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Edward M. Hallowell

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Beschreibung

Mangel an Konzentration. Keine Ausdauer. Ewig abgelenkt. Sprunghaft. Kennen Sie das von sich selbst, von Ihrem Partner, Ihrem Kollegen, Ihrem Kind? In vielen dieser Fälle handelt es sich nicht nur um eine kleine, jederzeit abstellbare Charakterschwäche, sondern um ein angeborenes neurologisches Problem. Die Wissenschaft nennt es ADD: Aufmerksamkeits-Defizit-Disposition (Attention Deficit Disorder). Dieses praxisnahe, oft humorvoll, ermutigende Buch wird jeder mit Gewinn lesen, der mit einem ADD-Menschen lebt oder selber einer ist.

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Edward M. Hallowell • John J. Ratey

Zwanghaft zerstreut

ADD: die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein

 

 

Aus dem Englischen von Sibylle Hunzinger

 

Über dieses Buch

Mangel an Konzentration. Keine Ausdauer. Ewig abgelenkt. Sprunghaft. Kennen Sie das von sich selbst, von Ihrem Partner, Ihrem Kollegen, Ihrem Kind?

In vielen dieser Fälle handelt es sich nicht nur um eine kleine, jederzeit abstellbare Charakterschwäche, sondern um ein angeborenes neurologisches Problem. Die Wissenschaft nennt es ADD: Aufmerksamkeits-Defizit-Disposition (Attention Deficit Disorder). Dieses praxisnahe, oft humorvolle, ermutigende Buch wird jeder mit Gewinn lesen, der mit einem ADD-Menschen lebt oder selber einer ist.

Vita

Edward M. Hallowell ist Psychiater und Co-Autor des Bestsellers «Zwanghaft zerstreut» und «Liebe in Zeiten der Ablenkung». Er hat zwanzig Jahre an der Harvard Medical School unterrichtet und leitet heute die Hallowell Centers for Cognitive and Emotional Health in Sudbury, Massachusetts, und New York City. Seit 2015 hat er einen wöchentlichen ADHS-Podcast. Im Jahr 2018 wurde er von der National Alliance on Mental Illness mit dem «Leader of Mental Health Awareness Award» ausgezeichnet. Er ist selbst von ADHS betroffen.

John Ratey ist Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Er ist Autor zahlreicher Bestseller über das Gehirn und zu Gesundheitsfragen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel «Driven to Distraction» im Verlag Pantheon Books, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2023

Copyright © 1998 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Driven to Distraction» Copyright © 1994 by Edward M. Hallowell, M.D., and John J. Ratey, M.D.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Guido Klütsch

Coverabbildung The Image Bank

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01348-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

1 Was ist ADD?

Fall 1: Jim

Fall 2: Carolyn

Fall 3: Maria

Fall 4: Penny

2 «Ich sang in meinen Ketten wie das Meer»: Das Kind mit ADD

3 «Die Lautfolge zerfasert ohne Sinnzusammenhang»: ADD bei Erwachsenen

4 Leben und lieben mit ADD: ADD in der Paarbeziehung

5 Der große Kampf: ADD und die Famile

25 Ratschläge für den Umgang mit ADD in Familien

6 Teile des Elefanten: Abarten der ADD

ADD ohne Hyperaktivität

ADD mit Angstzuständen

ADD mit Depression

ADD mit anderen Lernstörungen

ADD mit Agitiertheit beziehungsweise Manie

ADD mit Suchtverhalten

ADD bei schöpferischen Menschen

ADD mit Risikoverhalten beziehungsweise «Nervenkitzel»-ADD

ADD mit dissoziativen Zuständen

ADD mit Merkmalen der Borderline-Persönlichkeit

ADD mit Störungen des Sozialverhaltens oder oppositionellem aufsässigem Verhalten (bei Kindern) beziehungsweise mit Merkmalen von Asozialität (bei Erwachsenen)

ADD mit obsessiv-kompulsiver Störung

Pseudo-ADD

7 Woran erkenne ich, daß ich es habe?: Die Vorstufen der Diagnose

8 Was können Sie dagegen tun?: Die Behandlung der ADD

Allgemeine Behandlungsgrundsätze

Information

10 Tips für Eltern und Lehrer, wie sie Kindern die ADD erklären können

Struktur

10 Tips, wie man das Leben des ADD-Kindes strukturieren und organisieren kann

Psychotherapie und Training

Tips für den Trainer

Medikamentöse Behandlung

Praktische Tips für den Umgang mit ADD und die ADD-Behandlung

50 Tips für den Umgang mit der Erwachsenen-ADD

50 Tips für den Umgang mit ADD in der Schule

Verbreitete Probleme bei der ADD-Behandlung

9 Ein Sitz und ein Name: Die Biologe der ADD

Dank

Anhang

Literaturhinweise

Widmung

Wir widmen dieses Buch in Dankbarkeit unseren sieben Lehrern, sieben Psychologen, denen geistige Lebendigkeit, selbständiges Denken, Liebe zur Arbeit und ein Sinn fürs Spiel gemeinsam waren.

Sie haben uns gelehrt, zuzuhören und die Augen aufzumachen.

Doris Menzer Benaron, Jules Bemporad, William Beuscher, Thomas Gutheil, Leston Havens, Allan Hobson und Irvin Taube, sie alle haben uns sehr viel mehr mitgegeben, als in dieser kurzen Widmung herausgestellt werden kann. In den Jahren, in denen sie am Massachusetts Mental Health Center unterrichteten, haben sie uns gelehrt, unsere Arbeit in Demut auszuüben, uns in die Lage des Patienten einzufühlen und uns hinzusetzen und zuzuhören. Sie haben uns gelehrt, uns auf den Patienten einzustellen, von Mensch zu Mensch. Und sie haben uns gelehrt, nach einem Zugang zum Herzen des Patienten, zu seinen Sorgen und Freuden zu suchen. Unser Dank dafür kommt aus dem Herzen.

Vorwort

Eine persönliche Betrachtung

Ich habe eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADD, von englisch attention deficit disorder). Als ich entdeckte, daß ich ADD habe, war ich einunddreißig Jahre alt und stand vor dem Abschluß meiner Ausbildung zum Kinderpsychiater am Massachusetts Mental Health Center in Boston. An einem feuchtheißen Bostoner Sommermorgen hatte ich eines der größten Aha-Erlebnisse meines Lebens, als meine Neuropsychiatrieprofessorin in ihrer Vorlesung auf ADD zu sprechen kam.

«Manche Kinder», sagte sie, «sind chronische Tagträumer. Sie sind oft sehr intelligent, können aber nicht lange bei einer Sache bleiben. Sie sind sehr energetisch, und es fällt ihnen schwer stillzusitzen. Unter Umständen reden oder tun sie ziemlich impulsiv, was ihnen gerade einfällt, und es erscheint ihnen unmöglich, Ablenkungen zu widerstehen.»

Also gibt es für meinen Zustand einen Namen, dachte ich erleichtert und mit wachsender Erregung. Es gibt einen Fachausdruck, eine Diagnose, es ist eine richtige Krankheit, während ich die ganze Zeit geglaubt hatte, ich wäre ein bißchen verrückt.

Im weiteren Verlauf der Vorlesung verschlang ich alles, was ich an Gedrucktem zu diesem Thema auftreiben konnte. Es wurde mir nicht nur klar, daß ich selber ADD hatte, sondern ich erkannte das Syndrom auch bei mehreren Familienmitgliedern, was nicht verwundert, da es genetisch bedingt ist. Dann hörte ich einen Vortrag von Dr. Paul Wender, einem Pionier auf diesem Gebiet, und las kurz darauf sein Buch. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir eine Last von den Schultern genommen. Ich war all das nicht, was man mich in der Schule geheißen hatte: kein «Tagträumer», kein «Faulpelz», kein «Leistungsschwacher», kein «Hans-guck-in-die-Luft» – ich hatte auch nicht latent einen unbewältigten Konflikt in mir, der mich ungeduldig und umtriebig machte.

Was ich hatte, war ein ererbtes neurologisches Syndrom, charakterisiert durch leichte Ablenkbarkeit, eine niedrige Toleranz für Frustrationen und Langeweile, eine überdurchschnittlich große Neigung, zu sagen oder zu tun, was einem gerade einfällt (im diagnostischen Handbuch Impulsivität genannt) und eine Vorliebe für aufregende Situationen. Vor allen Dingen aber hatte ich einen Namen für den Energieüberschuß, den ich so oft in mir spürte – dieses Gefühl von Aufgeheiztheit und Aufgedrehtheit, das – mal beflügelnd, mal frustrierend – einen großen Teil meines Wachlebens grundierte.

Endlich war da ein Begriff, der eine Erklärung dafür bot, daß ich mich unfreiwillig und grundlos aus Gesprächen ausklinkte. Für die Wut, die ich empfand, und die Zeiten, in denen ich Bleistifte zerbrach und durchs Zimmer warf, wenn ich einem Gedankengang in der Schule nicht gleich folgen konnte. Für die sieben Anläufe, die es mich kosten konnte, eine Seite in einem Roman zu lesen. Für die Ungereimtheiten, die ich nach den Worten meiner Frau in einem vertrauten Gespräch plötzlich vorbrachte. Dafür, daß ich die Arbeit vor mir vergesse und mich auf den Flügeln eines neuen Gedankens oder auf der Suche nach etwas Vergessenem davonmache. Für die Jagdleidenschaft, die Leidenschaft für ein neues Projekt, einen aufregenden Gedanken, für die Neigung zu, das Bedürfnis nach Aufputschendem, Mitreißendem – sei es die psychotherapeutische Arbeit mit einem paranoiden, gewalttätigen Menschen oder eine Pferdewette mit hohem Einsatz. Endlich hatte ich einen Namen für die Seiten an mir, die ich meinem Temperament oder meiner Neurose zugeschrieben hatte. Mit einem Namen, der in der Neurobiologie verankert war, konnte ich beginnen, mir mit Nachsicht auf die Seiten an mir einen Reim zu machen, die mich so oft frustriert oder erschreckt hatten.

