Zwangsstörungen erfolgreich behandeln - Ulrich Förstner - E-Book

Zwangsstörungen erfolgreich behandeln E-Book

Ulrich Förstner

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Beschreibung

Das praxisorientierte Manual stellt die Therapie von Zwangsstörungen anhand zahlreicher Fallbeispiele vor. Es kombiniert aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und die langjährige klinische Erfahrung des Autorenteams. Neben der Psychotherapie werden auch die Pharmakotherapie und andere Behandlungsansätze aufgezeigt und verschiedene Strategien z.B. bei Zwangshandlungen, Zwangsgedanken, schwierigen Therapiesituationen, Komorbiditäten oder Therapieresistenz vermittelt. Arbeitsblätter zum direkten Einsatz in der Einzel- und Gruppentherapie sowie ausführliche Fallbeschreibungen stehen zum Download bereit.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort

Übersicht der Zusatzmaterialien

Vorwort für die 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1 Diagnose und Behandlung der Zwangserkrankung

1.1 Epidemiologie und Klinik der Zwangserkrankungen

1.1.1 Zwänge im Erwachsenenalter

1.1.2 Zwänge im Kindes- und Jugendalter

1.2 Diagnostische Kriterien

1.2.1 ICD-Klassifikation

1.2.2 DSM-Klassifikation

1.2.3 Instrumente zur Diagnostik

1.3 Differenzialdiagnosen und Komorbidität

1.3.1 Affektive Störungen

1.3.2 Schizophrenie

1.3.3 Suchterkrankungen

1.3.4 Angststörungen

1.3.5 Persönlichkeitsstörungen

1.3.6 Essstörungen

1.3.7 ADHS

1.3.8 Zwänge bei Autismus-Spektrum-Störungen

1.3.9 Zwänge bei neurologischen Erkrankungen

1.4 Zwangsspektrumsstörungen: Mit Zwangsstörungen verwandte Störungen

1.4.1 Klassifikation der Zwangsspektrumstörungen

1.4.2 Körperdysmorphe Störungen

1.4.3 Olfaktorische Referenzstörung (Eigengeruchswahn)

1.4.4 Hypochondrische Störung

1.4.5 Pathologisches Horten

1.4.6 Körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen

1.4.7 Tic-Störungen

1.5 Neurobiologische Erklärungsmodelle

1.5.1 Genetik

1.5.2 Neuropsychologie

1.5.3 Serotoninhypothese

1.5.4 Dopaminerge und glutamaterge Dysfunktion bei Zwangsstörungen

1.5.5 Bildgebende Befunde und Erklärungsmodelle

1.6 Psychologische Erklärungs- und Behandlungsmodelle

1.6.1 Psychodynamische Modelle

1.6.2 Lerntheoretische Modelle

1.6.3 Integrative Betrachtungen zur Behandlung von Zwängen

1.6.4 Empirische Untersuchungen (Untersuchungsbefunde) zur Ätiologie

1.7 Alternative und ergänzende Therapieformen

1.7.1 Metakognitive Therapie

1.7.2 Achtsamkeitsbasierte Ansätze

1.7.3 Akzeptanz- und Commitment-Therapie

1.7.4 Systemische Ansätze

1.7.5 Psychoedukative Gruppentherapie

1.7.6 Selbsthilfetechniken und gestufte Begleitung

2 Störungsspezifische Psychotherapie der Zwangsstörung

2.1 Psychotherapie der Zwangsstörungen – die wissenschaftliche Evidenz

2.1.1 Stand der Leitlinien

2.1.2 Ergebnisse von Psychotherapie-Studien bei Zwangsstörungen

2.1.3 Kognitive vs. »reine« Verhaltenstherapie

2.1.4 Langfristige Effekte von KVT

2.1.5 Hochintensive Exposition im Blockformat

2.1.6 Prädiktoren für Response

2.1.7 Wirksamkeit von KVT und Exposition als Gruppentherapie

2.1.8 Wissenschaftliche Datenlage bei anderen Psychotherapieverfahren

2.1.9 Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen

2.1.10 Internettherapien

2.2 Einleitung und »Gebrauchsanweisung« für das »Therapiemanual«

2.3 Gestaltung der therapeutischen Beziehung

2.4 Eingangsphase der Therapie und Motivationsaufbau

2.5 Diagnostische Phase

2.6 Verhaltensanalyse

2.6.1 Kognitiv-Emotionale Grundlagen

2.6.2 Hypothesen zur Funktionalität

2.7 Zielanalyse

2.8 Störungsspezifische Techniken in der Einzel- und Gruppentherapie

2.8.1 Psychoedukation in Einzel- oder Gruppentherapie

2.8.2 Einführung der Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM)

2.8.3 Vermittlung psychologischer Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen

2.8.4 Erarbeitung eines individuellen multifaktoriellen Entstehungsmodells

2.8.5 Spezielle Techniken

2.8.6 Gemeinsamer Entschluss zur Reizkonfrontation

2.9 Durchführung der Reizkonfrontation

2.9.1 Reflexion der Erfahrungen aus der ERM für die weitere Therapie

2.9.2 Reflexion von Schwierigkeiten während und nach der Reizkonfrontation

2.9.3 Neuere Erkenntnisse zur Exposition

2.9.4 Einbeziehung von Angehörigen

2.10 Therapeutische Bearbeitung grundlegender Problembereiche

2.10.1 Beendigung der Therapie, Transfer der Therapieerfahrungen in den Alltag und Rückfallprophylaxe

2.11 Besonderheiten bei Kontrollzwängen, Wiederholungszwängen

2.11.1 Beschreibung des Störungsbildes

2.11.2 Fallbeispiel: Stationäre multimodale Behandlung eines Patienten mit Kontrollzwängen

2.12 Aggressive, blasphemische oder sexuelle Zwangsgedanken

2.12.1 Besonderheiten des Störungsbildes

2.12.2 Zeitliche Abfolge bei der Therapie von Patienten mit Zwangsgedanken

2.12.3 Analyse des Zwangssystems (mod. nach Hoffmann und Hofmann 2018)

2.12.4 Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsgedanken

2.12.5 Vorbereitung und Durchführung der ERM bei aggressiven Zwangsgedanken

2.12.6 Fallbeispiel: Reizkonfrontation bei aggressiven Zwangsgedanken (Herr K.)

2.12.7 Besonderheiten bei blasphemischen oder religiösen Zwangsgedanken

2.12.8 Besonderheiten bei magischen Zwangsgedanken

2.13 Besonderheiten bei Wasch- und Reinigungszwängen

2.13.1 Besonderheiten in der Reizkonfrontation bei Waschzwängen

3 Störungsspezifische Pharmakotherapie der Zwangsstörungen

3.1 Stellenwert der Pharmakotherapie im Verhältnis zur Psychotherapie

3.2 Historie der Pharmakotherapie der Zwangsstörungen

3.3 Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

3.3.1 Zeitverlauf und Dosisabhängigkeit der SSRI-Wirkung bei Zwangsstörungen

3.3.2 Ungeklärte Fragen im Zusammenhang mit der Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen

3.3.3 Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen und Depression

3.3.4 Nebenwirkungen von SSRIs

3.3.5 Pharmakotherapie von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter

3.4 Pharmakotherapie bei Therapieresistenz

3.4.1 Ursachen und Gründe für Therapieresistenz

3.4.2 Wechsel des SSRIs

3.4.3 Clomipramin

3.4.4 Medikamente zur Wirkungsverstärkung von SSRI (Pharmakologische Augmentation)

3.4.5 Elektrokrampftherapie

3.4.6 Hirnstimulationsverfahren

3.4.7 Psychochirurgie

3.4.8 Übersicht: Empfehlungen bei Therapieresistenz auf medikamentöse Therapie

Zusatzmaterial zum Download

Literatur

Stichwortverzeichnis

Die Autoren

Dr. med. Ulrich Förstner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet den Schwerpunkt Zwangsstörungen an der Klinik Bad Aussee für Psychosomatik und Psychotherapie, assoziiert an die Medizinische Universität Graz. Er ist vor allem als Kliniker aktiv und engagiert sich für eine Verbesserung der Behandlung von Patienten mit Zwangsstörungen in Österreich. Daneben ist er als Dozent und Lehrtherapeut an verschiedenen Instituten tätig.

Dr. phil. Anne Katrin Külz ist niedergelassene psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Freiburg. Zuvor leitete sie mehrere Jahre die Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Freiburg. Sie ist als Dozentin und Supervisorin für Verhaltenstherapie an verschiedenen Ausbildungsinstituten tätig und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.

Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Master of Medical Education (Universität Bern). Er ist Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck, Prien am Chiemsee und leitet eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Leiter des Revisionsprozesses der S3-Leitlinie Zwangsstörungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.

Ulrich FörstnerAnne Katrin KülzUlrich Voderholzer

Zwangsstörungenerfolgreich behandeln

Ein fallorientiertes Therapiemanual

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., überarbeitete Auflage 2023

Die 1. Auflage erschien unter dem Buchtitel »Störungsspezifische Behandlung der Zwangsstörungen – Ein Therapiemanual«.

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038342-5

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-038343-2epub: ISBN 978-3-17-038344-9

Geleitwort

Zwangsstörungen sind oft eindrucksvolle psychische Erkrankungen. Dazu tragen ihre Skurrilität, ihre Sinnlosigkeit, ihre komplexen Rituale und ihre hartnäckige Wiederkehr bei. Für die betroffenen Personen bedeuten sie meist eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität und ihres Aktionsradius, nicht selten bedeuten schwere Zwangsstörungen eine lebenslange Qual, ein Leben wie in einem Gefängnis. Es gibt wohl kaum eine psychische Störung, die so gut verheimlicht werden kann und sich oft im Verborgenen abwickelt und gleichzeitig so starke Auswirkungen auf das alltägliche Leben hat, wie Zwangsstörungen. Der Anteil der durch Zwänge arbeitsunfähigen Menschen ist nach verschiedenen Studien erschreckend hoch. Epidemiologische Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass Zwangsstörungen zu den relativ häufigen seelischen Erkrankungen gehören, obwohl sie sich im Vergleich seltener der Behandlung stellen. Dies wusste bereits Freud, als er sagte, dass viel mehr Menschen an Zwangsneurosen leiden, als es den Ärzten bekannt ist.

