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Atlantiküberquerung 2.0 – Einhandsegeln war gestern! 2005/2006 überquerte Johannes Erdmann als 19-Jähriger alleine mit seiner Yacht Maverick den Atlantik. Aus dem 31-tägigen Trip entstand sein Segelblog Allein auf See und der Bestseller Allein über den Atlantik. Weitere Blauwassertörns im Atlantik folgten. Zu zweit über den Atlantik segeln Als er seine Freundin Cati Trapp kennenlernt, fassen die beiden einen Plan: Eine erneute Atlantiküberquerung steht an – und zwar diesmal zu zweit. Johannes hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere tausend Seemeilen im Logbuch, Cati ist noch Segelanfängerin. In Zu zweit auf See erzählen die beiden von ihrem großen Törn mit ihrem neuen Boot Maverick Too: Transatlantik zweihand – ein Segelabenteuer Cati und Johannes bieten ungeschönte Einblicke in zwei Jahre Segeln zu zweit: vom beengten Leben an Bord und widrigen Lebensbedingungen auf hoher See, aber auch von den goldenen Seiten des Aussteigertraums, türkisblauem Wasser und Palmenkulisse vor dem Ankerplatz. • Atlantiküberquerung einmal anders erzählt • Offener und ehrlicher Bericht über das Leben zu zweit an Bord • Beste Unterhaltung für Seglerpaare – und alle, die es noch werden wollen Heute sind Cati und Johannes Erdmann verheiratet und leben auf ihrem Katamaran Maverick XL in den Bahamas, wo sie Charterreisen in der Karibik anbieten. Lassen Sie sich mitreißen und reisen Sie in Zu zweit auf See als blinder Passagier mit den beiden über den Atlantik!
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Seitenzahl: 488
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Für Sigrid »Siggi« Zenker,die erste deutsche Weltumseglerin(1931–2017)Wir wünschen uns wie du am Endemit funkelnden Augen sagen zu können:»Ich hatte ein schönes Lebenvoller Abenteuer. Und Gefahren.«
Prolog
Abfahrt
Rückblick
Die segelnde Großbaustelle
Panik am Abend
Auf den Spuren der Hiscocks
Dartmouth
Baguette unterm Arm
Morgen früh sitzen wir bei Café con leche
Viveiro – Galicien für Liebhaber
La Coruña sucks
Ums Cabo Vilán
Lissabon – Anfang und Neustart
Im Tiefflug nach Madeira
Geldverdienen auf der Reise
3.250 Seemeilen to go
Atlantik – mehr brauch ich nicht
Pause unter Palmen
Eyola
Blasenprobleme
Sammy an Bord
Dominicas Mummets
St. Martin
Walt Disneys Themenpark für Segler
Die Kopfdichtung geht flöten
200 Seemeilen ohne Maschine
Endlich Entspannung
Exumas in Slow Motion
Motorschaden im kleinen Wörthersee
Der Kopf dichtet wieder
Auf der Flucht vor der Hurrikansaison
Camden – ein Stück Heimat
Roadtrip nach New York
Nach Hause mit der Queen Mary 2
Auf dem Dismal Swamp Canal nach Norfolk
Deltaville, das Dorf voller Boote
Ich will Palmen
Hilton Head Island
Mit einem Mal isses warm
Besuch aus der Heimat
Starkwindtörn auf den Bahamas
Krank im Paradies
Durch die Keys
Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit
Der schwimmende Albtraum
Wendepunkte
Mitten durchs Indianerland
Die Weichen werden gestellt
Vier Wochen auf See
Die Azoren
England und sein Empfang
600 Seemeilen nonstop Nordsee
Zurück in der Heimat
Angekommen? Noch lange nicht!
Danksagung
Wir segeln mit MAVERICK XL hier in den Bahamas zu den schönsten Inseln. Vor gut zehn Jahren war das alles anders. Was für ein Wahnsinn, sagen zu können, vor zehn Jahren. So reviererfahren bin ich schon? Wenn ich genau darüber nachdenke, dann kenne ich die Bahamas tatsächlich besser als die Ostsee.
Seit Monaten sind wir nun hier und segeln mit Gästen durch die Inseln. Wir wollten damals eine Auszeit nehmen. Mit MAVERICK TOO. Für eine bestimmte Zeit aussteigen aus dem Alltag. Doch aus dem zeitlich begrenzten Ausstieg ist stattdessen ein Einstieg geworden, ein Einstieg in ein ganz anderes Leben.
Cati kann sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, in einem Haus zu leben – und ich mir auch nicht. Warum nicht auch Kinder auf dem Schiff aufziehen?
Der Weg in dieses Leben begann mit MAVERICK, hier auf den Bahamas. Damals lag ich hier mit meinem nur acht Meter langen Boot vor Anker. Ich war gerade 20 Jahre alt und mit dem kleinen und maroden Schiff ganz allein von Europa hierher gesegelt. Auf der Suche nach Abenteuer, Freiheit – und einem Plan fürs Leben.
Von Johannes
Endlich reicht das Wasser aus, um MAVERICK TOOS Kiel aus dem Schlick zu heben. Peinlich, dass ich mir über die Gezeiten keine Gedanken gemacht habe, als ich den Abfahrtstermin bestimmt habe. Aber jetzt schwimmen wir, mit einigen Stunden Verspätung. Es kann losgehen.
»Denk dran, meine Fender hierzulassen. Sonst hab ich im Sommer keine«, erinnert mich mein Vater. Die erste Woche hier an meinem Steg an der Oste hat sich das Schiff bei Niedrigwasser immer auf den Schlick gestellt und gegen den Steg gelehnt, weshalb ich mir ein paar zusätzliche Fender leihen musste. Nach einigen Wochen hatte sich MAVERICK TOO dann eine Rinne gestampft, in die der Kiel immer wieder reinsacken konnte. »Die Fender kannst du wiederhaben«, lache ich. »Da, wo wir hinsegeln wollen, brauchen wir so was eh nicht.« Denn wir wollen den Großteil der nächsten zwei Jahre fast nur vor Anker liegen.
»So, jetzt macht aber auch, dass ihr loskommt«, fordert uns mein Vater auf. Er hat schon gerade kurz vorher im Interview mit dem ZDF-Team gesagt, dass die Sorge nun langsam einem Gefühl von »jetzt fahrt endlich, damit hier wieder Ruhe einkehrt« weicht. Kann ich gut verstehen, denn die vergangenen Monate, ja eigentlich schon die ganzen letzten zwei Jahre, ging es nur um uns, Cati und mich.
Fast jedes Wochenende sind meine Eltern hier bei uns in Oberndorf an der Oste gewesen, um uns zu helfen, das Haus zu renovieren (damit wir es vermieten können) und das Schiff fertig zu bekommen. Dafür hat mein Vater seinen ganzen Jahresurlaub geopfert und war nicht einmal mit seinem eigenen Boot auf dem Wasser. Auch wenn sich Freunde zum Wochenendbesuch angemeldet haben, standen sie einige Stunden nach der Ankunft bereits mit Atemschutzmaske unter unserem Schiff und schliffen.
Als Dankeschön haben wir vor vier Wochen mit gut 100 Freunden eine große Einweihungs- und gleichzeitig Abschiedsparty gefeiert. Endlich war das alte Haus renoviert, aber gleichzeitig war es für uns Zeit geworden, die Segel zu setzen. Denn bevor es ins »normale« Leben geht, wollen wir ein paar Jahre durch die Welt segeln. Der letztmögliche Zeitpunkt, bevor Karriere und Familie dies vielleicht unmöglich machen werden. Heute, am Abfahrtstag, sind es etwa 30 Leute, die uns verabschieden. Freunde, Nachbarn, Vereinsmitglieder und Dorfälteste. Sogar unser Segelmacher Tinne ist mit seiner Familie aus Kiel angereist, um unsere Abfahrt zu erleben. Mit ihm haben wir in den vergangenen Monaten viel über unsere neue Segelgarderobe diskutiert. Nun will er uns auch davonsegeln sehen.
Auch unsere engsten Freunde sind dabei. Georg und Irene, Sammy, Uwe. Mit allen vieren haben wir viel erlebt und tolle Schiffsreisen unternommen. Sie wissen, was uns dort draußen erwarten kann und wird. Schulterklopfen, ein fester Händedruck, eine Umarmung. Die Stimmung ist bedrückt. Sogar meine 86 Jahre alte Oma hat die lange Autofahrt auf sich genommen.
Wir sind voller Vorfreude auf die vor uns liegende Reise, aber auch voller Sorgen. Zwei Jahre. Eine lange Zeit fernab unserer Familien. Zwei Jahre, die wir weniger mit ihnen verbringen werden. Weihnachten, Geburtstage, die schönen Wochenenden, wenn wir uns alle im großen, gemütlichen Haus meiner Eltern in Wolfsburg treffen und die Zeit zusammen genießen. Das wird nun erst mal alles ohne uns stattfinden. Und wer weiß, was sich in der Zeit noch alles verändern wird? Überhaupt, wäre es nicht vernünftiger, die Reise zu verschieben? Es ist doch schon viel zu spät im Jahr, das Schiff ist noch nicht richtig fertig, geschweige denn erprobt. Es finden sich immer mehr Gründe dafür.
