du meinst, dir gefällt es dort am besten.«

Jon dachte nach.

»Nein, sie sitzen am liebsten dort, weil es mir gefällt.«

Bella lächelte. »Na schön, dann will ich draußen den Tisch decken, wenn du derweilen brav sein willst und nichts anstellst, bis sie kommen.«

Der kleine Jon setzte sich auf die unterste Stufe und nickte. Bella kam herbei und musterte ihn von oben bis unten.

»Steh auf!« sagte sie.

Jon stand auf. Sie musterte ihn von hinten. Seine Hosen waren nicht grün, und auch die Knie schienen sauber zu sein.

»Alles in Ordnung!« sagte sie. »Du lieber Gott! Wie braun gebrannt du bist! Gib mir einen Kuß!«

Und sie küßte ihn herzhaft aufs Haar.

»Was gibt's für Marmelade?« fragte er. »Ich hab' das Warten so satt.«

»Stachelbeeren und Erdbeeren.«

»Ah! Die eß ich am liebsten!«

Als sie hinausgegangen war, saß er ganz still, fast eine Minute lang. Nichts rührte sich in der großen Halle, die nach Osten hin offen war, so daß er einen seiner Bäume sehen konnte, einen Zweimaster, der sehr langsam über den Rasen segelte. In der Vorhalle warfen die Säulen schräge Schatten. Der kleine Jon stand auf, sprang auf einem Bein herum, marschierte rund um die Schwertlilien, die das kleine grauweiße Marmorbecken in der Mitte füllten. Die Blumen waren hübsch, aber sie dufteten nur ein ganz klein wenig. Er stand in der offenen Tür und schaute hinaus. Wenn nun – wenn sie nun überhaupt nicht kämen! Er hatte so lange gewartet, daß er das unmöglich würde ertragen können; aber seine Gedanken flüchteten gleich wieder zu den Stäubchen in dem hereinströmenden bläulichen Sonnenlicht! Mit den Händen emporgreifend, versuchte er welche zu haschen. Bella hätte die Luft hier abstauben sollen! Aber vielleicht war es gar kein Staub, nur das, woraus die Sonnenstrahlen gemacht waren, und er wollte nachsehen, ob das Sonnenlicht draußen auch so war. Nein, es war nicht so. Er hatte versprochen, brav in der Halle zu bleiben, aber er konnte ganz einfach nicht mehr; und er ging quer über den Kies des Fahrwegs und legte sich auf der andern Seite ins Gras. Er pflückte sechs Gänseblümchen und gab jedem umständlich einen Namen: Ritter Lamorac, Ritter Tristan, Ritter Lancelot, Ritter Palimedes, Ritter Bors, Ritter Gawan, und er ließ sie in Paaren miteinander kämpfen, bis alle den Kopf verloren hatten außer Ritter Lamorac, dem er einen besonders starken Stengel ausgesucht hatte, doch selbst dieser war nach drei Zweikämpfen jämmerlich zugerichtet. Langsam kroch ein Käfer durch das Gras, das bald gemäht werden mußte. Jeder Grashalm war ein kleiner Baum, und der Käfer kroch um seinen Stamm herum. Der kleine Jon packte Ritter Lamorac beim Kopf und kitzelte mit ihm das Tierchen, das erschrocken davonlief. Jon lachte, verlor plötzlich das Interesse und seufzte auf. Es war ihm so öde zumut. Er drehte sich um und lag nun auf dem Rücken. Die blühenden Linden verbreiteten einen süßen Honigduft, und das Himmelblau da oben war so wunderschön mit den paar weißen Wolken, die aussahen wie Zitroneneis und vielleicht auch so schmeckten. Er hörte Bob auf der Harmonika ein Niggerlied spielen: »An dem schönen blauen Swanney-Fluß«, und das Lied machte ihn so schön traurig. Er rollte sich wieder auf die andere Seite und legte sein Ohr auf die Erde – die Indianer konnten hören, sobald etwas herankam, war es auch noch so weit weg –, aber er hörte nichts – nur die Harmonika! Und fast im selben Augenblick hörte er wirklich einen knirschenden Laut, ein schwaches Tuten. Ja! Es war ein Auto – sie kommen – sie kommen! Er sprang in die Höhe. Sollte er in der Türe warten oder die Stiege hinaufrennen und den Eintretenden entgegenrufen: »Da schaut her!« und dann mit dem Kopf zuerst langsam das Treppengeländer hinunterrutschen? Sollte er das tun? Der Wagen bog in die Einfahrt. Es war zu spät! Und so wartete er nur und sprang vor Aufregung hin und her. Das Auto kam rasch heran, bremste und hielt. Sein Vater stieg aus in Lebensgröße. Er beugte sich herab, und der kleine Jon schnellte empor – sie stießen gegeneinander. Sein Vater sagte:

»Gott sei Dank, da sind wir. Na, mein Junge, du bist aber braun!« genau wie er's erwartet hatte; und das sehnsüchtige Gefühl, das Verlangen nach irgend etwas war noch nicht gestillt. Mit einem langen schüchternen Blick suchte er seine Mutter, die in einem blauen Kleid, den blauen Autoschal über Mütze und Haar gebunden, lächelnd dasaß. Er sprang so hoch empor, wie er nur konnte, umklammerte sie mit beiden Beinen und drückte sie fest an sich. Er hörte sie nach Luft schnappen und fühlte, wie sie ihn an sich zog. Seine tiefblauen Augen schauten gerade in ihre ganz dunkelbraunen, bis ihre Lippen seine Augenlider küßten, und wie er sie nun mit seiner ganzen Kraft drückte und preßte, hörte er sie seufzen und lachen:

»Ach, Jon, wie stark du bist!«

Da ließ er sich heruntergleiten, rannte nach der Halle und zog sie an der Hand hinter sich her.