Unter den Psychotherapeuten haben Zwangsstörungen eher einen zwiespältigen Ruf. Sie zählen nicht zu den beliebtesten Störungen. Sicherlich gehören sie nicht zu den »Mode-Erkrankungen« der letzten Jahrzehnte, wie etwa Borderline-Störungen, ADHS des Erwachsenenalters oder neuerdings der hochfunktionale Autismus des Erwachsenenalters. Es gibt viele Psychotherapeuten, die nicht gerne Zwangsstörungen behandeln, vermutlich wegen der Hartnäckigkeit der Symptomatik, der eher aufwändigen Therapien. Rasche Erfolge mit schnellen symptomatischen Besserungen durch Konfliktaktualisierungen sind bei Zwangsstörungen nicht zu erwarten. Einem Therapeuten, der denkt, einem guten Therapeuten stehen grundsätzlich schnelle und nachhaltige Therapieerfolge zu (und sich für einen solchen hält), fehlt bei Zwangspatienten oft die schnelle Gratifikation und er kann sich leicht Kränkungen einhandeln.

Auf der anderen Seite sind Zwangsstörungen gerade unter dem Gesichtspunkt der Neuropsychotherapie auf größtes Interesse gestoßen, da es bestimmte Auffälligkeiten des Hirnstoffwechsels gibt, die mit den Symptomen assoziiert sind und sich offensichtlich durch erfolgreiche Psychotherapie verändern lassen.

Die wissenschaftliche Datenlage zur Psychotherapie der Zwangsstörungen hat sich seit knapp 50 Jahren ganz einseitig zugunsten der verhaltenstherapeutischen Methode entwickelt. Diese haben sich aber mit den Jahren ausdifferenziert und schließen in der Praxis integrative Elemente mit ein. Das vorliegende Buch der Autoren Külz, Förstner und Voderholzer ist in erster Linie ein Buch, welches sehr ausführlich das praktische Vorgehen der kognitiven Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen beschreibt. Besonders erfreulich ist die Integration von sehr vielen guten Fallbeispielen, nicht nur bei der Darstellung der Symptomatik, sondern auch bei der Beschreibung der therapeutischen Interventionen. Dies macht das Buch zu einem geeigneten Manual für Psychotherapeuten in Ausbildung, aber auch für erfahrene Psychotherapeuten, die sich bezüglich der störungsorientierten Psychotherapie von Zwangsstörungen weiterbilden möchten. Darüber hinaus enthält das Buch eine hervorragende Übersicht über die Epidemiologie, die Symptomatik, Komorbidität und auch sonstiger Aspekte, wie die neurobiologischen und psychologischen Ursachen dieser Erkrankung. Die Literatur wurde umfassend berücksichtigt. Auch alle sonstigen Therapiemethoden wie Pharmakotherapie und auch neuere, bisher wissenschaftlich noch ungenügend untersuchte, Psychotherapieansätze sind in dem Buch dargestellt. Dass immer wieder auch herausgearbeitet wird, wo wir heute noch Wissenslücken haben, unterstreicht die Redlichkeit des Buches. Neben der Weiterentwicklung empirischer Evidenz scheint mir für die Zukunft auch die Weiterentwicklung von Modellen wünschenswert, die den bereits jetzt reichen Fundus an Evidenz und klinischem Wissen weiter integrieren helfen und damit auch den Zugang für Patienten und Therapeuten erleichtern.

Hervorheben möchte ich die Berücksichtigung der vielfältigen Verbindungen zu biografischen Besonderheiten und interpersonalen Auffälligkeiten sowie der Anforderungen in der Therapiebeziehung. In all diesen Aspekten lassen sich Zwangspatienten offensichtlich nicht über einen Kamm scheren. Im Einzelfall erweisen sich diese Aspekte aber immer wieder als essenziell, was die Bedeutung guter individueller Fallkonzeptionen unterstreicht, die nicht an den Grenzen des Störungsspezifischen haltmacht, sondern den Menschen mit Zwängen als Ganzes einbezieht. Die im Buch herausgearbeitete Bedeutung der Ressourcen des Patienten und seines Bedürfnisses, vom Therapeuten akzeptiert und verstanden zu werden, unterstreicht diesen Punkt. In diesem Sinne ist das Buch wirklich »störungsorientiert« im bei Herpertz et al. (2008) definierten Sinn: Es bezieht die störungsspezifischen Modelle, Vorgehensweisen und Evidenz ein und nutzt sie voll, ohne aber störungsübergreifende Aspekte zu vernachlässigen.

Das Buch ist aus meiner Sicht eine exzellente Bereicherung der psychotherapeutischen Fachliteratur zum Thema Zwangsstörungen und ich wünsche ihm eine große Verbreitung bei allen Ärzten und Psychologen, die in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen tätig sind.

Im Januar 2011

Prof. Dr. Franz CasparLeiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapieder Universität Bern

Übersicht der Zusatzmaterialien

Folgende Zusatzmaterialien, auf die im Text jeweils verwiesen wird, sind zum Download verfügbar. Den Weblink zum Downloadbereich finden Sie am Ende dieses Buchs im ▸ Kap. Zusatzmaterial zum Download.

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Arbeitsblatt 1: Zwangsgedanken

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Arbeitsblatt 2: Die Macht der Gedanken

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Arbeitsblatt 3: Hausaufgabe Zwangsgedanken

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Arbeitsblatt 4: Zwangshandlungen

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Arbeitsblatt 5: Hausaufgabe Zwangshandlungen

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Arbeitsblatt 6: Unterschiede zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen

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Arbeitsblatt 7: Die Diagnose Zwangsstörung

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Arbeitsblatt 8: Ursachen von Zwängen

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Arbeitsblatt 9: Multifaktorielles Ursachenmodell

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Arbeitsblatt 10: Kognitives Modell nach Reinecker

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Arbeitsblatt 11: Um was geht es in der Therapie der Zwangsstörung?

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Arbeitsblatt 12: Spannungsverlauf bei der Exposition mit Reaktionsverhinderung

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Arbeitsblatt 13: Anspannungskurven

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Arbeitsblatt 14: Schaubild Funktionalität von Zwängen

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Arbeitsblatt 15: Funktionalität von Zwängen

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Arbeitsblatt 16: Multimodale Therapie der Zwänge

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Arbeitsblatt 17: Medikamentöse Behandlung von Zwängen

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Arbeitsblatt 18: Kurz- und langfristige Konsequenzen

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Arbeitsblatt 19: Zwangsprotokoll

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Arbeitsblatt 20: Erwartungen an den Therapeuten

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Fallbeispiel: Herr K. 1 – Kognitives Modell

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Fallbeispiel: Herr K. 2 – Reizkonfrontation bei Zwangsgedanken

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Fallbeispiel: Frau C. – Interpersonelle/systemische Funktionalität der Zwangsstörung

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Fallbeispiel: Herr F. – Differenzialdiagnose Schizophrenie vs. Zwangsstörung

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Fallbeispiel: Herr G. – Entwicklung eines individuellen Modells zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung

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Fallbeispiel: Herr T. – Das Machtwort

Vorwort für die 2. Auflage

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Therapeutinnen und Therapeuten,

mittlerweile sind mehr als zehn Jahre seit der ersten Auflage unseres Buches »Störungsspezifische Behandlung der Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual« vergangen. In dieser Zeit gab es viele neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Zwangsstörungen, insbesondere auch im Bereich der Therapie, sodass es Zeit wurde, das Buch neu aufzulegen und noch einmal in vielen Teilen grundlegend zu überarbeiten. Auch ist für uns drei, die wir alleinige Autoren dieses Buches sind, ein weiteres Jahrzehnt klinische Erfahrung mit einer großen Zahl von Betroffenen dazugekommen, die sich uns zur Behandlung anvertraut haben und von denen wir auch viel lernen konnten. Darüber hinaus haben wir uns entschlossen, dem Buch auch einen neuen Titel zu geben: »Zwangsstörungen erfolgreich behandeln« schien uns treffender als der Begriff »Störungsspezifische Behandlung«, zumal viele Aspekte der Behandlung ja nicht spezifisch sind für Zwangsstörungen und der Begriff der Störungspezifischen Behandlung nicht mehr zeitgemäß erschien.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage haben sich bewährte Ansätze zur Behandlung von Zwängen weiter ausdifferenziert, und neue Erkenntnisse aus aktuellen Studien bereichern und erweitern den therapeutischen Prozess. Bei der der zweiten Auflage haben wir daher die Struktur des Buches beibehalten, jedoch nahezu alle Kapitel vollständig überarbeitet und aktualisiert. Aufgrund verschiedener Anregungen haben wir die Gestaltung durch eingefügte Kästen mit Tipps für die Praxis und konkrete Übungen ergänzt und auch inhaltlich erweitert. Auch die 2. Auflage greift zur Veranschaulichung des Vorgehens auf viele individuelle Fallbeispiele zurück, die teils überarbeitet, teils ganz neu hinzugefügt wurden. Die Neuerungen in ICD-11 und DSM-5 wurden berücksichtigt und ausführlicher beschrieben, somit wurde auch das Kapitel zu den Zwangsspektrumsstörungen und den Zwangsstörungen verwandten Störungen vollständig überarbeitet und erweitert. Die aktuellen Leitlinien zur Behandlung der Zwangsstörungen wurden eingearbeitet. Alternative und ergänzende Therapieformen aus der metakognitiven Therapie, Akzeptanz- und Commitmenttherapie sowie der Inferenzbasierten Therapie werden aufgegriffen und an Beispielen verdeutlicht. Die Neuerungen in der Expositionstherapie, insbesondere Erkenntnisse zum Inhibitionslernen nach M. Craske haben unser Vorgehen in den letzten Jahren beeinflusst und werden in diesem Buch an vielen Stellen beschrieben. Ganz neu aufgenommen wurde auch ein Kapitel zur Einbeziehung von Angehörigen in die Therapie, da die interpersonellen Auswirkungen der Zwangsstörungen teilweise die individuellen Beeinträchtigungen noch übersteigen oder zur Dekompensation und Aufnahme einer Therapie vieler Betroffenen beitrugen. Weiterhin ist ein wesentlicher Schwerpunkt des Therapiemanuals die Vorbereitung und Durchführung der Exposition. Die störungsspezifische Behandlung der Zwangsstörung ist keine »Redekur«, sondern eine Therapie, die häufig in der Umwelt der Betroffenen stattfindet bzw. diese einbezieht. Dies führt einerseits zu vielen Herausforderungen in der Therapie, macht aber gleichzeitig häufig auch den Reiz für die behandelnden Therapeuten aus.

