Zum Glück in Prien - Elisabeth Ippen - E-Book

Zum Glück in Prien E-Book

Elisabeth Ippen

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Beschreibung

Frau. Sechzig. Geschieden. Kinder aus dem Haus. Keine Arbeit mehr. Das war`s? Nein. Das ist es. Das ist die Super-Chance. Das Sprungbrett ins Abenteuer eines Neuanfangs. Prien am Chiemsee ist der Ort, an dem ins Leben gesprungen wurde. Das Abenteuer wird ein Jahr lang protokolliert. Lebendig und authentisch. Aus dem augenblicklichen Erleben heraus geschriebene Texte lassen unmittelbar teilhaben an den Freuden und Leiden einer, die auszog, um noch einmal ganz neu anzufangen.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Elisabeth Ippen, geboren 1951 im Bergischen Land, studierte Pädagogik für Sonderschulen, lebte dreißig Jahre in Bonn, zunächst als Mutter und Hausfrau, schrieb nebenher zwei Jugendbücher, arbeitete dann in einer Buchhandlung und hielt an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen Vorträge über Erziehung. 2011 zog sie nach Prien in ihr ganz persönliches Abenteuer und schrieb dort mehrere Bücher. Sie lebt heute wieder im Bergischen Land.

Bisher erschienen:

Ganz unverblümt. Sprüche und Aphorismen 2011

Zum Glück in Prien. Ein Neubeginn 2013

Der Weg ist das Ziel. 2014

Hanne – eine Rheinländerin im Chiemgau 2015

Ganz unverblümt 2. Sprüche und Aphorismen 2016

Sylt 2019

[email protected]

Glück ist in jedem Menschen selbst,

es beruht nicht auf äußeren Ursachen.

Ramani Maharshi

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Oktober

November

Dezember

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Prolog

Dreißig Jahre lebte ich in Bonn, zwanzig Jahre mit Mann und zwei Kindern, zehn Jahre allein. Bonn war ganz schön, die Umgebung auch, doch für immer bleiben wollte ich hier nie. Nach dem Auszug der Kinder und der Trennung vom Mann zog ich in eine kleine Wohnung, übergangsweise, wie ich dachte, da ich ja fortziehen würde. Was allerdings noch fehlte, war ein Grund für einen Umzug. Zehn Jahre lang saß ich auf „gepackten Koffern“, doch nichts Bewegendes geschah. Ich arbeitete weiter im Buchladen meiner Schwester, bekam zusätzlich einen Job bei einer sehr alten Dame, hielt immer mal wieder Vorträge über Erziehung und behandelte Freundinnen mit Jin Shin Jyutsu*.

Es ging mir nicht schlecht, wirklich nicht, ich hatte in den zehn Jahren des Alleinseins viele Freundinnen gewonnen, mit denen ein reger Austausch stattfand, doch immer noch wartete ich auf eine günstige Gelegenheit, der Stadt den Rücken kehren zu können, um woanders noch einmal ganz neu anzufangen. Aber ich kam einfach nicht „in die Gänge“.

Ich half mir nicht nur jahrelang selbst mit Jin Shin Jyutsu, ich ließ mir auch mehrmals helfen mit Familienaufstellungen, einer Methode, die unbewusste, seelische Verknüpfungen eines Menschen mit seiner gegenwärtigen oder der Herkunftsfamilie anschaulich erlebbar macht. Aus einer dieser Aufstellungen ging ich heraus mit dem Satz: „Ich kann es auch allein.“ Donnerwetter. Das hatte ich zwar immer gedacht und auch gesagt, mir aber in grundsätzlichen Dingen wohl doch nicht zugetraut. Ich wusste es nach der Aufstellung nicht gleich, doch ich hatte all die Jahre auf einen äußeren Grund zum Wegziehen gewartet, weil ich innerlich noch nicht so weit war und mich allein einfach nicht traute.

Das Leben nahm seinen Lauf. Die Schwester verkaufte ihren Buchladen und ich war meine Stelle los, die alte Dame wurde mir so unerträglich, dass ich das Arbeitsverhältnis freiwillig beendete, und plötzlich hatte ich nur noch den Unterhalt zur Verfügung, der aber nicht reichte. Halbherzig hielt ich die Augen auf nach einer neuen Arbeitsstelle, als mir bewusst wurde, dass ich absolut keine Lust hatte auf irgendeine neue Tätigkeit, sondern am liebsten nur noch schreiben wollte, was bekanntermaßen nicht unbedingt Geld einbringt. Mitte der neunziger Jahre, Zufall und Glück hatten eine Rolle gespielt, hatte ich im Auftrag eines Verlages zwei Jugendbücher geschrieben, darüber gemerkt und bestätigt bekommen, dass ich gut schreiben kann, danach aber nie wieder etwas veröffentlichen können. Aber Schreiben war einfach mein Ding. Ich wusste es.

Und dann ging plötzlich mein Sicherheitsdenken auf und davon, ich beschloss, nur noch zu schreiben, so bescheiden wie möglich zu leben und das fehlende Geld vom Sparkonto zu nehmen, das eigentlich dazu gedacht war, mir eine eventuelle Altersarmut zu ersparen. Lebe jetzt, stirb später, sagte es.