Während er unter dem Eichenbaum seine Marmelade aß, schaute er seine Mutter an, und es war ihm, als sähe er vieles zum erstenmal. Ihre Wangen waren von zartem Braun, silberne Fäden glänzten in ihrem dunkelblonden Haar, ihr Hals hatte keinen Knoten in der Mitte wie der Bellas, und sie ging so leise aus und ein. Er sah auch zarte Linien in ihrem Gesicht, in den Winkeln der Augen, unter denen so schöne dunkle Schatten lagen. Wie wunderschön sie war, viel schöner als »Da« oder Mademoiselle oder »Tante« June oder sogar »Tante« Holly, die er besonders ins Herz geschlossen hatte; sogar noch schöner als Bella mit den rosigen Wangen, die aber zu dick und holprig war. Diese neue Schönheit seiner Mutter zu betrachten, nahm ihn so sehr in Anspruch, daß er weniger aß, als er erwartet hatte.

Nach dem Tee machte sein Vater mit ihm einen Rundgang durch die Gärten. Er hatte eine lange Unterredung mit dem Vater über die Dinge im allgemeinen und vermied es, auf sein Privatleben einzugehen, auf Ritter Lamorac, die Österreicher und die Leere, die er in den letzten drei Tagen empfunden hatte und die jetzt so plötzlich ausgefüllt war. Sein Vater erzählte ihm von einem Ort, der Glensofantrim hieß, wo er und seine Mutter gewesen waren; und er erzählte ihm auch von dem kleinen Volk, das dort aus der Erde herauskam, wenn alles ganz still war. Der kleine Jon blieb plötzlich stehen mit weitgespreizten Beinen.

»Glaubst du wirklich daran, Vati?«

»Nein, Jon, aber ich dachte, daß vielleicht du daran glaubst.«

»Warum?«

»Du bist noch jung, und Kinder wissen oft etwas von Elfen und Heinzelmännchen.«

Der kleine Jon verzog den Mund, daß das Grübchen in seinem Kinn viereckig ward.

»Ich glaub' nicht daran. Ich hab' noch niemals Elfen gesehen.«

»Ha!« sagte sein Vater.

»Kann Mam sie sehen?«

Sein Vater lächelte vielsagend.

»Nein, sie sieht nur Pan.«

»Wer ist das, Pan?«

»Der Ziegengott, der in wilden und romantischen Gegenden sein Wesen treibt.«

»War er in Glensofantrim?«

»Mam hat es gesagt.«

Der kleine Jon, der noch immer mit gespreizten Beinen dastand, ging wieder voran.

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein, ich sah nur Venus Anadyomene.«

Der kleine Jon überlegte. Venus kam in seinem Buch über die Griechen und Trojaner vor. Also war Anna ihr Vorname und Dyomene ihr Familienname. Aber es ergab sich aus seinen Fragen, daß es nur ein Wort war, das bedeutete: aus dem Schaum der Wogen aufsteigend.

»Stieg sie in Glensofantrim aus dem Schaum des Meeres auf?«

»Ja, jeden Morgen.«

»Wie sieht sie aus, Vati?«

»Wie Mam.«

»Oh! Dann ist sie sicher – –« aber da hielt er plötzlich inne, stürzte auf eine kleine Mauer zu, kletterte hinauf und kletterte augenblicklich wieder herunter. Die Entdeckung, daß seine Mutter schön war, mußte er unter allen Umständen für sich behalten, das fühlte er. Sein Vater brauchte aber auch eine so unendlich lange Zeit, um seine Zigarre fertig zu rauchen, daß er schließlich einen Ausweg finden mußte. Er sagte:

»Ich möcht' so gern sehn, was Mam mitgebracht hat. Ist dir's recht, Vati?«

Er gab keinen edleren Beweggrund an, um nicht unmännlich zu erscheinen, und es brachte ihn ein wenig aus der Fassung, als der Vater in seinem Herzen las, vielsagend aufseufzte und zur Antwort gab:

»Na schön, junger Mann, so lauf hin und hab sie lieb.«

Er ging mit Absicht ganz langsam und rannte dann, um es wieder wettzumachen. Durch die offene Tür seines Zimmers ging er in ihr Schlafzimmer hinüber. Sie kniete noch immer vor einem Koffer. Er blieb ganz dicht bei ihr stehen und rührte sich nicht.

Sie richtete sich auf den Knien auf und sagte:

»Nun, Jon?«

»Ich wollte nur sehen, was du machst.«

Nachdem sie ihn noch einmal in den Arm genommen und er sich an sie geschmiegt hatte, kletterte er auf die Fensterbank, und auf seinen verschränkten Beinen sitzend, sah er zu, wie sie auspackte. Das war eine ganz neue Freude für ihn, zum Teil, weil da Dinge zum Vorschein kamen, die verdächtig aussahen, zum Teil aber nur, weil es so schön war, ihr zuzuschauen. Sie bewegte sich ganz anders als alle übrigen Leute, ganz anders als Bella. Er hatte ganz bestimmt noch nie eine so vornehm aussehende Frau gesehen. Endlich war sie mit dem Auspacken fertig und kniete sich zu ihm nieder.

»Hast du uns vermißt, Jon?«

Der kleine Jon nickte, und nachdem er so seine Sehnsucht eingestanden hatte, fuhr er fort mit dem Kopf zu nicken.