Da jeder unserer Patienten seine eigene Geschichte und auch individuelle Symptomatik mitbringt, und auch jeder Therapeut individuell etwas anders handelt, sich in unterschiedlichen Vorgehensweisen wohler und authentischer fühlt, kann das Manual nur ein Leitfaden sein, der viele Freiheiten in der Gestaltung belässt. Dies soll auch in unseren Fallbeispielen verdeutlicht werden, die die persönlichen Gegebenheiten jedes der beschriebenen Patienten berücksichtigen. Wir hoffen, dass uns mit dieser 2. Auflage eine spannende Fortsetzung der 1. Auflage, eine Verbesserung der Gestaltung und eine gut lesbare Überarbeitung und Erweiterung gelungen ist. Vor allem hoffen wir, dass unsere auch zehn Jahre später ungebrochene Freude an der Arbeit mit zwangsgestörten Menschen ebenso in dieser Neuauflage zum Ausdruck kommt. Und natürlich hoffen wir sehr, dass das Buch für sie nützlich ist und einen Beitrag für eine bessere Behandlung von Menschen mit Zwangsstörungen leistet.

Nach längeren Diskussionen haben wir uns auch in dieser zweiten Auflage dazu entschieden zur besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form zu verwenden. Selbstverständlich sind dabei jedoch immer sämtliche Geschlechtsformen, Frauen, Männer und Transgender gemeint.

Bad Aussee, Freiburg, Prien, München, im Herbst 2022Ulrich Förstner, Anne Katrin Külz und Ulrich Voderholzer

Vorwort zur 1. Auflage

Warum noch ein weiteres Buch zu Zwangsstörungen? Gibt es nicht bereits detaillierte Übersichten zu Diagnose und Therapie von Zwängen? Und ist die Behandlung von Zwangssymptomen nicht etwas sehr Aufwändiges und langfristig wenig Erfolgreiches? Obwohl mittlerweile effektive Behandlungsmöglichkeiten für Zwangserkrankungen zur Verfügung stehen, haben wir oftmals den Eindruck, dass die störungsspezifische Therapie von Zwängen im klinischen Alltag immer noch ein Nischendasein führt.

Als wir 1996 erstmalig eine Patientin mit einer schweren Zwangsstörung behandelten, mussten wir einige unserer Vorbehalte gegenüber Zwangspatienten revidieren. Die Patientin hatte auf den ersten Eindruck äußerst bizarre religiöse Zwangsgedanken und religiös motivierte Zwangshandlungen entwickelt. Ihre Lebensgeschichte, die nach dem frühen Tod der Mutter durch eine fast symbiotische, aber nicht weniger ambivalente Beziehung zum streng gläubigen Vater gekennzeichnet war, war für unsere westliche Gesellschaft ungewöhnlich und von vielen Verboten zur Vermeidung von Sünde oder Versuchung gekennzeichnet. Trotz unseres damals im Vordergrund stehenden Wunsches nach therapeutischen Techniken, Strategien, »Kochrezepten« in Form störungsspezifischer Behandlungsmanuale, erregte die Biografie der Patientin unsere uneingeschränkte Neugier. Gleichzeitig wurde unsere Toleranz und Geduld durch ihr Verhalten wiederholt auf eine große Probe gestellt, allerdings auf völlig andere Art und Weise, als wir es von einer Patientin mit einer Zwangsstörung mit religiösen Zwangsgedanken vermutet hatten. Unser damaliges Missverständnis, dass solche Patienten häufig über einen anankastischen Persönlichkeitsstil verfügen, wurde von ihr sehr schnell als haltlos entlarvt. Sachse (2004) hat Personen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung sehr pointiert als »so ziemlich das Gegenteil eines Latin Lovers: hölzern, verklemmt, schwer emotionalisierbar, unromantisch bis auf die Knochen, ideale Partner zum Ausfüllen der Steuererklärung« beschrieben. Wir hatten es jedoch keineswegs mit einer zwanghaften oder missionierenden jungen Frau zu tun. Hingegen verfügte die Patientin über Spontanität, Witz und Frechheit. Sie zeigte hinter der Fassade der religiösen Zwänge eine starke Emotionalität, eine gewisse Lust an verdeckter Rebellion, und war auf unsichere, aber auch charmante Art und Weise eine Bindung suchende Persönlichkeit. Seit der Behandlung dieser Patientin, die uns noch Jahre später per E-Mail und persönlichen Kontakt sehr berührend über ihre weiteren Therapiefortschritte informierte, hat uns die Arbeit mit inzwischen einer großen Anzahl von Zwangspatienten in vieler Hinsicht bereichert. Auch nach langjähriger, gegenseitig sehr befruchtender klinischer und wissenschaftlicher Zusammenarbeit sowie Erweiterung der störungsspezifischen Kenntnisse in unzähligen Diskussionen, Vorträgen und Literaturstudien blieb ein gemeinsames Interesse an den individuellen Motiven dieser Patienten, an den resultierenden Erfordernissen in der Beziehungsgestaltung und insbesondere an der Einzigartigkeit jedes Patienten trotz vergleichbarer Symptomatik bestehen.

Aus zahlreichen Workshops wissen wir, dass ein großer Bedarf nach praktischen Hilfestellungen bei der konkreten Durchführung therapeutischer Techniken besteht. So haben die Mehrzahl der Ausbildungskandidaten in Verhaltenstherapie meist nur wenig Gelegenheit, einen Patienten mit Zwangsstörungen zu behandeln; konkrete Erfahrungen mit Expositionsverfahren wie z. B. bei Angststörungen oder PTBS sind häufig zwar hilfreich in der Behandlung von Zwängen, lassen sich aber nicht auf einfache Weise auf die spezielle Problematik bei Zwangsstörungen übertragen. Nicht selten sind wir auch auf Therapeuten gestoßen, die den Behandlungsaussichten bei Zwängen relativ skeptisch gegenüberstehen oder offen zugeben, dass sie die therapeutische Arbeit mit Zwangserkrankten meiden.

Das vorliegende Buch entstand aus dem Wunsch heraus, praxisnahe Anregungen und Unterstützungen für viele Therapeuten zu geben, die Menschen mit Zwangsstörungen behandeln. Dabei war es uns wichtig, aktuellste wissenschaftliche Erkenntnisse und langjährige klinische Erfahrung miteinander zu verbinden. Wir hoffen, dass uns eine lebendige Darstellung gelungen ist, die durch viele persönliche Fallbeispiele die Faszination dieses vielgestaltigen Störungsbildes spüren lässt. Wir wünschen uns, dass wir bei erfahrenen Behandlern und angehenden Therapeuten gleichermaßen Lust auf die Arbeit mit Zwangspatienten wecken, neue Behandlungsimpulse geben können und somit einen Beitrag zu einer Verminderung des Leidens von Menschen mit Zwangsstörungen leisten. Besonders wichtig war uns eine möglichst anschauliche Darstellung mit vielen Illustrationen, Tabellen sowie einigen Farbabbildungen, die u. a. auch die subjektive Perspektive der Betroffenen beleuchten. Wir hoffen, dass es uns durch den unterschiedlichen beruflichen Hintergrund der Autoren auch gelungen ist, die spezifische psychiatrische, psychotherapeutische und psychologische Expertise gewinnbringend miteinander zu vereinen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert und enthält zunächst im ersten Teil eine ausführliche Darstellung des klinischen Bildes und der Ursachen von Zwangsstörungen. Die Kenntnis der Vielgestaltigkeit der Symptomatik und der besonderen Charakteristika halten wir auch für den Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung für sehr wichtig. Dabei war es uns ein Anliegen, neben den klassischen Störungsmodellen auch innovative Ansätze und neuere Strömungen vorzustellen und kritisch zu beleuchten.

Der zweite und ausführlichste Teil veranschaulicht das psychotherapeutische Vorgehen anhand vieler eigener Fälle aus der Praxis. Alle Fallbeispiele beruhen auf realen Patienten, wobei selbstverständlich die Details zu deren Schutz so verfremdet sind, dass eine Identifizierung der Patienten nicht möglich ist. Wenngleich das therapeutische Vorgehen in seinem Kern auf der kognitiven Verhaltenstherapie beruht, so sind doch störungsübergreifende Elemente integriert, sodass die Therapie mit einer gewissen Berechtigung als integrative Therapie bezeichnet werden kann. Auf die gegenwärtige Evidenzlage für die Psychotherapie bei Zwangsstörungen wird zu Beginn des Kapitels eingegangen.

Schwerpunkt des dritten Teils ist die Pharmakotherapie, wobei neben der wissenschaftlichen Datenlage vor allem ausführliche Empfehlungen für die Praxis dargestellt werden. Wir sind davon überzeugt, dass alle Therapeuten, die mit Menschen mit Zwangsstörungen arbeiten, über den State of the Art, sowohl der Psychotherapie als auch der Pharmakotherapie (und der Kombinationstherapie), informiert sein sollten, um ihre Patienten im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung beraten zu können.

Im Download-Bereich finden Sie neben einigen Arbeitsblättern, die wir bei der Durchführung der Einzel- und Gruppentherapie verwenden, die Abbildungen dieses Buches in Form eines Power-Point-Dokuments sowie weitere Fallbeispiele, die spezielle Aspekte der Therapie intensiver verdeutlichen, den Rahmen des Buches jedoch gesprengt hätten (siehe ▸ Kap. Zusatzmaterial zum Download am Ende des Buchs).

Bedanken möchten wir uns für das Vertrauen von insgesamt mehreren hundert Patienten, von denen wir lernen konnten und die wir ein Stück auf ihrem Weg begleiten durften. Unser Dank gilt auch Fritz Hohagen und Gabi Winkelmann, die bereits vor fast 20 Jahren die störungsspezifische multimodale Station zur Behandlung von Zwangspatienten in Freiburg aufgebaut haben und uns somit denkbar günstige Vorrausetzungen hinterließen, sowie Mathias Berger, der unsere Arbeit über viele Jahre unterstützt hat. Auch unserem Pflegepersonal gilt Dank. Angesichts der vielen personellen Veränderungen an einer Uniklinik haben sie für Kontinuität gesorgt und die Weitergabe praktischer Informationen beispielsweise in der Durchführung der Reizkonfrontation ermöglicht.