Mein sechzigster Geburtstag näherte sich und machte mich recht nachdenklich. Sollte das jetzt etwa alles gewesen sein? Sollte alles weiter in den gewohnten Bahnen laufen? Nein, ich war wirklich nicht unzufrieden mit meinem Leben. Aber…

Dann geschah etwas. Freundin Gudrun beschloss, nach München zu ziehen, um näher bei Tochter und Enkelkind zu sein. „Ich will auch weg“, dachte ich sofort. „Ich würde auch gern an einem neuen Ort noch einmal neu anfangen.“

Die Tage gingen dahin, die Freundin packte bereits, da war plötzlich von einer Sekunde auf die andere ganz klar: Ich gehe auch. Ich ziehe Gudrun hinterher. Da habe ich wenigstens einen Menschen in der Nähe, den ich kenne. Dass ich fortging, war ab jetzt die selbstverständlichste Sache der Welt und machte mir auch keine Angst. Im Gegenteil. Vielleicht käme ich an einem neuen Ort wirklich mehr zum Schreiben als in Bonn, wo all die Freundinnen lebten, die ich häufig und nur zu gerne traf, wo ich außerdem in den letzten beiden Jahren die Pflege eines großen Gartens übernommen hatte, was Spaß machte, aber auch viel Zeit kostete.

Die Großstadt München kam nicht in Frage, also begann ich in einem Umkreis von hundert Kilometern um München im Internet nach einer möglichen neuen Bleibe zu forschen. Bald wusste ich, dass ich in oder an die Berge wollte, aber eine Bahnlinie in der Nähe brauchte, da ich kein Auto besaß. Zehn Wochen nach ihrem Umzug machte Freundin Gudrun eine längere Reise und stellte mir ihr Appartement in München zur Verfügung zur Suche vor Ort. Ich fuhr einen Tag lang die Inntal-Strecke ab, nein, zu eng, fuhr am nächsten Tag die Strecke München-Salzburg, stieg in Prien am Chiemsee aus…

… und da war die Suche auch schon zu Ende. Ich konnte die „gepackten Koffer“ endlich in die Hand nehmen und fortgehen. Es ging endlich los.

Es? Was war es? Genau das wollte ich herausfinden.

*Jin Shin Jyutsu, ist eine Selbstbehandlungsmethode, die sich von Japan aus im Westen verbreitet hat. Die Behandlung wird Strömen genannt.

Oktober

Es war Liebe auf den ersten Blick. Auf der Suche nach einem neuen Wohnort stieg ich am Bahnhof aus und hatte das deutliche Gefühl, das könne er sein. Er war es. Auch wenn ich erst seit wenigen Tagen hier wohne, bin ich dem Reiz des Ortes bereits völlig verfallen. Die Zuneigung scheint durchaus beidseitig zu sein. Kaum hatte ich mich für Prien als meinen künftigen Wohnsitz entschieden, wurde ich nicht nur per Mail von einer mir noch unbekannten Neu-Prienerin, der Freundin eines Freundes, beglückwünscht, hierher ziehen zu wollen, es ging auch alles ganz schnell. Zwei Wochen nach der Entscheidung tauchte im Internet eine mir passend erscheinende Wohnung auf, ich kam von Bonn zur Besichtigung her, fand die Wohnung genau richtig und drei Wochen später brachte ich meine Sachen.

„Herzlich willkommen“, lautete die Begrüßungsmail der Neu-Prienerin, als ich wieder angeschlossen war ans Kommunikationsnetz und „Herzlich willkommen“ sagten gleich zwei Alteingesessene, die mit mir vor dem Meldeamt warteten.

Ich fühle mich tatsächlich willkommen und am rechten Ort. Er hat alles, was ich brauche und doch bin ich in wenigen Minuten in einer zauberhaften Landschaft mit Wiesen, Hügeln, Seen und Bergen. Ja, diese Landschaft verzaubert mich, sobald ich ihrer ansichtig werde. Weit zu gehen brauche ich nicht, sehe vom Sofa aus auf den Bauernhof nebenan, auf den riesengroßen Baum im Hof, auf die Berge, die rechts und links der Krone in der Ferne zu sehen sind, auf Wiese, Friedhof und Kirchturm. Ich habe tatsächlich auf Anhieb eine traumhafte Wohnung in einer traumhaften Umgebung gefunden, in der ich mich sehr wohl fühle.

Ich schaue noch ein Weilchen auf den Bauernhof nebenan, auf den großen Misthaufen, auf dem die Hühner spazieren gehen, auf das an der Scheunenwand gestapelte Brennholz. Ein Traktor rattert über die Wiese, im Hof wird ein Anhänger entladen. Auch in der Idylle gibt es am Samstagnachmittag noch reichlich Arbeit. Also gut, dann mache ich mich auch wieder an meine Arbeit, räume weiter aus und ein.

Es ist Sonntagmorgen halb zehn. Der Himmel meint es gut mit mir. Er ist wolkenlos blau und die Sonne strahlt nur so. Ort und Landschaft stellen sich buchstäblich im besten Licht dar. Ich weiß das wohl zu schätzen und breche auf zu einem Erkundungsgang.

Auf der Neugartenstraße geht es dem Ortskern entgegen. Wie immer genieße ich in vollen Zügen den „Postkartenanblick“ des Kirchturms vor der Kulisse der Voralpen und staune zum hundertsten Male, dass ich nun tatsächlich hier lebe. Es duftet nach verbranntem Holz, Vögel tschilpen lauthals in den Morgen hinein, Hühner gackern und über mir zieht ein Schwarm Tauben Kreis um Kreis. Nein, das sind keine Kreise, das sind lauter Achten, die da wieder und wieder geflogen werden.

Plötzlich ist es ganz still und da wird mir ein Rauschen im Hintergrund bewusst. Eine Weile schaue ich hinunter zur Prien in ihrem heute nur spärlich gefüllten Flussbett, gehe dann weiter und entdecke belustigt vor Reihen von Grabmälern einen steinernen Froschkönig, der trübsinnig ins Gras zu seinen Füßen schaut. Wann kommt die Prinzessin denn endlich!