»Aber du hast doch ›Tante‹ June gehabt?«

»Ach, die hat ja einen Mann mit einem Husten mitgebracht.«

Das Gesicht seiner Mutter sah jetzt anders aus, es war fast zornig. Er fügte rasch hinzu:

»Es war ein armer Mann, Mam; er hat so schrecklich gehustet; ich – ich hab' ihn gern gehabt.«

Seine Mutter legte ihm die Arme um die Hüften.

»Du hast jeden gern, Jon.«

Der kleine Jon überlegte.

»Bis zu einem gewissen Grad«, sagte er, »›Tante‹ June hat mich eines Sonntags mit in die Kirche genommen.«

»In die Kirche? So!«

»Sie wollte sehen, wie es auf mich wirken würde.«

»Nun, und hat es gewirkt?«

»O ja, ich kam mir ganz närrisch vor, so daß sie mich schnell wieder nach Haus brachte. Aber es war mir durchaus nicht übel. Ich ging zu Bett und trank einen heißen Grog und las dann ›Die Knaben vom Buchenwald‹. Es war köstlich.«

Seine Mutter biß sich auf die Lippen.

»Wann war das?«

»Ach! Ungefähr – schon lange her – ich bat sie, mich noch einmal mitzunehmen, aber sie wollte nicht. Du und Vati, ihr geht nie zur Kirche, nicht wahr?«

»Nein, wir gehen nicht.«

»Warum denn nicht?«

Seine Mutter lächelte: »Ja, Jon, wir sind beide hingegangen, als wir klein waren; vielleicht waren wir damals zu klein.«

»Aha«, sagte der kleine Jon, »es ist also gefährlich.«

»Wenn du groß bist, sollst du über alle diese Dinge selber urteilen.«

Der kleine Jon erwiderte wie einer, der alle Vorteile und Nachteile genau abgewogen hat:

»Sehr groß möcht' ich gar nicht werden. Ich möcht' auch nicht in die Schule gehn.« Der plötzlich überwältigende Wunsch, noch etwas zu sagen, auszusprechen, was er wirklich empfand, ließ ihn erröten. »Ich – ich möchte immer bei dir sein, als dein Ritter, Mam!«

Und dann, mit dem sichern Gefühl, die Lage zu verbessern, fügte er rasch hinzu:

»Ich möchte heute überhaupt nicht schlafen gehen. Ich hab's ganz einfach satt, jeden Abend schlafen zu gehen.«

»Hast du wieder Alpdrücken bei Nacht gehabt?«

»Nur so ein bißchen. Kann ich heute nacht die Tür in dein Zimmer offen lassen, Mam?«

»Ja, ein klein wenig.«

Der kleine Jon stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Was hast du in Glensofantrim gesehen?«

»Oh, nichts als Schönheit, mein Liebling.«

»Erklär' mir einmal ganz genau, was Schönheit eigentlich ist.«

»Ganz genau, was – ach, Jon, das ist schwer zu sagen.«

»Zum Beispiel, kann ich's sehen?«

Seine Mutter erhob sich und ließ sich neben ihm nieder.

»Du siehst sie jeden Tag. Der Himmel ist schön, die Sterne, Mondnächte, und dann Vögel, Blumen, Bäume – alle sind schön. – Schau zum Fenster hinaus – da siehst du Schönheit, Jon.«

»Ja, natürlich, da ist die Aussicht. Ist das alles?«

»Alles? Nein. Das Meer ist wunderbar schön und die Wellen mit dem Schaum auf den Kämmen.«

»Bist du jeden Tag aus dem Schaum der Wogen aufgestiegen, Mam?«

Seine Mutter lächelte. »Ja, wir haben gebadet.«

Der kleine Jon legte ihr plötzlich die Arme um den Hals.

»Jetzt weiß ich's«, sagte er geheimnisvoll, »du bist es, du bist es wirklich, und alles andere ist nur Einbildung.«

Sie seufzte, lachte und sagte: »O Jon!«

Der kleine Jon sagte kritisch:

»Findest du zum Beispiel Bella schön? Ich könnt' sie kaum schön nennen.«

»Bella ist jung. Das ist viel wert.«

»Aber du siehst viel jünger aus, Mam. Wenn man zufällig an Bella anrennt, tut es weh. Ich glaub' nicht, daß ›Da‹ schön war, wenn ich so recht darüber nachdenk'; und Mademoiselle ist beinah häßlich.«

»Mademoiselle hat ein sehr freundliches Gesicht.«

»O ja, freundlich schon. Ich hab' die kleinen Strahlen da so gern, Mam.«

»Strahlen?«

Der kleine Jon legte seinen Finger in ihre Augenwinkel.

»Ach die! Aber die sind ein Zeichen des Alterns.«

»Wenn du lächelst, kommen sie immer.«

»Aber früher kamen sie nicht.«

»Ach, laß nur! Ich hab' sie so gern. Hast du mich lieb, Mam?«

»Ja, aber ja, ich hab' dich wirklich lieb, Jon.«

»Über alles?«

»Über alles!«

»Mehr als ich geglaubt hab'?«

»Viel, viel mehr.«

»Ich auch – viel, viel mehr als ich geglaubt hab'; das gleicht sich also aus.«

Da es ihm zum Bewußtsein kam, daß er noch niemals seinen Gefühlen so freien Lauf gelassen hatte, empfand er plötzlich wieder die Männlichkeit des Ritters Lamorac in sich und anderer Lieblingshelden.

»Soll ich dir ein paar Kunststücke zeigen?« fragte er, schlüpfte aus ihren Armen und stand auf dem Kopf. Angespornt durch ihre augenscheinliche Bewunderung, stieg er auf das Bett und schlug in der Luft einen Purzelbaum, wobei er mit dem Rücken wieder auf das Bett zu liegen kam. Das wiederholte er ein paarmal.