»Nein. Wir setzen einen Termin und fahren dann auch los«, sind wir uns einig gewesen. »Den spätestmöglichen Termin im Jahr.« So lange wie möglich wollten wir noch arbeiten und Geld verdienen. »Besser dann noch im Herbst losfahren, als einen weiteren Winter in Deutschland zu verbringen und zu warten. Also Abfahrt Anfang September 2014. Alles andere ergibt sich.«
»Wer den Termin einmal verschiebt, verschiebt ihn immer wieder – und fährt am Ende gar nicht los«, war ich mir sicher. Aber dann mussten wir um zwei Wochen verschieben. Der 14. September sollte es nun werden. Ein Sonntag. Endgültige Abfahrt.
Doch wieder ist es zum Ende hin knapp geworden. Am Freitag und Samstag vor der Abfahrt haben wir bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Andreas und Christine, zwei Blogleser, sind spontan aus dem Ruhrgebiet angereist, um uns drei Tage lang zur Hand zu gehen. Für uns eine totale Überraschung, und wir haben uns nicht so recht getraut, ihnen richtige Aufgaben zu geben. Vor allem nicht die »Drecksarbeiten«. Bis Tinne mich irgendwann beiseitegenommen hat: »Ey, die sind extra angereist, um zu helfen. Du kannst denen ruhig ein paar Aufgaben geben, sonst reisen die ab und denken, die Tour war umsonst.« Eine Stunde später liegt Andreas dann auf dem Kajütboden und putzt die Bilge, während Christine alle Schapps auswischt. Eine großartige Unterstützung.
Mit Tinne fahre ich einkaufen, fülle mehrere Einkaufswagen und karre sie im Auto zum Boot. Etwa 100 Konservendosen sind dabei, die in der Bilge gelagert werden sollen. Andreas und mein Vater verbringen den Nachmittag damit, alle Etiketten abzulösen und mit einem Edding den Inhalt auf die Dosendeckel zu notieren. Eine mühselige Aufgabe. Aber nötig, denn die Etiketten würden sich durch das Bilgewasser ohnehin bald ablösen und die Essenszubereitung damit zum Glücksspiel werden. »Aber wir veräppeln sie ab und zu«, erklärt mein Vater augenzwinkernd in die Kamera, »und schreiben etwas anderes auf die Dosen. Dann ist die Überraschung groß.« Sagts und schreibt »Linseneintopf, mit Spargel« auf die nächste Dose.
Das Kamerateam will für das ZDF eine Reportage über uns drehen, in der Hoffnung, bei einer guten Quote eine Serie genehmigt zu bekommen. Wir selber hoffen, damit nebenbei ein paar Euro zu verdienen – und überhaupt, wer ist nicht gern im Fernsehen zu sehen? Aber die Dreharbeiten kosten mehr Kraft, als dass sie Freude machen. Immer wieder werden wir von dem Kamerateam in den letzten Vorbereitungsarbeiten gebremst. »Halt, warte, kannst du das noch mal machen? Pack das doch bitte noch mal aus.« Doch mit der Hilfe aller Freunde gelingt es, und am Sonntagmittag sind wir tatsächlich fertig. Aber kommen trotzdem nicht los …
Der Start war für 12 Uhr angekündigt, doch hatten wir nicht in den Tidenkalender geschaut. Daher steckt der Kiel noch bis 16 Uhr im Schlick. Dann aber schwimmen wir endlich und starten sofort. Wie zwei Gladiatoren werden wir vom Kamerateam zum Schiff begleitet. Rückwärts saugen wir uns vom Steg weg, reißen die Segel hoch und machen eine Paradefahrt am Schwimmsteg vorbei, der unter der Last der winkenden Freunde fast absäuft. Endlich allein. Ohne Kameraleute, sie fahren an Bord von Nachbar Bernds Schiff mit zur Elbmündung und filmen von außen. An mehreren Stellen des Flusses erwarten uns Zuschauer und winken. Wahnsinn. Was für eine Fahrt den Fluss hinunter. Ein Gefühl von Freiheit übermannt uns. Wir haben es geschafft, wir sind unterwegs. Egal, was jetzt passiert. Wir sind unterwegs. Kurz vor der Elbe beginnt dann die Arbeit wieder, denn das Kamerateam kommt zurück an Bord.
Ich möchte weiter motoren, denn es weht fast kein Wind. Der Regisseur findet aber, dass Segel schöner fürs Bild wären. Also setzen wir Vollzeug und schalten den Motor ab. Doch das ist gar nicht so einfach, denn der Motor gehört zu den Dingen, die noch auf der To-do-Liste stehen. Er läuft zwar, hat aber keinen Abschalter. Also ziehe ich mir gummierte Arbeitshandschuhe an, nehme die Luftfilter ab und drücke dem Motor die Luft ab. »Frag lieber nicht«, antworte ich auf den fragenden Blick des Kameramanns. Ich weiß: Das Abschalten muss ich noch optimieren. Aber wir werden ja noch viel schlechtes Wetter und viele Hafentage haben. Da ist immer Zeit zum Basteln. Und die Liste an unerledigten Aufgaben ist noch so lang wie mein Arm. Aber den ersten Punkt können wir schon abhaken: »Losfahren.« Darauf kam es uns an. Und bis dahin war es ein langer, langer Weg.
Von Johannes
Das Schwierigste daran, den Traum einer Langfahrt real werden zu lassen, liegt tatsächlich darin, loszukommen. Über Jahre hinweg habe ich bei der Yacht Leseranfragen zum Thema Langfahrt betreut. Ständig meldete sich jemand mit großen Plänen. Einhand, zweihand, nonstop, rückwärts, diagonal um die Erde, zweimal nonstop um die Erde, im Katamaran durchs Südpolarmeer, einhand mit 16 Jahren, 14 Jahren, zwölf Jahren … Die Menschen waren und sind erfinderisch. Ich habe mir anfangs sehr große Mühe gegeben, ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Und, klar, die meisten wollten von uns Hilfe bekommen. Ob durch Publicity oder finanziell. Einige erwarteten gar Komplettfinanzierungen der gesamten Reise. Möglichst vorab.
Aber die wenigsten dieser großen Träume wurden umgesetzt. In den ersten Jahren saßen wir Verlagsleute häufig nach den Bootsmessen noch zum Abendessen zusammen. Da habe ich mich mal mit Bobby Schenk über diese Träumer unterhalten und meinte: »Muss ich die alle für bare Münze nehmen? Ich wette, nicht mal zehn Prozent davon fahren wirklich los.« Bobby, der nun wirklich schon sein ganzes Leben mit den Langfahrern zu tun hat, sah das noch nüchterner: »Ich schätze, es ist nicht mal ein Prozent.«
»It’s a dream. Until you write it down. Then it’s a goal«, habe ich mal gelesen. Das hat sich mir eingebrannt. Und mehr noch: »A goal is a dream with a schedule.« Bei der Umsetzung eines Traums geht es immer irgendwann darum, die Eckpunkte festzusetzen, einen Plan mit Terminen zu machen und das Ganze aufzuschreiben. Wer auf Blauwasserfahrt gehen will, aber keinen festen Abfahrtstermin hat, wird nie losfahren. »Wir fahren los, wenn alles fertig ist«, habe ich über all die Jahre immer wieder von angehenden Blauwasserseglern gehört. Und danach nie wieder etwas von ihnen. Denn wenn dies der Plan ist, wird er nie erfüllt werden. Schiffe werden niemals vollkommen fertig.
Ich habe für mich schon vor vielen Jahren definiert, dass mein Schiff maximal 90 Prozent in Ordnung sein muss. Denn irgendwas ist immer nicht optimal. Wichtig und essenziell ist, dass alle Dinge, die für die Seetüchtigkeit, Navigation, Sicherheit und Schiffsführung nötig sind, vollständig und in Ordnung sind. Optik ist egal, Bequemlichkeit und Komfort auch. Häufig sind es die persönliche Bequemlichkeit und vorgeschobene Gründe, die einen Segler daran hindern, Langfahrtsegler zu werden. Und natürlich das Wetter. So oft hört man von Seglern: »Wir wollten ja gerne, aber das Wetter hat nicht gepasst.« Auf den 15.000 Seemeilen unserer Atlantikrunde sind wir auf dem Nordatlantik drei Tage vor einem Tief hergesurft, das uns 45 Knoten Wind und acht Meter Welle beschert hat. Das war der einzige Moment, über den ich sagen würde, ich wäre lieber im Hafen geblieben. Alle anderen Situationen – ob Schietwetter, Wind von vorn, kabbelige See oder Starkwind – waren unbequem, aber durchaus machbar. Meist war es in unserem sicheren Schiff noch nicht einmal wirklich unangenehm. Die meisten Hindernisse existieren also wirklich nur im Kopf.
Der Tag der Abfahrt ist für viele Segler schwer. Die Tränen der Familie, das Überwinden der Ungewissheit, was alles passieren wird – auf der Reise, aber auch während der Abwesenheit. Wie viel Zeit mit der Familie verschenkt man? Gerade, wenn die Eltern schon älter sind, fällt das schwer. Ist die Reise es wert, die kostbare, knappe verbleibende Zeit zu opfern? So ging es uns auch.