In der Schulstraße stehen weitere Grabsteine und dann bleibe ich verblüfft stehen. Ja, was ist denn das? Sieht aus wie ein Vogelpark aus Blech. Da steht ein Flamingo, da ein Pelikan, da ein Hahn, und was da aus dem Baum auf mich herunterschaut, ist eindeutig eine Eule. Interessant. Wer wohnt denn hier? Ist leider nicht zu erkennen, das Schild am Haus ist halb zugewachsen. Auch gut. Ich muss nicht alles wissen.

Weiter geht es. Da tut sich zur Linken plötzlich ein richtig nettes Plätzchen auf. Café Sol steht auf dem ersten Gebäude direkt an der Straße, am etwas weiter zurückliegenden Haus sind gleich mehrere Schilder angebracht. „Juliana caffe tee“ steht auf dem einen und „Juliana essbar“ auf dem anderen. Ein Kaffee im Freien? Jetzt?

Es zieht mich zu „Juliana essbar“, zu den Tischen und Klappstühlen in Grün, Pink und Blau. Im Vorbeigehen lese ich neben der Tür den Hinweis, an der Theke zu bestellen und zu bezahlen, gehe also hinein und finde hinter der Theke eine große Frau mit langen, schwarzen, inzwischen ergrauenden Haaren, die trotz meines Eintretens ungerührt mit ihrer Arbeit fortfährt. Leicht erstaunt stehe ich eine Weile abwartend da, studiere dann die Tafel mit dem Getränkeangebot. Caffe cortado (?), Caffe con leche (?), Cappuccino, Milchkaffee, Chai latte (?), Caffe Bonbon (?)…. Da hebt die Frau den Kopf, sieht mich an und sagt freundlich: „Hallo“.

Ich bestelle einen Milchkaffee. Da weiß ich wenigstens, was das ist. Doch ich möchte auch wissen, wer diese Frau ist. „Sind Sie Juliana?“ „Ja“, sagt sie und lächelt mich an. „Ich bin neu zugezogen und teste die Cafés in Prien“, höre ich mich sagen und bekomme sofort eine Antwort. „Das ist ein guter Platz, um anzufangen.“

Das will mir auch so scheinen. Ich gehe nach draußen und setze mich in den Halbschatten unter eine mächtige Linde. Es ist ein rechter Sonntagmorgen, kaum ein Auto fährt vorbei, in der Ferne pfeift oder tutet etwas. Mit ein wenig gutem Willen könnte man denken, da probiere jemand die tiefen Töne einer etwas zu groß geratenen Flöte aus, doch ich weiß, woher die Pfiffe kommen, habe schon gelesen von der kleinen Chiemsee-Bahn, die vom Bahnhof zum Schiffsanleger fährt.

Juliana kommt heraus, stellt den Kaffee vor mich hin und wischt mit einem Tuch erst über meinen, dann über die angrenzenden Tische. Ich beobachte fasziniert ihre langsamen, bedächtigen Bewegungen, die eine mir wohltuende Ruhe ausstrahlen. Juliana kehrt ins Café zurück und ich wende mich dem Milchkaffee zu, lege die Hände um den weißen Porzellanbecher und nehme vorsichtig den ersten Schluck. Oh, der ist ja köstlich! Nicht zu stark und nicht zu schwach, sondern genau richtig.

Ich lehne mich im Stuhl zurück und die Welt ist vollkommen. Fast. Ein Lindenblatt segelt gemächlich herab und direkt in die Tasse. Ich fische es heraus, verwehre einer Wespe den Zutritt lieber gleich und lehne mich erneut entspannt zurück. In der Ferne ist wieder das Flöten der Chiemsee-Bahn zu hören. Klingt beinahe wie eine Melodie.

Platsch!!!!! Nein! Leider doch! Da hat ein Vogel direkt vor meiner Nase auf den Tisch geschissen. Ich gehe ins Café, frage nach einem Tuch und erzähle, was passiert ist.

„Das bringt ganz viel Glück“, sagt die junge Frau mit blonden Locken, die jetzt hinter der Theke steht, voller Überzeugung. Ich glaube ihr aufs Wort. War es nicht bereits großes Glück, dass der Vogel den Tisch und nicht mich getroffen hat? Darauf noch einen kleinen Milchkaffee.

Er wird bald gebracht und unter den Augen der Muttergottes und ihres Kindes, die von der bemalten Hauswand des Café Sol gegenüber huldvoll auf mich herabblicken, schwelge ich weiter in Wohlgefühl. Was für ein Glück, an diesem Morgen an diesem Platz zu sitzen. Es ist wirklich ein guter Ort. Der Himmel über mir ist von reinstem Blau und ohne das kleinste Wölkchen. Aus der offenen Tür des Cafés klingt das Klappern von Geschirr, im Lindenbaum schmettert ein Vogel voller Innbrunst sein sonntägliches Lied.

Klatsch!!! Oh weh! Am Nachbartisch ist ein Klappstuhl zusammengeklappt und die zuvor auf ihm Sitzende sitzt nun mit einem äußerst verdutzten Gesichtsausdruck auf der Erde. Ich muss mir richtig das Lachen verbeißen. Es ist ihr offensichtlich aber nichts passiert, sie rappelt sich auf, klappt den Stuhl wieder auf und setzt sich vorsichtig. Ob sie gekippelt hat, wie uns die Eltern und Lehrer das früher immer verboten haben?

Ich sitze und schaue und genieße und immer noch rieseln leise Lindenblätter auf den Tisch, immer noch singt der Vogel sein Lied und wieder ertönt der Warnruf der kleinen Bahn, der mir eher ein Lockruf zu sein scheint. Oben im endlosen Blau zieht ein Raubvogel seine Kreise. Schön ist es hier. Ich möchte gar nicht mehr weg gehen. Aber ich kann ja wieder herkommen. Ich wohne ja hier. Was für ein Glück.