Besonders bedanken möchten wir uns auch bei den vielen Personen, die bei der Fertigstellung des Manuskriptes mitgeholfen haben, insbesondere Anne Czernek, Nicola Stelzer, Nirmal Herbst, Martina Schmid und Elisabeth Hertenstein. Besonderer Dank gilt auch Silke Maier, die uns Arbeitsblätter der Zwangsinformationsgruppe zur Verfügung gestellt hat. Ebenso möchten wir uns bei unseren Ehepartnern sowie unseren Kindern Tom, Benno, Victor, Jonathan, Marie, Amelie, Liam, Aaron, David und Lea für ihr Verständnis und ihre Geduld bedanken, wenn wir in der intensiven Phase des Schreibens nicht in gewohnter Weise für sie Zeit hatten. Schließlich gilt unser Dank auch dem Kohlhammer-Verlag für die Unterstützung dieses Buchprojektes, und insbesondere Frau Dagmar Kühnle für die sehr gute Zusammenarbeit.

Im Januar 2011Ulrich Förstner, Anne Katrin Külz und Ulrich Voderholzer

1 Diagnose und Behandlung der Zwangserkrankung

»Der Mensch ist frei geboren, und liegt doch überall in Ketten.«

Jean-Jacques Rousseau

1.1 Epidemiologie und Klinik der Zwangserkrankungen

»[...] können solche Kranke ihr Leiden durch viele Jahre als ihre Privatsache behandeln und verbergen. Auch leiden viel mehr Personen an solchen Formen der Zwangsneurose, als den Ärzten bekannt wird.«

Sigmund Freud

1.1.1 Zwänge im Erwachsenenalter

Herr K. sucht bis zu zehnmal am Arbeitstag die Toilette seines Büros auf, um sich mehrere Minuten lang die Zähne zu putzen. Einige Kollegen belächeln die häufige Toilettenbenutzung ihres Zimmernachbarn; niemand ahnt, unter welchen Druck Herr K. gerät, wenn er nicht seine Zähne reinigen kann.

Frau M. fürchtet alles, was mit der Zahl 3 in Zusammenhang steht, da sie darin eine Verbindung mit dem Teufel sieht. Auch wenn sie weiß, dass ihre Befürchtungen im Grunde unsinnig sind, vermeidet sie es, an Tagen mit einer 3 im Datum aus dem Haus zu gehen und muss viele Tätigkeiten genau viermal verrichten, um die Drei zu »übertreffen«. Ihrer Tätigkeit als Lehrerin kann sie schon lange nicht mehr nachgehen.

Herr P. muss jeden Abend vor dem Schlafengehen alle Stecker aus der Steckdose ziehen und mehrmals in genau festgelegter Reihenfolge an Fenstern und Haustür rütteln, um zu überprüfen, ob sie wirklich geschlossen sind. Wenn er endlich erschöpft ins Bett sinkt, schläft seine Partnerin schon seit zwei Stunden.

Die Erscheinungsformen einer Zwangsstörung sind vielfältig und werden vom Umfeld des Betroffenen oft gar nicht erkannt oder fehlinterpretiert. Gemeinsam ist allen Zwangsarten, dass sie mit einem hohen Zeitaufwand verbunden sind, eine Beeinträchtigung im Alltag verursachen und die Lebensqualität der Betroffenen deutlich herabsetzen.

Anhand einer Metaanalyse (Fawcett et al. 2020) über 34 Studien ergab sich weltweit eine Lebenszeit-Prävalenz für Zwangserkrankungen von 1,0 % bei Männern und 1,5 % bei Frauen.

Damit gehört die Zwangserkrankung zu den häufigeren psychischen Störungen. Dieser Umstand spiegelt sich allerdings nicht in den stationären und ambulanten Behandlungssettings wider, wo Zwangsstörungen deutlich seltener anzutreffen sind. Gründe hierfür dürften in erster Linie Scham und die besonders hohe Verheimlichungstendenz sein. Im Rahmen einer Untersuchung an Patienten in nervenärztlichen Praxen fanden Wahl et al. (2010) beispielsweise, dass kaum mehr als ein Viertel der an einer Zwangsstörung leidenden Patienten diese Diagnose auch tatsächlich von ihrem Arzt erhalten hatte. Eine andere Studie unter ambulanten Psychotherapeuten ergab, dass bei fast 90 % der befragten Behandler die Therapie von Zwängen im Praxisalltag keine oder maximal eine geringe Rolle spielte (Külz et al. 2010b).

Ist die Häufigkeit von Zwängen abhängig von Kultur und Gesellschaft?

Dieser Frage ging die Cross National Collaborative Group nach (Weissman et al. 1994). Die Forscher fanden auf der Grundlage von sieben epidemiologischen Studien aus den USA, Kanada, Puerto Rico, Taiwan, Korea, Neuseeland und Deutschland eine relativ homogene Lebenszeit-Prävalenz. Diese lag mit 1,9 – 2,5 % ebenfalls etwas höher als in der Studie von Fawcett et al. (2020). Die Autoren schließen daraus, dass Zwänge über verschiedene Kulturen hinweg in ähnlicher Häufigkeit auftreten. Allerdings scheinen die Inhalte von Zwängen, insbesondere im Bereich religiöser Zwangsgedanken, einer deutlichen kulturellen Prägung zu unterliegen (Nicolini et al. 2017). Auch das Häufigkeitsverhältnis von Zwangsgedanken zu Zwangshandlungen kann je nach Kultur recht unterschiedlich ausfallen (Reinecker 1994).

Ob sich größere gesellschaftliche Ereignisse wie etwa die Covid-19-Pandemie über längere Sicht auf die Häufigkeit und Schwere von Zwangssymptomen auswirken, ist noch nicht hinreichend bekannt. Es gibt allerdings erste Hinweise auf eine Zunahme der Zwangssymptomatik insbesondere bei Menschen mit Wasch- und Kontaminationszwängen (z. B. Davide et al. 2020). Jelinek et al. (2021) fanden für den deutschen Sprachraum bei 394 online befragten Patienten in 77 % der Fälle eine Zunahme der Zwangssymptomatik, wobei die Verschlechterung bei den Betroffenen mit Waschzwängen signifikant ausgeprägter war und insbesondere mit eingeschränkter Mobilität sowie interpersonellen Konflikten in Zusammenhang stand. Auch bei Kindern und Jugendlichen mit Wasch- und Reinigungszwängen wurde eine Verstärkung der Zwangssymptomatik festgestellt, die eng damit korrelierte, wie intensiv sich die Betroffenen und ihr soziales Umfeld mit der Covid-19-Pandemie beschäftigten (Tanir et al. 2020). Nach unserem klinischen Eindruck waren die Auswirkungen der Pandemie auf Menschen mit Zwängen im Allgemeinen eher heterogen. Während viele Betroffene aufgrund erhöhter Stressbelastung durch Angst vor Ansteckung und sekundäre Belastungsfaktoren im Zuge des Lockdowns wie soziale Isolation, Arbeitsplatzverlust oder fehlende Tagesstrukturierung eine Zunahme ihrer Zwangssymptome berichteten, fühlten sich einige auch durch den Rückgang sozialer Anforderungen und damit verbundener Zwangsauslöser vorübergehend entlastet. Selbst die verstärkten Hygienemaßnahmen wurden von manchen Menschen mit Kontaminationsbefürchtungen teils als beruhigend, teils als irritierend oder gar als irrelevant beurteilt, wenn die eigenen Zwangsinhalte ganz andere Bereiche tangierten. ▸ Abb. 1.1 und ▸ Abb. 1.2 zeigen ein Waschekzem eines jungen männlichen Patienten, der sich bis zu acht Stunden am Tag die Hände wäscht, sowie den Kleiderschrank einer 28-jährigen Patientin einschließlich ihrer Angaben bezüglich der Symmetrie- und Kontrollzwänge, die mit der Ordnung im Kleiderschrank verbunden sind.

Abb. 1.1:Waschekzem durch exzessives Reinigen der Hände und Unterarme bei einem jungen Mann mit einer Zwangserkrankung

Abb. 1.2:Kleiderschrank einer Frau mit Symmetrie- und Kontrollzwängen

Verlauf von Zwangsstörungen

Zwangsstörungen beginnen meist zwischen dem 22. und dem 36. Lebensjahr (Maj et al. 2002); nicht selten besteht die Zwangssymptomatik jedoch bereits in der Kindheit. Betroffene mit frühem Erkrankungsbeginn (< 20 Jahre) zeigen oft schwerere Zwangssymptome und leben häufiger allein (Anholt et al. 2014). Ohne Behandlung nimmt die Zwangsstörung in der Regel einen chronisch-fluktuierenden Verlauf. Spontanremissionen stellen eher die Ausnahme dar. Nach Jahrzehnten der Erkrankung verbessert sich oftmals die Symptomatik, jedoch bleibt in den meisten Fällen eine klinische oder subklinische Residualsymptomatik bestehen. In einer bekannten Längsschnittstudie von Skoog und Skoog (1999) über insgesamt 40 Jahre wurde bei 83 % der Patienten eine Verbesserung beobachtet, eine Heilung bei 48 % (20 % komplette Remission, 28 % mit subklinischer Symptomatik). Somit ist etwa die Hälfte der Betroffenen lebenslänglich von der Erkrankung betroffen (Skoog und Skoog 1999).

Tipp für die Praxis

Ein eher episodischer Verlauf mit schweren akuten Exazerbationen und zwischenzeitlich weitgehender Remission ist eher selten. In diesen Fällen sollte differenzialdiagnostisch die Frage geklärt werden, ob es sich um sekundär zu einer rezidivierenden Depression auftretende Zwangssymptome handelt.