An jenem Abend, nachdem er sich seine Geschenke angesehen hatte, blieb er zum Dinner auf und saß zwischen ihnen an dem kleinen runden Tisch, an dem sie immer aßen, wenn sie allein waren. Er war sehr aufgeregt. Seine Mutter trug ein Kleid von zartem Grau mit einer Cremespitze aus lauter Rosengewinden um den Hals, der brauner war als die Spitze. Er blickte sie unverwandt an, bis das verschmitzte Lächeln seines Vaters ihn plötzlich bewog, eine Ananasschnitte mit großer Aufmerksamkeit zu essen. Später als jemals sonst ging er zu Bett. Seine Mutter ging mit ihm hinauf, und er zog sich sehr langsam aus, um sie länger aufzuhalten. Als er schließlich im Nachtgewand dastand, sagte er:

»Versprich mir, daß du nicht fortgehst, während ich bete!«

»Ich verspreche es dir.«

Der kleine Jon kniete nieder, und sein Gesicht ins Bett vergraben, betete er leise und hastig; und wenn er hie und da mit einem Auge nach ihr hinschielte, sah er sie unbeweglich dastehen mit einem Lächeln auf den Lippen. »Vater unser«, so betete er schließlich, »der du bist im Himmel, geheiliget werde deine Mam, deine Mam komme – auf Erden wie im Himmel, unser täglich Brot gib uns, Mam, und vergib uns unsere Schulden auf Erden wie auch im Himmel, und sündige wider uns, denn dein ist die Schuld und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amam! Gib acht!« Er sprang auf, warf sich in ihre Arme und hielt sie so eine lange Minute. Nachdem er im Bett war, hielt er noch immer ihre Hand.

»Mehr als jetzt wirst du die Tür nicht zumachen, nicht wahr? Wirst du sehr lang unten bleiben, Mam?«

»Ich muß dem Vater noch vorspielen.«

»Ja, dann werd' ich dich wenigstens hören.«

»Hoffentlich nicht, du mußt einschlafen.«

»Ich kann doch auch ein andermal schlafen.«

»Nun, warum nicht heute? Eine Nacht ist wie die andere.«

»O nein, es ist eine außergewöhnliche Nacht heute.«

»In außergewöhnlichen Nächten schläft man immer am besten.«

»Aber wenn ich einschlafe, Mam, hör' ich dich ja nicht heraufkommen.«

»Dann will ich hereinkommen und dir einen Kuß geben; wenn du dann noch wach bist, so wirst du's wissen, und wenn du schon schläfst, so weißt du immer noch, daß ich dich geküßt habe.«

Der kleine Jon seufzte. »Ach ja!« sagte er. »Jetzt muß ich dich also wirklich gehen lassen, Mam?«

»Ja!«

»Wie heißt die Göttin, an die der Vater glaubt? Venus Anna Diomedes?«

»Ach, du liebes Herz! Anadyomene.«

»Ja, aber mein Name für dich gefällt mir viel besser.«

»Wie nennst du mich denn, Jon?«

Schüchtern gab der kleine Jon zur Antwort:

»Ginevra! Sie ist aus König Artus' Tafelrunde – gerade ist es mir eingefallen, nur hatte sie natürlich offenes Haar.«

Die Augen seiner Mutter, die über ihn hinwegblickten, schienen zu schwimmen.

»Du wirst nicht vergessen, zu mir zu kommen, Mam?«

»Nein, wenn du gleich einschläfst.«

»Abgemacht.« Und der kleine Jon drückte die Augen krampfhaft zu.

Er fühlte ihre Lippen auf seiner Stirn, hörte ihre Schritte; öffnete die Augen wieder, um sie zur Tür hinausgleiten zu sehen, und aufseufzend machte er sie wieder fest zu.

Die ersten zehn Minuten versuchte er ehrlich einzuschlafen, indem er viele Disteln in einer Reihe zählte, »Da's« altes Rezept zum Einschlummern. Es kam ihm vor, als zählte er schon stundenlang. »Jetzt muß es fast Zeit sein«, dachte er, »daß sie heraufkommt.« Er warf die Decken zurück. »Zu heiß!« sagte er, und seine Stimme klang seltsam in der Dunkelheit, als gehöre sie einem andern. Warum kam sie denn nicht? Er setzte sich auf. Er mußte nachsehen. Er stieg aus dem Bett, ging zum Fenster und zog den Vorhang ein wenig zur Seite. Es war nicht dunkel, aber er wußte nicht, ob es noch Tageslicht war oder der Mond, der sehr groß war. Der Mond hatte ein komisches, boshaftes Gesicht, als ob er ihn auslache, und Jon wollte ihn nicht mehr ansehen. Dann fiel ihm ein, daß seine Mutter gesagt hatte, Mondnächte seien schön, und er fuhr fort hinauszustarren, ohne etwas Besonderes zu fühlen. Die Bäume warfen dichte Schatten, der Rasen sah aus wie verschüttete Milch, und weit, so weit konnte er sehen; oh, so weit ins Land hinein, über die ganze Erde hin, und alles sah anders und verschwommen aus. Auch ein herrlicher Duft kam durch das offene Fenster herein.

»Ach, hätt' ich doch nur eine Taube wie Noah!« dachte er.