Heute möchte ich Prien genauer kennen lernen und beschließe, einen Gang zum Ortsteil Ernsdorf zu unternehmen. Heute lasse ich mich nicht aufhalten von lockend aufgestellten Tischen und Stühlen vor einem Café an einem netten, kleinen Plätzchen, gehe zügig bis zur Kreuzung und entdecke dort das nächste nette Plätzchen mit mehreren Bänken und einem kleinen Häuschen, das sich beim Herangehen als Wetterstation entpuppt. Nein, nein, heute setze ich mich nicht sofort wieder hin! Entschlossen gehe ich weiter, mit Hilfe des Ortsplans bis zur Ernsdorfer Straße mit ihren großen und kleinen Häusern und den liebevoll gepflegten Gärten. Die Straße steigt an und plötzlich liegt Musik in der Luft. Jemand spielt Klavier. Ich schaue den Hang hoch in Richtung des Morgenkonzerts. An einem Haus mit zartgelber Fassade stehen drei Terrassentüren weit offen, Menschen sitzen im Raum dahinter beisammen und unterhalten sich äußerst angeregt. Es riecht nach Kaminfeuer.

Ich stehe am Maschendrahtzaun unten, schaue, lausche und nehme mit allen Sinnen die Atmosphäre dieses besonderen Augenblicks wahr. Alles macht einen so einladenden und freundlichen Eindruck, dass ich die Rolle des ungesehenen Zaungastes liebend gern mit der eines gern gesehenen Gastes getauscht hätte. Plötzlich bricht das Klavierspiel ab, um mit einer neuen Melodie fortgesetzt zu werden. „Zum Geburtstag viel Glück“. „Herzlichen Glückwunsch“, kann ich mich da nur anschließen, „und vielen Dank, dass ich mithören konnte, ich werde diese Minuten so schnell nicht vergessen“. Damit das auch wirklich der Fall ist, ziehe ich mein Notizbuch heraus und schreibe in kurzen Stichworten auf, was ich gerade gehört und empfunden habe.

„Kann ich zählen helfen?“, sagt eine Stimme ganz nah. Ich schaue hoch und sehe eine ältere Dame mit weißem, gewelltem Haar, das Fahrrad neben sich herschiebend, auf mich zukommen. Sie hat wohl mein kleines Notizbuch für ein Portemonnaie gehalten, also kläre ich sie auf und sage lieber gleich dazu, dass ich neu zugezogen bin und mir gerne ein paar Notizen mache über das, was ich sehe. Wir kommen sofort ins Gespräch. Sie wird bald neunzig, wohnt in meiner Nähe und kommt fast jeden Tag den Berg nach Ernsdorf hoch, um im Haus einer Familie, die sie schon sehr lange kennt, nach dem Rechten zu sehen, die Blumen zu gießen, die Betten zu beziehen, wenn die Eigentümer am Wochenende kommen und manchmal auch, um schon vorzukochen.

Ich beschließe, sie zu diesem Haus zu begleiten und gehe mit ihr weiter den Berg hoch, staunend über ihre Vitalität. Sie schiebt das Rad und erzählt dabei, dass sie aus Westpreußen stammt, seit 1947 in Prien lebt, anfangs mit ihrem Mann, der aber früh starb, woraufhin sie den Lebensunterhalt für sich und das Kind mit Putzen „fast rund um die Uhr“ verdiente. Sie klagt nicht ein einziges Mal über ein schweres Leben, sondern erzählt einfach, wie es war und wie es jetzt ist. „Ich bin zufrieden, habe genug zum Leben, ein Dach über dem Kopf und zu essen“, sagt sie mit Nachdruck. Angst vor dem Sterben hat sie nicht. Warum auch.

Vor ihrem Ziel angekommen, stellen wir uns einander förmlich vor und verabschieden uns dann. Ob ich sie wiedersehen werde? Sie ist sich sicher. „Ich sitze immer auf der Rentnerbank bei der Wetterstation“, strahlt sie mich an. Nach einer letzten Verabschiedung gehe ich allein weiter den Berg hoch bis die Straße zu Ende ist.

Wow! Was für ein Ausblick! Der Chiemsee! Die Berge! Es dauert eine geraume Zeit, bis ich mich zum Weitergehen ermuntern kann und auf einem schmalen Fußweg wieder abwärts gehe. Tok, tok, tok! Ein Specht klopft die Rinde nach Leckerbissen ab. In einem Waldstück tut sich eine neue Geräuschkulisse auf. Pling, pling, pling. Es regnet Bucheckern.

Dann taucht eine Laterne auf, Stufen werden sichtbar und plötzlich stehe ich verblüfft vor einer Kirche, laut Ortsplan vor der evangelischen Christuskirche, einem sehr eigenwillig eckig-runden Bauwerk. Ein längliches Gebäude schließt sich unmittelbar an die Kirche an und eine hohe Mauer davor reizt sofort meine Neugierde. Ich schaue mich schnell um. Ist da einer? Nein, da ist keiner. Schon stehe ich auf der Bank vor der Mauer und erblicke hinter ihr einen Garten mit Tisch, Stühlen und Gartenschirmen. Ich bin etwas überrascht, hätte eher einen Garten für Verstorbene erwartet. Aber warum sollte eine Kirche nicht auch den Lebenden schon Ruheplätze bieten.

Ganz in der Nähe ist auf dem Boden etwas mit Steinen angelegt, was wie ein Labyrinth aussieht. Ich gehe zur Schautafel und erfahre, dass das Labyrinth ein uraltes Symbol ist für das Leben, ein Spiegel unserer Seele, das genau die Bedeutung bekommt, die wir ihm geben. Dann berührt mich ein Satz sehr:

„Möge Ihnen geschenkt sein, dass Sie

Ihren Weg entdecken

sich auf Wendungen einlassen

immer wieder die Mitte suchen

geschehen lassen und dann

Ihren Weg voller Zuversicht weitergehen.

