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Julia Severin ist eine attraktive Frau, sie führt eine harmonische Ehe mit dem erfolgreichen Anwalt Robert und ist glückliche Mutter zweier Kinder. Ihr Leben scheint perfekt zu sein. Bis zu dem Morgen, an dem Robert bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Von nun an ist die junge Witwe auf sich allein gestellt, einzig ihre Kinder sind es, die ihrem Leben noch einen Sinn geben. Ihnen gilt Julias ganze Zuneigung und Aufmerksamkeit. Gibt sie ihnen womöglich sogar zu viel Liebe? Als Julia nach Jahren ihre ablehnende Haltung gegenüber Männern aufgibt und bereit ist, sich wieder zu verlieben, stößt sie damit vor allem bei ihrem Sohn Ralph auf Ablehnung. Er versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass es wieder einen neuen Mann an der Seite seiner Mutter gibt … Band 1 der »Julia Severin«-Trilogie.
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Seitenzahl: 530
Marie Louise Fischer
Roman
Es war ein düsterer Morgen im April.
Die Magnolie im Garten war schon aufgebrochen, und die Forsythien blühten leuchtend gelb, aber am Tag zuvor hatte es wieder geschneit, und der Frühlingszauber kämpfte gegen die weiße Pracht an. Die Obstbäume sahen fast aus, als wären sie mit Blüten bedeckt, aber es war nichts als Schnee, weißer, kalter Schnee, an dem man sich den ganzen Winter über hatte erfreuen können und der jetzt keinen Zauber mehr ausübte.
Ostern war längst vorbei.
Julia fiel es noch schwerer als sonst, aufzustehen. Sie tappte mit schlaftrunkenen Augen durch ihre Wohnung – eine große Wohnung mit hohen Wänden und mit stuckverzierten Decken – in ihren bequemen, ausgetretenen Pantoffeln, einen Baumwollkittel über das Nachthemd gezogen, setzte Kaffeewasser auf und deckte den Frühstückstisch. Sie gähnte ausgiebig und war mit sich selber unzufrieden. Robert hatte das Recht, am Morgen eine quicklebendige, muntere kleine Hausfrau vor sich zu sehen, bevor er nach Traunstein zum Oberlandesgericht in den Kampf um das tägliche Brot loszog. Aber sie hatte eigentlich nur den Wunsch, noch länger im warmen Bett zu bleiben und sich die Decke über die Ohren zu ziehen.
Aber immerhin, sie war aufgestanden, gleich als der Wecker schrillte, hatte ihn sofort abgestellt, damit er Robert und die Kinder nicht störte, und hatte sich an die Arbeit gemacht. Immerhin.
Mit einer verzweifelten, beinahe hilflosen Geste fuhr sie sich mit beiden Händen durch die kurzgeschnittenen braunen Haare. Sie brauchte keine Lockenwickler, das war schon etwas, und auch ohne Make-up war ihr kleines, dreieckiges Gesicht mit den weit auseinanderstehenden runden braunen Augen nicht reizlos anzusehen.
Während das Kaffeewasser siedete, lief sie ins Bad und musterte sich. Sie rieb sich die Augen sauber, putzte sich ausgiebig die Zähne und sprühte sich Eau de Toilette unter ihre Achseln. So musste es gehen. Schließlich war sie kein Pin-up-Girl gewesen, als Robert sie geheiratet hatte.
Was war sie gewesen? Ein Nichts, Gymnasiastin, zwischen Mittlerer Reife und Abitur steckend, sehr unglücklich als Tochter einer verbitterten, herrschsüchtigen Mutter, der der Mann weggelaufen war. Inzwischen war sie Hausfrau und Mutter und sehr glücklich.
Ja, sie war glücklich! Julia strahlte ihr Spiegelbild an. Sie hatte einen wunderbaren Mann und fabelhafte Kinder. Alle ihre Wünsche hatten sich erfüllt. Der Schnee draußen störte sie. Aber was hatte er schon zu bedeuten. Es war Frühling, und es würde Sommer werden. Das Leben war wundervoll.
Der Wasserkessel pfiff.
Julia entschied: kein Make-up. Robert kannte und liebte sie so, wie sie war. Es wäre albern gewesen, ihn am frühen Morgen mit geschminkten Wangen, gefärbten Lippen und gepuderter Nase zu wecken. Noch waren sie rosig vom Schlaf, ihre Augen glänzten, und sie sah wie ein unternehmungslustiges Kind aus.
Das ärgerte sie ein wenig. Sie war immerhin dreiundzwanzig, Ehefrau und Mutter, ein respektiertes Mitglied der Bad Eysinger Gesellschaft, jemand, vor der die Männer sich verbeugten und einen Handkuss versuchten. Weil sie sie achteten. Oder weil ihr Mann Richter war? Jedenfalls war es so, und sie hatte allen Grund, stolz auf sich zu sein und nicht so auszusehen wie ein kleines Mädchen am ersten Ferientag.
Sie stürzte in die Küche – früher war sie einmal in der hochherrschaftlichen Villa, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, die Anrichte gewesen –, goss das kochende Wasser in den vorbereiteten Filter. Die Brötchen, die sie aus dem Gefrierfach genommen und in den Backofen gesetzt hatte, dufteten schon.
Julia machte das Radio an und drehte es wieder aus. Sie hatte die Nachrichten verpasst, und Robert mochte keine Unterhaltungsmusik, schon gar nicht am frühen Morgen.
Mit einem Blick überflog sie den Frühstückstisch. Es stimmte alles: Butter, Käse, Wurst und Marmelade waren da.
Sie hatten ein großes, freundliches Esszimmer. Aber Robert, sie und die Kinder pflegten in der Küche zu frühstücken. Es war praktischer so und irgendwie intimer.
Aus dem Weidenkorb leuchteten ein paar Orangen. Sie waren für den Nachtisch der Kinder bestimmt. Aber bis zum Mittagessen konnte sie leicht neue Früchte besorgt haben.
Rasch griff sie zu, schnitt sie durch und drückte den Saft in ein Glas. Robert würde Schwung und Kraft für den Tag brauchen. Er arbeitete ja so viel, viel zu viel, wie sie dachte. Immerzu hatte er seine Akten im Kopf. Es war ein Wunder, dass er nicht schon ganz durcheinander davon geworden war. Aber das war er nicht. Er war klug und witzig und immer so überlegen – nicht nur ihr gegenüber, er war allen Menschen überlegen. Robert! Was für ein Glück, dass sie ihn kennengelernt und dass er sie wahrhaftig geheiratet hatte! Robert! Es war höchste Zeit, ihn zu wecken.
Morgens war Robert alles andere als geistreich, sie kannte das schon. Er presste die Lippen aufeinander, als sie ihn küsste, weil er Angst hatte, aus dem Mund zu riechen, brauchte lange Zeit, um sich zu rasieren und zu waschen. Auch als er endlich, makellos in grauem Anzug, frischem Hemd und Krawatte, in der Küche erschien, hatte er weder Sinn für Zärtlichkeiten noch Lust, eine Unterhaltung zu führen. Schweigend ließ er sich von Julia bedienen.
Sie tat es gerne, war nur glücklich, ihn anzusehen, sein markantes Gesicht mit den schräg stehenden Augen, die hohe Stirn und das dichte Haar, das nur in den Winkeln zurückging. Nur zu gern hätte sie ihm gesagt, wie sehr sie ihn liebte. Aber sie empfand, dass es in dieser Alltagssituation unpassend gewesen wäre oder, genauer gesagt, dass er es als unpassend empfunden hätte. Sie hätte es ihm in jeder Minute sagen mögen – in der Küche, im Schlafzimmer, beim Spazierengehen oder – mitten in der Nacht.
Ihre Freundin Agnes Kast, die mit ihrer Familie den unteren Stock des Hauses gemietet hatte, pflegte ihr zu sagen: »Du vergötterst deinen Mann. Das ist nicht gut. Es wird ihm zu Kopf steigen.«
Sie lachte dazu. »Sei ehrlich, findest du ihn nicht auch wundervoll?«
»Er ist ein ganz gewöhnlicher, ziemlich trockener Jurist!«
»Er ist der Mann, den ich liebe!«
»Glückliches Kind! Gott erhalte dir deine Illusionen!«
Agnes war sieben Jahre älter als sie, und Julia gestand ihr zu, dass sie mehr Erfahrungen hatte. Günther, der Mann von Agnes, war Fachmann für Zentralheizungen und betrieb einen Kundendienst. Er war dauernd auf Achse, manchmal auch abends und an Feiertagen. Julia unterstellte, dass er Agnes nicht treu war, wenn sie auch niemals darüber sprachen. Aber zwischen Robert und Günther bestand in ihren Augen ein Unterschied, der keine Vergleiche erlaubte. Die beiden ähnelten sich nur in einem Punkt: Sie waren Männer. Aber Robert würde sie niemals betrügen. Wenn er mit einer anderen Frau flirtete, geschah es nur zum Spaß. Er lebte nur für sie und die Kinder, und natürlich auch für seine Akten, seine Karriere, aber die war ihm ja auch nur so wichtig, weil er ihr etwas bieten wollte. Geliebter Robert! Sie betrachtete ihn, während er schweigend aß, schenkte ihm Kaffee nach und wartete auf sein Lächeln.
»Weißt du, was ich an dir schätze?«, fragte er endlich.
»Ja …?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Dass du eine Frau bist, die nicht dauernd plappern muss!«
Julia lachte. »Wenn das alles ist!«
»Es ist nicht alles, und du weißt es!« Er stand auf, ging in die Garderobe und zog seinen Regenmantel über.