Der Ausdruck «Aufmerksamkeitsschwäche-Syndrom» ( attention deficit disorder) gefällt mir nicht, wenngleich er sicher besser ist als sein Vorgänger: «minimale zerebrale Dysfunktion». Genaugenommen lautet die Diagnose in ihrer gegenwärtig gebräuchlichen, korrekten Form Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, was das Symptom der Hyperaktivität in die Diagnose mit einschließt. Beide Etikettierungen sind aus verschiedenen Gründen unzulänglich. Es handelt sich bei dem Syndrom nicht um eine Aufmerksamkeitsschwäche, sondern um eine Aufmerksamkeitsinkonsistenz; die meisten Menschen mit Aufmerksamkeitsschwäche hyperfokussieren sogar manchmal. Hyperaktivität kann mit im Spiel sein oder auch nicht; tatsächlich sind manche Kinder und Erwachsene mit «Aufmerksamkeitsschwäche» ziemlich still und verträumt. Schon das Wort «Hyperaktivität» ist doppeldeutig; bedächtige Gutachter etikettieren irgendwelche geschäftigen Menschen als «hyperaktiv» und diagnostizieren auf diese Weise einen normalen Zustand falsch. Schließlich verweist das Wort «Schwäche» das Syndrom ausschließlich in den Bereich der Pathologie, wo es so ausschließlich nicht hingehört. Obwohl ADD eine Menge Probleme mit sich bringen kann, birgt sie doch Vorteile für den, der sie hat, Vorteile wie Energieüberfluß, Intuition, Kreativität und Begeisterungsfähigkeit, die dieses Buch herausstellen will und die durch das «Schwäche»-Modell ganz übersehen werden. Die «Schwäche» hat mich nicht davon abgehalten, Arzt zu werden, und auch viele andere nicht, auf den verschiedenartigsten Gebieten noch erfolgreicher zu sein.

Die im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association ausgewiesene offizielle Bezeichnung der Krankheit lautet attention-deficit hyperactivity disorder. Im deutschen Sprachraum ist der Terminus Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung gebräuchlich. Trotzdem verwenden wir in diesem Buch den Ausdruck ADD (attention deficit disorder, «Aufmerksamkeitsschwäche-Syndrom»), der eindeutiger beide Patiententypen einbezieht: Menschen mit den Symptomen Hyperaktivität und Energieüberschuß und Menschen ohne sie.

Nach dem feuchtheißen Sommer vor zehn Jahren, als ich zuerst von diesem faszinierenden Syndrom gehört hatte, begann ich, Kinder und Erwachsene mit ADD zu behandeln und das Syndrom in seinen menschlichen Details zu erforschen. Und ich lerne noch immer von meinen Patienten, ihren Familien, Lehrern und Freunden über ADD dazu. Durch meine intensiven Kontakte zu Menschen aller Altersgruppen mit ADD und durch meine persönliche Selbsterforschung habe ich ein Feeling für ADD nicht nur als eine diagnostische Gegebenheit, sondern auch als eine Lebensform entwickelt.

Es ist mir klargeworden, daß man es bei ADD, obwohl sie schwer zu umschreiben ist und fast nie in Reinkultur – d.h. ohne irgendwelche Begleiterscheinungen wie zum Beispiel Lernschwäche oder geringes Selbstwertgefühl – auftritt, eindeutig mit einem Syndrom zu tun hat, das erkannt und behandelt werden muß. Ohne Behandlung bleiben Millionen Kinder und Erwachsene mißverstanden, unnötig problembeladen, ja ausgegrenzt.

Zwar habe ich mich auf die Behandlung von ADD spezialisiert, bin aber ganz allgemein auch weiter als Psychiater für Kinder und Erwachsene tätig, wobei ich das breite Spektrum menschlicher Probleme in meiner Praxis vor Augen habe. Daß ich im eigentlichen Sinne kein Spezialist bin, hat mir dabei geholfen, mir eine unbefangene Sicht der Dinge zu bewahren, so daß ich nicht hinter den Schulproblemen jedes Kindes und den Frustrationen bei der Arbeit jedes Erwachsenen ADD vermute. Zwar ist es wichtig, Informationen über ADD zu verbreiten, es ist aber genauso wichtig, daß ADD nicht zu einer diagnostischen Modetorheit wird.

Wenngleich ich das vorliegende Buch allein geschrieben habe, ist einiges Gedankengut aus der Arbeit meines Kollegen Dr. John Ratey in dieses Buch mit eingeflossen. John war mein chief resident, als ich 1979 meine Ausbildung zum Psychiater begann. Er hat damals als Lehrer meine Begeisterung geweckt, und wir sind im Laufe der Jahre enge Freunde geworden. Seine Forschungen haben ihn zur Arbeit mit Erwachsenen mit einer geschwächten Impulskontrolle geführt und dann weiter zur Arbeit mit Erwachsenen mit ADD. John ist nicht nur ein Experte auf seinem Gebiet, er hat auch selbst ADD.

Unsere Zusammenarbeit an diesem Buch erwuchs aus Unterhaltungen im Anschluß an die Squashmatches, zu denen wir uns zweimal in der Woche trafen; wir merkten, wie aufgeregt wir beide bei der Feststellung waren, daß es unseren ADD-Patienten besser ging. Bei vielen dieser Patienten hatte man eine Fehldiagnose gestellt, und sie waren auf andere Störungen behandelt worden. Sobald ADD diagnostiziert worden war und entsprechend behandelt wurde, waren die Ergebnisse häufig geradezu dramatisch.

«Es sollten einfach mehr Menschen über ADD Bescheid wissen», sagte John nach einem besonders anstrengenden Match im vergangenen Winter.

«Ich wollte schon lange etwas darüber schreiben», gab ich ihm zur Antwort. «Meinst du, daß wir uns lange genug konzentrieren können, um das hinzukriegen?»

«Es ist immerhin einen Versuch wert», meinte John.

Und so, indem wir einander bei der Zeiteinteilung halfen, uns gegenseitig Termine setzten und uns die äußere Ordnung schufen, die Menschen mit ADD so dringend brauchen, nahm dieses Buch Gestalt an; ein Buch von zwei Psychiatern, die selber ADD haben, in der Hoffnung geschrieben, daß Millionen anderer Menschen mit ADD da draußen die Hilfe finden können, die sie brauchen, um aus ihrem Leben das Beste zu machen.

Bei der Veranschaulichung dessen, was ADD ist, stützt sich dieses Buch in erster Linie auf Beispiele aus dem Leben. Manche Darstellungen sind Zusammenschnitte, manche stammen unmittelbar aus den Erfahrungen unserer Patienten, und manche basieren auf Gesprächen, die wir für dieses Buch geführt haben. In sämtlichen Fällen wurden die Namen geändert.

Wir möchten den vielen Menschen dafür danken, daß sie uns an ihren Erfahrungen teilhaben ließen, wodurch dieses Buch erst möglich wurde.

Edward M. Hallowell

1 Was ist ADD?

Wenn man erst einmal begriffen hat, um was alles es sich bei der ADD dreht, wird man sie überall wiederentdecken. Menschen, die man gewöhnlich für zerfahren oder manisch oder überdreht oder kreativ, aber unberechenbar gehalten hat, Menschen, von denen man weiß, daß sie mehr erreichen könnten, wenn sie nur ihre Gedanken «zusammenkriegen» könnten, Menschen, die man in der Schule und im Berufsleben als unstete Geister kennengelernt hat, Menschen, die es bis in die höchsten Positionen geschafft haben und sich doch desorganisiert und getrieben fühlen, das alles könnten Menschen sein, die tatsächlich ADD haben. Es ist sogar möglich, daß man einige der Symptome im eigenen Verhalten erkennt. Viele der Symptome von ADD sind uns allen so geläufig, daß wir das Syndrom sorgfältig analysieren müssen, wenn der Ausdruck ADD eine spezifische Bedeutung haben und nicht nur eine wissenschaftlich klingende Bezeichnung für die Komplexität unseres modernen Lebens sein soll. Und man kann am besten verstehen, was ADD ist – und was sie nicht ist –, wenn man sieht, wie das Leben der Menschen beeinträchtigt wird, die ADD haben.

Aus dem nun folgenden Fall und den zahlreichen weiteren Fallgeschichten, die in diesem Buch vorgestellt werden, ist zu ersehen, welche Kämpfe es Menschen kostete, falsche Etikettierungen und ungerechte Beurteilungen abzuschütteln. Nach und nach wird sich aus diesen Lebensgeschichten eine Definition von ADD herausschälen.

Fall 1: Jim

Es war elf Uhr nachts, Jim Finnegan war noch auf und ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab. In dieser Lage fand er sich oft am späten Abend: Er war allein, ging auf und ab und bemühte sich, seine Gedanken zusammenzukriegen. Während er sich jetzt der Lebensmitte näherte, geriet Jim in Verzweiflung. Er blickte sich im Zimmer um und registrierte die Unordnung. Das Zimmer sah aus, als wäre der Inhalt eines Einkaufsrollers hineingeschüttet worden. Bücher, Papier, einzelne Socken, alte Briefe, ein paar halbleere Zigarettenschachteln und anderes Unaufgeräumtes mehr waren am Boden verstreut, ganz ähnlich dem Sammelsurium an Kenntnissen, das in Jims Kopf verstreut war.