Die Bedeutung dieser Zahlen lässt sich erst erahnen, wenn man sich die Auswirkungen für die Betroffenen verdeutlicht. So führen Zwangsstörungen meist zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität, die gelegentlich so ausgeprägt sein kann wie bei Menschen, die an einer Schizophrenie leiden (Moritz 2008). Viele Patienten mit Zwängen leiden insbesondere unter Schwierigkeiten bei der Rollenbewältigung im beruflichen und sozialen Kontext; ein großer Teil berichtet über belastete zwischenmenschliche Beziehungen. Dabei kann die Symptomatik auf ganz unterschiedliche Art und Weise den Alltag beeinträchtigen. Beispielsweise vermied ein Mann aufgrund aggressiver Zwangsgedanken gegenüber seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter zunehmend den Kontakt mit ihnen und richtete sich schließlich trotz Sehnsucht nach seiner Familie sogar im Büro eine Schlafmöglichkeit ein. Ein anderer Patient konnte sich hingegen nur noch unter »Überwachung« durch seine fast erwachsenen Kinder in der Öffentlichkeit bewegen, da er fürchtete, ansonsten unbemerkt persönliche Notizen oder Gegenstände zu verlieren, die intime Details über ihn verraten könnten. Die Auswirkungen von Zwängen im beruflichen Kontext reichen von Verlangsamung von Handlungsabläufen aufgrund von Zwangsritualen oder Konzentrationsschwierigkeiten durch exzessive Präokkupation mit Zwangsgedanken über Vermeidung von zwangsrelevanten Tätigkeitsbereichen oder immer längere Arbeitsunterbrechungen durch ausufernde Zwangshandlungen bis hin zur Berufsunfähigkeit, bei der nicht selten auch eine sekundär entstandene depressive Symptomatik eine erhebliche Rolle spielt. Teilweise stehen zwischenmenschliche und interaktionelle Problembereiche (z. B. durch Hänseln, Mobbing), die sich aufgrund der Zwänge ergeben, diese aufgrund des dadurch resultierenden Stresslevels auch gleichzeitig verstärken können ganz im Vordergrund der beruflichen Beeinträchtigungen. Manchen Patienten mit Zwängen gelingt es hingegen, tagsüber weitgehend ein hohes Funktionsniveau aufrechtzuerhalten und erst in der häuslichen Umgebung den Zwangshandlungen nachzugeben. So berichten Patienten häufig über ein chronisches Schlafdefizit aufgrund exzessiver nächtlicher Rituale.

Fallbeispiel: Patientin mit Wasch- und Reinigungszwängen

Die 70-jährige Gerda S. leidet seit Jahrzehnten an schweren Wasch- und Reinigungszwängen, manchmal bis zu 18 Stunden am Tag. Jedwede Berührung mit Personen oder Gegenständen außerhalb der Wohnung löst Reinigungsrituale aus. Sie führt eine »Vita minima« und geht nur noch selten aus dem Haus, niemand darf ihre Wohnung betreten, nicht einmal ihre geliebte Tochter und wichtigste Bezugsperson. Der Zwang wird zum Kerker des Lebens. Erst nach einer erfolgreichen Therapie mit einer Reduktion der Zwänge auf ein erträgliches Maß von einer Stunde am Tag kann ihre Tochter sie wieder besuchen. Die Patientin kann wieder problemlos das Haus verlassen und neue Lebensfreude entwickeln.

Kennzeichen von Zwangssymptomen

Zwangsstörungen sind durch das Auftreten von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen gekennzeichnet. Beide Phänomene können isoliert vorkommen, allerdings leiden die meisten Patienten unter einer Kombination aus beiden.

Zwangsgedanken sind Vorstellungen, Ideen oder Impulse, die sich dem Betroffenen entgegen seinem Willen aufdrängen und starkes Unbehagen oder Angst auslösen. Häufig werden Zwangsgedanken von den Patienten als absurd erkannt, zumindest zeitweise aber als übertrieben wahrgenommen. So könnte jemand beispielsweise beim Lesen dieses Buches den Zwangsgedanken haben, jedes Wort genau erfassen zu müssen und nichts überlesen zu dürfen. Nach seiner Einschätzung gefragt, könnte er durchaus antworten, dass das detaillierte Bewusstmachen jedes Wortes nicht notwendig, ja nicht einmal zielführend für das Textverständnis ist. Dennoch wäre der Gedanke während der gesamten Lektüre in aufdringlicher Art und Weise präsent.

Häufige Themen von Zwangsgedanken mit Beispielen sind in ▸ Tab. 1.1 zusammengestellt.

Tab. 1.1:Typische Inhalte von Zwangsgedanken

Inhalt

Beispiel für Gedanken

Verunreinigung oder Kontamination

»Der Griff am Einkaufswagen ist verseucht – jetzt bin ich unrein.«

Ansteckung

»Ich habe mich im Schwimmbad mit AIDS infiziert.«

Physische Gewalt

»Ich könnte mein Baby ersticken.«

Sexualität

»Ich werde eine meiner Schülerinnen vergewaltigen.«

Zufälliges Unglück

»Ich habe versehentlich jemanden angerempelt und er ist zu Tode gestürzt.«

Religion

»Die Mutter Gottes ist eine Hure.«

Magisches Denken

»Wenn ich nicht rechts herum gehe, passiert etwas Schreckliches.«

Sozial unangepasstes Verhalten

»In der Konferenz werde ich etwas Obszönes rufen.«

Ordentlichkeit und Symmetrie

»Die Schnürsenkel müssen genau gleich lang sein.«

Fallbeispiel: Patient mit Zwangsgedanken bzgl. drohenden Unheils

Herr M. wurde beim Duschen plötzlich von der Vorstellung überrascht, er könne im Alter von 37 Jahren sterben. Demnach würden ihm noch zwei Jahre bleiben, um von Familie und Freunden Abschied zu nehmen und seine beruflichen Projekte abzuschließen. Zunächst erschien ihm der Gedanke absurd, und er versuchte ihn als haltlos abzutun. Je mehr er gegen die Vorstellung des baldigen Todes ankämpfte, desto intensiver drängte sie sich ihm jedoch auf. Warum sollte solch ein Gedanke einfach so aus dem Nichts auftauchen? Sollte er ihn nicht vielmehr als ernstzunehmende Warnung begreifen? Was aber, wenn er sein Leben durch die Beschäftigung mit dem Gedanken erst recht aufs Spiel setzte? Hatte man nicht schon öfter etwas von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gehört? Auch wenn er sich nie für einen abergläubischen Menschen gehalten hatte, begann er nach Anzeichen Ausschau zu halten, die ihm die Einordnung seines Gedankens erleichtern würden. So wertete er das Auftauchen einer Drei oder einer Sieben in persönlichen Kalenderdaten oder der Anzahl von Gegenständen als Warnhinweis für den Realitätsgehalt der Vorstellung. Schließlich begann er alle Orte und Aktivitäten zu vermeiden, die er mit den beiden Zahlen in Zusammenhang bringen konnte. Dabei verstrickte er sich immer tiefer in ein Netz aus hartnäckigen Gedanken über ein baldiges Lebensende, Schuldgefühlen wegen der vermeintlichen Selbstgefährdung aufgrund der Gedanken, Ärger über seine irrationalen Vorstellungen und massive Ängste vor einem drohenden Tod. Eine Psychotherapie half ihm schließlich dabei, Fehlannahmen über die Bedeutung aufdringlicher Gedanken zu entkräften. Durch Expositionsübungen gegenüber den Gedanken sowie Verhaltensexperimente gelang es ihm, eine gelassenere Haltung gegenüber den Zwangsgedanken zu entwickeln, die in der Folge auch viel seltener auftraten.

Zwangsgedanken sind in der Regel mit dem Drang verbunden, diese wieder »aufzuheben« bzw. zu neutralisieren oder dem Eintreten der damit verbundenen Befürchtung aktiv entgegenzuwirken: Es kommt zu Zwangshandlungen.

Unter Zwangshandlungen versteht man offene oder gedankliche Rituale, zu denen sich der Betroffene gedrängt fühlt, und die dazu dienen, Angst und Anspannung zu reduzieren. Häufig werden Zwangshandlungen bereits vorbeugend ausgeführt, um zu verhindern, dass Unwohlsein auftritt oder um vermeintliche Gefahren abzuwenden. Wird das Ausführen einer Zwangshandlung verhindert, führt das zunächst zu einem deutlichen Anstieg von Angst und/oder Unbehagen. Zwangshandlungen werden zumeist in stereotyper, ritualisierter Weise nach genau definierten Regeln ausgeführt. So kann zwanghaftes Händewaschen beispielsweise so aussehen, dass der Betroffene die einzelnen Finger in einer genau festgelegten Bewegungsabfolge einseift und anschließend Hände und Unterarme jedes Mal so lange mit reichlich Wasser abspült, bis er bis zu einer bestimmten Zahl gezählt hat.

Zwangshandlungen beinhalten am häufigsten Kontrollzwänge (z. B. wiederholtes Überprüfen von Schlössern und Elektrogeräten oder mehrmaliges Kontrollieren, beim Autofahren niemanden verletzt zu haben) sowie Wasch- oder Reinigungszwänge, die etwa beim Duschen, Zähneputzen, der Toilettenbenutzung oder bei der Hausarbeit auftreten (▸ Kap. 2). Ebenso können die Patienten unter dem Drang leiden, Handlungsabläufe mehrfach wiederholen zu müssen. So musste beispielsweise eine Patientin vor dem Arbeiten jedes Mal den Computer so oft starten und herunterfahren, bis sie während der Handlung nicht mehr an ihre kranke Mutter dachte. Auch übermäßiges Ordnen, wie beispielsweise das zentimetergenaue Übereinanderfalten von Pullovern im Kleiderschrank oder exzessives Sammeln von Gegenständen, kann Inhalt von Zwangshandlungen sein.

Aus Angst, versehentlich etwas Wichtiges wegzuwerfen oder auch unwillentlich Informationen über sich preiszugeben, können sich bei Betroffenen unter anderem leere Plastikflaschen, Altpapier und längst gelesene Zeitschriften, kaputte Elektrogeräte oder veraltete Notizzettel stapeln. Bei Hort- und Sammelzwängen haben sich spezielle therapeutische Interventionen wie z. B. das Aneignen von Entscheidungs- und Ordnungsstrategien oder Imaginationsübungen zur Stärkung der Veränderungsmotivation bewährt (Steketee und Frost 2014; Külz und Voderholzer 2018).

Eine eher seltene, jedoch besonders belastende Form stellen Zwänge dar, die auf sensumotorische Inhalte bezogen sind. Hier leiden Betroffene unter einer Hyperfokussierung auf automatisierte körperliche Prozesse wie Schlucken, Atmen oder Blinzeln; manchmal stehen auch körperliche Wahrnehmungen wie etwa »Mouches volantes« (häufige und harmlose Glaskörpertrübungen des Auges) im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Zwangshandlungen bestehen darin, die Aufmerksamkeit mit aller Kraft von diesen Empfindungen wegzulenken oder aber diese zu kontrollieren – häufig mit der Angst verbunden, dass sonst etwas Schlimmes wie Ersticken o. ä. geschehen könnte.

Schließlich können Zwangshandlungen mit dem Drang zu zählen oder Dinge zu berühren in Zusammenhang stehen. So litt ein Patient unter dem Zwang, im Gespräch immer die Wörter im Satz seines Gegenübers zählen zu müssen, auch wenn er dieses Verhalten selbst als unsinnig erlebte. Ein anderer Patient musste Lebensmittel vor dem Einkauf mehrmals antippen, um die Gefahr einer Vergiftung zu bannen, auch wenn er prinzipiell um die Irrationalität seiner Befürchtungen wusste.