»Ist er nicht zu dünn?«, fragte sie. »Es könnte wieder schneien!«
»Ich sitze ja nur im Auto damit! Auf Wiedersehen, Liebling! Bis heute Abend!« – Er küsste sie flüchtig.
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen. »Pass auf dich auf!«
»Pass du auf dich und die Kinder auf!«
Er war schon aus der Tür.
Sie hörte seine Schritte nicht, das alte Haus war solide gebaut, aber sie wusste, dass er jetzt die Treppe hinunterging und begleitete ihn in ihrem Herzen.
Die Garage war ein flacher Zweckbau, neben die Villa gesetzt; er würde sie jetzt aufschließen und sein Auto herausfahren.
Julia lief zum Fenster, um ihm noch einmal zuzuwinken. Er blickte nicht hoch. Sie nahm es ihm nicht übel, denn sie wusste, dass er schon wieder ganz in seine Akten vertieft war.
Sie hätte gewünscht, dass er ihr mal von seinen Fällen erzählt hätte, aber sie verstand auch, dass es ein Amtsgeheimnis gab, das er wahren musste.
»Bis heute Abend, Robert!«, rief sie und öffnete das Fenster.
Aber er hörte sie nicht mehr. Er kurvte aus der Garage, und sein Auto verschwand dort, wo sie den Akazienweg nicht mehr übersehen konnte.
Ralph war schon wach. Seine dichten, seidigen Wimpern flatterten. Aber er tat, als schliefe er noch.
Julia kannte das. Ralph wollte nicht aufstehen; er mochte nicht in den Kindergarten. Sie hätte es ihm gern erspart, aber es führte kein Weg daran vorbei. Robert bestand darauf. Er wollte, dass sein Sohn rechtzeitig lernte, sich in der Gemeinschaft durchzusetzen; er wollte Ralph kräftig, fröhlich, selbstbewusst sehen. Immer wieder sprach er von Abhärtung, ein Wort, das Julia hasste und bei dem sie, wenn sie es nur hörte, eine Gänsehaut bekommen konnte. Aber natürlich wollte sie es ihrem Mann recht machen.
Sie beugte sich über das Bettchen und küsste den kleinen Jungen sanft auf die Schläfe. »Guten Morgen, mein Liebling! Aufstehen!«
Ohne die Augen zu öffnen, murmelte er: »Mag nicht!«
»Vati ist schon fort, und es wird höchste Zeit für dich.«
»Ralph ist noch müde!« – Ralph hatte längst gelernt, von sich in der ersten Person zu denken und zu sprechen, aber wenn er unlustig war, verfiel er wieder in seine Babysprache.
»Sei nicht albern!« Julia lachte. »Ich mache dir jetzt eine schöne Tasse Kakao und ein ganz, ganz gutes Frühstück!«
»Hab’ keinen Hunger!«
»Bestimmt hast du!« Der Gedanke überfiel sie, dass er krank sein könnte, und sie legte ihm prüfend die Hand auf die Stirn; sie war warm vom Schlaf, aber durchaus nicht heiß. »Ich gebe dir noch ein paar Minuten Zeit«, sagte sie verständnisvoll, »inzwischen sehe ich nach dem Baby.«
Sofort schlang er die Ärmchen um ihren Hals. »Bitte, bleiben!«
»Nein, Ralphy, das geht wirklich nicht! Baby muss sein Fläschchen kriegen, und du musst allmählich munter werden!« Mit Überwindung löste sie sich aus seinem Zugriff; wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie stundenlang mit ihm schmusen mögen.
»Julia!«, sagte er flehend; er war gewohnt, sie so zu nennen, wie es der Vater tat. Sie blieb in der Tür stehen. »Ja?«
»Muss ich heute?«
»Ja.«
»Aber die Kinder sind schlimm!«
»Unsinn! Es sind einfach Kinder!«
»Ich würde dir viel lieber helfen.«
Julia holte Atem und erklärte in einem sehr entschiedenen Ton, bei dem es ihr selber vorkam, als spielte sie eine Rolle: »Mein lieber Junge, ich denke doch, dass dieses Thema zwischen uns ausdiskutiert ist. Dein Vater und ich wollen, dass du in den Kindergarten gehst …«
»Aber du willst das ja gar nicht!«
»Dein Vater will es, und er weiß, was das Beste für dich ist! Bald kommst du in die Schule, und dann musst du gelernt haben, mit den anderen Kindern fertig zu werden.«
»Die immer mit ihren blöden Spielen!«
Julia ließ ihn allein.
Robertas Bettchen stand am Fußende der Elternbetten. Erleichtert stellte Julia fest, dass die Kleine immer noch schlief. An manchen Tagen, wenn sie vor ihr erwachte, war es schlimm. Dann wuchsen die Verpflichtungen Julia über den Kopf. Sie wusste nicht, wie sie das Baby stillhalten und den Schlaf ihres Mannes schützen konnte. Roberta war noch keine zwei Jahre alt, viel zu klein, um zu begreifen, dass man nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit Lärm machen durfte, wenn einem danach zumute war.
Aber heute war alles gut gegangen. Robert war aus dem Haus gegangen, ohne sich ärgern zu müssen, und sie konnte jetzt in aller Ruhe das Frühstück für die Kinder vorbereiten.
»Jetzt aber ganz schnell«, mahnte sie Ralph, »sonst wird der Kakao kalt, und du magst ihn nicht mehr!«
Er hatte die Augen schon wieder geschlossen. »Bin noch müde!«
»Stimmt ja gar nicht!« Sie hob ihn aus dem Bett; er war so warm und federleicht in ihren Armen, dass es entzückte. »Ich wette, du musst Pipi machen!« – Sie trug ihn ins Bad, einen großen Raum mit rotbraunen Kacheln und maisgelben Schalen, den sie und Robert nach dem Tod ihrer Mutter nach ihrem eigenen Geschmack hatten umbauen lassen.
Rasch brachte sie Ralphs Bettzeug auf eine geschützte Stelle des Balkons zum Lüften, damit er gar nicht erst wieder in Versuchung geraten konnte, hineinzuschlüpfen.
Dann goss sie sich selber eine Tasse Kaffee auf. »Komm, ich leiste dir Gesellschaft!«, rief sie Ralph zu, als er aus dem Bad geschlurft kam. »Baby schläft noch. Ist das nicht fein?«
Mit betonter Unlust, als würde er ihr eine besondere Gnade erweisen indem er ihre Einladung annahm, nahm er am Küchentisch Platz. Aber er konnte nicht verbergen, dass es ihm schmeckte.
Julia beobachtete ihn mit unverhohlener Freude. Der rote Frotteeanzug war ihm schon ein wenig zu klein geworden und gab seine zarten, bräunlichen Gelenke frei. Das braune, lockige Haar, das er von ihr hatte, war noch vom Schlaf verwuschelt. Noch hatte er einen kleinen Bauch, und sein Gesicht war kindlich rund. Aber schon verrieten seine hohen Jochbogen und die schräg gestellten, sehr grünen Augen – sie ähnelten denen Roberts –, dass er in nicht allzu langer Zeit ein gut aussehender junger Mann sein würde.
»Ich hab’ dich lieb«, sagte sie unwillkürlich, obwohl sie wusste, dass dies eine völlig überflüssige Bemerkung war.
Ralph nahm sie denn auch gar nicht zur Kenntnis. »Kann ich Schnittlauch haben?«, fragte er.
Julia hatte den Rest Schnittlauch, der in einem Blumentopf auf der Fensterbank wuchs, zwar am Abend für den Salat hernehmen wollen, aber bis dahin, überlegte sie, konnte sie leicht neuen besorgen. »Aber ja!« – Sie erntete ihn mit der Schere, schnitt ihn auf einem Holzbrettchen klein und streute ihn über Ralphs Butterbrot.
»Hm, hm, fein«, sagte er anerkennend und biss in das Brot.
»Was wünschst du dir zum Mittagessen?«
»Rehrücken!«
»Aber Ralph, ich kann doch nicht nur für uns beide einen Rehrücken braten! Solche Sachen gibt es doch nur an Feiertagen oder höchstens abends.«
»Warum?«
»Willst du mich ärgern?«
»Nur weil Vati dann da ist! Für mich kochst du überhaupt nicht!«
»Du bist albern, Ralph! Jeden Mittag koche ich was für uns beide.«
»Aber kein Reh!«
»Natürlich nicht. Mittags gibt es nur eine Kleinigkeit. Braten ist für die ganze Familie.«
»Warum?«
»Weil es sich nicht lohnt!«
»Warum lohnt es sich nicht?«
»Weil man für zwei Personen gar keinen guten Braten machen kann.«
»Weil es dir zu viel Arbeit ist!«
»Ja, es ist mir zu viel Arbeit, und es ist zu teuer, und es kommt überhaupt nicht in Frage!«
»Warum fragst du mich dann, was ich essen will?«
»Also wirklich, Ralph, mir scheint, du bist mit dem verkehrten Fuß aufgestanden!«
»Stimmt gar nicht. Du hast mich ins Bad getragen.«
Julia lachte. »Du willst mich ärgern, gib es zu! Aber das kannst du gar nicht, weil du mein süßer kleiner, über alles geliebter Pumpelmatz bist!«
Sie war fast erleichtert, als das Baby schrie; die Unterhaltung mit ihrem schlechtgelaunten Sohn war reichlich anstrengend gewesen. »Ich muss nach Robsy sehen!«
»Sie braucht bloß zu schreien und du springst!«
»Komme ich nicht auch immer, wenn du mich rufst?« Julia lief aus der Küche.