Also gehe ich voller Zuversicht weiter und in den Ort zurück, werde aber an der Seestraße aufgehalten durch eine heruntergelassene Schranke. Puff, puff, puff. Eine grüne Lok mit sieben grünen Waggons fährt vorbei. Es raucht richtig aus dem Schornstein, riecht aber nicht besonders gut. Was wird da wohl verbrannt? Ich folge dem Bähnchen zum Bahnhof, sehe zu, wie die Fahrgäste aussteigen und traue meinen Augen kaum, als der Lokführer nun, buchstäblich im Schweiße seines Angesichts, Kohlen ins Innere der Lok schaufelt. Hinter der grünen Verkleidung ist tatsächlich eine echte Dampfmaschine.

Für heute habe ich genug gesehen und mache mich auf den Heimweg, der jedoch bald wieder unterbrochen wird. Eigentlich zieht es mich ganz woanders hin. Eigentlich möchte ich jetzt erst einmal zu Klappstühlen und perfektem Milchkaffee.

Was für ein Verkehr auf der Seestraße! Autos, Autos, Autos, ein Traktor, Autos, Autos, Autos. Ich übe mich in Achtsamkeit und fahre mit größter Vorsicht bis zu den großen Hotels am See. Hier steige ich ab und bemerke erst jetzt all die Menschen um mich herum. Neben, vor und hinter mir strömt es dahin, kleine und große Gruppen marschieren entschlossen auf den Hafen zu. Ich kann nur noch staunen und verziehe mich schleunigst in Richtung Promenade.

Der See. Da ist er. Ich würde mich gerne setzen und ihn in aller Ruhe betrachten, doch alle Bänke sind besetzt. Nach einigem Suchen finde ich schließlich ein kleines Eckplätzchen, auf dem ich es mir so gemütlich mache, wie das eben geht, wenn neben einem Oma, Papa, Mama, Kind und Hund eine Frühstückspause abhalten. Ich schaue auf den See hinaus und just in dem Moment bricht die Sonne aus den Wolken hervor und blendet mich. Schnell die Sonnenbrille auf und schon kann ich sie sehen, all die Strahlen, die die Sonne aus ihrem Wolkennest heraus über See und Berge ergießt, bin gleich noch einmal geblendet, diesmal aber vom Anblick, der sich mir bietet.

Der See liegt glatt und still, die Berge sind nur ganz verschwommen im Dunst zu erkennen, wirken dennoch Ehrfurcht gebietend. Ein Schiff zieht vorbei zur Anlegestelle. Edeltraud kehrt von ihrer Fahrt zurück, legt an neben einem Dampfer, der, von Möwen kreischend umflattert, still im Hafen liegt, während sich Menschenschlangen über die Brücke aufs Schiff schieben. Irgendwann ist der Dampfer voll, tutet laut und legt dann völlig lautlos ab. Berta gleitet, weiterhin von Möwen umflogen, rückwärts aus der Hafenenge, dreht sich langsam und nimmt Kurs auf den See. Jetzt erst ist das Geräusch eines Motors zu hören, das sich mit zunehmender Entfernung des Schiffes aber schon bald wieder verliert. Donnerwetter, da lag ja noch ein Schiff im Hafen! Es tutet und gleitet ebenfalls lautlos davon. Immer weiter schieben sich Menschenschlangen über die Brücke und füllen nun Edelweiß erneut. Da ist ja wirklich richtig was los!

Ich sehe mich ein wenig um an dem Platz, an dem ich ein Plätzchen gefunden habe, und entdecke, dass ich mich auf einer Landzunge befinde, die von Bäumen unterschiedlichster Art bewachsen ist. Am Ende der Landzunge steht ein offener Pavillon und da fahre ich jetzt hin. Es ist sehr still hier, kaum jemand geht so weit. Ich kann ganz allein auf der Bank sitzen und den neuen Ausblick auf Berge, See und Ortschaften am Ufer gegenüber ungestört genießen. Leise schlagen die Wellen ans Ufer. Enten schaukeln auf dem Wasser und vergnügen sich auf Entenart, Köpfchen ins Wasser, Schwänzchen in die Höh`. Grün leuchtet der See, wird jedoch blau und blauer dem flachen Ufer zu.

Nach einer Weile breche ich wieder auf und gehe zur Seestraße zurück. Oh weh! Da muss gerade wieder ein Schiff angelegt haben. Im Nu bin ich erneut umgeben von Gruppen. Spanische, französische, englische und mir gänzlich unbekannte Laute schwirren in buntem Durcheinander durch die Luft. Fahren ist nicht drin, also schiebe ich das Rad.

Zurück in der Neugartenstraße rauscht und flattert es plötzlich, über mir fliegt wieder ein Taubenschwarm seine Runde Achterbahn. Die Vögel fliegen tief, bieten einen wunderschönen Anblick, wenn in den Kurven die weißen Flügelunterseiten im Sonnenlicht aufleuchten. Beschwingt von so viel Schwung am Himmel fahre ich zügig die letzten Meter nach Hause, vollkommen zufrieden mit mir und der Welt um mich herum.

Es regnet. Es regnet schon den lieben, langen Tag und jetzt reicht es mir. Ich gehe trotzdem raus. Aber wohin soll ich gehen? Es ist so nass und trüb. Es gibt nur eine Möglichkeit und zum ersten Mal gehe ich ins Café hinein. Ich bestelle, schlängle mich durch die dicht beieinander stehenden Holztische hindurch, sehr darauf bedacht, keinen der vielen Metallstühle anzurempeln, setze mich auf eine Bank vor eins der Fenster, lausche ein Weilchen dem Stimmengewirr um mich herum, hole dann die Chiemgau-Zeitung, die neben der Süddeutschen Zeitung ausliegt, und vertiefe mich in den Regionalteil. Was ist und was war los in Prien und Umgebung?