Jim musterte die Liste «Zu erledigen», die an der Pinnwand über seinem Schreibtisch steckte. Sie umfaßte siebzehn Punkte, wovon der letzte mehrmals mit schwarzer Tinte eingekreist und mit Ausrufungszeichen versehen war: «Entwurf zur Umstrukturierung der Firma, Dienstag, 19. 3.!!!» Heute war Montag, der 18. 3. Und Jim hatte mit dem Entwurf noch gar nicht angefangen. Er hatte seit Wochen darüber nachgedacht, seit er seinem Chef von einer Idee erzählt hatte, wie sich die Produktivität und die Arbeitsmoral innerhalb der Firma steigern ließen. Prima, hatte sein Chef gesagt. Kommen Sie mal mit einem schriftlichen Entwurf, und dann schauen wir mal, wie der aussieht. Und er hatte noch hinzugefügt, daß Jim hoffentlich genug Ausdauer besaß, um dieses Mal wirklich etwas zustande zu bringen.

Jim wußte, was er sagen wollte. Er wußte seit Monaten, was er sagen wollte. Die Firma brauchte ein neues Computersystem, und die Kollegen und Kolleginnen vom Verkauf mußten ermächtigt werden, Entscheidungen sofort zu treffen, damit keiner durch unnötige Besprechungen Zeit verlor. Die Effizienz würde sich steigern und die Arbeitsmoral deutlich verbessern. Es war ganz einfach. Es lag auf der Hand. Und er hatte das alles auf den diversen Papierfetzen, die auf dem Fußboden verstreut waren, bis ins einzelne ausgeführt.

Aber alles, was Jim tun konnte, war auf und ab gehen. Womit fange ich an, dachte er. Wenn ich mich nicht verständlich mache, steh ich da wie ein Trottel, und sie schmeißen mich wahrscheinlich raus. Was sonst also ist neu? Warum sollte es bei diesem Job in irgendeiner Weise anders sein? Hochtrabende Ideen und keine Ausdauer. Das bin ich, der gute alte Jim. Er versetzte dem Papierkorb einen Tritt und vergrößerte dadurch noch die Unordnung auf dem Fußboden. O.k., ganz ruhig einatmen und wieder ausatmen, sagte er zu sich.

Er setzte sich an den Computer und starrte auf den Bildschirm. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und fing an, dort aufzuräumen. Das Telefon läutete, und er schnauzte es an: «Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin?» Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, hörte er Paulines Stimme: «Ich geh jetzt zu Bett, Jim. Ich wollte nur wissen, wie es mit deinem Entwurf steht. Viel Glück damit morgen.» Er hatte nicht den Mut, den Hörer abzunehmen.

Die Nacht verging unter Qualen. Immer wieder brachten kleinere Ablenkungen Jim aus dem Konzept, während er verzweifelt versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Draußen miaute eine Katze. Er erinnerte sich an etwas, was jemand vor drei Tagen gesagt hatte, und fragte sich, was wohl wirklich damit gemeint war. Er wollte einen anderen Bleistift, weil der, den er hatte, ihm so schwer in der Hand lag. Endlich brachte er die Worte «Ein Entwurf zur Umstrukturierung der Unger Laboratories» zu Papier. Und dann Funkstille. «Schreib einfach, was dir einfällt», hatte ein Freund ihm gesagt. O.k., schreib einfach, was dir einfällt. Aber es fiel ihm nichts ein. Er dachte daran, sich einen neuen Job zu suchen. Vielleicht sollte ich das einfach weglegen und schlafen gehen. Das kann ich nicht machen. Wie schlecht der Entwurf auch ist, ich muß ihn fertig machen.

Gegen vier Uhr früh fühlte er sich wie erschlagen. Aber nicht geschlagen. Allmählich kamen die Worte. Irgendwie hatte die extreme Müdigkeit die Zensur in seinem Kopf aufgehoben, und er merkte, daß er seine Ideen einfach und effizient erläuterte. Gegen sechs war er im Bett und hoffte, vor dem Treffen mit seinem Chef um neun noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Das Problem war nur, daß Jim um neun noch im Bett war, weil er vergessen hatte den Wecker zu stellen, bevor er sich schlafen legte. Als er um zwölf in heller Aufregung in seiner Firma ankam, konnte er an der Miene seines Chefs ablesen, daß seine Tage bei Unger – wie gut sein Entwurf auch immer sein mochte – vorüber waren. «Warum suchen Sie sich nicht eine Stelle, wo man etwas flexibler ist», sagte sein Chef und dankte ihm für den Entwurf. «Sie sind ein Mann mit Ideen, Jim. Suchen Sie sich eine Stelle, wo man Ihrem Stil mehr entgegenkommt.»

«Ich kriege es einfach nicht hin», sagte Jim ein paar Wochen später zu Pauline, als sie zusammen etwas trinken waren. «Dabei weiß ich, daß ich mehr drauf habe, als mich alle sechs Monate feuern zu lassen. Doch es ist immer dieselbe Leier. Große Ideen, aber ich kann sie nicht umsetzen. Das war schon in der High School so, kannst du dir das vorstellen? Meine Vertrauenslehrerin – sie war so eine richtig nette Dame – hat mir gesagt, daß ich den höchsten IQ in der Klasse hätte, und sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, warum ich solche Probleme hatte, mein Potential umzusetzen.»

«Weißt du, was unfair ist?» sagte Pauline und drehte den Stiel ihres Manhattanglases zwischen Daumen und Zeigefinger. «Sie haben die Ideen aus deinem Entwurf übernommen und haben sie angewandt. Dramatische Entwicklungen. Alles ist glücklicher, und es gibt wieder mehr zu tun. Das waren deine Ideen, Jim, und du bist rausgeflogen. Das ist nicht fair.»

«Ich weiß nicht, was mit mir los ist», sagte Jim. «Ich weiß nicht, was ich machen soll.»

Jim hatte ADD. Als er mich aufsuchte, war er zweiunddreißig Jahre alt, hatte bis dahin mit einer chronischen Leistungsschwäche gelebt und weder bei der Arbeit noch im persönlichen Bereich seine Ziele erreicht infolge eines verborgenen neurologischen Problems, das es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren, über längere Zeit bei einer Sache zu bleiben und eine Aufgabe zu Ende zu führen.

ADD ist ein neurologisches Syndrom, das durch die klassische Symptomtrias Impulsivität, Ablenkbarkeit und Hyperaktivität definiert ist. Ungefähr 15 Millionen Amerikaner haben gegenwärtig ADD, und die meisten von ihnen wissen es nicht. Die Krankheit tritt bei Kindern und Erwachsenen, bei Männern und Frauen, bei Mädchen und Jungen auf, und sie geht quer durch alle ethnischen Gruppen, sozialen Schichten, Bildungs- und Intelligenzgrade. Man hat allgemein angenommen, daß es sich bei ADD um eine Störung handelt, die nur in der Kindheit auftritt und die während der Adoleszenz überwunden wird. Wir wissen inzwischen, daß nur ein Drittel der Bevölkerung mit ADD die Krankheit überwindet; die restlichen zwei Drittel haben sie auch im Erwachsenenalter. ADD ist keine Lern- oder Sprachentwicklungsstörung beziehungsweise Legasthenie, und sie ist auch nicht zwangsläufig mit einer niedrigen Intelligenz verbunden. Manche Menschen mit ADD sind sogar sehr intelligent. Es ist nur so, daß sich ihre Intelligenz in ihnen verheddert. Sie wieder freizusetzen und in sanften Fluß zu bringen, erfordert mehr Geduld und Ausdauer, als sie konsequent durchzuhalten vermögen.

 

Wo hört normales Verhalten auf, und wo fängt das Syndrom an? Was ist Impulsivität? Was Ablenkbarkeit? Wieviel Energie führt zu Energieüberschuß? Das sind die Fragen, die wir in diesem Buch anhand von Einzelfällen wie dem von Jim untersuchen wollen. Wenn man die Symptome genauer betrachtet, erkennt man da nicht auch Züge von sich selbst? Ja. Man stützt sich bei der Diagnose von ADD allerdings nicht allein auf das bloße Vorhandensein dieser Symptome, sondern auch auf die Dauer und die Heftigkeit ihres Auftretens und das Ausmaß, in dem sie das tägliche Leben beeinträchtigen.

Als Jim zu einer Beratung zu mir kam, war er mit seiner Weisheit am Ende. Er kam in mein Sprechzimmer, setzte sich in einen der bequemen Sessel und fuhr sich mit den Fingern durch das lockige Haar. Er saß vornübergebeugt da und starrte abwechselnd mich und den Fußboden an. «Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß nicht mal, wozu ich hier bin», sagte er und schüttelte dabei den Kopf, als ob er sagen wollte: Nein, das wird mir auch nicht helfen.

«Haben Sie Probleme gehabt, hierherzufinden?» fragte ich. Er war zwanzig Minuten zu spät gekommen, deshalb dachte ich, daß er sich vielleicht nicht zurechtgefunden hatte.

«Allerdings», sagte er. «Sie haben mir den Weg einwandfrei beschrieben. Ich bin bloß irgendwo links abgebogen, wo ich hätte rechts abbiegen müssen, und da war ich auch schon wieder total überdreht. Ende der Fahnenstange. Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch hergefunden habe. Ich bin bei irgendeiner Tankstelle in Somerville gelandet.»