Kaum liegt die Hafenmauer dann aber im Kielwasser, fallen zahlreiche Sorgen ab. Dann ist voraus der Horizont zu sehen. Neue Erlebnisse, Abenteuer warten auf einen.
Der Zeitraum vom ersten Aufblitzen des Traums bis zur Realisierung kann allerdings bei manchen Menschen sehr hart und lang sein. Vor allem, wenn kein fester Plan existiert. Und bei mir noch zusätzlich erschwerend: keine Perspektive. Denn ich wusste, ich würde in absehbarer Zeit weder über die nötigen Reichtümer verfügen, um ein gutes Boot zu kaufen und eine Reisekasse anzuhäufen, noch über die nötige Zeit.
Dabei habe ich den Entschluss, noch eine große Reise machen zu wollen, schon damals gefasst, als ich 2006 meine kleine MAVERICK in Charleston verkauft und den Heimweg per Flieger angetreten habe. Damals waren für mich der Kurs und der Zeitplan klar: Jetzt schnell das Studium hinter mich bringen, etwas Geld verdienen, ein Schiff selbst bauen, Reisekasse verdienen und dann wieder los. Doch letztlich lagen zwischen dem Entschluss und der Abfahrt acht lange, entbehrungsreiche Jahre.
Anfangs lief alles nach Plan. Einen Monat nach dem Ende meiner Reise mit meiner Fellowship 27 fand ich mich in einem Hörsaal in Kiel wieder, zwischen 300 anderen Studenten, von denen immerhin gut 40 ebenfalls den Studiengang Schiffbau belegt hatten. Die Wahl des Studienfachs war für mich klar. Ich hatte schon als kleiner Junge Modellboote konstruiert und gebaut und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als meine Bootsideen aus Holz und GFK an mir vorbeischwimmen zu sehen.
Doch das Grundstudium war dröge und zäh. Viel Mathematik, mit der ordentlich gesiebt wurde. Mathe lag mir nie sonderlich. Dafür technisches Zeichnen und CAD. Und dann war da immer noch der Ozean, der mich nicht losließ. Und verlockende Angebote. So sollte ich zum Beispiel zu einem Segelverein nach Bünde kommen und einen Vortrag halten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Vor allem, weil es dafür auch noch 300 € geben sollte. Also erstellte ich an den Abenden in meinem WG-Zimmer eine Präsentation, schnitt Videos mit Musik, verlud meinen PC und meine Stereoanlage ins Auto und machte mich auf den Weg nach Bünde in Ostwestfalen.
Dort kam ich mit eineinhalb Stunden Puffer an, ging ins Wirtshaus und sagte dem Wirt, dass ich für einen Vortrag hier sei. »Der geht erst um sieben los, da ist noch keiner da.« Also saß ich im Auto und wartete. Als ich nach einer halben Stunde wieder ins Wirtshaus kam, sagte mir der Wirt nur: »Immer noch zu früh.« Zurück ins Auto. Eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags wagte ich einen letzten Versuch. Der Wirt fing gleich an: »Ich hab dir doch gesagt, dass es erst um sieben losgeht …« »Ja, ja, aber ich muss ja noch aufbauen«, erwiderte ich. »Ach, DU bist der Vortragende? Mensch, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!«
Meinen allerersten Vortrag hielt ich also vor etwa 70 Mitgliedern der Hochseesegler-Gemeinschaft Bünde. Ein lustiger, sehr angenehmer Abend. Es machte mir riesig Spaß, die Leute mit auf mein Abenteuer zu nehmen. Doch geriet der Vortrag viel länger als gedacht, da ich ihn nie vor Publikum geübt hatte. Ich klickte fleißig 350 Bilder durch und erzählte zweieinhalb Stunden lang Geschichten und Anekdoten. Trotzdem schien keiner gelangweilt. Deshalb habe ich den Vortrag über die Jahre in der Form fast genauso beibehalten, jedoch auf gut eineinhalb Stunden gekürzt.
Schon in der Karibik hatte mich der Delius Klasing Verlag gefragt, ob ich nicht ein Buch über meine Reise verfassen könnte. »Was für eine Ehre«, dachte ich damals, denn ich hatte schon immer gehofft, irgendwann mal ein Buch veröffentlichen zu können. Doch jetzt, zurück in Deutschland, hatten die Verantwortlichen mein Abschlussinterview in der Yacht gelesen. Und da stand dick und fett: »In vier Jahren möchte ich wieder los. Und dann ganz um die Welt.« Daher zogen sie das Angebot wieder zurück, denn sie wollten lieber gleich das Buch über die Weltumsegelung. Dabei war ja gar nicht klar, ob diese überhaupt stattfinden würde. Plötzlich musste ich also dafür kämpfen, dass nun doch ein Buch über meine erste Reise entstehen sollte. »Der jüngste deutsche Einhand-Atlantikübersegler« war mein Argument. Ich sollte Probekapitel liefern und bekam dann doch die Zusage. Allerdings sollte das Buch in sechs Wochen fertig sein. Ich fing an zu tippen. Aber neben dem Studium war nur jeden Abend etwas zu schaffen. Denn gerade im ersten Semester musste ich viel Arbeit ins Studium stecken.
Während ich in Sachen Segelei also einen kleinen Höhenflug erlebte, sackte ich im Studium immer mehr ein. Ich musste mich entscheiden: Lasse ich das Studium sausen oder das Buch? Schnell hatte ich eine Lösung: Die Semester könnte ich immer noch nachholen, aber die Kuh »Segelei« musste gemolken werden, solange sie Milch gab. Also setzte ich alles daran, ein gutes Buch abzuliefern. Zum Glück bekam ich auch noch einen Aufschub für die Abgabe und konnte die ganzen ersten Semesterferien von morgens bis abends daran arbeiten.
Doch die Kuh gab immer mehr Milch. Und ich molk. Nahm jede Einladung an. Zigmal flog und fuhr ich sogar in die Schweiz und hielt meine Vorträge. Doch ein guter Geschäftsmann war ich nie. Für Jugendgruppen und Kirchen fuhr ich oft nur gegen Spritgeld quer durch Deutschland. Abzüglich der Spritkosten blieben aber auch bei bezahlten Vorträgen manchmal nur 50 € Gewinn übrig. Doch das »Tourleben« gefiel mir. Um die Vorträge halten zu können, nahm ich mir jeweils einen Tag von der Uni frei. Dass ich dabei neben meinen Nebenjobs zu viel Stoff sausen ließ, merkte ich erst, als ich eines Morgens mit den Worten »Moin, Herr Erdmann. Schön, dass Sie’s einrichten konnten« begrüßt wurde.
Nach drei Semestern zog ich 2009 dann den Schlussstrich. Mein Plan war, ab Herbst entweder Internationale Fachkommunikation in Flensburg oder Journalismus in Berlin zu studieren. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken und schon mal ein wenig Erfahrung zu sammeln, vermittelte mir Wilfried Erdmann ein Praktikum bei der Yacht in Hamburg. Und ein neuer Lebensabschnitt begann.
Jeden Morgen pendelte ich ab März von Kiel nach Hamburg und begann, erste Kurzmeldungen und Online-Artikel zu schreiben. Schon nach knapp zwei Wochen sollte ich eine Seite mit Hintergrundinformationen für einen Historienartikel von Arved Fuchs abliefern. Vor dem Artikel stand dann »Verfasst von Arved Fuchs in Zusammenarbeit mit Johannes Erdmann«. Als ob wir zusammen an dem Text gesessen hätten. Ich bekam immer größere Aufgaben und war zugleich sehr überrascht, was für ein Vertrauen die Abteilung und vor allem mein Chef in mich legten.
Nach drei Monaten bot man mir dann sogar ab September ein Volontariat an, das die meisten Journalisten erst nach einem abgeschlossenen Studium bekommen. Parallel dazu sollte ich an der Akademie für Publizistik mein Handwerkszeug lernen: schreiben, fotografieren, filmen und schneiden. Ein sehr verlockendes Angebot. Doch bis dahin hatte ich noch zwei Monate Zeit, mich zu entscheiden. Und zum Nachdenken hatte ich den besten Ort der Welt – den Atlantischen Ozean.
Auf einer »Hanseboot« hatte ich den Bootsbauer und Knotenspezialisten Egmont Friedl kennengelernt, der sich gerade in den USA ein Schiff gekauft hatte. Nach einem Sommer in der Chesapeake Bay überlegte er nun, das Schiff nach Europa zu segeln, und suchte noch einen Mitsegler. Klar, dass ich da nicht lange überlegen musste. Also flogen wir Anfang Juni 2009 in die USA und übernahmen das Schiff in Deltaville, Virginia. Wir rüsteten die GAVDOS x aus, verproviantierten uns und machten dann noch einen Abstecher nach New York, um ein letztes amerikanisches Steak zu essen.