Fallbeispiel: Patientin mit Ordnungs- und Symmetriezwängen

Frau A. bezog mit Beginn ihres Studiums erstmals eine eigene Wohnung in einer fremden Stadt. Obwohl sie sich auf die neue Unabhängigkeit sehr gefreut hatte, entwickelte sie bald Zweifel darüber, ob die Ordnung in ihrer Wohnung einem kritischen Auge standhalten würde. Sie gewöhnte sich zunächst an, Gegenstände immer an der gleichen Stelle aufzubewahren und stets im rechten Winkel zueinander auszurichten. Dabei entdeckte sie, dass sie sich allmählich selbst nur noch wohl fühlen konnte, wenn alles exakt arrangiert war. Daher ging sie beispielsweise dazu über, das Maßband anzusetzen, um ihren Laptop genau in der Mitte des Schreibtischs zu platzieren; Stiftehalter und Mousepad mussten die Endpunkte einer Geraden bilden. Ihr neues Ordnungsbedürfnis erstaunte sie selbst, da sie sich nie für einen besonders sorgfältigen Menschen gehalten hatte. Dennoch konnte sie sich gegen den ständigen Drang zum Aufräumen kaum wehren. Vor allem vor dem Einschlafen kam sie auf immer neue Ideen zu vermeintlich verbesserungsbedürftigen Details ihrer Einrichtung. So verbrachte sie eines Nachts vier Stunden damit, ihre Bücher nach Form und Größe zu sortieren. Um sich Arbeit zu ersparen, betrat sie ihre Wohnung schließlich kaum mehr. Aber auch wenn sie abends erst spät nach Hause gekommen war, benötigte sie am nächsten Morgen beinahe eine Stunde, um die Bettdecke glatt zu streichen und minimale Benutzungsspuren im Bad zu beseitigen. Mithilfe einer kognitiven Verhaltenstherapie, die neben Expositionsübungen auch auf eine Stabilisierung des Selbstwertgefühls und den Umgang mit Einsamkeitsgefühlen abzielte, konnte sie allmählich eine Verbesserung ihrer Symptome erreichen.

▸ Abb. 1.3 zeigt die Häufigkeit verschiedener Zwangsformen, wie sie an einer eigenen Stichprobe von 75 stationären Patienten der Uniklinik Freiburg erfasst wurde.

Abb. 1.3:Häufigkeitsverteilung verschiedener Zwangsformen bei stationären Patienten (N = 75) in Prozent, Mehrfachnennungen waren möglich

Nach einer Metaanalyse von Bloch et al. (2008), die 21 Studien zur Checkliste der Yale-Brown-Obsessive-Compulsive Scale (Y-BOCS), des gebräuchlichsten Erhebungsinstrumentes bei Zwängen, mit 5.124 Patienten einschloss, besitzt die Zwangserkrankung eine Vier-Faktoren-Struktur. Demnach kann man

1.

Zwangsgedanken bzgl. Symmetrie, Zählzwänge, Ordnungs- und Wiederholungszwänge,

2.

verbotene und körperbezogene Zwangsgedanken sowie Kontrollzwänge,

3.

Reinigungszwänge und

4.

Hort- und Sammelzwänge unterscheiden.

Zu beachten ist, dass Zwangshandlungen neben äußerlich sichtbaren Verhaltensweisen auch in Form gedanklicher Rituale auftreten können. So könnte beispielsweise ein Patient mit blasphemischen Zwangsgedanken die Toilette für ein Gebetsritual zur Neutralisierung seiner Vorstellungen aufsuchen, er könnte jedoch auch im Geiste ein Gebet sprechen oder ein inneres »Gegenbild« zu seinen gotteslästerlichen Intrusionen heraufbeschwören.

Merke

Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal von Zwangsgedanken und -handlungen ist somit in der Regel ihre Auswirkung auf Anspannung oder Angst, die ein Patient erlebt: Zwangsgedanken lösen innere Anspannung oder Angst aus und haben somit Stimuluscharakter, während Zwangshandlungen dazu dienen, diese zu reduzieren.

Ein charakteristisches Merkmal von Zwangshandlungen ist, dass sie in keinem realistischen Bezug zu dem stehen, was sie erreichen sollen. Mit manchen Zwangshandlungen erreicht der Patient sogar das Gegenteil seiner Absicht (z. B. die Patientin, die durch exzessive Waschzwänge ihre Haut so schädigt, dass sie erst dadurch anfällig für Infektionen wird); zumindest sind Zwangshandlungen in der Regel in Durchführung, Häufigkeit oder beidem deutlich übertrieben. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, führt dies bei den Betroffenen zunächst zu einem deutlichen Anstieg von Angst und Anspannung.

Da Zwangsrituale sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, benötigen die meisten Menschen entsprechend viel Zeit für alltägliche Verrichtungen. Daneben leidet eine kleine Untergruppe von Patienten unter einer primären zwanghaften Langsamkeit, bei der alltägliche Handlungen (z. B. Ankleiden, Nahrungsaufnahme) bis zu mehrere Stunden in Anspruch nehmen können. In diesem Fall ist gewissermaßen die Langsamkeit selbst der Zwang.

Tipp für die Praxis

Im Einzelfall ist genau zu prüfen, ob die Langsamkeit nicht sekundär durch andere Zwangsinhalte (z. B. innere Kontrollrituale) bedingt ist. Diese können manchmal so automatisiert sein, dass sie dem Betreffenden kaum mehr bewusst sind und Handlungsabläufe enorm verlangsamen.

Das Erkrankungsbild der zwanghaften Langsamkeit wird kontrovers diskutiert, da häufig angenommen wird, dass der allgemeinen Verlangsamung bestimmte Zwangsbefürchtungen oder -rituale zugrunde liegen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die zwanghafte Langsamkeit auch nach erfolgreicher Behandlung der übrigen Zwangssymptomatik fortbestehen kann, was eher für die Beibehaltung einer eigenständigen Kategorie spricht (Takeuchi et al. 1997).

1.1.2 Zwänge im Kindes- und Jugendalter

Viele Kinder bestehen in bestimmten Entwicklungsphasen auf ritualisierten, stereotypen Verhaltensmustern wie z. B. Zubettgeh- oder Spielritualen, die in rigider Form immer auf die gleiche Art und Weise auszuführen sind. Diese Vorlieben erinnern an Zwangsrituale, besitzen jedoch als Sicherheit und Vertrautheit stiftende Gewohnheiten für die Kinder einen positiven Wert und haben ich-syntonen Charakter, d. h. werden als stimmig erlebt.

Auch bestimmte magische Befürchtungen wie beispielsweise die Vorstellung, beim Umdrehen im dunklen Keller oder auch beim Betreten von Ritzen zwischen Pflastersteinen ein Unglück heraufzubeschwören, sind in bestimmten Entwicklungsstufen normal und verschwinden im Rahmen der Entwicklung mit größerer Reife in der Regel von selbst.

Gleichzeitig können bereits im Kindesalter Zwangssymptome auftreten, die so belastend sein können, dass sie behandlungsbedürftig sind. Die Symptomdimensionen ähneln dabei denen von erwachsenen Patienten (Mataix-Cols et al. 2008), allerdings scheinen bei Kindern Zwangshandlungen etwas häufiger als bei Erwachsenen aufzutreten und die Symptome variieren häufiger über die Zeit (Flament et al. 2007).

Darüber hinaus verfügen die Kinder zumeist über eine begrenztere Einsicht hinsichtlich der Irrationalität ihrer Befürchtungen und Handlungen. Ähnlich wie bei erwachsenen Zwangserkrankten, geht geringere Einsichtsfähigkeit bezüglich der Zwänge mit einer etwas schlechteren Prognose für den Behandlungserfolg einher. In einer Längsschnittstudie konnten Bloch et al. (2009) zeigen, dass fast die Hälfte aller von Zwängen betroffenen Kinder im Erwachsenenalter das klinische Bild einer Zwangsstörung nicht mehr erfüllte. Kinder, die zwanghaftes Horten zeigten, neigten eher zu persistierender Symptomatik im Erwachsenenalter. Eine komorbide Tic-Symptomatik ging hingegen häufiger mit einer Remission im Erwachsenenalter einher.

Tipp für die Praxis

Eine kindgerechte Darstellung von magischen Zwangsgedanken und Zählritualen (z. B. Sechting und Hidalgo 2020) kann Kindern einen besseren Zugang zu Mechanismen des Zwangs und verhaltenstherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ermöglichen

Typische Zwangssymptome bei Kindern und Jugendlichen

Zwangsgedanken können beispielsweise Kontaminationsängste betreffen, religiöse oder aggressive Inhalte haben. Manche Kinder leiden auch unter schreckenerregenden Vorstellungen (z. B. Tod einer geliebten Person), deren Eintreten befürchtet wird, wenn bestimmte Rituale nicht ausgeführt werden. Anderen drängen sich sinnlose Sätze oder Gedanken, die um Ordnung und Symmetrie kreisen, auf. Neben der Sorge, Elektrogeräte, Schlösser oder Fenster etc. nicht hinreichend überprüft zu haben, sind nicht selten exzessive Sorgen bezüglich fehlerhafter oder unvollständiger Hausaufgaben zu beobachten (▸ Abb. 1.4).

Auf der Handlungsebene finden sich zahlreiche Reinigungs-‍, Kontroll- oder Ordnungsrituale, außerdem mentales oder äußerlich sichtbares Neutralisierungsverhalten (z. B. Zählen bis zu einer bestimmten Zahl), das nicht selten in Zusammenhang mit magischen Befürchtungen steht. Ebenso trifft man auf wiederholtes Nachfragen, das häufig Rückversicherungscharakter hat. Nach Mataix-Cols et al. (2008) treten bei Mädchen überdurchschnittlich häufig Sammelzwänge auf, während Jungen eher zu sexuellen Zwangsgedanken tendieren. Wie kürzlich gezeigt werden konnte, ist die Auftretenshäufigkeit von zwanghaften Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter erhöht, wenn die Person bereits als Kind an einer Zwangsstörung litt (Maina et al. 2008). Häufiger als bei Erwachsenen findet man komorbide Tic-Störungen. So leiden fast zwei Drittel aller Kinder mit Zwangssymptomen auch unter Tics.

Merke

Ebenso wie Erwachsene scheinen Kinder von einer Expositionsbehandlung und Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zu profitieren (Kalra und Swedo 2009); allerdings gilt im Kindesalter die Einbindung des familiären Umfeldes als besonders wichtig (Freeman et al. 1997).