Das Baby schrie mit hochrotem Kopf.
»Aber, Liebling, warum brüllst du denn so!? Mutti ist doch schon da!« Mit geübten Händen zog Julia der Kleinen die Strampelhose aus und die Windeln herunter; sie waren trocken. »Robsy, das ist ja fabelhaft!« Vor Aufregung konnte Julia ihr nicht gleich das Töpfchen hinstellen, sondern trug sie ins Bad.
Roberta plätscherte ihr Bächlein in die Toilette, während Julia sie festhielt.
»Robsy, wie wunderbar! Du hast es geschafft! Warte, nicht lange, und du bist eine richtige Dame!« Julia gab ihr einen Schmatz und zog ihr die Hose wieder über.
Roberta strahlte; sie hatte die runden, weit auseinanderstehenden Augen der Mutter, aber silberblondes, glattes Haar.
»Mein Engel!« Julia drückte sie fest an sich.
Als sie mit ihrer Tochter in die Küche zurückkam, hatte Ralph den Becher mit dem Kakao umgestoßen und sah sie betroffen an, als erwartete er Strafe, aber gleichzeitig auch ein wenig herausfordernd.
»Aber das macht ja nichts«, sagte Julia rasch, »lauf jetzt! Wasch dich und zieh dich an! Ich gebe inzwischen Baby das Fläschchen!«
Roberta konnte zwar längst aus der Tasse trinken, aber Julia fand es bequemer, ihr morgens gegen den ersten Hunger die Flasche in die Hände zu drücken. Robert sah das zwar nicht gerne, aber jetzt war er ja nicht da. Julia legte ihr Baby wieder in das Kinderbett zurück, nahm die Flasche aus dem heißen Wasser, in dem sie sie warmgehalten hatte, presste sie an die Wange, um festzustellen, ob sie auch nicht zu heiß war, lief zu Roberta und gab sie ihr. Zufrieden nuckelte die Kleine.
Julia sprach mit ihr allerhand Unsinn, gerade das, was ihr eben einfiel, während sie sich selber hastig anzog. Sie war vor Ralph fertig, damit hatte sie gerechnet. Ohne ihn zu tadeln, knöpfte sie ihm die Hose zu und schnürte ihm die Stiefel. »Du wirst sehen, heute wird dir der Kindergarten Spaß machen!«, behauptete sie.
»Bestimmt nicht!«
»Aber ja doch! Es hat wieder geschneit! Ihr könnt Schneebälle werfen!«
Ralph zog die Schultern hoch und sagte schaudernd. »Brrr!«
»Weißt du, was ich mit dir mache, wenn du so bist? Ich stecke dich kopfüber in den Schnee!«
»Tust du doch nicht!«
»Natürlich nicht! Ich will doch nicht, dass mein kleiner Liebling nass wird und sich vielleicht erkältet.«
»Warum sagst du dann so was?!«
»Weil ich möchte, dass du endlich mal lachst!«
»Ich finde das gar nicht komisch.«
»Komm schon. Mach dich nicht so steif. Wir wollen doch nicht zu spät kommen.« Sie zwängte ihn in sein Jäckchen, setzte ihm die gestrickte rote Mütze auf und half ihm in die Handschuhe. »Damit du nicht frierst.«
Ralph ließ alles mit der Miene eines Märtyrers über sich ergehen.
Es blieb keine Zeit mehr, Roberta umzuziehen oder auch nur frisch zu wickeln. »Du wirst trocken bleiben, ja?«, fragte Julia beschwörend und stülpte auch ihr ein Mützchen über die Ohren; Roberta Handschuhe anzuziehen, hatte keinen Zweck, denn sie pflegte die Finger, ob mit oder ohne Handschuhe, in den Mund zu nehmen und zu besabbern. »Schnell!«
Julia steckte nur die Hausschlüssel ein. Der Kinderwagen stand im Treppenhaus nahe der Haustür. Sie packte Roberta hinein und schob los.
Von der Akazienallee waren es kaum zehn Minuten in das Innere der Stadt und zum Kindergarten. Rasch kamen sie in belebte Straßen. Mütter mit anderen Kindern tauchten auf. Julia musste Grußworte hierhin und dahin wechseln. Sie war in Bad Eysing aufgewachsen, und jeder kannte sie, obwohl sie jahrelang fort gewesen war. Ihr Vater war Bankdirektor gewesen, bevor er sich in eine Liebschaft mit seiner Sekretärin eingelassen hatte. Danach war er strafversetzt worden, die Mutter hatte sich scheiden lassen, und er hatte die Sekretärin geheiratet.
Das war in der kleinen Stadt ein Skandal gewesen, aber es war schon lange her, und Julia machte sich nichts mehr daraus. Sie wusste, dass über sie geklatscht wurde, aber sie fühlte sich darüber erhaben. Wie immer sich ihre Eltern verhalten hatten, ihre eigene Ehe war gut, und sie war fest entschlossen, sie durch nichts stören zu lassen. Manchmal dachte sie daran, was passieren würde, wenn Robert sie betrügen würde – was sie sich jedoch nicht wirklich vorstellen konnte. Aber sie würde nicht wie ihre Mutter handeln und die Sache an die große Glocke bringen. Sie würde beide Augen zudrücken und die Ehe aufrechterhalten. Um ihretwillen, um Roberts und um der Kinder willen. Als sie geheiratet hatte, war sie entschlossen gewesen, für immer mit Robert zusammenzubleiben. Eine Ehe war etwas anderes als eine flüchtige Liebschaft. Vielleicht konnte es vorkommen, dass ihm eines Tages eine andere Frau besser gefiel. Aber das würde sich schon wieder geben, wenn sie ihm nur keine Vorwürfe machte, ihm ihre Liebe zeigte und fest zu ihm hielt.
Der Kindergarten war ganz das, was sein Name versprach – ein Garten mit Rutschbahn und Klettergerüst, Sträuchern und Rasen, in dessen Mitte ein kleines Haus mit tief herabgezogenem, gemütlichem Dach stand, das jetzt eine dicke Schneedecke aufhatte.
Julia half Ralph noch im Flur die Jacke auszuziehen und die Stiefel gegen Hauspantoffeln auszutauschen. »Es sind nur ein paar Stunden«, sagte sie, »Punkt zwölf hol’ ich dich ab.«
Ralph schob die Unterlippe vor.
Julia mochte die Vorsteherin des Kindergartens, die auch Ralphs Gruppe leitete, nicht. Fräulein Binder war eine herbe, knochige Person, und ihre betonte Freundlichkeit schien ihr zu professionell. Sie hatte mit ihrem Mann darüber gesprochen und angedeutet, dass womöglich sie es war, die Ralph das Zusammensein mit gleichaltrigen Kindern verdarb.
Aber Robert hatte sich nicht beeindrucken lassen. »Fräulein Binder ist eine ausgezeichnete Pädagogin«, hatte er gesagt, »alle Eltern loben sie. Nur du hast etwas gegen sie einzuwenden.«
»Sie kommt mir falsch vor.«
»Was für eine Idee!«
»Sie ist schrecklich liebenswürdig, aber ich glaube, dass sie die Kinder nicht wirklich mag.« Stockend hatte Julia hinzugefügt: »Sie mag Ralph nicht.«
»Ist das ein Wunder? Wenn er kilometerweit heraushängen lässt, dass er nicht freiwillig kommt?«
»Würde sie liebevoller zu ihm sein, würde es ihm wahrscheinlich Spaß machen.«
»Meine liebe Julia, natürlich hat Fräulein Binder nicht so viel Nachsicht mit ihm wie du. Du bist die Mutter, und du liebst ihn. Für Fräulein Binder ist er ein Kind unter vielen, das ihr das Leben schwermacht und sich nicht die Mühe gibt, sich in die Gemeinschaft einzufügen.«
»Das stimmt nicht! Er nimmt sich wirklich zusammen!«
»Aber er kommt einfach nicht gern und selbstverständlich hin wie die anderen … wie die meisten anderen. Um gerecht zu sein, er ist sicher nicht der Einzige, der an Mutters Rockzipfel hängt.«
»Du verstehst mich nicht. Ich meine einfach, dass Fräulein Binder nicht wirklich nett zu den Kindern ist. Sie tut nur so, und das spürt er.«
»Ausgezeichnet. Genau das soll er lernen. Dass nicht alle Menschen so geduldig und liebevoll und lammfromm mit ihm umgehen wie du. So ist nun mal das Leben. Man findet höchst selten einen Menschen, der einen mit all seinen Fehlern liebt. In der Regel muss man sich mit seinen Mitmenschen auseinandersetzen. Man muss kämpfen.«
»Schon im Kindergarten!?«
»Ja, genau da. Dafür ist er eingerichtet worden.«
Julia hatte es aufgegeben. Sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, mit Robert über Probleme zu diskutieren, zu denen er eine feste Meinung hatte.
Wie jeden Morgen war sie wieder einmal froh, als sie Ralph in das Spielzimmer bugsiert hatte – froh und traurig zugleich, denn der Lärm, den die anderen Kinder machten, tat ihr weh. Sie sah, wie sie sich stießen und drängten, und es schmerzte, sich vorzustellen, dass ihr zarter, intelligenter kleiner Junge sich in dieser Horde bewähren musste.