»Der blasse Mond, so hell und rund,

Er scheint und scheint zur nächt'gen Stund'.«

Nach diesem Reim, der ihm plötzlich eingefallen war, drang Musik an sein Ohr, ganz leise und sanft. Man spielte! Es fiel ihm ein, daß er in seiner Schublade noch eine Makrone aufgehoben hatte; er holte sie und kam ans Fenster zurück. Sie langsam verspeisend, lehnte er sich zum Fenster hinaus und hielt ab und zu im Schmausen inne, um die Musik besser zu hören. »Da« pflegte zu sagen, daß die Engel im Himmel auf Harfen spielen; aber das war sicher nicht halb so schön wie Mam, die spielte, während der Mond schien und er eine Makrone verspeiste. Ein Maikäfer summte vorüber, eine Motte flog ihm ins Gesicht, die Musik verstummte, und der kleine Jon zog den Kopf zurück. Jetzt würde sie kommen. Sie sollte ihn nicht wach finden. Er schlüpfte wieder ins Bett und zog die Decken fast über den Kopf. Aber durch die offenen Vorhänge kam ein Mondstrahl herein. Er fiel quer über den Fußboden bis dicht an sein Bett heran, und Jon beobachtete, wie er langsam näher schlich, als wäre er lebendig. Die Musik begann wieder, aber jetzt konnte er sie nur ganz gedämpft hören; leise, süße Töne – müde, schlafen – ach, wie müde – süße – leise – Töne ... Die Zeit verging, und die Töne schwollen an, fielen wieder und verklangen; der Mondstrahl glitt auf sein Gesicht zu. Im Schlaf drehte sich der kleine Jon um, bis er auf dem Rücken lag, während seine braune Faust noch immer die Decke festhielt. Es träumte ihm, er tränke Milch aus einer flachen Schale, und die Schale war der Mond. Eine große schwarze Katze, ihm gegenüber, sah ihm zu mit dem verschmitzten Lächeln seines Vaters. Er hörte sie flüstern: »Laß mir noch was übrig!« Die Milch gehörte natürlich der Katze, und er streckte freundschaftlich die Hand aus, um das Tier zu streicheln; aber da war es verschwunden. Die Schale war ein Bett geworden, in dem er lag; und als er aufstehen wollte, konnte er den Boden nicht finden; er konnte ihn nicht finden – er – er – konnte nicht aufstehen! Es war schrecklich!

Er wimmerte im Schlaf. Das Bett hatte angefangen sich zu drehen; es war außerhalb von ihm und in ihm drin; und drehte sich immer im Kreis herum und fing an zu brennen! Die alte Hexe aus der Geschichte »Gestrandet« schürte das Feuer! Oh, so gräßlich sah sie aus! Immer schneller, immer schlimmer! – bis er und das Bett und die Hexe und der Mond und die Katze alle in einem Wirbel kreisten, um und um und auf und ab – gräßlich – gräßlich – gräßlich!

Er schrie auf.

Eine Stimme sagte: »Jon, lieber Jon!« Und die Stimme drang durch den Wirbel, er wachte auf und stand in seinem Bett mit weit aufgerissenen Augen.

Da stand seine Mutter mit offenem Haar wie Ginevra, und sich an sie klammernd, vergrub er sein Gesicht darin.

»Oh! Oh!«

»Jetzt ist es schon gut, mein Schatz. Du bist ja jetzt wach. Komm! Komm! Fürcht' dich nicht!«

Aber der kleine Jon fuhr fort zu schluchzen: »Oh! Oh!«

Ihre Stimme sprach weiter mit dem weichen, tröstenden Klang: »Es war das Mondlicht, mein Herz, gerade auf deinem Gesicht.«

Der kleine Jon flüsterte halberstickt in ihr Nachtgewand:

»Du hast gesagt, es sei so schön. Oh!«

»Nicht zum Schlafen, Jon. Wer hat es hereingelassen? Hast du die Vorhänge aufgezogen?«

»Ich wollt sehen, wie spät es ist; ich – ich hab' hinausgeschaut, ich – ich hab' dich spielen gehört, Mam; ich – ich hab' meine Makrone gegessen.« Aber allmählich ließ er sich doch beruhigen, und der Instinkt, seine Angst zu rechtfertigen, wachte in ihm auf.

»Die Hexe ist immer in mir herumgefahren, und sie hat angefangen zu brennen«, murmelte er.

»Ja, Jon, so geht es, wenn man nach dem Schlafengehen noch Makronen ißt.«

»Nur eine, Mam; es hat die Musik so viel schöner gemacht. Ich hab' auf dich gewartet – ich hab' geglaubt, es muß schon bald Morgen sein.«

»Mein Schäfchen, es ist gerade erst elf Uhr.«

Der kleine Jon schwieg und rieb nur seine Nase an ihrem Hals.

»Mam, ist der Vati in deinem Zimmer?«

»Heute nacht nicht.«

»Darf ich bei dir schlafen?«

»Wenn du willst, mein Liebstes.«

Schon etwas beruhigter, ließ der kleine Jon sie los.

»Du siehst so anders aus, Mam, so viel jünger.«

»Das macht mein Haar, Liebling.«

Der kleine Jon nahm es in die Hände, dichtes Haar wie dunkles Gold, mit Silberfäden dazwischen.

»Ich hab' es so gern!« sagte er, »und so gefällst du mir am allerbesten.«

Er hatte sie bei der Hand gefaßt und zur Tür gezogen. Mit einem Seufzer der Erleichterung schloß er die Tür, als sie drüben waren.

»Welche Seite vom Bett ist dir lieber, Mam?«

»Die linke.«

»Gut.«

Ohne Zeit zu verlieren und ohne ihr Gelegenheit zu geben, andern Sinnes zu werden, schlüpfte er in ihr Bett, das ihm so viel weicher vorkam als sein eigenes. Noch einmal seufzte er tief auf, wühlte seinen Kopf ins Kissen und verfolgte ein paar Augenblicke lang das Kampfgewimmel der Streitwagen, Schwerter und Lanzen, das man immer in rauhhaarigen Wolldecken sehen kann, wenn man durch die kleinen, emporstehenden Härchen hindurch ins Licht blickt.