Der Weg über den Nordatlantik hatte es dann in sich. Wir segelten, wie laut Handbuch empfohlen, auf 40° Nord, waren aber immer zu weit nördlich und bekamen auf der nördlichen Seite der Tiefs immer Gegenwinde ab. Zwei Stürme wetterten wir mit dem schweren und breiten, aber nur 32 Fuß langen Colin-Archer-Nachbau ab. In einem Sturm drehten wir einen Tag lang bei und erlebten einen Knock-down in einer großen Welle. Der Mast lag flach auf dem Wasser und es ging viel kaputt. Doch nach drei Wochen erreichten wir die Azoren bei herrlichem Wetter.
Ich hatte geglaubt, ich hätte während der Überfahrt Gelegenheit, mir darüber klar zu werden, wohin mein Leben gehen sollte. Doch die ganze Überfahrt drückten mich Sorgen, die sogar Magenschmerzen verursachten. Einmal natürlich das Wetter, das rauer als erwartet war, dann vor allem auch Sorgen um meine Freundin Cati.
Diese hatte ich erst vor einem halben Jahr kennengelernt und wusste früh: »Die gehört zu mir.« Gesegelt war Cati noch nie richtig, aber meine Geschichten von fernen Inseln und dem blauen Ozean gefielen ihr, und wir hatten begonnen, gemeinsame Reisepläne zu schmieden.
Als ich Deutschland verließ, erzählte sie mir noch, dass sie sich gerade ständig komisch fühle, schwindelig, und ab und zu beim Fahrradfahren sogar mit dem Fuß vom Pedal abrutsche. »Du musst dringend zum Arzt«, sagte ich ihr. Doch dann ging mein Flieger, und ich war bereits in den USA, als sie sich endlich durchchecken ließ. Der Arzt schickte sie relativ schnell in eine Spezialklinik und dort ins MRT. Es waren einige helle Stellen in ihrem Gehirn zu sehen. Worum es sich dabei handelte, konnte man nicht sagen. Irgendwelche Entzündungen. Möglicherweise Multiple Sklerose? Diese Vermutung kam schnell, denn ihre Mutter hat diese Krankheit, und bei Familienmitgliedern ist die Chance, ebenfalls daran zu erkranken, zumindest minimal erhöht. Es tat mir weh, sie per Skype im Krankenhaus liegen zu sehen und zu erfahren, welche unangenehmen Untersuchungen sie über sich ergehen lassen musste. Dann kam die freudige Nachricht: »Der Arzt sagt, dass es ganz sicher keine MS ist«, verkündete sie. »Wahrscheinlich war es nur ein Zeckenbiss.« Eine Woche später, eine halbe Stunde, bevor wir in New York ablegten, dann die Korrektur: »Es ist doch MS.«
Während Cati relativ gelassen war, da sie die Krankheit seit vielen Jahren von ihrer Mutter kannte, brach für mich erst mal eine Welt zusammen. Ich dachte viel an sie und schrieb ihr täglich Mails. Und es zerriss mir das Herz, dass ich nicht bei ihr sein und sie im Krankenhaus besuchen konnte. Als ich vier Wochen später dann in Hannover landete, war ihr von dem Elend nichts anzusehen. Sie war etwas dünner geworden, aber lustig und munter wie immer.
Bereits im April hatte ich ein kleines Segelboot gekauft, denn ich wollte meiner neuen Freundin unbedingt das Segeln beibringen, hatte aber kein Boot. Also hatte ich mich schlaugemacht, was eine Charter über Ostern kosten würde. »Gut 650 €? Das ist viel für ein Wochenende.« Eines Morgens hatte ich dann aber zufällig eine alte Hurley 22 bei eBay entdeckt. Die Auktion sollte in acht Stunden enden und das Höchstgebot lag bei 650 €. »Für den Preis könnte ich also sogar ein Boot kaufen!« Verlockend. Ich schaute aufs Konto: 1.300 € übrig. Also bot ich 1.300 €.
Abends waren wir zum Essen eingeladen, und ich hatte das Gebot längst vergessen. Da bimmelte mein Handy. »Herzlichen Glückwunsch«, schrieb mir eBay per SMS. »Sie haben ›Hurley 22 Segelboot‹ für 1.290 € ersteigert!« Unfassbar. Plötzlich hatten wir ein Boot.
Eine Woche später fuhren wir nach Fehmarn, um es zu begutachten. Länge: 6,60 Meter. Baujahr: 1968. Gewicht: 2,2 Tonnen! Cati fand es riesig groß, und ich war ebenfalls von dem vorhandenen Platz überrascht. Doch in der Kajüte gab es einiges zu tun, und irgendwas stank gewaltig. Die Teppiche und Wände waren verschimmelt, das Schott hatte Wasser gezogen, die Bordwände waren zerschrammt. Also kaufte ich im Bootsladen nebenan Essigreiniger, einen Eimer, zwei Töpfe Farbe, Rollen, Antifouling, Schleifpapier und Klebeband. Während Cati in der Kajüte mit Atemschutzmaske und Putzlappen eine erste Beziehung zum Schiff herstellte, ging ich mit Schleifpapier einmal 6,60 Meter bis zum Bug und 6,60 Meter bis zum Heck schleifend an der Bordwand entlang. Dann noch mal mit der Farbrolle und blauer Farbe. Am nächsten Tag strichen wir Antifouling und hatten nach zwei Tagen Arbeit ein tolles Anfängerschiff für die erste Saison.
Nach meiner Rückkehr aus den USA wollte Cati nun unbedingt mit mir segeln gehen. Sie hatte in meiner Abwesenheit im Krankenhaus einige Segelbücher gelesen und wollte unheimlich gern eine Nachtfahrt erleben. »Das klang alles so romantisch. Das rauschende Wasser, die Sterne, das Leuchten im Kielwasser …«, schwärmte sie. Also führte uns schon die dritte Ausfahrt über Nacht hinüber nach Dänemark. Bis dahin waren wir mangels Wind fast nur motort.
Mit der letzten Brückenöffnung verließen wir die Schlei und setzten Segel. Doch der Wind war viel stärker als angesagt. Etwa 5 Beaufort wehten aus Osten, und das Schiff preschte hoch am Wind nach Søby auf Ærø. Wir hatten uns ausgemalt, dass einer ja schlafen und einer segeln könne – aber Cati hatte so große Angst, dass ich nicht mal kurz aufs Vorschiff gehen konnte, um Segel zu wechseln. Dabei war der Mast kaum mehr als einen Meter vom Cockpit entfernt. Das Boot entpuppte sich als sehr frühe Version des Wavepiercer-Konzepts: Statt über die Wellen zu schweben, tauchte der schwere Langkieler immer brachial mitten durch sie durch. Viel Wasser ging über Deck und gelangte ins Cockpit. Und wir hatten kein Ölzeug dabei. Dazu gab es noch andere Probleme: »Öhm, ich müsste mal«, sagte Cati nach etwa der Hälfte der Überfahrt. »Dann musst du wohl auf den Eimer gehen«, erklärte ich ihr. Aber das war für sie bei dem Plexiglassteckschott keine Option. Also kniff sie zusammen und hielt an.
»Noch fünf Seemeilen, dann sind wir im Hafen«, sagte ich gegen 1 Uhr morgens und ergänzte: »Etwa eine Stunde.« Doch so sicher war ich mir nicht. Ich konnte nicht von der Pinne weg, und meine Navigation war sehr grob. Ich hatte gegen 23 Uhr schnell einen Wegpunkt ins GPS getickert, um dann eilig wieder nach oben zu kommen. Ich hoffte inständig, dass es die richtigen Koordinaten waren. Doch als wir dann bis auf eine halbe Seemeile an den Wegpunkt heran waren und noch keine Uferbeleuchtung sahen, wurde ich skeptisch und ging noch einmal zur Karte unter Deck. »Upps, hab mich vertan. Ab jetzt noch eine Stunde«, erklärte ich kleinlaut.
Als wir dann um 4 Uhr morgens in den Hafen von Søby einliefen, konnte es Cati nicht mehr aushalten. Ungefähr zehn Meter vor der Box sprang sie auf, eilte unter Deck und setzte sich auf den Eimer, während ich die Leinen festmachte.
Die Kajüte war ein einziges Chaos. Dazu schien die Vorschiffsluke zu lecken. Alle Polster waren klitschnass, und eigentlich war mir klar, dass Cati nach diesem Erlebnis nie wieder auf ein Boot steigen würde. Doch als sie sich in der Koje, die ich zwischenzeitlich gegen die Nässe mit Mülltüten abgedeckt hatte, auf die andere Seite drehte, murmelte sie müde, aber zufrieden: »Das haben wir geschafft. Schlimmer gehts ja eigentlich nicht mehr. Dann kann es morgen nur besser werden.«
Mit Cati hatte ich also ein tolles Mädchen gefunden, das alle Segelabenteuer mitmachen würde. Aber eigentlich war das für mich gerade ein etwas blödes Timing, denn im Grunde war ich seit Winter 2008/09 dabei, ein neues Einhandabenteuer vorzubereiten und Unterstützer für eine eigene Nonstop-Reise zu finden. Ich machte mir große Hoffnungen, denn ich hatte ja bereits eine erfolgreiche große Reise hinter mir und darüber ein Buch geschrieben, das sich blendend verkaufte. Dazu war die Summe, verglichen mit einer großen Hochseeregatta wie der Vendée Globe, überschaubar. Statt mehreren Millionen war ich nur auf der Suche nach einem Schiff. Der Einsatz lag also etwa bei 100.000 €, die durch den anschließenden Bootsverkauf in etwa wieder reinkommen würden.