Sie schloss die Tür hinter Ralph.
Von drinnen ertönte Fräulein Binders befehlsgewohnte Stimme: »Auf die Plätze, eins, zwei, drei! Schluss mit dem Geschrei! Wir singen: ›Im Märzen der Bauer sein Rösslein einspannt …‹«
Julia fand es typisch für Fräulein Binder, dass sie die Kinder ein Lied singen ließ, das überhaupt nicht zur Stimmung dieses Tages passen wollte. Es hatte schon wieder zu schneien begonnen, und sie war froh, dass sie die Schutzdecke über Robertas Wagen gespannt hatte. Die Kleine saß aufrecht und vergnügt und versuchte, mit den rosigen Händen ein Schneeflöckchen zu fangen; sie liebte es, spazieren gefahren zu werden.
Als Julia den Kinderwagen im Hauseingang abstellte – Boden und Wände waren mit schwarzweißem Marmor bedeckt, eine Erinnerung an verblichenen Glanz –, öffnete sich die Tür der unteren Wohnung, und Agnes Kast steckte ihren unfrisierten blonden Kopf heraus.
»Grüß dich, Julia«, sagte sie vergnügt, »Sauwetter, was?«
»Halb so schlimm. Robsy hat’s gefallen.«
»Kommst du auf eine Tasse Kaffee ‘rein?«
»Lieber nicht. Robsy ist zum ersten Mal ohne Windeln.«
»Na, bravo! Aber du kannst sie doch auch bei mir aufs Töpfchen setzen.«
Julia zögerte. Sie mochte Agnes und wäre einem harmlosen kleinen Klatsch nicht abgeneigt gewesen. Obwohl Agnes älter war als sie selbst, empfand Julia sie als Freundin, auch gerade deshalb, weil sie nicht aus Bad Eysing stammte, die Geschichte von Julias Eltern nur vom Hörensagen kannte und sich nicht davon hatte beeindrucken lassen.
Agnes war überhaupt nicht leicht zu beeindrucken; sie war resolut, vernünftig und meist gut gelaunt. »Na, komm schon!«, drängte sie jetzt.
Aber Julia war zu einem Entschluss gekommen. »Nein, danke, Agnes, bei dir wäre sie wohl doch zu abgelenkt!«
»Na ja, dann bis später!« – Die Wohnungstür schloss sich, und Agnes in ihrem nicht ganz fleckenlosen hellblauen Perlonmorgenrock war fort.
Julia hatte Roberta auf den Arm genommen und befühlte besorgt ihre Strampelhose. Noch war alles gutgegangen, aber sie wusste, wenn man aus der Kälte in die Wärme kam, musste das Töpfchen schnell zur Hand sein. Sie rannte mit Roberta die Treppe hoch, stieß den Schlüssel ins Schloss und die Tür auf, stürzte ins Schlafzimmer, riss Roberta die Hose hinunter und setzte sie auf das Töpfchen.
Aber ihre Eile schien unnötig gewesen zu sein, denn nichts geschah. Julia nahm Roberta das Mützchen ab, zog selber Mantel und Mütze aus und schloss die Wohnungstür. Als sie Roberta danach vom Töpfchen hob, war immer noch nichts geschehen. Die Kleine lächelte unbekümmert, brabbelte vor sich hin und spielte mit einem Wachstuchhäschen, das sie sich aus ihrem Bett geangelt hatte.
Julia ließ sich die leichte Enttäuschung nicht anmerken, sondern lächelte Roberta freundlich an, als sie sie wieder auf das Töpfchen zurücksetzte. »Mach dir nichts draus, Robsy, das kriegen wir schon hin!«
Im Bad füllte sie ein Zahnputzglas mit heißem Wasser, hob Roberta auf, goss das Wasser in den Topf und brauchte danach nicht mehr lange zu warten.
»Bravo!«, rief sie begeistert. »Das hast du fein gemacht! Aber ich glaube, für den ersten Tag war’s genug, nicht wahr. Jetzt wickeln wir wieder, ja? Sonst würde es zu aufregend für uns beide!«
Während sie Roberta anzog, scherzte sie mit ihr, kitzelte sie am Bauch und ließ sie nach ihrer Nase greifen, kurzum, sie spielte mit ihr das gewohnte morgendliche Programm durch; mit einem weichen Bürstchen bearbeitete sie Robertas helles, blondes, noch recht dünnes Haar, das ihr aber schon in den Nacken wuchs. »So, jetzt ist mein kleiner Liebling fertig!«, erklärte sie abschließend und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Was machen wir jetzt? Gehen wir zu Tante Agnes ‘runter oder bleiben wir oben?«
»Oben!«, erklärte Roberta sofort; sie hasste es, in ihr Ställchen gesetzt zu werden, mehr aber noch, mit der gleichaltrigen Christine ins Ställchen zu kommen.
Julia wusste das. Christine war sehr lebhaft und versuchte auf ungeschickte Art, Roberta für sich zu interessieren, indem sie sie anfasste oder an den Haaren zog. Dann begann Roberta zu weinen. Die Mütter mussten froh sein, wenn Roberta sich schüchtern in die äußerste Ecke des Ställchens drückte, während Christine für sich allein mit ihren Bauklötzchen spielte.
Robertas Ställchen stand im Wohnzimmer, einem großen Raum, durch dessen Fenster man in den so unvermutet wieder winterlich gewordenen Garten sehen konnte. Der Boden war mit Perserteppichen belegt, es gab Ledersessel, einen Eichentisch und einen Bücherschrank. Die Einrichtung war gemütlich und elegant; dennoch verriet nicht nur das Ställchen, sondern auch eine gewisse leichte Unordnung, dass kleine Kinder zur Familie gehörten. Auch Roberts Pfeife lag, wo sie nicht liegen sollte, auf dem Topfrand der gepflegten kleinen Palme.
Julia dachte daran, dass sie noch aufräumen, staubwischen, saugen und die Betten machen musste – aber nicht jetzt, jetzt kam ihre geheiligte Stunde.
Natürlich schrie Roberta, als sie sie ins Ställchen setzte. »Will nicht! Will nicht!«
Aber das hatte Julia nicht anders erwartet. »Musst du aber! Mutti braucht auch mal ihre Ruhe!«
»Will nicht!«, brüllte Roberta weiter, aber obwohl ihr Gesichtchen rot dabei anlief, kam es nicht sehr überzeugend heraus; sie war es gewohnt, diesen Kampf mit der Mutter jedes Mal zu verlieren.
Julia gab Roberta Spielzeug, ging in die Küche und setzte sich Wasser für eine Tasse Kaffee auf. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Roberta sämtliches Spielzeug aus ihrem Ställchen geworfen.
Julia hatte es nicht anders erwartet, sie bückte sich und warf Bälle, Ringe und Plastikbausteine wieder zurück. »Du willst wohl für meine morgendliche Gymnastik sorgen!«
Der Kessel pfiff, sie lief in die Küche, goss sich ihre Tasse Kaffee auf, stellte sie auf ein kleines Tablett, dazu einen Aschenbecher, den sie aus der Spülmaschine nahm.
Als sie zurückkam, lag das Spielzeug wieder draußen.
Wieder hob sie es auf. »Das ist aber das letzte Mal, Robsy; du weißt es! Wenn du deine Sachen noch einmal ‘rauswirfst, hast du nichts mehr zu spielen. Warte, Mutti macht uns beiden schöne Musik!«
Da ihr das Radioprogramm um diese Zeit nicht sehr gefiel, legte sie eine Platte auf, ein Klavierkonzert von Mozart, das sie liebte und das, wie sie wusste, eine besänftigende Wirkung auf Roberta hatte.
Danach machte sie es sich mit Kaffee und Zigarette in ihrem Lieblingssessel bequem. Sie dachte daran, dass sie hätte Zeitung lesen können, aber sie hatte keine Lust dazu. Die täglichen Katastrophen, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Spannungen und Kämpfe in der Welt hätten nur ihre Stimmung gestört. Sie saß lieber ganz entspannt da und lauschte der Musik und Robertas Kauderwelsch.
Roberta hatte wieder alles aus dem Ställchen geworfen und versuchte nun, da Julia ihr nicht zu Hilfe kam, einen roten Gummiring wieder durch die Stäbe zurückzuangeln.
Julia musste an sich halten, ihr nicht doch zu helfen.
Es klingelte an der Wohnungstür.
»Wer mag das sein?«, fragte Julia laut, mehr sich selber als Roberta. »Die Post? Noch zu früh. Also Agnes.«
»Will nicht!«, schrie Roberta sofort. »Will nicht Tine!«
Julia hatte auch keine große Lust zu öffnen. Aber es war unvermeidlich. Agnes wusste, dass sie zu Hause war.
Mit der halb gerauchten Zigarette in der Hand ging Julia zur Wohnungstür.
Zwei Verkehrspolizisten standen draußen, ein stämmiger Mann Mitte vierzig mit von Wind und Sonne gegerbtem Gesicht, und ein jüngerer, schmalbrüstiger mit langen Locken, die ihm bis in den Kragen quollen; beide nahmen die Schirmmützen ab, als sie in die Wohnung traten.
Julia war überrascht, aber durchaus nicht erschrocken; sie verstand gar nichts. »Ja …?«, fragte sie.