Nach dem Lesen der Zeitung sitze ich ein Weilchen einfach nur so da. Gemütlich ist mir hier, auch wenn ich keinen Menschen kenne. Es fühlt sich allerdings etwas seltsam an, hier so allein zu sitzen. Plötzlich fühle ich mich wie in einem Traum. Sitze ich wirklich in einem Café in Prien? Wie ist denn das gekommen? Ich habe mich in Bonn doch nicht unwohl gefühlt. Was will ich hier bloß!

Ich wache wieder auf und schaue mich um. Nun möchte ich eine neue Umgebung und neue Menschen kennenlernen. Nun möchte ich auch mich selbst noch einmal neu erleben. Komme ich auch allein klar, ganz ohne die gewohnten Beziehungen, Verflechtungen und Verpflichtungen? Ich atme tief durch und bin wieder ganz da, gespannt, wie es mit mir hier weitergehen wird.

Ich bezahle meinen Kaffee und auf dem Weg zur Tür bleibt mein Blick an den Pralinen hängen. Oh, wie verführerisch! Nein, nein, nein. Das fangen wir gar nicht erst an. Sonst hören wir nachher gar nicht mehr auf. Entschlossen wende ich all diesen Köstlichkeiten den Rücken zu und gehe vor die Tür. Es regnet wieder. Macht aber nichts. Regen ist gut für die Haut.

Regen. Regen. Regen. Alles ist grau in grau. Erst gegen Abend wird es trocken, die Wolken reißen auf und lassen hie und da ein wenig Himmel erkennen. Ich brauche frische Luft und mache einen kleinen Spaziergang.

Was rauscht denn da so gewaltig? Ich fasse es nicht. Drei Tage Regen und die Prien ist voll mit einer schäumenden, lehmfarbenen Brühe. Aus einem kleinen, träge dahinfließenden Flüsschen, dem man ohne weiteres bis auf den Grund sehen konnte, ist ein reißender Fluss geworden. Aber so ist das Leben eben. Heute so und morgen so.

Ich wandere ein wenig durch den Ort und kehre gemächlich wieder um. Am Marktplatz schaue ich die Alte Rathausstraße hoch und plötzlich gerät der Abendhimmel in meinen Blick. Wie schön! Wie wunderschön! Aus der aufgerissenen Wolkendecke leuchtet es zartblau und helltürkis, unter den dicken, grauen Wolkenfeldern ziehen weiße Schleierwolken langsam dahin, rötlich-golden eingefärbt von der Abendsonne. Ich mag gar nicht mehr weitergehen, betrachte entzückt diese grau-blau-rot-goldene Wolken-Himmel-Sonne-Melange. Ich stehe und schaue und stehe und schaue, bis das Gold verblasst, die Wolken rot und röter, das Himmelsblau hell und heller wird, das Rot schließlich auch verblasst und die Dämmerung hereinbricht.

Da gehe ich nach Hause zurück, entlang einer Prien, die in der Zwischenzeit womöglich noch lauter geworden ist, noch breiter, sich mit noch mehr Wucht die eine kleine Staustufe herab stürzt. Ein Schatten huscht über den Weg und springt ins Gebüsch. Eine graue Katze. Die Straßenlampen gehen an und die Dämmerung nimmt rasch zu. Hühner und Hahn sind verschwunden, die Bäuerin schließt gerade eine Stalltür zu. Die Vögel sind jedoch noch recht munter, immer wieder schmettert einer los und bekommt auch Antwort und da, ja ist es denn zu glauben, da streiten sich zwei. Die Stimmen klingen deutlich gereizt. Werdet ihr euch wohl bald vertragen!

Da geben sie Ruhe. Und da wird es ganz still in der Neugartenstraße. Ich werde es auch. Ich bin sehr dankbar für all die Schönheit, die ich hier zu sehen bekomme.

Ich kann es kaum fassen, Petrus hat ein Einsehen und beschert uns vor dem Winter noch einmal einen Tag „Goldenen Oktober“. Raus. Sofort. Ich fahre die Prien entlang, das Rauschen ist schon leiser geworden, das Wasser wieder klarer. Ich fahre nicht weit, sitze im Nu wieder auf einem Klappstuhl und genieße Milchkaffee und Sonnenwärme. Gäste kommen, Gäste gehen. Viele scheinen sich zu kennen. Ich lausche den Gesprächen um mich herum, fühle mich wohl inmitten all dieser fremden Menschen vor dem Café, das mir bereits so vertraut ist. Ob ich bald einmal jemanden kennenlerne?

Der Milchkaffee ist alle. Gehen? Nein. Nutze den Tag! Die nächste Kaltzeit kommt bestimmt. Noch einen Milchkaffee bitte. Schluck für Schluck trinke ich den köstlichen Kaffee und schaue in den himmelblauen Himmel mit seinen zarten Wolkenschleiern und einem endlos langen, bereits in der Auflösung befindlichen Kondensstreifen, der an eine Spitzenbordüre erinnert. Völlig unbeeindruckt von diesem Kunstwerk der Natur kreuzt ein Flugzeug einfach drüber, nein drunter weg, ich kann zusehen, wie auch sein Kondensstreifen nach und nach zum Kunstwerk wird, ebenfalls bald durchkreuzt wird von einem weiteren Streifen. Auch über Prien ist was los.

Es ist schon wieder kühler geworden, windet kräftig und die Sonne hält sich sehr bedeckt. Ich fahre trotzdem mit dem Fahrrad los. Beim Bauernhof sitzt die graue Katze vor der Haustür und wartet auf Einlass. He, pass doch auf, du dummes Huhn! Da wäre es beinahe unter die Räder gekommen. Mit unabsehbaren Folgen für uns beide.