»Es war doch nicht irgend etwas Wirkliches, nicht wahr?« sagte er.

Vom Spiegel her, vor dem sie stand, antwortete seine Mutter: »Nein, nur der Mond und deine erhitzte Phantasie. Du darfst dich nicht so aufregen, Jon.«

Aber der kleine Jon, dem die Angst noch immer in den Knochen saß, erwiderte großtuerisch:

»Ich hab' mich natürlich nicht wirklich gefürchtet, o nein!« Und wieder sah er den kämpfenden Speeren und Wagen zu. Es dauerte so lange.

»Ach, Mam, eil' dich doch!«

»Liebling, ich muß doch meine Zöpfe flechten.«

»Ach, heute abend nicht. Morgen früh mußt du sie ja doch wieder lösen. Ich bin jetzt so müde. Wenn du nicht kommst, werd' ich bald nicht mehr müde sein.«

Seine Mutter stand im fließenden Licht vor dem Spiegel mit den Seitenflügeln. Er konnte sie dreifach sehen, wie sie den Kopf zu ihm hinwandte, ihr Haar im Lampenschein leuchtete und ihre dunklen Augen lächelten. Es war ganz überflüssig, und er bat:

»Komm zu mir, Mam. Ich warte.«

»Ja, mein Liebes, ich komme.«

Der kleine Jon schloß die Augen. Alles ging ganz nach seinem Herzen, wenn sie nur bald kam! Er fühlte das Bett erbeben, sie kam. Und noch immer mit geschloffenen Augen, sagte er schlaftrunken:

»So ist's wunderschön, nicht wahr?«

Er hörte ihre Stimme etwas sagen, fühlte ihre Lippen seine Nase berühren, und sich dicht an die Mutter schmiegend, die wach lag und mit Liebe an ihn dachte, fiel er in einen traumlosen Schlaf, der seine erste Kindheit beschloß.

Zu vermieten

»Aus dieser Feinde leid'gem Schoß entsprang

Ein Liebespaar, vom Unstern schwer bedroht.«

Romeo und Julia

Charles Scribner

zugeeignet

Erster Teil

Erstes Kapitel

Begegnung

In Gedanken über die Zukunft versunken, trat Soames Forsyte am Nachmittag des 12. Mai 1920 aus dem Knightsbridge-Hotel, wo er wohnte, um die Bildersammlung in einer Galerie nahe der Cork Street zu besuchen. Er ging zu Fuß. Seit dem Kriege nahm er nie eine Droschke, wenn es sich vermeiden ließ. Die Kutscher waren seiner Ansicht nach eine unhöfliche Gesellschaft, wenn sie auch jetzt, wo der Krieg vorüber war und das Angebot die Nachfrage wieder zu übersteigen begann, gewohnheitsmäßig höflicher wurden. Dennoch hatte er ihnen nicht verziehen, da er sie mit düsteren Erinnerungen und, wie alle Angehörigen ihrer Klasse, jetzt dunkel mit der Revolution identifizierte. Die große Angst, die er während des Krieges ausgestanden hatte, und die noch größere Angst, der er seither im Frieden ausgesetzt gewesen, war nicht ohne psychische Folgen für seine zähe Natur geblieben. Er hatte im Geiste so oft den Ruin erlebt, daß er aufgehört hatte, an dessen greifbare Wahrscheinlichkeit zu glauben. Zahlte man viertausend Pfund im Jahr an Einkommen- und anderen Steuern, was konnte einem da noch Ärgeres widerfahren! Ein Vermögen von einer Viertelmillion, wenn man nur für seine Frau und seine Tochter zu sorgen hatte, bot, da es auf sehr verschiedene Art angelegt war, selbst der »Kateridee« der Kapitalsabgabe gegenüber eine feste Garantie. Und was die Einziehung der Kriegsgewinne anbetraf, war er vollständig damit einverstanden, denn er hatte keine, und der »Bande« geschah ganz recht! Der Preis der Bilder überdies war mehr gestiegen als irgend etwas, und mit seiner Sammlung war es ihm seit dem Kriege besser gegangen denn je zuvor. Luftangriffe hatten ebenfalls günstig auf einen Geist gewirkt, der von Natur vorsichtig war, und einen an sich eigensinnigen Charakter gestählt. Ist man in Gefahr, völlig zerstückelt zu werden, so verringert sich die Furcht vor der teilweisen Zerstückelung, die Abgaben und Steuern mit sich bringen, während die Gewohnheit, die Unverschämtheit der Deutschen zu verurteilen, natürlich dazu geführt hatte, die der Arbeiter, wenn nicht offen, so doch im Grunde seines Herzens zu verurteilen.