Der Stämmige räusperte sich. »Sind Sie Frau Severin?«
»Ja.«
»Die Frau des Amtsgerichtsrats Severin?«
»Ja. Aber was soll das?«
»Frau Severin, es ist so …« Der Stämmige drehte seine Mütze in den Händen. »… Ihr Mann hat einen Unfall gehabt. Auf der Zufahrt zur Autobahn.«
»Ist er verletzt?«
»Ja, leider.«
»Ich muss sofort zu ihm. Wo liegt er?« Julia bemühte sich um Selbstbeherrschung. »Aber mein Baby … und ich muss Ralph abholen …«
Der jüngere Mann grinste, und Julia begriff nicht, dass dieses verzerrte Lächeln nichts als ein Ausdruck großer Unsicherheit und Verlegenheit war.
»Habe ich was Komisches gesagt?«, fragte sie verwirrt.
»Nein, gar nicht!«, versicherte der ältere der beiden Beamten sofort und warf seinem Kollegen einen warnenden Blick zu. »Es ist nur so … Sie brauchen Ihren Mann nicht aufzusuchen.«
»Er kommt heute noch nach Hause?«
»Nein, auch nicht. Sehen Sie, Frau Severin, das Auto ist total zertrümmert. Ein junger Bursche auf der linken Fahrbahn hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren … wahrscheinlich aufgrund zu hoher Geschwindigkeit. Sie werden wissen, wie unverantwortlich besonders junge Leute manchmal fahren …« Er stockte, sah von Julia auf seine breiten, geschickten Hände.
»Ja, darüber liest man manchmal in der Zeitung!«, sagte Julia abwehrend. »Aber warum erzählen Sie mir das?!«
Der Polizeibeamte sah seinen jüngeren Kollegen an, als erhoffte er sich von ihm Hilfe; aber der vermied es, seinen Blick zu erwidern.
In diesem Augenblick begriff Julia, was geschehen war, aber sie stemmte sich mit allen Kräften gegen diese grausame Erkenntnis. »Mein Mann ist doch nicht …? Es ist doch nicht möglich, dass er …? Nein! Nein!«
Der ältere Beamte gab sich einen Ruck; er straffte sich förmlich in den Schultern. »Leider doch, gnädige Frau. Ihr Gatte war auf der Stelle tot.« Wieder sah er seinen Kollegen an. »Es ist nicht anzunehmen, dass er noch gelitten hat.«
Diesmal versuchte der Jüngere, ihm zu helfen. »Wahrscheinlich hat er nicht mal was gemerkt.«
Julia stand, wo sie stand. Sie fiel nicht in Ohnmacht. Aber alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Haut überzog sich mit kaltem Schweiß, und die Pupillen ihrer weit auseinanderstehenden runden Augen wurden riesengroß.
»Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können …«, sagte der ältere der beiden Beamten.
Julia hörte ihn nicht. Der Aschkegel ihrer Zigarette fiel auf den bunten Teppich; sie achtete nicht darauf. Die Glut war so weit heruntergebrannt, dass sie ihre Haut versengte. Nicht einmal das spürte Julia.
Der junge Beamte sah es, war mit einem Schritt bei ihr, nahm ihr den Stummel ab, warf ihn auf das Parkett neben dem Läufer und zertrat ihn.
»Sie steht unter einem Schock!«, stellte sein Kollege fest. »Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass wir einen Arzt hätten mitnehmen sollen?!«
Der Jüngere verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass er es gewesen war, der der Witwe nicht ohne Begleitung eines Arztes die schreckliche Eröffnung hatte machen wollen. »Ruf den Notarzt an!«, sagte er. »Hier muss doch irgendwo ein Telefon sein!« Er legte den Arm um Julias Schultern. »Setzen Sie sich, gnädige Frau oder … besser noch … legen Sie sich hin …«
»Das könnte dir so passen!«, schimpfte sein Vorgesetzter. »Hände weg von der Puppe! Das mache ich! Sieh du dich lieber nach einem Telefon um, aber huschhusch und flockig!«
Der junge Mann wurde rot und ließ Julia los. »Aber ich wollte doch nicht …«
»Mir egal, was du wolltest. Sieh zu, dass du ein Telefon findest!« Er nahm Julia beim Arm, führte sie durch die geöffnete Tür ins Wohnzimmer zurück und drückte sie in einen Sessel.
Roberta schrie; sie war weniger über die beiden Männer in Uniform erschrocken als über die veränderte Atmosphäre, die plötzlich in der Wohnung herrschte. Die Mozartplatte war abgelaufen, und der Tonarm hatte sich abgestellt.
Der Beamte sah, dass noch Kaffee in Julias Tasse war, und hielt sie ihr an die Lippen. »Da! Trinken Sie einen Schluck!«
»Was soll das nützen?!«, fragte sein jüngerer Kollege abschätzend, der jetzt auch ins Wohnzimmer kam. »Gib ihr lieber einen Cognac!«
»Hast du telefoniert? Sonst musst du zum Wagen gehen und über Funk …«
»Ich habe. Gleich nebenan ist so eine Art Bibliothek, lauter juristische Bücher. Wahrscheinlich das Arbeitszimmer …«
»Bitte, lassen Sie mich jetzt allein!« Julias Lippen waren steif und ließen sich kaum bewegen; sie saß kerzengerade, ohne sich anzulehnen.
»Aber das können wir doch nicht!«, sagte der junge Beamte und beugte sich zu ihr. »Nicht, bevor der Arzt kommt!« – Er war fasziniert von ihr und konnte es nicht verbergen.
Sein Kollege sah ihn verwarnend an und gab ihm einen leichten Stoß vor die Brust, damit er sich wieder aufrichtete.
»Haben Sie Verwandte, gnädige Frau! Irgendjemanden, den wir benachrichtigen könnten?«
Aber Julia reagierte nicht auf diese Frage; sie hatte sich schon wieder in ihre Erstarrung zurückgezogen.
»Unten im Haus wohnen doch Leute. Soll ich da mal nachfragen?«
»Ja, tu das. Wäre kein Fehler.«
Als der ältere Beamte mit Julia allein war, sagte er: »Das Beste wäre wohl, wir brächten Sie ins Krankenhaus … nur, bis Sie sich besser fühlen, Frau Severin!«
Dieser Vorschlag drang zu Julia. »Nein, nicht!«, wehrte sie ab. »Die Kinder!«
»Um die würde sich schon jemand kümmern. Für die paar Tage. Sie sind ja nicht wirklich krank, aber Sie brauchen jetzt Ruhe!«
»Nein, nicht! Bitte nicht!«
Der Polizeibeamte trat an das Ställchen. »Hör auf zu brüllen!«, befahl er Roberta. »Dir fehlt ja nichts! Also warum das Geschrei?«
Roberta verstummte; der energische Ton hatte ihr Eindruck gemacht.
Noch vor dem jungen Polizisten stürzte Agnes in die Wohnung; sie hatte zwei Stufen auf einmal genommen und war außer Atem.
»Julia, Liebes, es ist grauenhaft … und es tut mir unendlich leid!« Als sie sich neben Julia kniete und die Arme um sie schlang, wurde der dunkle Scheitel in ihrem glatten, blond gefärbten Haar deutlich sichtbar; sie trug Jeans und einen weiten grauen Rollkragenpulli.
Julias Haltung blieb starr.
»Du solltest dich hinlegen, das wäre das Beste für dich.« Agnes blickte zu den Polizisten auf. »Meinen Sie nicht auch?«
Der Ältere nickte.
»Hinlegen und die Füße hoch«, stimmte der Jüngere ihr zu.
»Also tun wir das doch!«, bestimmte Agnes energisch und richtete sich auf. »Es hat doch keinen Sinn, hier herumzuhängen, bis der Arzt kommt. Ich bring dich jetzt zu Bett, Julia.« Sie zog die Freundin hoch. »Würden Sie inzwischen auf die Kleine aufpassen?«, bat sie den älteren Polizisten. »Und Sie kümmern sich inzwischen unten um meine Tine!«
»Erlauben Sie mal, wir sind doch keine Kindermädchen!«, protestierte der junge Polizist.
»Na, und ich dachte immer, die Polizei wäre unser Freund und Helfer!«, gab Agnes unverfroren zurück. »Außerdem ist es ja nur für ein paar Minuten. Man kann die Babys doch nicht allein lassen, auch wenn sie im Ställchen sind. Sie bringen es fertig und klettern ‘raus. Jedenfalls meine Tine.«
Die Polizisten gaben nach. Die neuen Pflichten enthoben sie wenigstens der Aufgabe, sich um die verstörte Witwe zu kümmern.
Als der Notarzt kam, lag Julia schon im Bett. Agnes hatte die Vorhänge zugezogen und eine Nachttischlampe angeknipst, in dem Versuch, eine künstliche Nacht herzustellen.
Der Doktor trug einen weißen Kittel, den er nicht zugeknöpft hatte, so dass dessen Schöße förmlich hinter ihm her wehten, als er mit großen Schritten in das Schlafzimmer stürmte. Sein hartes Gesicht unter dem ausgebleichten Haar wirkte noch kantiger durch die viereckigen Gläser seiner Brille.
Agnes, die auf der Bettkante gesessen und Julias Hand gehalten hatte, stand auf.
Er grüßte flüchtig und stellte seinen Medikamentenkoffer ab. »Da haben wir also die Patientin!«
Agnes wollte ihm die Situation erklären.
Er schnitt ihr das Wort ab. »Nicht nötig. Weiß Bescheid. Würden Sie uns bitte allein lassen.«
Agnes ging, wenn auch nur widerstrebend.
Der Polizeibeamte hatte Roberta auf seine Knie genommen und ließ sie mit den glänzenden Knöpfen seiner Uniform spielen. »Nett, so was Kleines«, sagte er fast entschuldigend.