Abb. 1.4:Die häufigsten Zwangssymptome bei Kindern und Jugendlichen (nach Thomsen 1998)

Fallbeispiel: Junge mit autoaggressiven Zwangsgedanken

Jeden Abend, wenn der achtjährige Paul zu Bett gegangen war, drängte sich ihm der Zwangsimpuls auf, mit einem spitzen Gegenstand in einer Steckdose stochern zu müssen. Dies, so hatte er gelernt, sei lebensgefährlich. Erschrocken über seine Fantasien, pflegte er zunächst zu seinen Eltern zu laufen, um sich rückzuversichern, dass er zu einem solchen Verhalten nicht fähig wäre. Als diese auf die abendlichen Störungen zunehmend ungehalten reagierten, begann er, zum Selbstschutz die Steckdosen in seinem Zimmer abzukleben.

Allmählich generalisierte er seine Befürchtungen jedoch auch auf Steckdosen außerhalb der Wohnung. So wechselte er beispielsweise unter einem Vorwand im Klassenzimmer auf einen Fensterplatz, um möglichst weit entfernt von einer Steckdose zu sitzen; trotzdem schien es ihm nicht mehr möglich, dem Unterricht zu folgen. Im Gegenteil war er umso stärker von seinen Zwangsimpulsen okkupiert, je mehr er sie zu verdrängen versuchte, und sämtliche Räume entwickelten sich zu potenziellen Gefahrenzonen.

Nachdem sich Paul zunehmend in sein Zimmer zurückzog, suchten die Eltern mit ihm eine Kindertherapeutin auf. Mithilfe einer Expositionstherapie gelang es ihm schließlich, inneren Abstand zu den beängstigenden Vorstellungen zu finden, und die Zwangsimpulse nahmen in der Folge wieder ab.

1.2 Diagnostische Kriterien

Die Zwangsstörung ist im ICD-10 den neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen zugeordnet; im DSM-IV ist sie unter den Angststörungen aufgeführt. Im DSM-5 findet sich die Zwangsstörung in der neu aufgenommenen Störungskategorie der Zwangsstörungen und verwandten Störungen. In der neuen ICD-11 Klassifikation wurde ebenfalls eine eigene Kategorie für Zwangsstörungen und verwandte Störungen geschaffen.

Die frühere Zuteilung zu den Angststörungen erfolgte unter dem Gesichtspunkt, dass Zwangsgedanken oftmals Angst auslösen und die Ausübung von Zwangshandlungen bei den meisten Betroffenen zur Vermeidung oder Verringerung von Angst geschieht.

Allerdings stehen bei vielen Patienten im Zusammenhang mit ihren Zwangssymptomen andere Emotionen, wie z. B. Ärger oder Ekel, im Fokus; darüber hinaus wird immer wieder angeführt, dass die Vermeidung der angstauslösenden Reize weniger im Vordergrund steht als bei anderen Angststörungen. Andererseits weist etwa die Existenzanalyse darauf hin, dass Zwänge phänomenologisch immer auch eine Art Phobie i. S. einer »Phobie gegenüber Unsicherheit« darstellen (Längle und Holzhey-Kunz 2008). Da Unsicherheit angesichts der ontologischen Gegebenheiten in unserem Leben allgegenwärtig ist, hat der Zwangserkrankte im Vergleich zu Personen mit anderen Angststörungen nur weniger Chancen, den angstauslösenden Stimulus aus seinem Alltag fernzuhalten. Dennoch weicht die aktive, ritualisierte Umgangsform mit den gefürchteten Auslösern deutlich von den bei anderen Angsterkrankungen praktizierten Bewältigungsversuchen ab, weshalb die Klassifikation der Zwangsstörung als eine Form der Angststörungen zu Recht aufgegeben wurde.

1.2.1 ICD-Klassifikation

Nach ICD-10 kann die Diagnose einer Zwangsstörung sowohl beim alleinigen Auftreten von Zwangsgedanken (ICD-10: F42.0) oder Zwangshandlungen (ICD-10: F42.1) als auch bei einer Kombination aus beidem (ICD-10: F42.2) gestellt werden.

Am häufigsten findet sich eine Kombination aus Zwangsgedanken und -handlungen. Nach Erfahrung der Autoren kommen insbesondere im Erwachsenenalter Zwangshandlungen ohne Zwangsgedanken relativ selten vor. Manchmal laufen Zwangshandlungen allerdings so automatisiert ab, dass die Betroffenen vor Einsetzen des Zwangsrituals kaum mehr Zwangsgedanken bei sich wahrnehmen. Gelingt es ihnen, die Zwangshandlungen und begleitenden Vermeidungsverhaltensweisen z. B. im Rahmen einer Psychotherapie zu reduzieren, nehmen die Zwangsgedanken unter Umständen zunächst vorübergehend zu.

Auch alleinige Zwangsgedanken findet man relativ selten. Unserer Erfahrung nach können die meisten Patienten auf genaue Nachfrage zumindest verdeckte Neutralisierungsrituale angeben, die als Reaktion auf die Zwangsgedanken auf mentaler Ebene erfolgen.

In der neuen ICD-11, die voraussichtlich 2022 in Kraft treten soll, wird die Zwangsstörung der Störungskategorie Zwangsstörungen und verwandte Störungen zugerechnet, in der auch weitere Störungen des Zwangsspektrums wie pathologisches Horten, körperdysmorphe Störung, körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen und andere Formen enthalten sind (▸ Kap. 1.4).

Die Kriterien für eine Zwangsstörung nach der noch aktuell gültigen ICD-10 sind in ▸ Kasten 1.1 verkürzter Form zusammengefasst.

Kasten 1.1: Kriterien von Zwangsstörungen nach ICD-10

1.

Zwangsgedanken und/oder -handlungen an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen mit folgenden Kennzeichen:

·

Sie werden vom Patienten als eigene Gedanken oder Handlungen erkannt,

·

Sie wiederholen sich ständig,

·

Mindestens einer der Gedanken und/oder eine der Handlungen wird als übertrieben bzw. unsinnig erkannt,

·

Wenigstens einem Gedanken oder einer Handlung wird noch – wenngleich erfolglos – Widerstand geleistet,

·

Die Ausführung eines Gedankens oder einer Handlung ist für sich genommen nicht angenehm;

2.

Die Patienten leiden unter ihren Zwangsgedanken und/oder -handlungen oder es liegt eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit vor;

3.

Die Zwangsstörung ist nicht bedingt durch andere Störungen, wie z. B. Schizophrenie oder Depression

1.2.2 DSM-Klassifikation

Auch im DSM-5 werden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen unterschieden, allerdings nicht als eigene diagnostische Kategorie wie in der ICD-10.

Zwangsgedanken werden als wiederkehrende, anhaltende Gedanken, Vorstellungen und Impulse beschrieben, die zeitweise als aufdringlich und unangemessen empfunden werden.

So erkennt beispielsweise der Patient mit Kontaminationsängsten zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt, dass seine Befürchtungen übertrieben sind und ihn eher in penetranter Weise an einer befriedigenden Alltagsgestaltung hindern, als ihn vor Gefahren durch Verunreinigung zu schützen.

Weiterhin müssen Zwangsgedanken ausgeprägte Angst und Unbehagen hervorrufen. Demnach wäre beispielsweise der andauernde freudige Gedanke an eine bestimmte Person im Zustand der Verliebtheit kein Zwangsgedanke, auch wenn er sich zeitweise aufdrängt und andere Bewusstseinsinhalte verdrängt. Außerdem dürfen Zwangsgedanken nicht nur übertriebene Sorgen über reale Lebensprobleme sein. So stellt die übermäßige gedankliche Beschäftigung mit einer anstehenden Prüfungssituation keinen Zwangsgedanken dar, auch wenn sie als unangenehm erlebt wird und Angst auslösen kann.

Die Betroffenen versuchen, die Zwangsgedanken zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mithilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu neutralisieren. Die Neutralisierungsrituale können dabei durchaus auch auf rein gedanklicher Ebene ablaufen (s. o.).

Schließlich werden die Zwangsgedanken, -impulse oder -vorstellungen als ein Produkt des eigenen Geistes erkannt. Dies ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium gegenüber psychotischen Erkrankungen, bei denen die Gedanken häufig als von außen eingegeben erlebt oder in Form von Stimmen gehört werden.

Zwangshandlungen werden als wiederholte Verhaltensweisen oder gedankliche Handlungen beschrieben, zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt.

Zwangshandlungen haben das Ziel, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen. Zentral ist, dass sie jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem stehen, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.

Um von einer Zwangserkrankung sprechen zu können, müssen die Zwangssymptome eine erhebliche Belastung verursachen, zeitaufwendig sein (d. h. mehr als eine Stunde pro Tag in Anspruch nehmen) oder deutlich den normalen Tagesablauf bzw. die Aktivitäten und Beziehungen der Person beeinträchtigen. So kann beispielsweise das viermalige Kontrollieren der Haustür beim Verlassen der Wohnung durchaus zwanghaften Charakter haben; da das Ritual aber weder besonders zeitaufwendig ist noch zu weitreichenden Beeinträchtigungen im Alltag führt, wäre in diesem Fall noch keine Zwangsstörung zu diagnostizieren. ▸ Tab. 1.2 fasst die Unterschiede zwischen ICD-10, ICD-11 und DSM-5 bei der Diagnose von Zwangsstörungen zusammen.

Falls eine andere Achse-I-Störung vorliegt, darf der Inhalt der Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen nicht auf diese beschränkt sein. ▸ Tab. 1.3 zeigt mögliche Inhalte von Zwangsgedanken oder -handlungen, die bereits einem anderen Störungsbild inhärent sind. Bei bestehender Diagnose der jeweiligen Erkrankung darf die Diagnose einer Zwangsstörung nicht gestellt werden, sofern nicht zusätzlich Symptome mit anderen Inhalten vorliegen.

Schließlich darf die Erkrankung wie bei anderen Störungsbildern nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines Krankheitsfaktors zurückgehen.