Er ging zu Fuß. Übrigens hatte er noch keine Eile, denn Fleur sollte ihn um vier Uhr in der Galerie treffen, und es war erst halb drei. Das Gehen tat ihm gut – seine Leber beengte ihn ein wenig, und seine Nerven waren ziemlich angegriffen. Seine Frau war immer unterwegs, wenn sie in der Stadt waren, und seine Tochter hatte, wie die meisten jungen Mädchen seit dem Kriege, nichts anderes im Sinn, als rastlos, wie ein Irrwisch, umherzuschwärmen. Aber er mußte dankbar sein, daß sie zu jung gewesen, im Kriege selbst etwas zu unternehmen. Natürlich hatte er den Krieg von Anbeginn mit ganzer Seele unterstützt, aber zwischen dieser Unterstützung und der körperlichen seiner Frau und seiner Tochter war ein himmelweiter Unterschied gewesen, und bei seinen etwas altmodischen Anschauungen verabscheute er jede extravagante Regung. Er war zum Beispiel streng dagegen gewesen, daß Annette, die so anziehend und 1914 erst vierunddreißig Jahre alt war, nach ihrer Heimat Frankreich, ihrer »chère patrie «, ging, wie sie es, durch den Krieg angeregt, zu nennen begonnen hatte, um ihre »braves poilus « zu pflegen! Das fehlte gerade, ihre Gesundheit und ihr Aussehen aufs Spiel zu setzen! Als ob sie wirklich Pflegerin wäre! Er hatte nichts davon hören wollen. Mochte sie zu Haus Handarbeiten machen oder stricken für sie! Sie war daher nicht gegangen und seitdem nie wieder ganz dieselbe gewesen. Eine böse Gewohnheit, ihn nicht offen, aber fortgesetzt auf allerlei Art zu verspotten, hatte sich verstärkt. Und für Fleur war durch den Krieg das schwierige Problem entstanden, ob sie in eine Pension kommen sollte oder nicht. Er hielt es für besser, wenn sie fern von der Mutter in ihrer Kriegsstimmung war, fern von dem Zufall der Luftangriffe und dem Bestreben, extravagante Dinge zu unternehmen; er hatte sie in einem Seminar so weit weg untergebracht, wie es ihm mit Vortrefflichkeit vereinbar schien, und hatte sie furchtbar vermißt. Fleur! Er hatte diesen etwas ausländischen Namen, für den er sich bei ihrer Geburt so plötzlich entschieden hatte – wenn es auch eine Konzession an die Franzosen gewesen war –, nie bereut. Fleur! Ein hübscher Name – ein hübsches Kind! Aber unstet – zu unstet, und eigenwillig! Sie kannte auch ihre Macht über ihren Vater! Soames dachte oft darüber nach, welch ein Fehler es war, in seine Tochter vernarrt zu sein. Alt zu werden und vernarrt zu sein! Fünfundsechzig! Er wurde älter, aber er fühlte es nicht, denn glücklicherweise vielleicht, wenn man Annettens Jugend und gutes Aussehen in Betracht zog, hatte seine zweite Ehe sich als eine kühle Angelegenheit herausgestellt. Er hatte in seinem Leben nur eine wahre Leidenschaft gekannt – für seine erste Frau – für Irene. Ja, und sein Vetter Jolyon, der mit ihr auf und davon gegangen war, sähe sehr klapprig aus, sagten sie. Kein Wunder mit zweiundsiebzig, nach zwanzig Jahren einer dritten Ehe!

Soames hielt einen Augenblick im Gehen inne, um sich über das Parkgitter zu lehnen. Ein passender Ort für Erinnerungen auf halbem Wege zwischen dem Haus in Park Lane, das seine Geburt und den Tod seiner Eltern gesehen, und dem kleinen Haus in Montpellier Square, wo er vor fünfunddreißig Jahren die erste Ausgabe seiner Ehe genossen hatte. Jetzt, nach zwanzig Jahren der zweiten Ausgabe, kam ihm die alte Tragödie vor wie ein Dasein, das er früher geführt – und das geendet hatte, als Fleur anstatt des Sohnes geboren war, auf den er gehofft. Seit vielen Jahren hatte er aufgehört, es auch nur vage zu bedauern, daß ihm kein Sohn geboren war; Fleur füllte sein Herz völlig aus. Schließlich trug sie ja seinen Namen, und er sehnte sich durchaus nicht nach der Zeit, wo sie ihn ändern würde. Dachte er jemals an solch eine Kalamität, so war sie durch das unbestimmte Gefühl gemildert, daß er sie reich genug machen könnte, um den Namen des jungen Mannes, der sie heiratete, vielleicht zu kaufen und auszulöschen – weshalb auch nicht, da Frauen doch heutzutage den Männern gleich waren, wie es den Anschein hatte? Und in der heimlichen Überzeugung, daß sie es nicht waren, strich sich Soames mit der gebogenen Hand kräftig über das Gesicht, bis sie gemächlich bis zum Kinn hinunterglitt. Dank seiner enthaltsamen Lebensweise war er nicht fett und schwammig geworden, seine Nase war blaß und dünn und der graue Schnurrbart kurz gestutzt, seine Sehkraft ungeschmälert. Ein leichtes Vorbeugen machte das Höherwerden der Stirn unter dem zurückweichenden Haar weniger sichtbar. Die Zeit hatte den »begütertsten« der jungen Forsytes, wie der letzte der alten Forsytes – Timothy – jetzt, in seinem hundertsten Jahr, es ausgedrückt hätte, wenig verändert.

Der Schatten der Platanen fiel auf seinen feinen Filzhut, er hatte die Zylinderhüte aufgegeben – es hatte keinen Zweck, in Zeiten wie diesen die Aufmerksamkeit auf Reichtum zu lenken. Platanen! Seine Gedanken wandelten lebhaft nach Madrid – Ostern vorm Kriege, als er jenes Goyabildes wegen einen Entschluß fassen mußte und eine Entdeckungsreise unternommen hatte, um den Maler an Ort und Stelle zu studieren. Der Mann hatte Eindruck auf ihn gemacht – ein sehr vielseitiger Maler, ein wahres Genie! Doch einen so hohen Rang er auch einnahm, er würde einen höheren einnehmen, bevor sie mit ihm fertig waren. Der zweite Goyarummel würde größer sein, als der erste gewesen, o ja! Und er hatte gekauft. Auf dieser Reise hatte er – was er nie zuvor getan – die Kopie eines Freskogemäldes, »La Vendimia« genannt, bestellt, auf dem die Gestalt eines Mädchens, einen Arm in die Seite gestemmt, ihn an seine Tochter erinnert hatte. Es hing jetzt in seiner Galerie in Mapledurham, und zwar ziemlich schlecht – man konnte Goya nicht kopieren. Wenn aber seine Tochter nicht mehr da war, würde er es um der Erinnerung willen, um des Unwiderstehlichen in der Beleuchtung, des straffen Gleichgewichts der Gestalt, der Weite zwischen den gewölbten Brauen, der glühenden verträumten Augen willen immer gern anschauen. Merkwürdig, daß Fleur dunkle Augen hatte, wo seine eigenen grau waren – kein echter Forsyte hatte braune Augen, und die ihrer Mutter waren blau! Aber natürlich, die Augen Madame Lamottes, ihrer Großmutter, waren dunkel wie Sirup!