»Passen Sie auf, gleich ist Ihr Knopf ab«, erwiderte Agnes gedankenabwesend; sie holte die Cognacflasche aus Julias Schrank und goss sich ein halbes Glas voll. »Sie dürfen ja nicht, Sie sind im Dienst.«
Sie leerte das Glas und sagte aufatmend: »Jetzt geht’s mir wieder besser.«
Der Doktor kam zu ihnen ins Wohnzimmer, jetzt in gemäßigterem Tempo. »Ich habe ihr eine Spritze gegeben«, erklärte er, »sie wird bis morgen früh durchschlafen, und dann sieht alles schon anders aus.«
»Was wird bis morgen früh anders aussehen?«, fragte Agnes aggressiv. »Robert Severin wird noch genauso tot sein!«
»Aber sie wird begonnen haben, sich an die Tatsachen zu gewöhnen.«
»Sie meinen also, dass eine junge Frau sich von heute auf morgen mir nichts, dir nichts daran gewöhnen wird, keinen Mann mehr zu haben?«
»Nicht mir nichts, dir nichts, wie Sie so hübsch sagten, sondern ganz allmählich. Morgen wird der Schmerz schon nicht mehr so heftig sein.«
»Das glauben Sie! Sie wissen nicht, wie sehr sie ihren Mann geliebt hat!«
Der Doktor nahm die Brille ab und rieb sich die Augen; er sah auf einmal müde und sehr viel weicher aus. »Meine liebe junge Frau, ich begreife ja, dass Sie aufgebracht sind. Aber Sie wenden sich mit ihrer Empörung an die falsche Adresse. Ich bin nur der Arzt und nicht der liebe Gott!«
Es war schon Nacht geworden, als Julia aufwachte. Sie fühlte sich leicht betäubt, und ihr Mund war trocken. Da sie niemals Schlafmittel nahm, kannte sie diesen Zustand nicht. Ihr war, als hätte sie einen bösen Traum gehabt, aber sie konnte sich an seinen Inhalt nicht erinnern.
Eine Weile lag sie halbwach da und versuchte sich zu besinnen. Dann wurde ihr bewusst, dass etwas anders war als sonst. Es war gewöhnlich nicht so still in diesem Zimmer; kein Atemzug, keine Bewegung war zu hören.
Mit der linken Hand tastete sie zum Bett ihres Mannes; es war leer und unberührt. Sie richtete sich auf dem Ellbogen auf und drückte auf die Lichttaste ihres elektrischen Weckers. Es war gerade zwölf vorbei, also noch kein Grund, sich Sorgen zu machen; es kam bisweilen vor, dass Robert spät nach Hause kam.
Julia schwang sich aus dem Bett und wunderte sich, dass ihr schwindelig war. Sie schwankte und hätte fast ihr Gleichgewicht verloren. Taumelnd und gegen ihre Benommenheit ankämpfend, tastete sie sich zu Robertas Bettchen.
Zwar war es dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren fest zugezogen, und sie hatte das Licht nicht angeknipst, dennoch merkte sie sofort, dass Roberta nicht da war. Ihr leichter Atemzug war nicht zu spüren und auch nicht der süße Geruch und die Wärme, die ihr kleiner Körper sonst ausströmte.
Erst jetzt begriff Julia, dass eine Katastrophe geschehen war. Sie griff in das Bettchen – die Laken waren kalt, glatt und unberührt.
Sie taumelte in Ralphs Zimmer, knipste, da sie schon mit dem Schlimmsten rechnete, rücksichtslos das Deckenlicht an; auch Ralph war verschwunden.
Warum sie danach in Roberts Arbeitszimmer lief und dann in den Wohnraum, wusste sie selber nicht. Das rote runde Licht in der Stereoanlage zeigte ihr, dass der Apparat nicht ausgestellt war. Auf dem Tisch standen noch eine nur halb geleerte Kaffeetasse und ein Aschenbecher ohne Stummel, daneben ein Glas.
Schwach erinnerte sie sich, dass sie hier gesessen und geraucht und Musik gehört hatte. Robertas Spielsachen lagen noch verstreut um das Ställchen.
Aber was war danach geschehen? Es konnte doch nicht sein, dass sie einen ganzen Tag vergessen hatte!
Julia hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte und flog in die Diele. Fast hätte sie »Robert!« gerufen, denn sie wünschte inbrünstig, dass er es wäre, der jetzt nach Hause käme und alles klären würde. Aber aus einer Furcht heraus, deren Ursache sie nicht kannte, wagte sie seinen Namen nicht auszusprechen.
Es war Agnes, die hereinkam, und jedenfalls an ihr war nichts Unheimliches; sie trug den vertrauten, nicht ganz sauberen Morgenmantel über einem langen Nachthemd und an den Füßen hochhackige, ausgetretene blaue Hausschuhe. »Ich hatte mir schon gedacht, dass du nicht durchschlafen würdest«, sagte sie mit gewollter Beiläufigkeit, um sich nicht anmerken zu lassen, wie groß ihre Sorge um die Freundin war.
Julia packte sie beim Arm. »Wo sind die Kinder?«
»Bei mir. Gesund und wohlbehalten.«
»Und Robert?«
»Weißt du es wirklich nicht?«
»Nein!« Das Wort kam wie ein Aufschrei.
»Oder willst du es nur nicht wissen?«
»Ich bitte dich, Agnes, ich bin doch nicht verrückt! Würde ich dich denn sonst fragen?«
»Komm, zieh dir erst mal was über!« Agnes nahm einen Lodenmantel vom Garderobenständer und half Julia hinein. »Und dann machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich und reden über die ganze Sache. Warte, ich hole dir deine Pantoffeln.«
Als Agnes zurückkam, stand Julia noch immer genau auf der Stelle, wo sie sie verlassen hatte. Ihr Gesicht war wächsern blass, und um ihre Augen lagerten dunkle Ringe. Auf Agnes wirkte sie hilflos, kindlich und zerbrechlich.
Sie half ihr in die Hausschuhe, indem sie sie vor sie auf den Boden stellte und erst den einen, dann den anderen Fuß hineinschob. »Willst du mir denn nichts anbieten?«, fragte sie, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.
»Anbieten?«, wiederholte Julia, als stammte dieses Wort aus einem fremden Sprachschatz.
»Na, zum Beispiel einen Cognac.«
Agnes schob Julia ins Wohnzimmer, nahm die Flasche aus dem Schrank, schenkte sich ein frisches Glas ein und sah Julia prüfend an. »Möchtest du auch?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Auf die Spritze hin ist das vielleicht ein bisschen stark«, sagte Agnes, mehr zu sich selber, und fügte dann lauter und entschieden hinzu: »Aber trotzdem, ich glaube, du wirst es brauchen!« Sie stellte ihr Glas auf den Tisch, nach kurzem Überlegen die Flasche dazu und holte ein zweites Glas für Julia. »Setzen wir uns endlich!« Sie zog Julia neben sich auf das Ledersofa, um sie dicht bei sich zu haben.
Es fiel ihr auf, dass Julia ihre Frage nicht wiederholte, jetzt, da doch der passende Augenblick gekommen wäre; um sie zu entspannen, schnitt sie das Thema an, für das sich die Freundin immer interessierte; sie begann über die Kinder zu berichten. »Robsy und Tine waren ausgesprochen friedlich. Allerdings habe ich sie auch ein bisschen verwöhnt. Ich hielt das an einem solchen Tag für angebracht. Ralph war, wie immer, superbrav. Hans und Georg haben mit ihm Eisenbahn gespielt.
Jetzt schlafen sie alle. Ralph und Robsy habe ich im Gästezimmer einquartiert. Sie waren beide ein bisschen überdreht. Aber bevor ich heraufgekommen bin, habe ich noch einmal nach ihnen geschaut. Sie schlafen friedlich wie kleine Engel!«
»Haben sie denn nicht nach mir gefragt?«
»Noch und noch! Aber schließlich haben sie es verstanden.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe ihnen versprochen, dass sie morgen wieder nach Hause dürfen.«
Julia stand auf. »Ich will sie holen.« Sie kam sehr unsicher auf die Füße. Agnes zog sie auf das Sofa zurück. »Aber jetzt doch nicht. Hast du nicht verstanden? Sie schlafen!«
»Sie werden nicht wissen, wenn sie aufwachen …«
»Natürlich werden sie’s! Und wenn ich nur den kleinsten Pieps aus dem Gästezimmer höre, läute ich zu dir hinauf.« Agnes nahm einen Schluck Cognac. »Günther kommt übrigens heute Nacht nicht nach Hause. Er hatte bis heute Abend in Lauterbach zu tun und muss morgen gleich wieder ‘ran. Da lohnt sich die Hin- und Herfahrerei für ihn nicht.« Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich noch einmal einen Heizungstechniker heiraten würde.«
Julia hob den Kopf und blickte Agnes an; jetzt endlich überwand sie sich, die Frage zu stellen, die zwischen ihnen stand. »Hat Robert mich verlassen?«
Instinktiv verstand Agnes sie richtig; sie begriff, dass das Trauma der frühen elterlichen Scheidung, das Julia längst überwunden glaubte, sie wieder überwältigt hatte.
»Nein«, sagte sie, »das hat er nicht. Das hätte er doch nie getan. Er hat dich geliebt, und er war glücklich mit dir. Kunststück, du warst doch die ideale Ehefrau.«
»War ich das wirklich?« Tränen stiegen in Julias Augen.