Also schrieb ich Briefe und verschickte Infomappen mit Zitaten diverser bekannter Segler über mich, mit denen ich Kontakt hatte. Es musste doch zumindest jemanden geben, der mir Geld für ein Schiff leihen und den Wertverlust ausgleichen würde. Die Reisekosten könnte ich vermutlich selbst aufbringen. Vor allem beim größten Arbeitgeber meiner Heimatstadt Wolfsburg hatte ich große Hoffnung, schlug vor, das Schiff BLUE MOTION zu nennen und mit Volkswagen eine tolle Werbekampagne für weite Reisen mit wenig Kraftstoffeinsatz zu machen. Doch ich bekam nur Textbausteinantworten zurück, dass man sich entschieden hätte, nur Golf- und Reitveranstaltungen zu sponsern.
Als die Yacht Wilfried Erdmann 2008 zum 40. Jubiläum seiner ersten Weltumsegelung bat, einmal aufzuschreiben, was sich in den 40 Jahren alles verändert hatte, schlug er vor, stattdessen einen Tag mit mir segeln zu gehen und sich mit mir über den Unterschied unserer Generationen zu unterhalten. Dabei fiel ihm der Name PATHFINDER meines damaligen Bootes auf. Dieser gefiel ihm. »Der Name passt«, schrieb er, »denn der junge Mann versucht, seinen Weg zu finden.«
Doch welcher Weg würde das sein? Einhand? Oder zu zweit? Das wusste ich immer noch nicht. Jetzt war ich jung, gesund und kräftig. Motiviert. Voller Hunger auf die See. Nonstop würde sich jetzt zu diesem Lebenszeitpunkt anbieten. Keine Kinder, keine Familie, keine Karriere im Job. Aber wie lang würde Cati noch so gesund sein, mit der schrecklichen Diagnose? Denn auch eine Reise mit ihr zusammen wäre unheimlich schön. Das alles mit ihr zusammen zu erleben. Ein ganz anderes Segeln als nonstop allein. Und vielleicht wäre so eine Reise auch genau das Richtige für sie, nach all den Jahren im Jurastudium, als Belohnung für all den Stress. Stressig würde das auch werden, das war klar. Aber selbst gewählter, »positiver« Stress.
Doch dann kam im Sommer 2012 ihr Erstes Staatsexamen und änderte alles. Der Stress machte Catis Gesundheit sehr zu schaffen. Doch sie hielt durch und schaffte jede Klausur, obwohl ihr während der letzten Klausur zunehmend schwindelig wurde. Am nächsten Morgen bekam sie die Quittung für all den Stress, den MS-Patienten tunlichst vermeiden sollten. Sie fiel im Bad um und konnte nichts mehr. Nicht reden, nicht sich bewegen, gar nichts. Der Krankenwagen kam und holte sie ab. Es dauerte Monate, bis sie sich wieder erholt hatte. Immer wieder fehlten ihr ganze Sequenzen ihres Lebens, die das Hirn einfach gelöscht hatte. Auch mitten im Gehen verlor das Gehirn zeitweise die Kontrolle über den Körper, sie stolperte und humpelte, bewegte sich in Zeitlupe. Dann war die Kontrolle plötzlich wieder da, so als wäre nichts gewesen.
Die Folgen des Examens machten mir Angst. Und dann war sie auch noch ganz knapp durchgefallen.
Schon beim monatelangen Lernen für den nächsten Versuch wurde klar, dass dieses Mal noch mehr Druck auf ihr lag, und ich legte ihr nahe, das Studium abzubrechen. »Abbrechen? Nach so vielen Jahren? Dann bin ich 25 und habe nur Abitur!« Das konnte und wollte sie nicht. Doch die Gesundheit war wichtiger, und so entschloss auch sie sich im Mai 2013 nach einiger Bedenkzeit, abzubrechen. Danach fiel sie in ein Loch, aus dem sie erst durch einige Praktika langsam wieder herausfand.
Damit fiel auch für mich eine Entscheidung: Erst möchte ich mit Cati auf Reisen gehen. Wenn jetzt die Zeit ist, zusammen zu segeln, dann segeln wir jetzt zusammen. Also setzte ich eine neue Website auf, was für mich der bislang größte Schritt meines Lebens war. Denn dadurch ging ich nicht nur eine feste öffentliche Bindung, sondern auch eine Verpflichtung ein. Ich hatte Cati zugeredet, das Studium aufzugeben, nun war ich auch für sie verantwortlich. Die alte Website hieß www.allein-auf-see.de, die neue folgerichtig www.zu-zweit-auf-see.de.
Das Boot für unsere gemeinsame Langfahrt hatten wir zufällig gerade gekauft: eine 42 Jahre alte Contest 33, die ich 2012 als OLGA in Holland gekauft und MAVERICK TOO getauft hatte. Das Schiff war optisch gar nicht so schlecht in Schuss. Doch unter Lack und Gelcoat verborgen saßen etliche Osmosenester, die ich glücklicherweise bereits vor dem Kauf gefunden hatte. So konnte ich den Preis enorm drücken. Nach dem Kauf im Januar fuhren wir alle paar Wochen nach Holland, schliefen bei Eis an Deck in der Kajüte, gewärmt von einem Heizlüfter, und begannen, das Schiff für die Überführung nach Deutschland vorzubereiten und erste Inventuren zu machen. Die Überführung durch die Staandemast-Route war toll. Mit mir an Bord waren meine Eltern, während Cati in Kiel fleißig für ihr erstes Staatsexamen lernte.
Zum Herbst 2012 ging MAVERICK TOO in Neuhaus an der Oste an Land. Nach zwei Jahren in einer Einzimmerwohnung in Hamburg hatte ich mir dort nämlich im Sommer ein riesengroßes altes Haus gekauft. Zu einem Preis, zu dem man in Hamburg höchstens eine Garage erwerben könnte. Ich hatte jeden Monat 570 € Miete für 40 Quadratmeter in Wandsbek gezahlt und zahlte nun monatlich dieselbe Summe an die Bank zurück. In 14 Jahren sollte das Haus mit seinen 200 Quadratmetern Wohnfläche abbezahlt sein. Und dazu eröffnete es mir bootsbautechnisch ganz neue Möglichkeiten, denn meine neue Werkstatt, die ans Haus angeschlossene Schmiedehalle, maß zehn mal sechs Meter und hatte dreieinhalb Meter hohe Decken. Nur das Tor war 15 Zentimeter zu schmal, sonst hätte sogar MAVERICK TOO hineingepasst. Zu allem Überfluss lag das Haus genau am Deich, auf dessen anderer Seite sich ein privater Bootssteg mit zehn Metern Länge befand. Ein perfekter Wohnort für jeden Segler.
Von Johannes
Kaum liegen wir in Cuxhaven, verwandelt sich MAVERICK TOO wieder in einen Bausatz. Die To-do-Liste ist immer noch ellenlang. Aber wir sind optimistisch, denn zumindest haben wir den Absprung geschafft und sind unterwegs. Alle Bauarbeiten, die jetzt noch zu erledigen sind, haben den Charme des Unterwegs-Erledigens.
Als Erstes mache ich mich daran, den Kühlschrank und die Wassertanks anzuschließen. Das dauert den ganzen Tag. Die Stromleitungen liegen zwar schon irgendwo in der Gegend, müssen aber noch um den Motor herumgezogen werden. Ebenso die Wasserschläuche. Die neuen Plastiktanks sind bereits fest verschraubt, aber die Schläuche noch nicht mit der Pumpe verbunden. Cati bringt derweil Ordnung in unsere vier Quadratmeter Salon und organisiert unsere Kleiderschränke. Während sie zu Hause eine Art begehbaren Kleiderschrank hatte – eigentlich mehr eine Abstellkammer mit Regal darin, weil im Zehn-Quadratmeter-WG-Zimmer kein Platz für einen Schrank war –, muss sie jetzt mit einem einzigen Schapp zurechtkommen. Ich auch. Aber ich habe meines etwas weiter achtern gewählt. Da ist der Rumpf breiter und die Schapps sind tiefer …
Weil uns das Kamerateam am Tag vor der Abfahrt so viel Zeit gekostet hat, kam kurz vor der Abfahrt noch mal Hektik auf. MAVERICK TOO war morgens noch voller Kram von den Bauarbeiten, und im Haus lag noch Ausrüstung, die mitmusste. Also packten zwei Leute an Bord die überflüssigen Dinge in Kisten, während parallel zwei andere Helfer die Ausrüstung aus dem Haus zum Schiff brachten. Dabei landeten aber einige wichtige Ausrüstungsstücke wieder im Haus, während andere erneut an Bord kamen. Deshalb setzt sich Cati am zweiten Reisetag in Cuxhaven noch mal in die Bahn nach Oberndorf, um das Auto und diverse Ausrüstungsgegenstände zu holen.