Er ging weiter bis zur Hydepark Corner. In ganz England gab es keine größere Veränderung als auf dem Reitweg in diesem Park. Beinah in Schußweite davon geboren, konnte er sich dessen seit 1860 erinnern. Als Kind hatte man ihn hingebracht, um zwischen Krinolinen die Dandys in engen Hosen mit Backenbärten anzustaunen, die in steifer Haltung vorüberritten, zu beobachten, wie die krausrandigen und die steifen weißen Hüte aus der Mode kamen und der kleine krummbeinige Mann in langer roter Weste, der mit Hunden an etlichen Leinen: King-Charles-Wachtelhunden und italienischen Windspielen, die in die Krinoline seiner Mutter verliebt waren, unter die modischen Leute zu kommen pflegte und versuchte, einen an sie verkaufen – jetzt war so etwas nie mehr zu sehen. Man sah niemand mehr von Rang, nur noch Arbeitervolk, das dumpf in Reihen saß und nichts zum Anstarren hatte als ein paar rittlings in den Sätteln sitzende kecke junge Reiterinnen mit Topfhüten oder Leute aus den Kolonien, die planlos auf elenden Mietsgäulen auf und nieder ritten, ab und zu hier und dort kleine Mädchen auf Ponys oder alte Herren, die sich Bewegung machten, zuweilen auch eine Ordonnanz auf einem großen Kavalleriepferd; kein Vollblut, keine Grooms, keine Verbeugung, kein Scharren, keine Unterhaltung – nichts, nur die Bäume waren dieselben – die Bäume, die den Generationen und dem Verfall der Menschheit gegenüber gleichgültig blieben. Ein demokratisches England – zersplittert, eilig, laut und offenbar ohne ein Ziel. Etwas wie stolze Verachtung regte sich in Soames. Für immer vorbei der enge Kreis von Vornehmheit und Rang! Reichtum gab es wohl – o ja! Reichtum – er selbst war ein reicherer Mann, als sein Vater je gewesen, aber Manieren, Geschmack, Qualität, damit war es vorbei, es war alles in einen öden, häßlichen, wüsten, nach Maschinenöl riechenden Rummel versunken. Hier und dort verstreut und »chétif «, wie Annette sagen würde, ein paar halb heruntergekommene Leute vornehmen Standes, aber nichts von Bestand und Zusammenhang mehr. Und in dies neue Durcheinander von schlechten Manieren und lockeren Sitten war seine Tochter – die Blume seines Lebens – hineingeschleudert! Und wenn diese Gesellen von der Arbeiterpartei an die Macht kamen – wenn das jemals geschah –, mußte man auf das Schlimmste gefaßt sein!

Er ging durch das Tor, das – Gott sei Dank – nicht mehr durch das Kanonengrau seines Scheinwerfers verunstaltet war. »Sie sollten lieber dort einen Scheinwerfer anbringen, wohin sie alle gehen«, dachte er, »und ihre kostbare Demokratie beleuchten!« Dann setzte er seinen Weg an den Klubfronten der Piccadilly entlang fort. George Forsyte würde natürlich an dem Bogenfenster des Iseeum-Klubs sitzen. Der Mensch war jetzt so stark geworden, daß er fast seine ganze Zeit dort zubrachte, einem reglosen, spöttischen, humoristischen Auge gleich, das den Niedergang von Menschen und Dingen beobachtete. Und Soames, der sich im Grunde immer unbehaglich unter dem Blick seines Vetters fühlte, beeilte sich, vorbeizukommen. George hatte, wie er gehört, mitten im Kriege einen Brief mit der Unterschrift »Patriot« geschrieben und sich über die Hysterie der Regierung beklagt, die den Hafer für die Rennpferde beschlagnahmt hatte. Ja, da war er, groß, wuchtig, geschniegelt, glatt rasiert, mit seinem schlichten Haar, das kaum dünner geworden war und sicher nach dem besten Haarwuchsmittel roch, und einem Rennprogramm in der Hand. Nein, er veränderte sich nicht! Und vielleicht zum erstenmal in seinem Leben empfand Soames eine gewisse Sympathie unter seiner Weste für diesen spottlustigen Verwandten. Mit seinem Gewicht, seinem vollkommen gescheitelten Haar und dem stierähnlichen Blick war er eine Gewähr dafür, daß die alte Ordnung noch manchem Stoß widerstehen würde. Er sah George das Rennprogramm bewegen, wie um ihn aufzufordern, heraufzukommen – er wollte ihn wohl etwas über das Vermögen fragen. Es stand noch unter Soames' Kontrolle, denn bei der Annahme einer stillen Teilhaberschaft in jener schmerzlichen Periode vor zwanzig Jahren, als er sich von Irene hatte scheiden lassen, war Soames, fast ohne es zu wollen, weiter Verwalter aller reinen Forsyteangelegenheiten geblieben.