»Ja, das warst du. Auch Günther hat das immer gesagt. Was glaubst du, wie oft er mir gesagt hat, dass ich mir an dir ein Beispiel nehmen sollte!«
»Es ist ihm etwas zugestoßen?«, fragte Julia tastend.
»Ja. Ein Autounfall. Irgend so ein junger Idiot ist ihm frontal in die Karre gefahren. Man sollte niemandem unter fünfundzwanzig einen Führerschein geben, wenn du mich fragst.«
»Er ist also tot? Er ist wirklich … tot? Er kommt nie wieder?«
»Damit musst du dich abfinden.«
»Oh, Gott!« – Julia schlug die Hände vor das Gesicht, und jetzt endlich kamen die Tränen.
Agnes ließ sie, den Arm um ihre Schultern gelegt, weinen und sprach dabei leise und tröstend auf sie ein. »Ja, es ist grausam, ich weiß. Aber du hast ja die Kinder. Sie bedeuten dir so viel. Und du bist ja noch so jung und so hübsch. Du wirst sehen, eines Tages wird ein anderer Mann …«
Mit einem Ruck riss Julia sich los. »Niemals!«, stieß sie mit tränenerstickter Stimme aus. »Niemals wird es einen anderen Mann für mich geben!«
»Verzeih, Julia!«, sagte Agnes erschrocken. »Das war taktlos von mir und sehr dumm. Noch bevor …« Sie stockte.
Julia weinte noch immer, aber der Ausbruch schien etwas in ihr gelöst zu haben. Ihre Welt, die ihr völlig zerstört erschienen war, hatte einen neuen Sinn bekommen.
»So, und jetzt trinkst du ein Glas!«, bestimmte Agnes. »Damit du schlafen kannst. Und weißt du was? Du kommst mit zu mir.«
»Nein, nein, ich muss …«
Agnes unterbrach sie. »Hier ausharren wie ein tapferer kleiner Zinnsoldat? Wozu? Du wirst besser schlafen, wenn du nicht ganz allein bist, ich werde beruhigter sein … und dann denk an die Kinder! Du bist bei ihnen, wenn sie aufwachen.«
»Vielleicht hast du recht«, gab Julia zögernd zu.
»Bestimmt sogar. So, jetzt trink einen Cognac. Ich nehme mir gleich auch noch einen. Die ganze Sache geht mir schwer an die Nieren, das darfst du mir glauben.«
Agnes leerte ihr Glas und schenkte sich noch einmal ein, während Julia einen kleinen Schluck nahm. Agnes beobachtete gerührt, wie der Freundin die Tränen die Nase entlang in ihr Glas liefen. Julia merkte es selber und versuchte, sie mit dem Handrücken fortzuwischen.
»Warte, ich hol’ dir ein Tuch!« – Agnes sprang auf, lief in die Küche und riss zwei Papiertücher von der Rolle an der Wand. »Weißt du«, sagte sie, als sie zurückkam, »wahrscheinlich wäre alles leichter zu ertragen, wenn es nicht durch so einen dummen Zufall passiert wäre!«
Julia nahm die Tücher und trocknete sich das Gesicht, ohne die nachströmenden Tränen hemmen zu können. »Vielleicht war es gar kein Zufall«, sagte sie erstickt, »vielleicht war ich schuld.«
»Du?«, rief Agnes konsterniert.
»Doch. Ich war es, die unbedingt hierherziehen wollte. Robert war gar nicht dafür. Er hätte das ganze Haus am liebsten vermietet. Aber ich wollte es hier, gerade hier, besser machen als meine Mutter. Verstehst du das?«
»Natürlich. Es ist dir ja auch gelungen.«
»Aber Robert hat dafür sterben müssen.«
»Dafür?«
»Ja. Er hätte sonst doch nicht täglich zweimal die Strecke fahren müssen.«
»Jetzt hör aber auf! Wenn du es so siehst, wäre Günther, der zehnmal so viel auf Achse ist, der reinste Selbstmordkandidat!«
»Ich verstehe sowieso nicht, wie du das aushältst!« – Jetzt, da Julia sich zum ersten Mal wieder für etwas anderes interessierte, als für ihr eigenes Schicksal, versiegten ihre Tränen.
»Es ist auch nicht leicht für mich. Aber Dinge, die man nicht ändern kann, muss man eben ertragen.«
»Ich kann bloß einfach nicht an Zufälle glauben«, sagte Julia, deren Gedanken sich schon wieder Roberts Tod zugewandt hatten.
»Dann nimm es als Schicksal. Vielleicht war es ihm bestimmt, in gerade jenem Moment zu sterben. Dann wäre es ihm auch passiert, wenn er in Traunstein die Fahrbahn überquert hätte, um Frühstückssemmeln zu kaufen.«
»Das hat er nie getan.«
»Nun werde nicht spitzfindig, du weißt genau, wie ich es meine. Es gibt unzählige Gelegenheiten, zu verunglücken, auch wenn man nicht am Steuer sitzt, das weißt du genau.«
»Da hast du recht!«, räumte Julia ein.
»Siehst du! Du hast Robert doch sicher auch durch einen Zufall kennengelernt, aber dieser Zufall war doch auch Schicksal, nicht wahr?«
»Ja.«
»Also. Tut mir leid, dass ausgerechnet ich mit diesem dummen Gerede vom Zufall daherkommen musste. Aber in so einer Situation weiß man schon gar nicht mehr, was man sagen soll. Verzeih mir. Aber ich bin eben selber auch ziemlich fassungslos.«
»Es ist gut, dass wir darüber gesprochen haben.« Julia stieß einen letzten, tiefen Seufzer aus, putzte sich die Nase und rang sich ein mühsames kleines Lächeln ab. »Es war gut, dass du heraufgekommen bist. Du ahnst nicht, wie schrecklich es für mich war, plötzlich ganz allein in der Wohnung!«
»Doch. Deshalb bin ich ja gekommen. Aber nun trink aus und lass uns ‘runtergehen. Du willst doch fit morgen sein. Für die Kinder.«
Tapfer leerte Julia ihr Glas. »Ja«, sagte sie, »das will ich.«
Julias Vater, Herbert Helmholtz, hatte am Tag ihrer Eheschließung – damals war sie siebzehn – prompt jede Zahlung für sie eingestellt. Er hatte ihr auch weder eine Mitgift noch eine Aussteuer spendiert, denn er hatte sich von seiner geschiedenen Frau finanziell über Gebühr geschädigt gefühlt. Julia hatte ihm das nicht übelgenommen und ihm immer wieder pflichtgemäße Tochterbriefe geschrieben. Von ihm waren nur noch kurze Briefe gekommen, Gratulationen zu den Feiertagen und Postkarten von Ferienreisen. Da er selber Kinder aus seiner zweiten Ehe hatte, bedeuteten auch Ralph und Roberta ihm nicht viel; jedenfalls hatte er nie mehr als ein flüchtiges Interesse an ihnen genommen. Agnes wusste das; dennoch sagte sie am nächsten Morgen beim Frühstück zu Julia: »Du musst deinen Vater benachrichtigen.«
»Aber nein! Wozu?« – Julia errötete bei dem Gedanken, ihn mit der Mitteilung von Roberts Tod zu belästigen.
»Du hast doch sonst niemanden!«
»Ich weiß wirklich nicht …«
»Wenn du’s nicht tust, mach ich es. Glaub mir, es gehört sich einfach so.«
»Er wird nicht kommen.«
»Wart es ab!«
Herbert Helmholtz kam wirklich, ein großer schwerer Mann mit Tränensäcken unter den Augen, den Julia kaum noch als den fröhlichen, empfindsamen Vater ihrer Kinderzeit erkannte.
Trotzdem war sie froh, ihn wiederzusehen. »Es ist schön, dass du da bist!«, sagte sie und schmiegte sich an seine Brust.
»Ist doch selbstverständlich!« Er schob sie von sich, um sie zu betrachten. »Immer noch das hübsche, kleine Küken!«
Es war Julia merkwürdig, dass er sie, nach allem, was sie seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte, unverändert fand. »Die Kinder werden sich freuen, ihren Großvater kennenzulernen.«
»Ich hätte euch schon längst mal besucht. Aber du weißt ja, wie das ist. Viel Arbeit, und im Urlaub hat man dann andere Pläne.«
»Ich mache dir ja keinen Vorwurf.«
Die Kinder scheuten vor dem unbekannten alten Herrn im dunklen Anzug zurück. Man merkte es Ralph an, dass es ihn Überwindung kostete, ihm die Hand zu geben, und Roberta war überhaupt nicht dazu zu bewegen; sie suchte hinter dem Rücken der Mutter Schutz.
»Ziemlich schüchtern, wie?«, meinte Herbert Helmholtz.