«Na ja, das kann einen schon ziemlich von der Rolle bringen», sagte ich in der Hoffnung, daß er sich inzwischen ein wenig entspannen würde. Etwa die Hälfte aller Menschen, die mich wegen irgendwelcher Probleme, die mit ADD zu tun haben, konsultieren wollten, kamen zu spät oder erschienen gar nicht zur ersten Verabredung. Das überrascht mich nicht mehr. Meine Patienten fühlen sich allerdings ziemlich schlecht deswegen und kommen mit dem Gedanken in die Sitzung, daß ich ihnen irgendwelche Vorwürfe machen werde. «Sie sind weiß Gott nicht der erste, der sich auf dem Weg hierher verfranzt», sagte ich.

«Tatsächlich?» fragte Jim. «Da bin ich aber erleichtert.» Er holte tief Luft, um etwas zu sagen, hielt aber inne, als blieben ihm die Worte im Hals stecken, dann stieß er den Atem in einem langen Seufzer wieder aus, und die Worte zerstoben. Nachdem sich das noch ein zweites Mal wiederholt hatte, fragte ich ihn, ob er sich einen Augenblick Zeit nehmen wollte, einfach um seine Gedanken zu sammeln, während ich mir ein paar Daten zu seiner Person wie seinen Namen, seine Adresse, seine Telefonnummer notierte. Das war offenbar hilfreich. «O.k.», sagte Jim. «Fangen wir an.»

«O.k.», stimmte ich zu, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Erneutes Schweigen und ein erneuter Seufzer auf seiten von Jim. «Ich kann sehen, daß es Ihnen schwerfällt, einen Anfang zu finden», sagte ich. «Vielleicht könnten wir uns auf das Problem konzentrieren, das Sie hierhergeführt hat.»

«Ja», sagte er, «o.k.» Nach dieser kleinen Hilfestellung von meiner Seite rückte Jim langsam mit den wesentlichen Stücken seiner Lebensgeschichte heraus. Eine ganz normale Kindheit, jedenfalls hatte Jim diesen Eindruck. Als ich ihn aber drängte, mehr ins Detail zu gehen, gab Jim zu, daß er in der Grundschule ziemlich ungebärdig gewesen war und mit großer Begeisterung Dummheiten gemacht hatte. Er bekam gute Noten, obwohl er eigentlich nie arbeitete. «Schule, das war für mich spielen», sagte er. Mit der High School aber begannen härtere Zeiten. Jims natürliche Intelligenz half ihm jetzt nicht mehr so leicht weiter, und er fiel mehr und mehr zurück. Seine Eltern und Lehrer fingen an, ihm wegen seiner mangelnden Arbeitsmoral Vorwürfe zu machen, daß er sich und allen anderen etwas vormachte, daß er sich damit auf lange Sicht schaden würde und so weiter. Sein Selbstwertgefühl sank, aber irgendwie reichte die ihm angeborene Heiterkeit aus, Jim seinen Optimismus weitgehend zu erhalten. Und nachdem er sich durch das College gewurstelt hatte, startete er in ein durch laufenden Wechsel gekennzeichnetes Berufsleben in den verschiedensten Bereichen der Computerbranche.

«Sie mögen Computer?» fragte ich.

«Ich könnte sie erfunden haben», sagte er voller Begeisterung. «Ich liebe sie. Ich kenne sie einfach durch und durch, verstehen Sie, was ich meine? Ich weiß genau, was in ihnen vorgeht, und ich weiß, wie man sie zu Höchstleistungen bringen kann. Wenn ich nur den Leuten begreiflich machen könnte, was ich weiß. Wenn ich nur nicht jedesmal alles vermasseln würde, wenn ich eine Chance bekomme …»

«Wodurch vermasseln Sie es sich?» fragte ich.

«Wodurch vermassele ich es mir?» fragte er. Dann wiederholte er die Frage noch einmal, wobei er sie durch den Klang seiner Stimme in eine betrübte Feststellung verwandelte. «Wie vermassele ich es mir? Ich bin vergeßlich. Ich streite mich herum. Ich schiebe Dinge auf die lange Bank. Ich habe keine Entschlußkraft. Ich kriege Wutanfälle. Ich kann nicht am Ball bleiben. Alles, was Sie wollen. Ich gerate immer wieder in diese Diskussionen mit meinem Chef, und dabei stelle ich immer wieder fest, daß ich recht habe, und dann, verstehen Sie, dann nenne ich meinen Chef einen Blödmann, weil er nicht kapiert, daß ich recht habe. Das endet damit, daß man rausfliegt, wenn man seinen Chef einen Blödmann nennt. Oder ich habe da eine Idee, aber ich kriege sie nicht zu fassen, sie ist verschwunden wie die Nadel im Heuhaufen. Sie ist hier drin, ich weiß, daß sie hier drin ist, aber ich kriege sie einfach nicht raus. Eine von meinen ehemaligen Freundinnen hat, kurz bevor sie mir den Laufpaß gab, zu mir gesagt, ich sollte mich damit abfinden, daß ich nun mal ein Loser bin. Vielleicht hat sie recht gehabt. Ich weiß es nicht.»

«Haben Sie sie gern gehabt?» fragte ich.

«Eine Zeitlang schon. Aber schließlich hatte sie die Nase voll von mir wie alle andern auch. Ich meine, ich stehe ständig unter Hochspannung, das macht das Zusammensein mit mir so schwierig.»

«Und wo kommt Ihrer Meinung nach diese Hochspannung her?» fragte ich.

«Ich weiß es nicht», gab er zur Antwort. «Aber sie ist schon immer dagewesen.»

Je länger wir uns unterhielten, desto klarer wurde, wie recht Jim damit hatte, daß diese Hochspannung schon immer dagewesen war, selten gebremst, sondern immer auf vollen Touren. Die Hochspannung ist eine Erklärung dafür, warum ADD unter Menschen verbreitet ist, die in energiereichen Feldern arbeiten, wie zum Beispiel Vertreter oder Leute aus der Werbebranche oder aus dem Dienstleistungsgewerbe, ebenso Menschen, die auf Gebieten mit einem hohen Reizpegel oder unter hohem Leistungsdruck arbeiten. «Sind Sie vorher schon mal bei einem Psychotherapeuten gewesen?» fragte ich.

«Schon mehrere Male», erwiderte Jim. «Sie waren alle sehr nett, es hat aber eigentlich nichts gebracht. Einer von ihnen hat zu mir gesagt, daß ich nicht soviel trinken soll.»

«Wieviel trinken sie denn?»

«Ich gehe auf Sauftouren. Wenn ich mal richtig abschnallen will, dann gehe ich einen heben. Das ist eine alte Familientradition. Mein Vater hat mächtig getrunken. Man könnte sagen, daß er Alkoholiker war. Ich glaube nicht, daß ich Alkoholiker bin, aber das sagen sie alle, nicht? Auf jeden Fall habe ich am nächsten Tag immer einen schrecklichen Kater, und dann lasse ich die Sauferei wieder eine Weile bleiben.»

Menschen mit ADD versuchen oft, sich mit Alkohol, Marihuana oder Kokain auf eigene Faust zu helfen. Vor allem Kokain ähnelt einem der Arzneistoffe, die zur medikamentösen Behandlung von ADD verwendet werden.

Während unserer Unterhaltung hatte Jim angefangen, die Beine abwechselnd übereinanderzuschlagen und wieder parallel zu stellen. «Wenn Sie unruhig sind, können Sie gerne ein wenig auf und ab gehen, während wir uns unterhalten.»

«Wirklich? Und das stört Sie nicht? Vielen Dank.» Er stand auf, begann im Zimmer umherzugehen und begleitete seine Worte beim Sprechen mit den Armen. «Das ist ja riesig. Die meisten Leute würden dabei verrückt werden, aber ich kann im Gehen wirklich besser denken. Halten Sie das für exzentrisch? Kein Wunder, daß ich in der Schule Schwierigkeiten hatte. Verstehen Sie, das ist mein größtes Problem. Ich bin innerlich immer so gefesselt. Und Sie können sich vorstellen, daß es im Betrieb nicht gern gesehen wird, wenn ich den halben Tag herumrennen will.»

«Ich weiß nicht», sagte ich. «Vielleicht haben Sie einfach noch nicht den richtigen Job gefunden.»

«Sie reden wie alle meine Chefs. Gibt es überhaupt den richtigen Job für mich?»

ADD tritt in verschiedenen Formen auf. Bei vielen Menschen, vornehmlich bei Erwachsenen, sind die Symptome von ADD verdeckt durch augenfälligere Probleme wie Depressionen, Alkoholoder Spielsucht, und die untergründige ADD bleibt unerkannt. Bei anderen Menschen gestalten sich die Probleme individuell, je nachdem, wie sich die Persönlichkeit im Lauf der Zeit entwickelt, so daß die Symptome eigentlich nie erkannt werden wie etwa die Krankheitszeichen einer Erkältung oder einer Grippe, sondern mit einem «so ist er halt» abgetan werden, als sei hier ein ärztliches oder psychotherapeutisches Eingreifen nicht gerechtfertigt. Und auf dem Gebiet der exakt diagnostizierten ADD herrscht auch eine große Vielfalt. Jims ADD gehörte, wie ich bald erkannte, zum hyperenergetischen, hyperaktiven Typ. Es gibt aber eine Form von ADD, bei der das Symptom der Hyperaktivität gar nicht auftritt. Diese Menschen können tatsächlich unteraktiv sein. Zum Beispiel das Kind, oft ist es ein Mädchen, das hinten im Klassenzimmer vor sich hinträumt, oder der Erwachsene, der in heiterer Gelassenheit in den Wolken schwebt und der nirgendwo ganz da ist.