Es hat noch einmal gut gegangen. Aber auf diesen Schreck brauche ich erst einmal einen Kaffee. Heute sitze ich ganz alleine draußen. Ich wickle mich in eine Decke und erfreue mich an den Kontakten, die mir diese verwegene Aktion beschert. „Na, ist Ihnen nicht ein wenig kalt?“, werde ich gefragt und für mutig werde ich auch befunden.

Wirklich gemütlich ist es heute nicht. Der Wind fegt die abgefallenen Blätter zu Haufen und die Hagebutten im verblühten Rosenbusch werden arg gebeutelt. Jetzt frischt er noch weiter auf, rappelt kräftig an den Fensterläden und macht mir die Ohren kalt und kälter. Da gebe ich auf und gehe ins Café hinein. „Noch einen Milchkaffee bitte.“ Zum Aufwärmen.

Die sichtbare Welt, die Berge gehören heute nicht dazu, ist voller Nieselregen. Die roten Dächer glänzen, in schweren Tropfen fällt die angesammelte Nässe zu Boden. Die Blätter des Hofbaumes nebenan sind merklich braun geworden, die des Ahorns am Balkon ganz gelb. Ich hole meinen Schirm, mache mich auf den Weg in den Ort, biege in die Alte Rathausstraße ein, wo ich aber bald wieder anhalte, um mir die Vielzahl bunter Taschen anzuschauen, die das eintönige Nieselgrau um mich herum ein wenig aufhellen. Auch in den Schaufenstern leuchtet es bunt. „Ursprung“ heißt der Naturwerkladen und ist mir beim Vorbeifahren schon einige Male aufgefallen.

Ich hatte nicht vorgehabt, hineinzugehen, bin sehr überrascht, mich plötzlich doch drin zu befinden. Was will ich nur hier? Ich könnte schon mal nach Geschenken für Weihnachten schauen. Auswahl gibt es genug: Kerzen, Keramik, Steine, Wolle in leuchtenden Farben. Es riecht so gut hier. Aha, es wird geräuchert. Hier kann man Räucherwerk auch kaufen und genau das werde ich jetzt tun, habe, seit ich hier wohne, eine ganz neue Vorliebe für Düfte entwickelt.

Die Verkäuferin des kleinen Ladens kommt auf mich zu, ich sage, ich sei neu zugezogen, sie lacht, sagt, sie auch, und schon unterhalten wir uns. Ursprünglich kommt sie aus dem Inntal, wohnte in den letzten Jahren im nahen Rimsting, lebt aber seit Anfang des Monats in Prien.

„Eine ganz besondere Energie ist hier“, sagt sie und spricht von Kraftlinien, von denen eine sogar durch den Chiemsee führt. „Aber da weiß die Frau Glatt in Aschau mehr darüber.“

Ich bin sofort interessiert. Wie spürt sie denn, dass in Prien eine besondere Energie ist? Na, hier ist alles so weit und offen, auch für Alternatives. Dann erzählt sie von einer Frau, die eine Frauengruppe gründen wolle, aber noch nach einem Raum für die Treffen suche. Es solle keine Kaffeeklatschrunde werden, sondern eine Gelegenheit für intensiven Austausch. Da würde ich zu gerne mit dabei sein. Ich sage es und Christine, wir haben uns einander inzwischen vorgestellt, scheint das in Ordnung zu finden.

Jemand betritt den Laden. „Das ist sie“, sagt Christine. Sie? „Na, die Initiatorin des Frauentreffens.“

„Das kann jetzt nicht wahr sein“, denke ich und wende mich dem Räucherwerk zu, während die beiden Frauen sich unterhalten. Von Christine offensichtlich bereits eingeweiht, kommt die Initiatorin bald zu mir her, verwickelt mich in ein Gespräch und innerhalb weniger Minuten unterhalten wir uns völlig offen über unsere persönliche Situation. Schließlich fragt sie, ob ich bei der Gruppe mitmachen möchte, der Raum sei gefunden, ich gebe ihr eine meiner alten Visitenkarten mit neuer Anschrift und Telefonnummer auf der Rückseite und gehe staunend aus dem Laden.

Was war denn das! Ein Volltreffer, will mir scheinen. Was für ein Glück, gerade heute in gerade diesen Laden gegangen zu sein.

Es ist Abend. Ich trete vor die Haustür, sehe in einen funkelnden Sternenhimmel, biege um die Hausecke und erblicke den Mond. Orange. Prall. Fast voll. Allein schon dieser Anblick war das Herausgehen wert. Aber ich habe noch etwas vor, möchte zu einem tibetischbuddhistischen Vortrag in der Lujo-Brentano-Straße, von dem ich zufällig erfahren und zu dem ich gleich zweifach eingeladen wurde.

Wegen eines außen nicht tastbaren, beim Auftreten aber deutlich fühlbaren Knubbels unter dem Fuß war ich zu einem Arzt in Prien gegangen und wir kamen schnell ins Gespräch, als ich erzählte, ich hätte den Fuß mit Jin Shin Jyutsu erst einmal selbst behandelt. Die Methode war ihm bekannt und er wusste, dass sie aus Japan kommt. Ob ich Buddhistin sei, fragte er. Nein, eher Taoistin, versuchte ich meine Nichtzugehörigkeit zu irgendeiner Religion zu erklären und schon outete er sich als tibetischer Buddhist und gab mir eine Einladung zu einem Vortrag mit. Ich wollte eigentlich nicht hingehen, traf aber heute Nachmittag zufällig die Frau des Arztes, die ich ebenfalls in der Praxis kurz kennen gelernt hatte, erhielt von ihr die zweite Einladung zum Vortrag und so bin ich nun im Dunkeln auf dem Weg ins Unbekannte.