Am Nachmittag des dritten Reisetages besucht uns Catis Vater. Er war am Abfahrtstag verhindert, kommt nun aber extra aus Bad Bentheim angefahren, um uns noch Tschüss zu sagen. Cati ist aufgeregt, denn er ist unser erster Gast an Bord. Wir finden ein italienisches Restaurant in der Innenstadt und genießen einen letzten Abend zusammen bei Pizza und Bier. Morgen wollen wir losfahren.
Den Autoschlüssel hinterlegen wir bei der Hafenmeisterin, denn meine Eltern wollen am Wochenende kommen, um das Auto abzuholen. Sie werden überrascht sein, da wir MAVERICK TOO noch einmal etwas ausgemistet haben. Vor allem viele unhandliche Sachen. Polsterauflagen für den Salontisch? Viel zu sperrig. Das zweite Solarpanel findet bei aller Fantasie keinen guten Platz, weder an Deck noch am Geräteträger. Sogar das Sitzkissen für den Kartentisch geht aus Platzgründen von Bord, denn wir haben ja zwei Freebags und ein Kapokkissen. Dann sind wir startklar. Drei Tage nach der Abfahrt segeln wir endlich in internationale Gewässer.
Von Cati
Schon seit einigen Tagen kommt der Wind aus Osten. Das ist eher ungewöhnlich für die Deutsche Bucht um Cuxhaven, in der eher Westwinde vorherrschen. Für einen Schlag direkt nach England sind diese Wetterbedingungen allerdings perfekt, denn so kommt der Wind von hinten und verspricht eine angenehme und schnelle Reise. Ein weiterer Grund, der uns zur Weiterfahrt drängt.
Wegen der guten Windverhältnisse wollen wir direkt nach England segeln. Lieber Meilen machen und raus aus dem Herbstwetter. Lieber schnell zum Atlantik und die Karibik genießen.
Nach einem letzten, schnellen Frühstück auf deutschem Boden verabschieden wir uns von meinem Vater, und dann geht es los. Bei der Ausfahrt erwischt uns noch die Webcam vom Hafen, und nur wenige Minuten später bekommen wir von einem Freund ein Bild davon aufs Handy geschickt. Etwas pixelig zwar, aber trotzdem sieht die MAVERICK TOO wild und entschlossen aus mit den vielen Flaggen, die noch an unserem Achterstag hängen.
Wild und entschlossen – das sind wir auch. Johannes zieht kurz nach der Hafenausfahrt das Groß hoch und setzt danach die Genua. Schon rauschen wir unter Autopilot Richtung England. Die Elbströmung tut noch ihr Übriges: 8,5 Knoten zeigt unsere Logge konstant an. »Wir sind tatsächlich unterwegs! Ist das nicht komisch?«, frage ich Johannes. Glauben können wir das beide noch nicht so richtig.
Etwas angespannt sitzen wir im Cockpit. Nach zwei Jahren in der Halle und den diversen Veränderungen am Boot wissen wir noch gar nicht, was unser Schiff überhaupt abkann. Vieles ist anders. Der Mast länger, die Segel größer … Aber es herrschen Traumbedingungen. Sonnenschein und Rückenwind. Die MAVERICK TOO wird vorangetrieben, und die berüchtigte »Mordsee« macht uns die Eingewöhnung an die Wellenbewegungen leicht.
Irgendwie kommt es uns aber seltsam vor, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun. Die Minuten kriechen förmlich. Gerade in den letzten Wochen ist uns der Vorbereitungsstress fast über den Kopf gewachsen. Wir waren ständig unter Strom. Deshalb überlegen wir uns erst mal, was wir essen könnten, um die Zeit zu überbrücken. Und was man danach snacken könnte.
»Jetzt steuere ich mal«, verkünde ich. »Irgendwann muss ich das Segeln ja lernen, und wir sind jetzt immerhin schon zwei Stunden unterwegs!« Johannes grinst und koppelt den Autopiloten aus. In den vergangenen Jahren habe ich zwar öfter mal ein Schiff gesteuert, aber nie einen richtigen Segel-Grundkurs gemacht – und in den zwei Jahren in der Werft und fehlender Praxis ohnehin die Hälfte des einst Erlernten wieder vergessen. Direkt merke ich am Ruderdruck auf das Steuerrad, wie der Wind in die Segel drückt. »Wenn die Segel killen, dann in die andere Richtung aussteuern«, erinnert mich Johannes. »Wenn sie flattern, meinst du, oder?«, frage ich unsicher nach. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was ich da genau mache. Klappt aber irgendwie. »Das ist ja wie Fahrschule«, sage ich bemüht vergnügt – und meine eigentlich dieses komische Gefühl, das mich schon in der ersten Autofahrstunde beschlichen hatte. »Das reicht jetzt erst mal für den ersten Eindruck«, verkünde ich deshalb verunsichert nach einer Dreiviertelstunde.
Nach einigen Stunden läuft die MAVERICK TOO ständig aus dem Ruder. Die Wellen haben sich mittlerweile etwas höher aufgebaut. Das reicht schon, dass unser Radautopilot es nicht mehr schafft, sie auszusteuern und den Kurs zu halten. »Ich setz mal die Monitor in Gang«, sagt Johannes und beugt sich über das Heck nach außen, um das Ruder unserer Windsteueranlage abzulassen. Aber es gelingt ihm nicht, das Ruder ins Wasser zu drücken und einzuklicken. Das Kielwasser drückt es immer wieder hoch und sein Arm ist zu kurz. Der Bootshaken, mit dem wir eine Verlängerung hätten, liegt ordentlich im Regal in der Schmiede. Irgendwann gelingt es doch. »Wir kaufen in England einen neuen«, meint Johannes. »In zwei Tagen sind wir ja da.«
Als es dämmert, will Johannes ein Reff einbinden. In der Nacht hat er immer gern etwas weniger Segelfläche, damit er nicht im Dunkeln auf dem Vorschiff rumturnen muss, falls mehr Wind aufkommt. Denn MAVERICK TOO ist nicht vom Cockpit aus zu reffen, sondern die Leinen werden direkt am Mast bedient.
»Ich gehe jetzt nach vorne und reffe«, ruft mir Johannes zu. »Du fährst einfach in die Richtung, aus der der Wind kommt. Das siehst du ja gut am Windanzeiger.« In dem Moment, in dem meine Hände das Steuer berühren, wird mir ganz anders. Die Wellen scheinen plötzlich aus allen Richtungen zu kommen. Völlig orientierungslos suche ich die Lichter eines Frachters, der doch eben noch vor uns war. »Was machst du denn da?«, ruft Johannes von vorne. »Ich weiß nicht!«, brülle ich zurück und spüre Panik in mir aufsteigen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll! Das Schiff dreht sich nicht weiter! Ich hab das Ruder doch schon ganz eingeschlagen!« Und plötzlich bekomme ich Angst. Nicht vor den Wellen, jedoch vor meiner Courage, einfach auf ein Boot zu steigen, ohne es überhaupt segeln zu können. Und vor der Verantwortung für Johannes, mich und unser Boot, die ich gerade in den Händen halte und mit der ich nichts anzufangen weiß. Ob das jetzt jede Nacht so wird in den nächsten zwei Jahren? Bin ich dem überhaupt gewachsen? Hilflos laufen mir die Tränen über das Gesicht.
»Gib einfach mehr Gas, Cati!«, ruft Johannes. »Dafür haben wir den Motor doch extra angemacht. Ich beeil mich!« Gas geben. So einfach. Warum habe ich nicht daran gedacht? Augenblicklich schäme ich mich. »Ist doch alles halb so schlimm«, versucht Johannes mich zu beruhigen. Und als würde das noch nicht reichen, wird mir plötzlich auch noch übel, und ich muss mich übergeben. Flau im Bauch, dabei war es bislang bei unseren Segelversuchen geblieben. Schuldgefühle und Sorge zwingen mich jetzt aber in die Knie und verlangen nach unserem schwarzen Eimer. Einmal in dieser Spirale drin, vegetiere ich irgendwann nur noch auf unserer Salonkoje dahin und tue mir selbst ziemlich leid.
Johannes ist plötzlich wieder Einhandsegler. Obwohl er mir versichert, dass ihm das gar nichts ausmacht, fühle ich mich deshalb noch mieser. Nicht nur, dass ich ihm gar keine Hilfe bin, ich belaste ihn noch durch meine Seekrankheit. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt.
Auch am nächsten Tag sind die Wetterverhältnisse optimal. Meine Seekrankheit hat sich so weit gebessert, dass wir nicht nur den fehlenden Schlaf nachholen können. Wir sind auch zuversichtlich, dass wir nachts sogar abwechselnd Wache gehen können. Johannes ist abends noch fit, weshalb er die erste Runde übernehmen will.