«Ich weiß nicht, ob es den richtigen Job für Sie gibt», sagte ich und kam damit auf Jims Frage zurück. «Für den Moment würde ich einfach gern mehr von Ihrer Lebensgeschichte hören. Haben Sie sie eigentlich schon jemals erzählt?»

«Nein. Niemand kann mir folgen. Ich schweife dauernd ab, sagen alle.»

«Reden Sie einfach drauflos, Ordnung schaffe ich, dafür werde ich bezahlt.»

Jim redete lange, wochenlang. Er erzählte viele Geschichten, in denen es um Mißverständnisse und Verständigungsprobleme ging, um Selbstvorwürfe, Leistungsschwäche, verpaßte Chancen, verärgerte Menschen und riskantes Verhalten. Es sah ganz so aus, als ob Jim einfach zu dumm war, um reinzukommmen, wenn’s draußen regnete, wie seine Mutter zu ihm gesagt hatte, als er zwölf Jahre alt war. Er machte nur Unfug, konnte nichts behalten und vertrödelte seine Zeit. Aber Jim erzählte auch Geschichten, in denen von Abenteuern und Freundlichkeit und Intuition die Rede war, von Verzauberung, Energie und Begeisterungsfähigkeit. Er erzählte Geschichten von großen Träumen und hohen Erwartungen und auch von großen Enttäuschungen. In seiner Verwirrung und Frustration suchte Jim nur bei sich selbst die Schuld. Er war ein äußerst liebenswerter Bursche, wenn er sich auch selber nicht besonders liebte.

Und das trifft für die meisten Menschen mit ADD zu. Sie sind sehr liebenswert, obwohl sie sich als wahre Unglücksraben erweisen können. Und sie bringen einen unter Umständen völlig zur Verzweiflung – so rief mich eine Mutter wegen ihres Sohnes an, der ADD hat und der einfach versehentlich um ein Haar seine Schule in Brand gesteckt hätte, und fragte mich, ob sie ihn mit ihrem Auto überfahren sollte – sie können aber auch ungewöhnlich einfühlsam, intuitiv und mitfühlend sein, als ob es in diesem chaotisch vernetzten Denkapparat eine spezielle Fähigkeit gäbe, Menschen und Situationen zu durchschauen.

Wir folgten Jims Lebensgeschichte auf verschlungenen Pfaden. Da war die Zeit gewesen, als er einen Job als Busfahrer hatte: An einem verträumten Nachmittag war Jim auf seiner üblichen Route unterwegs. Er hielt an der Endstation, wie er glaubte, zum letztenmal an und machte sich dann auf den Heimweg, zurück zum Busdepot, um beim Einbiegen in das Grundstück festzustellen, daß der Bus noch zur Hälfte mit konsternierten, verärgerten Fahrgästen besetzt war. Er hatte vergessen, die eigentliche Endstation der Buslinie anzufahren. «Wo sind wir?» wollten die Fahrgäste wissen. «Wo haben Sie uns hingefahren?» Es war Jims letzte Fahrt für dieses Busunternehmen gewesen. Oder da war das Gespräch mit einer Kollegin gewesen, bei dem er seinen Chef einen «Hohlkopf» genannt hatte, nur um fast noch im selben Moment zu bemerken, daß die Kollegin die Frau von seinem Chef war. «Ich mache das nicht mit Absicht», sagte Jim, «ich trete einfach immer ins Fettnäpfchen. Ich denke nie daran, mit wem ich spreche und wo ich bin. Habe ich vielleicht unbewußt den Wunsch zu versagen?»

«Das könnte sein», sagte ich. «Man weiß ja, daß es so etwas gibt. Aber andererseits könnte es auch etwas völlig anderes sein.» Und ich erzählte Jim nun von ADD. «Verstehen Sie, es könnte sein, daß Sie gar kein Versager und kein Loser sind und daß Sie auch nicht unbewußt den Wunsch haben, sich selbst zu sabotieren. Es könnte sein - und es hört sich für mich allmählich so an, als ob es sehr wahrscheinlich der Fall ist –, daß Sie eine neurologische Krankheit haben mit Namen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Man braucht sich deswegen genausowenig zu schämen, wie man sich wegen einer Kurzsichtigkeit schämt. Und es ist tatsächlich wie eine Art Kurzsichtigkeit. Man kann nicht mehr sehr gut fokussieren. Man muß sich sehr anstrengen, um deutlich zu sehen. Menschen mit ADD fällt es schwer, sich nur mit einer Sache auf einmal zu beschäftigen. Sie haben vielleicht schon von hyperaktiven Kindern gehört, und so ist dieses Syndrom ursprünglich beschrieben worden - als Hyperaktivität bei Kindern. Inzwischen weiß man, daß mehr zu den Symptomen zählt als Hyperaktivität allein und daß Erwachsene genauso davon betroffen sind wie Kinder. Die Symptome, die ADD kennzeichnen, sind leichte Ablenkbarkeit, Impulsivität und manchmal, aber nicht immer, auch Hyperaktivität und Energieüberschuß. Diese Menschen sind ständig in Bewegung. Sie sind faszinierende Persönlichkeiten, Abenteuerjäger, hochenergetische Macher und Pragmatiker, immer auf dem Sprung. Sie haben eine Menge Projekte gleichzeitig laufen. Sie sind ständig hinter irgend etwas her. Sie sind nicht sehr entschlußfreudig, und es fällt ihnen schwer, eine Sache zu Ende zu machen. Sie sind mitunter ziemlichen Stimmungsschwankungen unterworfen und können vom einen auf den anderen Augenblick ohne ersichtlichen Grund von der höchsten Euphorie in die tiefste Depression abstürzen. Sie reagieren unter Umständen gereizt, ja sogar wütend, vor allem wenn man sie unterbricht oder wenn sie sich von einer Sache einer anderen Sache zuwenden müssen. Sie haben ein lückenhaftes Gedächtnis. Sie träumen häufig mit offenen Augen. Sie lieben Situationen, die sie aufputschen. Sie lieben Action und Außergewöhnliches. So störend ein solches Problem bei der Arbeit sein kann, so nachhaltig beeinträchtigt es unter Umständen auch eine intime Beziehung. Deine Freundin kann einen falschen Eindruck bekommen, wenn du dich ständig ausklinkst und hinter irgendwelchen Turbulenzen her bist.»

Ich beobachtete Jim, während ich ihm erklärte, was unter einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung zu verstehen ist. Er beugte sich vor auf seinem Stuhl und sah mir ins Gesicht. Und bei jedem neuen Symptom, das ich erwähnte, begann er mit dem Kopf zu nicken. Ein Ausdruck der Erregung trat auf sein Gesicht, das so bekümmert gewesen war, als wir uns zum erstenmal getroffen hatten. «Als ich klein war», platzte er heraus, «hieß es immer ‹Erde an Jim, bitte kommen!› oder ‹Wo hat Jim nur wieder seinen Kopf?›, oder ‹Warum kannst du dich nicht zusammenreißen, Jim?› Meine Eltern und Lehrer dachten einfach, ich wäre faul. Deshalb bekam ich Strafen aufgebrummt, oder ich wurde angeschrien. Eine Zeitlang hab ich zurückgeschrien, aber dann habe ich gewissermaßen mit ihnen Frieden geschlossen. Ich meine, was kann man schon machen? Mein Vater hatte so eine Art, mir eine hinter die Ohren zu geben, wenn ich widersprach. Das war ziemlich brutal, wenn ich es mir überlege. Und deshalb überlege ich es mir nicht oft. Ich frage mich allerdings, warum ich nicht aufgegeben habe. Ich habe nie den Mut verloren. Ich erinnere mich noch an eine Lehrerin in der 6. Klasse, die mich seitenweise aus dem Erdkundebuch abschreiben ließ, weil ich meine Hausaufgaben verschlampt hatte. Sie sagte, wenn ich zugeben würde, daß ich die Hausaufgaben einfach nicht gemacht hätte, brauchte ich auch nichts abzuschreiben. Ich hatte die Scheißhausaufgaben aber gemacht und hatte deshalb keine Lust zu sagen, daß ich sie nicht gemacht hätte. Tja, und da ist sie vollkommen ausgeflippt und konnte einfach kein Ende mehr finden. Sie hat sich immer mehr reingesteigert und immer noch einen draufgesetzt, weil sie dachte, daß ich dann klein beigeben würde. Sie hat mir immer mehr Seiten zum Abschreiben aufgebrummt. Als sie bei hundert Seiten angekommen war, hat sie aufgehört. Ich habe die ganze Nacht geschrieben und hätte die hundert Seiten auch geschafft, wenn meine Mutter mich nicht mitten in der Nacht gefunden hätte. Sie bestand darauf, daß ich aufhöre. Und: Sie ist am nächsten Tag in die Schule gegangen und hat einen Riesenkrach gemacht. Die gute Miss Willmott mußte sich bei mir entschuldigen. Bei mir! Das war ausnahmslos der triumphalste Augenblick in meiner gesamten schulischen Laufbahn, und ich werde meine Mutter dafür immer lieben.