Tab. 1.2:Zwangsstörungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5

ICD-10

ICD-11

DSM-5

Ober-kategorie

neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

Zwangsstörungen und verwandte Störungen

Zwangsstörungen und verwandte Störungen

Zwangs-gedanken/Zwangshandlungen

Zwangsgedanken (F42.0), Zwangshandlungen (F42.1) und die Kombination aus beidem (F42.2) bilden jeweils eigene diagnostische Kategorien

Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden unterschieden, jedoch nicht als eigene diagnostische Kategorien aufgeführt

Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden unterschieden, jedoch nicht als eigene diagnostische Kategorien aufgeführt

Zeit-kriterium

Mindestzeitraum zwei Wochen

täglich mindestens eine Stunde

kein Mindestzeitraum, täglich mindestens eine Stunde

Tab. 1.3:Beispiele für zwangsähnliche Gedanken, die anderen Störungsbildern zuzuordnen sind, sofern die jeweiligen Diagnosekriterien erfüllt sind

zwanghaftes Grübeln

z. B. bei Depression

zwanghafte Beschäftigung mit Essen oder Gewicht; zwanghaftes Sporttreiben

z. B. Essstörungen

zwanghaftes Haareausreißen

z. B. Trichotillomanie, d. h. Störung der Impulskontrolle

wiederkehrende Ideen, dass ein Körperteil missgestaltet oder hässlich ist

z. B. körperdysmorphe Störung

wiederkehrende Gedanken, an bestimmten Krankheiten zu leiden oder daran erkranken zu können

z. B. hypochondrische Störung

Sorgen, etwas Falsches gesagt oder getan zu haben

z. B. bei sozialen Angststörungen

starkes Beschäftigtsein mit Drogen oder Alkohol

z. B. Störung in Zusammenhang mit psychotropen Substanzen

1.2.3 Instrumente zur Diagnostik

Screening-Fragen

Da Zwangssymptome oftmals von Betroffenen aus Scham verschwiegen oder gar nicht als solche erkannt werden, empfiehlt es sich in jedem klinischen Interview, kurze Screening-Fragen zur Identifikation einer Zwangsstörung zu stellen.

Einige Fragen, die sich hierbei bewährt haben, sind:

·

Haben Sie Gedanken, die Sie beunruhigen und die sich Ihnen immer wieder gegen Ihren Willen aufdrängen?

·

Müssen Sie bestimmte Dinge immer wieder tun, auch wenn Sie sie als übertrieben oder sinnlos empfinden?

·

Überprüfen oder kontrollieren Sie häufig?

·

Waschen oder reinigen Sie viel?

·

Beschäftigen Sie sich viel mit Ordnung oder Symmetrie?

·

Benötigen Sie viel Zeit für alltägliche Tätigkeiten?

Beantwortet der Patient eine oder mehrere Fragen der o. g. Fragen mit »Ja«, empfiehlt sich die genauere Exploration. Dabei können Fragebögen und Skalen eine aufschlussreiche Ergänzung zum klinischen Interview darstellen.

Eine zeitsparende Variante bietet der Einsatz von Selbstrating-Fragebögen wie der OCI-R (Obsessive-Compulsive Inventory-Revised). Dieser stellt ein valides und reliables Erhebungsinstrument dar, das von der Forschergruppe um Edna Foa in Pennsylvania, USA, entwickelt wurde (Foa et al. 2002) und in validierter deutscher Form vorliegt (Gönner et al. 2008). Er ist das einzige Erhebungsinstrument, das auch mentales Neutralisieren erfasst, und erfasst die Zwangssymptomatik relativ unabhängig von Depression, Angst, Perfektionismus oder zwanghafter Persönlichkeitsstörung. Durch die fünfstufige Skala ist hinreichende Änderungssensitivität gegeben; auch die kurze Bearbeitungsdauer macht den OCI-R zu einem nützlichen Instrument im klinischen Alltag.

Ein weiterer Selbstratingbogen ist das Maudsley Obsessive-Compulsive-Inventory (MOCI; Hodgson und Rachman 1977). Dieser Selbstrating-»Klassiker« ist mit 30 Items etwas länger, jedoch auch problemlos innerhalb weniger Minuten im klinischen Alltag durchführbar. Allerdings liegt für die deutsche Version noch keine Überprüfung der Gütekriterien vor. Auch tun sich einige Patienten mit der Beantwortung der zur Vermeidung von Antworttendenzen im Fragebogen enthaltenen verneinten Aussagen etwas schwer bzw. empfinden diese als relativ umständlich.

Auch die etwas umfangreichere Kurzform des Hamburger Zwangsinventars (HZI-K) (Klepsch et al. 1989) mit 72 Items bzw. deren Ultrakurzform (HZI-UK) bieten sich für einen ersten Überblick über Art und Schwere der Zwangssymptomatik gut an. Der HZI-UK wurde speziell als Screening-Instrument für den klinischen Alltag konzipiert, während die Kurzform eher für Verlaufsmessungen im Behandlungskontext geeignet ist.

Das international am meisten eingesetzte und umfassendste Erhebungsinstrument zur Beurteilung der Zwangssymptomatik stellt die Yale-Brown-Obsessive-Compulsive-Scale (Y-BOCS) (Goodman et al. 1989) dar. Sie wurde ursprünglich mit dem Ziel entwickelt, die Wirksamkeit pharmakologischer Interventionen zu überprüfen. Die Itemselektion erfolgte auf der Basis klinischer Erfahrung, wobei der Fokus auf änderungssensitive Fragen gelegt wurde.

Die Skala wurde mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt und liegt neben der ursprünglichen Interviewform seit 1991 auch in einer Selbstrating-Variante vor, die von der Arbeitsgruppe um Lee Baer entwickelt wurde (Baer 2007). Nach einer Studie von Schaible et al. (2001) ist diese vor allem im Forschungskontext, wenn primär die Darstellung von Mittelwertsunterschieden interessiert, brauchbar.

In einer neueren Arbeit wurden die Ergebnisse, die mit der Selbstrating-Variante erhoben wurden, mit dem Fremdrating im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie verglichen (Hauschildt et al. 2019). Im Selfrating gaben die Patienten niedrigere Werte an als die Therapeuten im Fremdrating erhoben. Die Unterschiede waren am größten bei Zwangsgedanken. Darüber hinaus zeigte sich ein Zeiteffekt mit einer Angleichung der Ergebnisse im Therapieverlauf, d. h., dass bei einer erstmaligen Erfassung des Schweregrades einer Zwangsstörung häufig mit dem Selbstrating etwas niedrigere Werte als im Fremdrating erhoben werden. Dies entspricht auch unserer klinischen Erfahrung, dass Patienten mit Zwangsstörungen oftmals initial nicht verstehen, was mit Zwangsgedanken gemeint ist und der Y-Bocs-Wert im Selbstrating eher falsch niedrig sein kann. Dies kann zu einem möglichen Bias bei Studien führen, in denen die Ergebnisse auf Selbstrating beruhen mit einer Unterschätzung der tatsächlichen Therapieeffekte.

Für wissenschaftliche Therapiestudien wird in der Regel das etwas aufwändigere Fremdrating verwendet. Bei Nutzung der Selbstrating-Variante (Y-BOCS-SR) ergeben sich manchmal etwas niedrigere Werte als bei Verwendung der Fremdratingvariante, insbesondere dann, wenn Patienten nicht verstehen, was mit Zwangsgedanken gemeint ist. Vor Bearbeitung des Fragebogens sollte der Patient daher eingehend mit den Merkmalen von Zwangsgedanken und -handlungen vertraut gemacht werden.

Für das ausführliche Interview, das aus einem qualitativen (Art der Zwänge) und einem quantitativen (Zeitaufwand für Zwänge, Beeinträchtigung, Leidensdruck, Widerstand) Teil besteht, sollte etwa eine Stunde veranschlagt werden. Einen Überblick über Messinstrumente für Zwangssymptomatik gibt ▸ Tab. 1.4.

Tab. 1.4:Instrumente zur Erfassung der Zwangssymptomatik

1.3 Differenzialdiagnosen und Komorbidität

Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Menschen mit Zwängen unter mehreren psychischen Störungen leiden. Nicht wenige Patienten suchen zunächst wegen anderer psychischer Störungen eine Therapie auf, sie empfinden die Zwangssymptomatik eher als peinliche Marotte oder sehen sie als unabänderlichen Persönlichkeitszug an. Nicht selten berichten Patienten im klinischen Alltag, dass sie auch im Freundes- und Verwandtenkreis zunächst andere Problembereiche wie z. B. depressive Episoden oder spezifische Phobien thematisiert haben, weil sie für diese mehr Verständnis erwarteten. Als häufigste komorbide Störung treten Depressionen auf, jedoch sind auch Essstörungen, Angststörungen, sekundäre Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen oft zu finden (▸ Abb. 1.5).

Abb. 1.5:Häufigkeit komorbider Störungen bei Zwangserkrankungen (Lebenszeitprävalenz) (nach Pallanti und Grassi 2014)

Im Folgenden sind die häufigsten Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen dargestellt.

1.3.1 Affektive Störungen

50 – 70 % aller Menschen mit Zwangserkrankung erleiden im Lauf ihres Lebens mindestens einmal eine depressive Episode. Circa jeder dritte Zwangspatient (35 %) ist aktuell von einer Depression betroffen (Nestadt et al. 2001). Es bestehen wechselseitige Zusammenhänge. Einerseits erhöht eine depressive Symptomatik die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Zwangsgedanken. Auf der anderen Seite ist eine Zwangssymptomatik erheblich belastend und fördert depressive Stimmung. Häufig entsteht die depressive Symptomatik daher, sekundär aus der Zwangserkrankung, wenn angenehme Tätigkeiten und positive Erfahrungen durch die zeitraubenden Rituale und zunehmendes Vermeidungsverhalten immer seltener werden. Auch berichten viele Betroffene, dass das Selbstwertgefühl unter der ständigen Beschäftigung mit Gedanken und Verhaltensweisen leidet, die als peinlich oder absurd empfunden werden und oft den eigenen Werthaltungen massiv widersprechen. Zudem entwickeln viele Patienten aufgrund der exzessiven Belastungen durch die Zwangsinhalte zunehmende Erschöpfung und viele auch Schlafmangel, insbesondere wenn sich die Zwangsrituale in die Nacht hineinziehen. Hieraus entsteht nicht selten ein Teufelskreis aus depressiver Befindlichkeit, zunehmender Inaktivität, verringertem Selbstwertgefühl, wachsender Zwangssymptomatik und daraus resultierender Zunahme an Depressivität.

Anders zu betrachten sind Zwangssymptome, die an depressive Episoden gekoppelt sind und nach deren Remission in der Regel wieder vollständig zurückgehen. So leiden etliche depressive Patienten beispielsweise temporär unter Wasch- und Kontrollzwängen oder unter Grübelzwängen, die mitunter stark ausgeprägt sein können.