Als ich gerade weggedöst bin, höre ich plötzlich ein lautes »KLÄNG!«. »Cati, komm schnell! Ich glaube, wir haben gerade einen Wantenspanner verloren.« Schlagartig bin ich hellwach und stürze den Niedergang hoch. »Wir müssen die Genua wegnehmen«, ruft Johannes mir zu. »Es darf kein Druck mehr auf dem Mast sein!«
Vor unserer Abfahrt aus Cuxhaven hatte Johannes alle Wanten noch mal nachgestellt und meinem Vater Splinte und Tape in die Hand gedrückt, damit er sie sichern kann. Keiner von uns beiden hatte allerdings an die oberen Zwischenwanten zwischen dem ersten und dem zweiten Salingspaar gedacht. Alle Wanten hatten wir beim Maststellen vor ein paar Wochen nicht gesichert, weil wir sie vor der Abfahrt ja ohnehin noch mal nachstellen wollten. Und bis auf die Zwischenwanten haben wir das ja auch gemacht …
In der Dunkelheit können wir den Wantenspanner nicht finden, der scheinbar über Bord gegangen ist. Das Zwischenwant baumelt in der Luft und dengelt bei jeder Welle gegen den Mast. Der Wind hatte zum Abend abgenommen, weshalb wir das Groß ohnehin schon weggenommen hatten, damit es in der Dunkelheit nicht zu sehr schlägt, und den Motor angemacht. Die Genua ist in Windeseile eingerollt.
Johannes sagt kaum mehr was, und an seinen ständigen Blicken in den Mast merke ich, dass er sich Vorwürfe macht. »Das ist ein richtig, richtig dummer Fehler!«, platzt es irgendwann aus ihm heraus. »Unter anderen Bedingungen hätte uns das den Mast kosten können.«
Mit einem Blick in die Seekarte legt Johannes unser Ziel neu fest. »England können wir knicken«, erklärt er. »Wir haben gerade Texel querab, aber da finden wir bestimmt keinen Ersatz für den Wantenspanner. Der hat ein spezielles Feingewinde.« Mit dem Motor gut zu erreichen ist allerdings IJmuiden in den Niederlanden. Dort gibt es eine sehr große Marina, und wir hoffen, dort fußläufig vielleicht ein passendes Teil zu finden. Oder es dort zumindest bestellen zu können.
Also verlassen wir im spitzen Winkel unseren Kurs und drehen nach IJmuiden ab, das wir nach 14 Stunden durch absolute Flaute motorend erreichen. Dort finden wir in einem Segler-Dorado tatsächlich einen passenden Wantenspanner, nachdem Johannes erst mal probiert hate, ob nicht der Spanner von der Seereling passt … und auch diesen direkt im Hafenbecken versenkt hat.
Von Johannes
Zum ersten Mal haben wir nicht wirklich etwas zu tun. Kein Programm. Die Vorbereitungen, die Abfahrt, die Hatz nach IJmuiden und dann weiter nach Ramsgate, dort eine weitere Runde Arbeitscamp mit unseren Oberndorfer Nachbarn Bert und Marlene, die zufällig dort mit ihrem Schiff liegen und eine voll ausgestattete Werkstatt an Bord haben … Und nun sind wir auf uns allein gestellt. Wir können uns aussuchen, was wir machen. Ein verrücktes Gefühl. Und es soll noch Monate dauern, bis ich das permanente schlechte Gewissen der Faulheit ablege, das sich sofort meldet, wenn ich länger als fünf Minuten irgendwo herumsitze, ohne an irgendwas zu arbeiten.
Am nächsten Morgen setzen wir Segel und bergen sie auch bald wieder, denn es herrscht absolute Flaute. Unter Motor passieren wir das wegen der Fähren berüchtigte Seegebiet vor Dover, das ich allerdings noch nie so wirklich schlimm fand. Der Strom schiebt. Eine neue App macht es so einfach wie nie zuvor, die Änderungen der Gezeitenströme in die Navigation einzurechnen. Zum Ende schiebt das Wasser dann aber wieder von vorn, und wir motoren in die Nacht hinein nach Brighton.
Die Strömung setzt im Mündungsbereich des Hafens stark quer, doch es gelingt uns, ohne Schrammen an den Steg zu gehen. Über den Aluminiummasten der Yachten leuchtet hell und weit ein Stahlmast mit einem leuchtenden »M«. Das Restaurant »Zur goldenen Möwe«. Und ich habe Heißhunger auf einen Burger. Die Internetrecherche ergibt, dass der Laden sogar noch offen ist. Aber wie kommen wir hier raus? Denn ich erinnere mich vom letzten Mal noch an ein großes Tor im Yachthafen, durch das man nur mit einem Code gelangt. Normalerweise gibt es im Innenteil der Marinas immer einen großen Knopf, mit dem man die Tür entriegelt, aber hier findet sich nur eine Edelstahlplatte, auf die man offenbar eine Chipkarte legen muss. Wir rütteln an der Tür, aber kommen nicht raus. Ich bin deprimiert: »Die Burger so nah, aber doch unerreichbar.« Also gibt es Nudeln und ein kaltes Bier.
Am nächsten Morgen komme ich immer noch nicht aus dem Hafenbereich. Dabei muss ich doch beim Hafenmeister einchecken und bezahlen. Doch die Tür geht nicht auf, und ich habe keine Chipkarte. Irgendwann kommt ein anderer Segler, und ich warte darauf, dass er die Tür öffnet. Doch anstatt eine Karte auf die Platte zu legen, drückt er einfach mit dem Finger darauf. Eine Kontaktplatte! Wie blöd kann man sein …
Am nächsten Tag soll es weiter zur Isle of Wight gehen. Als wir um 8 Uhr aufwachen, regnet es leicht. Der Wind heult über Deck. Das Schiff schaukelt in den Wellen von der Seite. Und wir haben beide nicht wirklich Lust, aufzustehen. Missmutig schauen wir uns an. Doch dann kommt mir eine Idee, die erst völlig abstrus scheint, aber doch Sinn ergibt: »Wollen wir einfach morgen weiterfahren?«, frage ich. Unfassbar, dass wir darauf nicht schon früher gekommen sind. Wann hatten wir die letzten Jahre den Luxus, einfach mal einen Hafentag einlegen zu können? Cati freut sich, dreht sich um und ist zwei Minuten später wieder eingeschlafen.
Die nächste Etappe führt uns also nach Yarmouth. Dort bin ich gerade ein halbes Jahr zuvor gewesen, um die Nichte der Blauwasserpionierin Susan Hiscock zu treffen. Bereits in den 1930er-Jahren hatte deren Mann Eric erste Langfahrttörns rund Schottland und Irland unternommen. Doch mit der Hochzeit der beiden in den frühen 1940er-Jahren gingen die Abenteuer erst richtig los. Zwischen 1952 und 1955 umsegelten sie die Welt das erste Mal mit ihrer Holzyacht WANDERER III, ein zweites Mal von 1959 bis 1962. Ihre Reisen begannen und endeten in Yarmouth auf der Isle of Wight. Hier schrieb Eric in den Wintermonaten seine Reisegeschichten, die zu den ersten und meistverkauften der Segelliteratur gehören. Sein Buch Cruising under sail war ein Standardwerk für alle Langfahrtsegler. Später verkaufte das Paar sein Haus und lebte fortan nur noch auf seinen Schiffen WANDERER iv und WANDERER v. Ständig berichteten sie weltweit in den Segelmagazinen von ihren Reisen. Doch dann starb Eric 1986 mit 78 Jahren in Neuseeland. Susan konnte sich ein Leben auf dem Schiff ohne ihn nicht vorstellen und kehrte nach England zurück. Hier verlief sich die Geschichte.
Ein Yacht-Leser hatte mir berichtet, dass Susan Hiscock die letzten neun Jahre ihres Lebens wieder in Yarmouth verbracht hatte, in einem kleinen Cottage direkt am Hafen. Ich bekam Kontakt zu ihrer Nichte und buchte zwei Flüge, für meinen Lieblingsfotografen Andreas und mich. Per Auto fuhren wir von London nach Lymington und setzten mit der Fähre über nach Yarmouth.
Dort öffnete uns die Nichte Janice Aslin die Tür zu einem Haus, in dem die Zeit stehen geblieben war. »Nach Susans Tod haben wir das Haus nur einmal im Jahr für einen Urlaub genutzt. Die übrige Zeit stand es leer und wir haben es so erhalten wie es zu Susans Zeiten war.« Ein unglaublich spannendes Erlebnis, diesen Lebensraum zu entdecken. All die Bilder, die ich aus den Büchern der Hiscocks kannte, hingen hier an der Wand oder klebten als Originale in den Fotoalben, die Janice aus Kisten kramte. »All die Bilderrahmen, die ein Loch im oberen Teil haben, waren an Bord einer WANDERER verschraubt«, erklärte sie uns. In einer alten Munitionskiste lagerten gut 20 Logbücher, beginnend in den 1930er-Jahren, in denen ich begeistert und mit vor Staunen offenem Mund blätterte. Geschichten aus längst vergangenen Tagen, teils über 40 Jahre vor meiner Geburt. Was mich faszinierte: Die Blätter waren alle schneeweiß, die Schrift sah aus, als hätte Eric seine Notizen gestern erst hier am Schreibtisch gemacht. Wenn ich die Eintragungen mit meinen verglich, irgendwo bei rauer See zwischen Reffen und Essenkochen ins Logbuch gepinselt … Erics Schrift war unheimlich akkurat. Keine Streichungen, keine Abrutscher mit dem Stift. Er musste hoch konzentriert vor dem Logbuch gesessen und genau überlegt haben, was er da zu Papier brachte.