Ich wünschte nur, meine Eltern hätten damals gewußt, was Sie mir da jetzt erzählen», fuhr Jim fort. «Es hat so viele Auseinandersetzungen gegeben. Mein ganzes 9. Schuljahr ist in meiner Erinnerung ein einziger langer Krieg mit meinen Eltern. Sie haben sich da genauso reingesteigert wie Miss Willmott und immer noch einen draufgesetzt. Es lief bei ihnen alles darauf hinaus, daß ich mir nicht genug Mühe gebe, und deshalb haben sie mir immer mehr Strafen aufgebrummt, die aber alle nichts bewirkten. Es macht mich ganz krank, wenn ich daran zurückdenke. Meine Eltern konnten nichts dafür. Sie wußten nicht, was los war. Warum hat mir bloß bis jetzt noch niemand was davon gesagt?» fragte Jim erbittert.

«Weil man erst seit kurzem mehr darüber weiß», gab ich ihm zur Antwort.

 

Es läßt sich nicht sagen, wann ADD entstanden bedeutet das nun genau?» fragteist. Unruhige, hyperaktive Kinder hat es vermutlich gegeben, seit es überhaupt Kinder gibt. Und sie sind nicht gut behandelt worden.

Kinder sind im Laufe der Geschichte immer furchtbar schlecht behandelt worden – ein durch die Bank fast jeder Epoche der menschlichen Kulturgeschichte anhaftender, aber selten erwähnter dunkler Punkt; die Menschen differenzierten meist nicht groß, wenn es um Kinder ging, die sich «schlecht» benahmen. Nur allzu oft war es die einfach empfohlene Handlungsweise, diese Kinder zu schlagen beziehungsweise umzubringen, wie es in einigen Fällen vorgekommen war. In dem Teil seiner Natur, in dem der Mensch am unmenschlichsten ist, steckt etwas, das Vergnügen daran findet, kleinere und schwächere Wesen zu quälen, vor allem, wenn sie ihm lästig fallen oder ihn strapazieren. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wenn ich von den Kindesmißhandlungen berichten wollte, die die Menschheitsgeschichte verunstalten; ich erwähne sie nur im Zusammenhang mit ADD, weil es oft die überaktiven Kinder, die ADD-Kinder, waren, die den schlimmsten Mißhandlungen ausgesetzt waren. Erst seit kurzer Zeit gestehen wir Kindern Rechte zu, die über die Rechte von Tieren hinausgehen, und haben uns dazu durchgerungen, in ihrem «schlechten Benehmen» etwas anderes zu sehen als ein Vom-Teufel-besessen-Sein oder eine moralische Schwäche, die bestraft werden muß.

Deshalb überrascht es nicht, daß das Syndrom – das heute ADD genannt wird – zwar seit Jahrhunderten bekannt, bislang aber einfach mit «schlechtem Benehmen» in einen Topf geworfen worden ist. Und es wurde erst in diesem Jahrhundert als eine Krankheit angesehen, die nach ärztlicher Behandlung verlangt. Es ist zwar nicht bekannt, wer das Syndrom zuerst definiert hat, Anerkennung gebührt jedoch dem englischen Kinderarzt George Frederic Still, der im Jahr 1902 in Vorlesungen am Royal College of Physicians einige Kinder aus seiner Praxis beschrieb, die schwer lenkbar waren, Anzeichen von «Lawlessness» (Regellosigkeit) und mangelnder Willenshemmung («inhibitory volition») erkennen ließen und im allgemeinen laut, verlogen und eigensinnig waren. Und er stellte die Hypothese auf, daß die Krankheit nicht auf elterliches Versagen oder moralische Schlechtigkeit zurückzuführen, sondern vielmehr genetisch bedingt oder die Folge eines Geburtsschadens war.

Die Themen Geburtsschaden und Hirnschaden wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren mit dem Gedanken vom «hirngeschädigten Kind» fortgesetzt. Und selbst, wenn man eigentlich kein Anzeichen für eine neurologische Läsion finden konnte, mußte der «Hirnschaden» (brain damage) zur Erklärung unkontrollierten Verhaltens herhalten. In diesen Jahrzehnten setzte man erstmals – in manchen Fällen mit Erfolg – Stimulanzien (Amphetamine) als Hilfsmittel ein, um das Verhalten der Kinder in den Griff zu bekommen.

Neue Begriffe tauchten auf, einige davon recht anschaulich, so zum Beispiel «organische Triebhaftigkeit» (organic drivenness) andere eher blaß und verwaschen wie «minimale zerebrale Dysfunktion» (minimal brain dysfunction). Man mußte sich fragen, ob die Dysfunktion minimal war oder nicht vielmehr die Fähigkeit zu begreifen, was dabei vorging.

Wie Stella Chess im Jahr 1960 veröffentlichten um dieselbe Zeit auch andere Autoren erste Untersuchungen zum «hyperkinetischen Syndrom des Kindesalters» (hyperactive child syndrome), die sämtlich die Hyperaktivitätssymptomatik aus jeglichem gedanklichen Zusammenhang mit einem etwaigen Hirnschaden herauslösten. Für Chess war die Symptomatik Teil einer «physiologischen Hyperaktivität» ( physiologic hyperactivity), deren Ursachen man nicht in der Umwelt, sondern in biologischen Faktoren zu suchen hatte.

In den siebziger Jahren untersuchten dann namhafte Wissenschaftler das Hyperaktivitätssyndrom. In Kanada erforschte Virginia Douglas auf breiter Basis die Symptome, die mit Hyperaktivität einhergingen, und entdeckte vier Hauptmerkmale, die das klinische Bild erklärten: 1. Aufmerksamkeits- und Leistungsschwäche, 2. Impulsivität, 3. Schwierigkeiten mit der Regulierung des Aktivierungsniveaus, 4. das Bedürfnis nach sofortiger Bekräftigung. Und es ist weitgehend auf ihre Arbeit zurückzuführen, daß das Syndrom 1980 in den USA in ADD(Attention Deficit Disorder) umbenannt wurde.

Im darauffolgenden Jahrzehnt gab es eine Fülle von Untersuchungen. Die aktuellste und genaueste Darstellung der Geschichte und des gegenwärtigen Standes der Dinge in diesem Bereich ist in einem Buch von Russell Barkley, einem der großen Forscher auf diesem Gebiet, zu finden; sein Buch trägt den einfachen Titel «Attention Deficit Hyperactivity Disorder».

 

«Und was bedeutet das nun genau?» fragte mich Jim. «Bedeutet es, daß ich unterbelichtet bin?»

«Ganz und gar nicht. Aber das sollte nicht ich Ihnen, das sollten Sie mir sagen. Sind Sie unterbelichtet?» fragte ich.

«Nein, das bin ich nicht. Ich weiß, daß ich nicht unterbelichtet bin», sagte Jim nachdrücklich. «Ich habe nur mein ganzes Leben lang damit Probleme gehabt, das, was in mir ist, aus mir herauszukriegen.»

«Genau», sagte ich, «das kann bei verschiedenen Menschen verschiedene Ursachen haben, bei Ihnen glaube ich, daß es auf ADD zurückzuführen ist.»

«Kommt das häufig vor?» fragte er.

«Man geht davon aus, daß fünfzehn Millionen Menschen in unserem Land ADD haben, Kinder ebenso wie Erwachsene. Männer sind häufiger davon betroffen als Frauen, etwa in einem Verhältnis von drei zu eins. Wir wissen nicht genau, was ADD verursacht, aber die besten Anhaltspunkte stammen aus dem genetischen Bereich. Andere Faktoren wie etwaige Probleme bei der Geburt mögen hinzukommen, aber die Hauptursache ist genetischer Art. Irgendwelche Umweltfaktoren können natürlich alles verschlimmern, sie sind aber nicht die Ursache.»

«Sie meinen, meine Mutter hat mich nicht verpfuscht?» fragte er ironisch.

«Nicht, was das betrifft. Vielleicht in anderer Hinsicht, wer weiß. Wollen Sie ihr Vorwürfe machen?»

«Nein, nein. Aber ich möchte irgend jemandem die Schuld daran geben. Nicht die Schuld daran geben, ich möchte einfach mal Dampf ablassen. Es fuchst mich wirklich gewaltig, daß mir bis jetzt noch nie jemand etwas davon gesagt hat. Wenn ich nun mal so gepolt bin -»

«Dann», unterbrach ich ihn, «brauchen Sie sich nicht die Schuld daran zu geben.»

«Und nichts anderes habe ich natürlich die ganze Zeit getan. Aber seien Sie ehrlich, der Fehler liegt doch bei mir. Ich meine, es ist schließlich egal, ob ich ADD habe oder XYZ – ich hab’s vermasselt; ich hab’s vermasselt, und in meinem Alter muß man selber dafür den Kopf hinhalten. Habe ich nicht recht?»

«In gewisser Weise schon», sagte ich und rieb mir die Schulter, als hätten seine Worte einen längst vergangenen Schmerz wieder aktiviert. «Doch was bringen all diese Selbstvorwürfe? Ich möchte Ihnen einen Begriffsrahmen vermitteln, den Sie brauchen, um sich so zu verstehen, daß Sie Nachsicht mit sich haben und weitermachen können.»

«O.k.», sagte Jim. «Das verstehe ich. Trotzdem, was ist der springende Punkt? Können Sie etwas dagegen tun?»

«Menschen mit ADD sind immer ganz scharf auf springende Punkte», sagte ich lachend. «Da heißt es immer (Kommen wir zur Sache›, ‹Und wie geht es weiter?›, ‹Was ist der Knackpunkt?›»

«Ja, da haben Sie recht», meinte Jim. «Mich interessiert nicht der Weg, mich interessiert das Ziel. Ist das verwerflich?»

«Ich wollte Sie nicht unter Anklage stellen. Ich habe selbst ADD, ich weiß, wie das ist.»