»Sie sind durcheinander, weißt du, und dann, sie kennen dich nicht.«
»Wenn ich da an meine denke!«
Dass der Vater Roberta und Ralph mit seinen eigenen Kindern verglich, gab Julia einen Stich ins Herz; sehr beherrscht sagte sie: »Es ist schade, dass ich sie nie kennengelernt habe.«
»Kann noch kommen!« Ihr Vater drehte sich im Wohnzimmer um. »Das war früher unser Schlafzimmer.«
»Ja, ich weiß. Wir haben das Haus ja in zwei Wohnungen aufgeteilt und alles umgebaut.«
»Sehr hübsch hast du es hier.«
»Ich freue mich, wenn es dir gefällt. Ich denke, du kannst in Ralphs Zimmer schlafen.«
»Unnötig, dass du dir die Mühe machst. Ich habe mir ein Zimmer im Hotel ›Kronprinz‹ genommen.«
»Aber warum? Die Kosten hättest du dir sparen können.«
»Ich glaube, du hast im Moment Sorgen genug. Da möchte ich dich mit meiner Anwesenheit nicht noch zusätzlich belasten.«
An der Art, wie er sich umsah, merkte Julia, dass das nicht der wahre Grund war; das Haus barg zu viele Erinnerungen für ihn. »Setz dich doch!« sagte sie. »Ralph, bitte, nimm dein Schwesterchen mit in dein Zimmer. Was kann ich dir anbieten, Vater?«
»Eigentlich bin ich gekommen, um dir beizustehen.«
»Das wird dich doch nicht hindern, einen Kaffee bei mir zu trinken? Ich weiß noch, wie du ihn liebst: sehr stark.«
»Ich bin älter geworden!«, sagte er, und zum ersten Mal entspannten sich seine Züge. »Mach mir einen ganz normalen.«
»Und was dabei?«
»Nichts. Vielleicht einen Schnaps, wenn du ihn im Hause hast.«
»Nur Cognac, und auch davon nicht mehr viel.«
»Macht nichts. Dann gib mir einen Cognac.«
Während Julia den Kaffee für sich und ihren Vater aufgoss, vergewisserte sie sich, dass die Kinder friedlich spielten; Ralph baute Türme aus Holzklötzen, die Roberta, wenn sie hoch genug waren, mit Vergnügen umstürzte. Sie gab beiden einen Kuss. Mochte der Vater von ihnen halten, was er wollte, für sie waren es die bezauberndsten Kinder der Welt.
Als sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer zurückkam, hatte ihr Vater sich gesetzt, ausgerechnet in Roberts Lieblingssessel, aber vielleicht war das nur natürlich. Es machte ihr Freude, ihn zu bedienen, und als sie ihn mit allem versorgt und sich selber eingeschenkt hatte, zündete sie sich eine Zigarette an.
Er hob die buschigen Augenbrauen. »Du rauchst?«
»Nur hin und wieder.«
»Meine Frau raucht auch.«
»Na siehst du.«
»Heutzutage rauchen nur noch die Frauen. Die Männer sind vernünftiger geworden.«
Darauf trat eine lange Pause ein.
»Geht es ihnen gut?«, fragte Julia endlich. »Deiner Frau, meine ich? Und deinen Kindern?«
»Ja, sie sind gesund. Ines wäre gerne mitgekommen …«
»Ich hätte mich gefreut!«
»Aber ich musste es ihr ausreden, du verstehst!«
»Natürlich. Hauptsache, dass du da bist.«
Wieder entstand eine lange, lastende Pause.
»Wann ist die Beerdigung?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Die Leiche ist noch nicht freigegeben.« Julias Hände zitterten so sehr, dass sie die Kaffeetasse kaum zum Mund führen konnte.
»Das kann also noch dauern?«
»Ich weiß nicht.«
Ihr Vater räusperte sich. »Sehr unangenehm.«
»Was?«
»Ich hatte gedacht, ich könnte spätestens übermorgen nach Hause fahren.«
Julia straffte die Schultern. »Das kannst du auch noch heute. Wenn es dir so unangenehm ist.«
»Du verstehst mich ganz falsch.«
»Nein, ich verstehe dich richtig. Du hast es als Belästigung empfunden, hierherfahren zu müssen, und du möchtest so schnell wie möglich wieder fort.«
Herbert Helmholtz rührte, ohne sie anzusehen, in seiner Kaffeetasse.
»Vater, was hast du eigentlich gegen mich?«, brach es aus Julia heraus. »Habe ich dir je etwas getan?«
»Nein«, gab er zu.
»Ich bin doch deine Tochter! Oder bin ich es etwa nicht?«
»Doch, natürlich bist du das! Damals … es ist kaum zu glauben … haben deine Mutter und ich uns sogar noch gut verstanden.« – »Also dann …«
»Es ist alles Vergangenheit für mich, ich kann es dir schwer erklären, ein anderes Leben. Es liegt so weit zurück.«
»Aber in deinem neuen Leben bin ich doch immer noch deine Tochter, und Ralph und Roberta sind deine Enkelkinder.«
»Ja, ich weiß.«
»Aber du kannst nicht ein bisschen väterlich zu mir sein?«
»Ich bin doch gekommen.«
»Ja, das bist du.« – Julia drückte ihre Zigarette aus.
Er hob die Augen unter den schweren Lidern. »Weißt du, du hast mich fast erschreckt, im ersten Augenblick, meine ich. Ich dachte, Anna sei von den Toten auferstanden. Ja, wirklich, du siehst fast wie deine Mutter aus, als sie so alt war wie du heute. Natürlich hat sie nie Schwarz getragen, dafür war kein Anlass, aber dennoch … die gleichen Augen und das gleiche Haar, wenn sie es auch anders frisiert trug.«
»Aber ich bin nicht meine Mutter! Ich bin nicht hart wie sie, und ich bin nicht … Robert und ich haben uns nie gezankt …« Julia biss sich auf die Unterlippe, weil sie spürte, dass sie nahe daran war, die Fassung zu verlieren.
»Aber das habe ich damit doch auch gar nicht sagen wollen. Übrigens war deine Mutter eine schöne Frau, und sie hatte durchaus ihre Meriten.«
»Hasst du mich, weil ich ihr ähnlich sehe? Oder weil du für mich hast zahlen müssen? Weil eure Ehe schiefgelaufen ist? Oder warum?«
»Ich hasse dich ja gar nicht.«
»Aber du kommst her, nach Roberts Tod, als würdest du nur deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun, und hast kein gutes Wort für mich.«
»Es ist schwer, in einem solchen Fall etwas zu sagen.«
»Oh, ja, ich weiß. Aber du könntest es doch wenigstens versuchen!«
Herbert Helmholtz schüttete das zweite Glas Cognac herunter und schenkte sich ein drittes ein.
»Ich hatte mich nicht scheiden lassen wollen«, sagte er heiser. »Wenn deine Mutter nicht darauf bestanden hätte, hätte ich es nicht getan.«
»Und Ines?«
»Das ist etwas anderes. Ich habe mich nicht scheiden lassen wollen … deinetwegen. Wir waren doch immer gut miteinander.«
»Ja, Vater, und gerade deshalb verstehe ich nicht …«
»Und dann hat Anna dich mir entfremdet, weil es nicht anders sein konnte. Ich mache dir keinen Vorwurf, nur mir. Es ist mir immer so vorgekommen, als hätte ich dich im Stich gelassen … und ich habe dich ja auch im Stich gelassen mit deiner Mutter, die immer verrückter wurde.«
»Du warst nicht einmal auf ihrer Beerdigung!«
»Das konnte ich nicht! Hier in Eysing, wo alle mit dem Finger auf mich gezeigt hätten!«
Julia sah ihn an; mit einem Mal tat er ihr nur noch leid. »Und heute? Werden sie nicht mehr mit Fingern auf dich zeigen?«
»Deinetwegen werde ich es durchstehen.«
»Das ist nicht notwendig, Vater. Mir kann keiner vorwerfen, ich hätte meinen Mann in den Tod getrieben.«
»Es war nicht meine Schuld. Anna war so unerbittlich. Sie war eine Frau von so strenger Moral, dass niemand ihren Ansprüchen genügen konnte. Ich jedenfalls konnte es nicht.«
»Aber ich weiß, Vater, ich weiß.« Julia berührte seine Hand. »Mir brauchst du das nicht zu sagen. Ihr wart ja damals auch schon längst auseinander. Ich habe nur wiederholt, was die Leute geredet hätten, und das nicht nur über dich, sondern auch über mich: ich war die treulose Tochter.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es war mein Fehler, nach Eysing zurückzukommen. Du sollst nicht dafür büßen.«
»Lebst du so ungern hier?«
»Nein, nicht wirklich. Aber was ich wollte, ist fehlgeschlagen. Ich glaube, ich wollte unsere Familie durch meine Ehe so etwas wie …« Sie suchte nach dem treffenden Wort. »… rehabilitieren. Stattdessen stehe ich jetzt wieder an einem Grab. Du solltest dir das nicht zumuten, Vater.«
»Ich kann dich doch nicht im Stich lassen!«
»Doch kannst du das!« – Sie spürte, dass in dieser Behauptung der Vorwurf mitschwang, dass er sie schon einmal im Stich gelassen hatte, aber sie nahm sie nicht zurück.
Herbert Helmholtz fühlte sich so unbehaglich, dass er aus Nervosität den Hals am Kragenrand zu scheuern begann. »Und was ist mit meinem Hotelzimmer?«
»Warst du schon dort?«
»Nein, ich habe es telefonisch bestellt.«
»Dann bestellst du es telefonisch wieder ab.«
»Aber wird es nicht noch mehr Gerede geben, wenn ich nicht an der Beerdigung teilnehme? Wenn die Leute erfahren, dass ich hier war und gleich wieder abgereist bin?«
»Aber wieso? Du warst hier, um mir dein Beileid auszudrücken und hattest nicht länger Zeit zu bleiben. Bitte, Vater, mach es mir nicht so schwer. Ich bin nicht gerade in der Verfassung, Diskussionen durchzustehen.«
»Du würdest es mir also wirklich nicht übelnehmen, wenn ich wieder abführe?«