Außer mir und Nachbars Katze ist niemand unterwegs. Ich überquere die Prien auf der Brücke am Friedhof und dann stehe ich da. Es ist wirklich ziemlich dunkel und so kann mir auch der Ortsplan nicht weiterhelfen. Auf gut Glück gehe ich geradeaus, finde das gesuchte Haus, trete ein durch die nur angelehnte Tür und sehe erfreut, dass die Frau des Arztes bereits da ist. Warum schaut sie mich so erstaunt an? Sie hatte mich nicht erwartet? Aber sie hatte mich doch eingeladen.

Ja, hatte sie. Aber für den Freitag der nächsten Woche. Heute findet kein öffentlicher Vortrag statt, sondern nur der wöchentliche Meditationsabend, zu dem ich aber auch sofort eingeladen werde. Ich beschließe zu bleiben und erlebe einen sehr interessanten Abend, der mich jedoch darin bestätigt, keine bestimmten und von irgendwelchen Religionen oder spirituellen Richtungen vorgegebenen Wege mehr zu gehen, sondern lieber einfach da zu sein, wo ich gerade bin, voller Vertrauen, dass ich da, wo ich bin, genau richtig bin.

Spirituelle Wege gehe ich eher nicht mehr, irdische aber gerade mit besonderem Genuss. Ach ja, gehen. Noch macht mir der Knubbel unter dem Fuß zwar keine Probleme, aber ein wenig Sorge schon. Vielleicht sollte ich einmal zu einem Osteopathen gehen. Aber wie finde ich einen, dem ich trauen kann? Wir werden sehen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Ich sitze in einem Raum der Klinik St. Irmingard, in der gleich eine Lesung stattfinden soll, schaue auf die leeren Stuhlreihen, auf die zwei Frauen vor mir, auf den jungen Mann, der am Vortragspult lehnt und wünsche dem Autoren weitere Zuhörer. Der Wunsch geht nicht in Erfüllung, Florian Huber liest trotzdem aus seinem Buch: „Die Hochzeit des Chronos“. Ich lese keine Romane mehr, bin gekommen, weil die Notiz in der Chiemgau-Zeitung mich neugierig gemacht hat. Es gehe um Heimat und Fremde, hatte es da geheißen und genau das wird dann auch Thema des Gesprächs nach der Lesung. Ein Satz hallt nach in mir: „Heimat, das ist der Platz, wo man „hier“ sagen kann, ohne etwas zu vermissen.“

Nach der Lesung spreche ich den jungen Herrn an und er entpuppt sich als Doktor der Philosophie mit einer Praxis in Bad Endorf, in der er demnächst eine kleine, offene Gesprächsgruppe für Lebenskunst anbieten möchte, woraufhin ich wieder einmal Interesse anmelde und ein Visitenkärtchen zücke.

Nach so viel Bildung und Stillsitzen in einem Klinikgebäude zieht es mich mit Macht nach draußen und ich nehme sofort, ohne mich auch nur im Geringsten vor mir selbst verteidigen zu müssen, Kurs auf ein Café, das mir offensichtlich zur Heimat geworden ist. Vermisse ich hier etwas? Nein.

Ich hole mir die Chiemgau-Zeitung, bestelle den Milchkaffee und setze mich seitwärts in die Sonne. Plötzlich vermisse ich doch etwas. Die Sonne hat sich hinters Nachbardach verzogen. Schon kommt Juliana aus dem Café und lädt mich ein, umzuziehen an ein Tischchen, das noch in der Sonne liegt und gerade frei geworden ist. Ich eile um die Hausecke und sehe einen sympathischen, jungen Mann genau diesen Tisch ansteuern. „Bitte, bitte“, sagen wir beide und jeder ist bereit, dem anderen den Sonnentisch zu überlassen. Schließlich sitzen wir beide dran und versichern uns, dass wir uns nicht stören würden, unterhalten uns eine Minute später allerdings bereits auf das Beste.

„Was machen Sie beruflich?“, frage ich schließlich.

„Ich bin Osteopath“. Er ist was? Es dauert ein Weilchen, aber dann schalte ich ganz schnell. „Lachen Sie nicht, aber ich hätte gern einen Termin bei Ihnen.“ Wir lachen natürlich doch und dann erzählt er, dass Termine bei ihm öfter auf diese Weise zustanden kämen. Seit wenigen Monaten erst hat er eine eigene Praxis in Bernau, wo er mit Frau und Kind auch lebt. Was macht er in Prien? Er unterrichtet Karate, hat die Schule von seinem Lehrer übernommen, als der wegzog. Wo ist er aufgewachsen? In Aschau und er liebt den Chiemgau sehr. Und wie heißt er? Florian. Der zweite Florian heute.

Der junge Karatelehrer muss zum Unterricht, die Sonne lässt mich jetzt auch am zweiten Tisch im Stich und so trete ich den Heimweg an. Vor der Haustüre treffe ich die Nachbarin aus der Wohnung unter mir und wir unterhalten uns ein wenig. Sie ist 82 Jahre alt und wohnt seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem zweiten Mann in diesem Haus. Sie erzählt von sich, von ihren Kindern, ihrem Leben als Ehefrau eines Beamten im Auswärtigen Amt, mit dem sie in vielen verschiedenen Ländern wohnte. Im Frühjahr hatte sie eine Hüft-OP, die Krücken, an denen sie monatelang ging, braucht sie Gott sei Dank nicht mehr immer, auch das Bücken klappt langsam wieder besser.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragt sie mich. „Aus Bonn? Da haben wir auch zehn Jahre lang gewohnt. Da ist es doch so schön. Wieso sind Sie denn da nicht geblieben?“

Weil ich auch noch einmal an einem anderen schönen Ort leben wollte. Das schönste Paradies verliert seinen Reiz, wenn die Seele neue Reize braucht.