«Sie haben ADD?» fragte Jim, sichtlich erschrocken. «Sie wirken so ruhig.»

«Übung», sagte ich lächelnd. «Ich bin eigentlich überzeugt, daß es auch bei Ihnen Zeiten gibt, in denen Sie ganz locker und konzentriert sind. Für mich sind das die Zeiten, wo ich, wie jetzt, bei der Arbeit bin. Aber das Üben ist auch wichtig. Und das mache ich mit Ihnen auch.»

An diesem Punkt begann Jims Behandlung. Genaugenommen hatte sie bereits begonnen. Es macht für die meisten Menschen schon einen großen Teil der Behandlung aus, wenn sie über ihr Syndrom etwas erfahren und schließlich entdecken, daß es einen Namen dafür gibt.

«Was ist bloß los mit mir?» fragte Jim während einer Sitzung. «Ich geb mir wirklich Mühe, nicht grob zu werden. Aber da ruft mich dieser Kerl an und redet gleich auf mich ein, ich habe ihm die falschen Sachen geschickt, dabei habe ich ganz genau gewußt, daß es die richtigen Sachen waren, bloß er hat nicht gewußt, daß es die richtigen Sachen waren, und deshalb hat er gedacht, es sind die falschen, und darum hat mich das sofort aufgebracht. Aber was mich noch mehr aufgebracht hat, war sein Ton. Können Sie sich das vorstellen? Ich wußte vom ersten Augenblick an, als er da am Telefon loslegte, daß ich am liebsten auflegen oder ihm eins auf die Nase geben würde.»

«Sie hatten so etwas wie eine Wutreaktion», schlug ich vor.

«Haargenau. Und mir schwillt schon wieder der Kamm, wenn ich jetzt daran denke. Deshalb habe ich versucht, das zu tun, was Sie mir gesagt haben: den Mund zu halten und an die Konsequenzen zu denken. Der Mann war ein guter Kunde. Ich wollte ihn nicht verlieren, und ich wollte auch nicht, daß er mich bei seinen Bekannten anschwärzt. Also hab ich geschwiegen. Aber je länger ich schwieg, desto mehr hat er geredet, hat mit dieser schleppenden, monotonen Stimme immer und immer weitergeredet, und ich hätte ihn am liebsten angeschrien: ‹Nun komm doch endlich zur Sache!› Aber statt dessen hab ich mich bloß geräuspert. Aber da sagte er zu mir: ‹Unterbrechen Sie mich nicht, ich bin noch nicht fertig.› Na ja, und da bin ich ausgerastet. Ich hab ihm gesagt, daß wir vermutlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag telefonieren könnten und er dann immer noch kein Ende finden würde und daß ich etwas Besseres zu tun hätte, und dann habe ich aufgelegt. Können Sie sich das vorstellen?»

Ich lachte. «Ich finde, Sie haben das sehr gut gemacht. Wenigstens bis zu dem Moment, wo Sie ausgerastet sind. Der Kerl hat Ihnen auf den Nerven herumgegeigt. Und sehen wir der Tatsache ins Auge: Es wird immer wieder Situationen geben, wo Sie in Rage geraten und ausrasten. Das wird durch die Behandlung von ADD nicht ganz beseitigt, und das wollen Sie doch auch gar nicht, oder?»

«Eigentlich nicht. Aber gehört diese Wutreaktion, wie Sie es nennen, zu ADD dazu?»

«Ja», sagte ich. «Das gehört mit zur Impulsivität dazu. Wenn Sie sich ADD als eine elementare Hemmschwäche vorstellen, verstehen Sie leichter, warum Menschen mit ADD schneller in Wut geraten. Sie zügeln ihre Impulse nicht so gut wie andere Menschen. Ihnen fehlt die kleine Pause zwischen Impuls und Handeln, die die meisten Menschen befähigt, innezuhalten und nachzudenken. Die Behandlung hilft dabei, aber sie führt nicht zu einer völligen Heilung.»

«Wissen Sie, was das Lustige war?» fragte er. «Der Kerl hat am nächsten Tag noch mal angerufen und hat gesagt, es tut ihm leid, daß wir am Tag vorher ein Verständigungsproblem hatten und ob wir vielleicht noch mal von vorne anfangen könnten. Ein Verständigungsproblem, können Sie sich so was vorstellen? Ich habe gesagt: Ja, sicher, nur lassen Sie diesmal mich anfangen. Und ich habe ihm in zehn Sekunden erklärt, warum das, was ich ihm geschickt habe, genau das ist, was er braucht. Er hat gesagt, er hat es verstanden, und vielen Dank. Ich habe gesagt: ‹Nein, ich muß mich bei Ihnen bedanken, und das Verständigungsproblem gestern tut mir leid›, und wir haben uns verabschiedet wie die allerbesten Freunde.» Jim schlug sich mit der Hand aufs Knie.

«Na, was sagen Sie dazu? Ihr Schutzengel muß auf dem Posten gewesen sein.»

«Aber wo kommt diese Wut denn her?»

«Können Sie es mir nicht sagen?» fragte ich.

«Sie hat sich wohl im Lauf der Jahre angestaut. Als kleiner Junge war ich durcheinander, aber ich war nicht wütend. Die Wut muß sich wohl während der Schulzeit in mir aufgestaut haben. Die ganzen Reinfälle, die ganzen Frustrationen.» Jim ballte ohne es zu merken die Fäuste, während er über seine Gefühle sprach. «Es kam so weit, daß ich, schon bevor ich etwas anfing, wußte, da wird nichts draus. Und so hatte ich nichts als meine Beharrlichkeit. Ich habe einfach nicht aufgegeben. Aber, verdammt noch mal, warum nicht, bei all den Pleiten, die ich für meine Mühen vorzuweisen hatte?»

 

Jim kam jetzt in eine Phase, die einen großen und sehr wesentlichen Teil von ADD ausmacht, wenngleich sie genaugenommen nicht direkt zum neurologischen Syndrom gehört. Er begann über die sekundären psychologischen Probleme zu sprechen, die sich in charakteristischer Weise im Gefolge des primären neurologischen Problems entwickeln.

Infolge sich ständig wiederholender Pleiten, Mißverständnisse und Fehletikettierungen bekommen Kinder mit ADD gewöhnlich zunehmend Probleme mit ihrem Selbstbild und ihrem Selbstwertgefühl. Man sagt ihnen ihre ganze Kindheit hindurch, daß sie einen Defekt haben. Man nennt sie dumm, beschränkt, faul, eigensinnig, verlogen oder garstig. Sie bekommen dauernd Ausdrücke wie «Hans-guck-in-die-Luft» oder «Tagträumer» oder «Konfusionsrat» zu hören. Sie sind immer schuld daran, wenn es bei den Mahlzeiten Theater gibt oder der Familienurlaub zur Katastrophe wird. Sie müssen sich für allen möglichen Unfug, den andere in der Klasse treiben, tadeln lassen und werden in der Schule gern zum Sündenbock gemacht. Sie sind Gegenstand häufiger Eltern-Lehrer-Konferenzen. Immer wieder trifft sich ein aufgebrachter Lehrer mit einem frustrierten Elternteil zu einer Besprechung, deren Brisanz sich später über dem Kind entlädt, das nicht dabei gewesen ist. Es bekommt die Nachbeben hinterher zu spüren. «Weißt du, was deine Lehrerin gesagt hat? Weißt du, wie peinlich das deiner Mutter und mir gewesen ist?» Oder von seiten des Lehrers: «Ich verstehe, daß du dich zu Hause auch nicht besser unter Kontrolle hast als in der Schule. Daran müssen wir arbeiten, nicht wahr?»

Monat für Monat, Jahr für Jahr läuft immer und immer wieder die Negativismusplatte, bis sie für das Kind zur vertrautesten Stimme wird. «Du bist böse», sagt sie auf viele verschiedene Arten. «Du bist dumm. Du hast ein Brett vor dem Kopf. Du bist eine Null. Du kannst einem wirklich nur leid tun.» Und diese Stimme zieht das Selbstwertgefühl des Kindes immer tiefer herab aus der Reichweite vielleicht schon hilfreich ausgestreckter Hände in die hermetisch abgeschlossene Welt jugendlicher Selbstvorwürfe. Es bedeutet für Kinder ein Stück harte Arbeit, sich in der Pubertät selber zu mögen. Für Kinder mit ADD ist es aber besonders schwer.

«Sie haben in Ihrem Bemühen nicht nachgelassen, das muß aber schwer gewesen sein», sagte ich zu Jim.

«Das kann man wohl sagen», gab Jim mir mit einem Anklang von Trauer in der Stimme zur Antwort, als wollte er mir bedeuten: «Und das ist noch längst nicht alles.»

«Erzählen Sie mir davon», sagte ich.

«Ich weiß bloß nicht, wo ich anfangen soll. Im High-School-Alter hatten sie mich dann fast davon überzeugt, daß ich nun mal dämlich bin. Ich meine, ich hatte einfach den Durchblick nicht. Ich konnte das Zeug im Unterricht verstehen. Ich konnte folgen, wenn etwas erklärt worden ist. Ich war manchmal in Gedanken sogar schon einen Schritt voraus. Aber wenn ich Arbeiten schreiben, meine Aufgaben organisieren oder Tests schreiben sollte, war einfach alles wie weggeblasen. Ich hab’s versucht. Glauben Sie mir, ich habe es immer und immer wieder versucht. Man hat mir andauernd in den Ohren gelegen, daß ich es nicht versuchen würde, aber ich habe es versucht. Es ist bloß so, daß der größere Vorschlaghammer nicht funktioniert hat. Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen, und ehe ich mich versah, war ich schon wieder weg. Bei etwas anderem. Lesen. Musik hören. Und dann habe ich mich wieder gefangen, habe den nächsten Versuch gemacht und bin wieder an die Arbeit gegangen, aber es hat verdammt nicht hingehauen.» Jims Stimme klang belegt, und er wurde rot im Gesicht.