Ich war total überwältigt und wusste gar nicht, was ich zuerst anschauen, welche Seite ich aufblättern sollte. Ich schlug auf, wo die beiden an meinem Geburtstag gesegelt waren. Und was sollte ich alles fragen? Gut, dass Janice von sich aus erzählte wie ein Wasserfall und mein Tonbandgerät alles aufnahm. Völlig aus dem Häuschen war ich, als sie mich hinauf ins Schlafzimmer führte und unter dem Bett eine Kiste voller Seekarten herauszog mit den Kurslinien der diversen WANDERER. Darauf Ansteuerungen der Inseln der Karibik und noch interessantere Atolle im Pazifik.
Wir erfuhren spannende Dinge über Susan und Eric, die in keinem Buch standen. Beispielsweise, dass Susan mit Mitte 70 in Yarmouth noch mit dem Jollensegeln begonnen und sogar mal eine Regatta gewonnen hatte. »Die meisten Leute kennen Eric nur von den Bildern in den Büchern, als alten, weißhaarigen Mann«, erzählte uns Janice. »Doch was kaum jemand weiß: Eric hatte schon als junger Mann weiße Haare. Er war ein Albino. Deshalb musste er auf den Segelreisen immer sehr aufpassen, nicht in der Sonne zu verbrennen.«
Wir checken beim Hafenmeister ein und erkunden den Ort, der vor etwa 900 Jahren gegründet worden ist. Er hat eine Menge zu bieten. Urige Pubs zum Beispiel, eine tolle Seebrücke und sogar ein altes Schloss von Heinrich VIII. Von Susan und Erics berühmtestem Schiff, der WANDERER iii, hängt im Yachtclub sogar noch ein Modell an der Wand – direkt neben den Medaillen, die die beiden für ihre fantastischen Abenteuer bekommen haben. In dem Bootsladen, in dem Eric in den 1950er-Jahren seine WANDERER iii ausgerüstet hat, kaufen wir zwei emaillierte Müslischalen. So was hat uns bisher auf See immer gefehlt. Und mich würde es nicht wundern, wenn genau solche Schalen auch schon bei Susan und Eric an Bord Verwendung gefunden hätten. Der Laden sieht nicht aus, als hätte er sein Programm in den letzten 60 Jahren geändert. Anschließend führt uns der Weg zur kleinen St James’ Church, die gerade Platz für etwa 80 Menschen bietet. Hier haben Susan und Eric 1941 geheiratet. Wir stellen uns vor, wie das wohl ausgesehen haben mag.
Der nächste Morgen beginnt früh. Für die Mädels – wir haben Besuch von Catis alter Freundin Inga, die jetzt in Wales lebt – noch vor dem Aufstehen. Aber ich treibe meine Crew an, denn der Schlag nach Portland wird lang. Wir wollen und müssen Meilen machen. Wir haben den zweiten Oktober, und der Herbst kommt näher. Der Wetterbericht sieht mau aus. Also verholen wir gegen 9 Uhr an die Tankpier und füllen 60 Liter nach. Als ich die Maschine starte, fällt mein Blick auf den Separ-Filter mit seinem Schauglas, und ich bekomme einen Schreck: »Nein, nein! Wir haben Heizöl getankt! Der Filter verfärbt sich von Gelb auf Rot!« Schnell google ich nach den Einfärbungen des Sprits in den verschiedenen Ländern und finde heraus: Alles gut, Diesel in England ist rot. »Das wird ein Spaß, dem Zoll in Deutschland zu erklären, warum unser Sprit rot ist …«, sage ich. Aber das soll jetzt nicht unsere Sorge sein. Denn bis wir wieder zu Hause in Deutschland einlaufen, tanken wir sicher noch oft nach.
Der Tag bleibt flau, und wir motoren. Die ganze Strecke. Inga bekommt ihre erste Stunde im Schiffsteuern. Denn Cati und ich machen das ziemlich ungern. Inga auch, wie wir schnell feststellen. Doch irgendwer muss ans Rad, solange kein Wind weht und wir nicht die Windsteueranlage anklemmen können. Unser elektrischer Radpilot funktioniert schon seit Brighton nicht mehr. Auch nicht bei glatter See. Klang nach Getriebeschaden, also habe ich das Getriebe abgebaut und mich bestätigt gesehen: Die Plastikzahnräder fielen mir einfach entgegen.
Glatte See und Motorfahrt sind jedoch hervorragende Verhältnisse, um ein bisschen mit den GoPros zu spielen, die uns das Kamerateam mit auf die Reise gegeben hat. Sie lassen sich sogar mit dem iPad verbinden und fernsteuern, cool. Nur unter Wasser funktioniert das WLAN natürlich nicht, was ich mir hätte denken können. Ein Selfiestick müsste her, um die Kamera mit ihrem extremen Weitwinkel vor das Boot zu bekommen. »So eine Idiotenantenne kaufst du dir auf keinen Fall«, verbietet mir Cati. Also muss ich erfinderisch werden und montiere die GoPro an eine lange Alustange, die irgendwie vom Bootsumbau übrig geblieben ist. Damit gelingen mir tolle Aufnahmen von der Bugwelle.
Über den Hafen in Portland wissen wir genau so viel, wie in der Seekarte steht: ein Wort. Er ist von einer gigantischen Mole umgeben, die mehrere Seemeilen lang zu sein scheint. Mitten im Hafenbecken sind neun blaue Kreise zu sehen. »Jetzt erinnere ich mich«, rufe ich. »Bert hat von dem Hafen erzählt. Das ist ein alter Marinehafen.« Das macht Sinn. »Und die Mauer muss in der Tat gewaltig sein. Denn die Kreise, das sind Schwoikreise für Flugzeugträger.«
Von Johannes
Die Sonne ist noch nicht zu sehen, als wir früh am nächsten Morgen lostuckern. Doch sie wird sich auch den ganzen Tag nicht blicken lassen. Es bleibt grau in grau. Typisch britisch. Dafür ist der Wind zurückgekehrt, und wir setzen gleich nach dem Passieren des Leuchtturms am Portland Bill die Segel. Für Inga ist das der erste Segeltörn überhaupt. Und sie weiß noch nicht so recht, ob er ihr gefällt oder ob sie langsam seekrank wird. Hoch am Wind preschen wir quer über die große Bucht hinüber auf die andere Seite, zur Grafschaft Devon. Unser Ziel ist Dartmouth. Ein langer Ritt. Daher ist es fast 21 Uhr, als wir im Dunkeln in den Mouth des River Dart einbiegen. Erst sind wir uns gar nicht so recht sicher, dass es da irgendwo hineingeht, denn bis kurz vor dem Eingang liegt das Land als dunkler Haufen in unserem Norden. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragt Cati. Der Fluss und die Stadt waren vor langer Zeit Ausgangshafen für zahlreiche Entdeckerfahren und außerdem Stützpunkt der Royal Navy. Deshalb vermutlich so gut getarnt. Wir motoren an gewaltigen Felswänden vorbei, biegen um die Ecke, und plötzlich sehen wir die gelb beleuchteten Häuser an den Berghängen kleben. Ein wahnsinnig schönes Bild. Auf der linken Seite erkennen wir schemenhaft die Umrisse des Dartmouth Castle, das um 1481 errichtet wurde, um die Flussmündung zu überwachen. Denn trotz der geschützten Lage war es den Franzosen im Hundertjährigen Krieg zweimal gelungen, die Stadt zu plündern.
Wir hingegeben bekommen nach Inga erneut willkommenen Besuch: Unser Kamerateam kommt an Bord. Schon bevor uns die drei morgens um 8:30 Uhr die Hand schütteln, haben sie aus den Bergen eine Totale des Yachthafens gedreht und ein paar Details der Dampflok im Kasten, die alle paar Stunden neben dem Yachthafen hält. Das ist die normale Zugverbindung hierher nach Dartmouth, wo die Zeit ohnehin stehen geblieben zu sein scheint. Wir beginnen mit Aufnahmen einer Frühstückssituation im Salon der MAVERICK TOO, verlassen das Schiff und fahren mit der Fähre hinüber in die Altstadt. Das bedeutet Kameraaufnahmen vom Umfeld der Fähre, Details von einer Seerobbe, die um die Fähre schwimmt, Aufnahmen, wie wir an der Fähre ankommen, wie wir die Gangway hinunterlaufen, wie wir an Deck der Fähre sitzen und bedächtig in die Ferne schauen … In Dartmouth schauen wir uns einen Andenkenladen an und spielen für die Kamera, dass Cati da gerne reinmöchte, ich aber lieber weiter. Wir besichtigen den Ort, an dem vor 400 Jahren die Pilgerväter mit der MAYFLOWER abgelegt haben, flüchten vor dem Regen in eine britische Telefonzelle und sitzen in einem Café und essen eine typische britische Pastries.