«Es geht alles immer wieder von vorne los, was?» sagte ich.

«Aber wirklich. Sie haben mir gesagt, daß ich mich noch mehr anstrengen soll. Immer und immer wieder. Und ich habe mich noch mehr angestrengt, und es hat nicht funktioniert. Schließlich habe ich gedacht, daß mein Grips nicht dafür ausreicht. Und ich wußte im selben Moment, daß das nicht stimmt. Aber es hat einfach nicht funktioniert.»

«Deshalb sind Sie dauernd frustriert gewesen. Kein Wunder, daß Sie eine Wut im Bauch hatten.»

«Glauben Sie, daß ich deswegen angefangen habe zu trinken? Ich fühle mich besser, wenn ich ein paar Gläser intus hatte. Aber geht das nicht jedem so?»

«Sicher», stimmte ich zu. «Aber Sie haben wahrscheinlich spezielle Gründe dafür, daß Sie trinken. Sie haben zur Selbstmedikation gegriffen. Das tun viele Leute mit ADD. Alkohol, Marihuana, Kokain, das ist alles verbreitet. Und jede dieser Drogen hat auf ihre Weise eine beruhigende Wirkung. Aber nur für kurze Zeit. Auf lange Sicht haben sie alle verheerende Folgen.»

«Ich glaube, das habe ich geahnt. Deshalb habe ich es wahrscheinlich auch nie zur Gewohnheit werden lassen. Ich dachte, das wäre dann wohl wirklich die Endstation für mich.» Jim schwieg einen Augenblick. «Wieso Kokain? Ich dachte, das möbelt einen auf.»

«Bei den meisten Menschen hat es diese Wirkung. Für Menschen mit ADD ist es allerdings eine Konzentrationshilfe. Deshalb betreiben sie, ohne es zu wissen, Selbstmedikation, wenn sie Kokain schnupfen.»

«Im Ernst? Na, wie auch immer, ich bin bloß froh, daß ich etwas über ADD erfahren habe, bevor auch noch der Rest meines Lebens rum ist.»

«Wie hat es sich auf ihre Beziehungen zu anderen Menschen ausgewirkt?» fragte ich.

«Ich habe damals nicht darüber nachgedacht. Aber die vielen Dinge, über die wir gesprochen haben, sind mir bei Freunden, bei Mädchen und auch bei anderen Menschen in die Quere gekommen. Ich wollte nicht zuhören –»

«Konnte nicht zuhören», verbesserte ich ihn.

«O.k., konnte nicht zuhören. Alle anderen dachten aber, ich wollte nicht. Ich bin zu irgendwelchen Sachen zu spät gekommen oder bin überhaupt nicht erschienen, weil ich es vergessen hatte. Ich habe irgendwelche Dinge nicht richtig verstanden und deshalb eine falsche Antwort gegeben – Sie kennen ja die Geschichte. Die Leute dachten, daß ich arrogant oder einfach kalt wäre. Zugegeben, mir sind da ein paarmal die Sicherungen durchgeknallt. Wenn mich irgend jemand wegen irgendwas anrief, habe ich ihm gesagt, er kann mich mal. Das hat nicht unbedingt zu meiner Beliebtheit beigetragen. Ich hatte aber trotzdem noch Freunde. Und was das Wichtigste für mich war, Pauline hat zu mir gehalten. Ich frage mich manchmal, warum. Ich hab Sachen vergessen, bin oft nicht gekommen, bin grundlos in Wut geraten oder in Trübsal verfallen. Ich habe mich mit ihr unterhalten und bin dann plötzlich in irgendeinen Tagtraum verschwunden. Ich hab ihr versprochen, daß wir irgendwas zusammen unternehmen, und hab’s dann vergessen. Irgendwie hat sie mich nicht im Stich gelassen. Das ist aber sicher nicht leicht gewesen. Es schien immer, als ob wir mitten in einer potentiellen Auseinandersetzung wären. Es war immer ein Streit im Busch. Wenn ich mal wieder Bockmist bei der Arbeit gemacht hatte, hat sie mich getröstet, obwohl sie sicher gedacht hat: Was ist bloß mit diesem Kerl los? Ich hab es schließlich selber gedacht. Ohne Pauline hätte ich wohl nicht so lange weiterleben können. Sie ist unglaublich. Aber unsere Beziehung war ein harter Brocken für sie. Ich bin nun mal ein schwieriger Typ, ich weiß das. Ich weiß, daß ich zum Verzweifeln bin, ich könnte über mich selbst verzweifeln. Ich wünschte wahrhaftig, ich wär nicht so. Glauben Sie mir, ich mache das nicht absichtlich. Pauline ist in ihrem tiefsten Inneren wohl auch davon überzeugt. Wie hätte sie sonst zu mir halten können?»

«Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber Sie sind ein netter Kerl, Jim. Und die Menschen nehmen Ihre störenden Gewohnheiten in Kauf, weil Sie sie auf andere Weise dafür entschädigen.»

Ein wesentliches und oft übersehenes Charakteristikum von beidem – Lernschwäche wie ADD – ist die Konsequenz im sozialen Bereich für Menschen mit ADD. Diese Krankheit kann zwischenmenschliche Beziehungen auf dieselbe dramatische Weise beeinträchtigen wie die Leistung beim Studium oder bei der Arbeit. Wenn man Freunde gewinnen will, muß man zuhören können. Wenn man in einer Gruppe zurechtkommen will, muß man dem folgen können, worüber in der Gruppe gesprochen wird. Soziale Signale sind oft subtil: verengte Augen, hochgezogene Brauen, eine leichte Veränderung im Stimmklang, ein schräggelegter Kopf. Menschen mit ADD bekommen diese Signale oft genug nicht mit. Das führt zu regelrechten sozialen Entgleisungen oder einem allgemeinen Gefühl des Ausgeschlossenseins. Besonders in der Kindheit, wo soziale Transaktionen so schnell vor sich gehen und der Regelverletzer so mitleidlos behandelt wird, kann ein episodischer Mangel an sozialer Aufmerksamkeit infolge der Ablenkbarkeit und Impulsivität, die zu ADD gehören, die Akzeptanz durch eine Gruppe verhindern oder einen eine Freundschaft kosten.

«Ich wundere mich manchmal, daß ich so weit gekommen bin und daß mich noch keiner umgebracht hat», lachte Jim. «Muß das Glück der Iren sein.»

«Schon möglich», sagte ich. «Aber vielleicht haben Sie im Laufe der Zeit, ohne es zu merken, ein paar kleine Tricks gelernt. Daß Sie ADD haben, ist gewissermaßen mit in ihre ethnische Erbmasse eingegangen. Es hat Sie im selben Maße bis ins innerste Mark geprägt wie der irische Volkscharakter, nur auf andere Weise.»

Jims Behandlung dauerte ungefähr ein Jahr. Sie umfaßte eine Psychotherapiesitzung einmal die Woche und Medikamente in kleinen Dosen. Die psychotherapeutische Behandlung war eher eine Art Training als Psychotherapie im herkömmlichen Sinne, insofern sie erzieherisch, informativ, orientierend und ausgesprochen ermutigend war. Ich feuerte Jim gewissermaßen von der Seitenlinie aus an. Ich half ihm beim Aufbau eines neuen Selbstverständnisses, in dem er seiner ADD Rechnung trug, und ich half ihm bei der Suche nach Möglichkeiten, Ordnung und Zusammenhalt in sein Leben zu bringen, so daß ihm ADD nicht mehr so in die Quere kommt. Die medikamentöse Behandlung unterstützt die Ausbildung von Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer. Sie unterdrückt das Rauschen im Sender, wie er es formulierte.

Wir werden die Behandlung im einzelnen in Kapitel 8 erläutern, doch folgt hier zur Einführung ein Überblick über die wirksamsten Komponenten der Therapie. Man beachte, daß die medikamentöse Behandlung von ADD zwar merklich Hilfe bringt, daß sie aber keineswegs die ganze Therapie ist. Ein umfassendes Trainingsprogramm erzielt die beste Wirkung.

Die Behandlung von ADD

Ein Überblick

Diagnose: Der erste Schritt zur Behandlung ist das Erstellen der Diagnose. Sie ruft beim Patienten oft große Erleichterung hervor, wenn ihm klar wird: «Endlich gibt es einen Namen dafür!» Mit der Diagnose beginnt die Therapie.

Aufklärung: Je umfassender das Bild ist, das man sich von ADD verschafft, desto erfolgreicher ist die Therapie. Mit gründlicher Einsicht in das Wesen von ADD erkennt man besser, wo sie in das eigene Leben eingreift und was man gegen sie tun kann. Sie gibt einem überdies ein wichtiges Hilfsmittel in die Hand, andere über sie ins Bild zu setzen.

Strukturieren: Struktur meint die Begrenzungen und Kontrollen von außen, die Menschen mit ADD so dringend benötigen. Konkrete, praktische Hilfsmittel wie Listen, Gedächtnisstützen, Zettelkästen, Terminkalender, Zielsetzungen, Zeiteinteilung und dergleichen können das innere Chaos in einem ADD-Leben stark verringern und die Produktivität sowie das Gefühl der Souveränität verbessern.

Training und/oder Psychotherapie:ADD