Zwei Erzählungen Mutterliebe & Eine Begegnung - Johannes Hagel - E-Book

Zwei Erzählungen Mutterliebe & Eine Begegnung E-Book

Johannes Hagel

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Beschreibung

Zwei fiktive Erlebnisse eines Mannes im mittleren Alter liegen der Prosa dieses Erstlingswerks des Autors zugrunde. Beide entspringen einem Traum. Während "Mutterliebe" von einer erdachten Welt, bizarrer, gesetzlicher und menschlicher Gegebenheiten handelt, könnte sich "Eine Begegnung" in dieser Form prinzipiell überall und jederzeit zutragen, wenn auch sie nicht des Ungewöhnlichen und Aufregenden entbehrt.

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Mutterliebe

Der junge Mann verließ die Wohnung seiner Mutter, nachdem er ein reichliches Frühstück zu sich genommen hatte. Es kam nicht häufig vor, dass er seine Mutter besuchte, da das Leben, wie es häufig zu geschehen pflegt, ihn fortgetrieben hatte vom Haus seiner Eltern. Und als ob die Mutter ihm bei den seltenen Gelegenheiten des Wiedersehens all ihre Liebe innerhalb weniger Tage zukommen lassen müsste, so pflegte sie ihn während der kurzen Zeit, die er bei ihr weilte, stets mit Unmengen an Nahrung zu überschütten.

Es war ein schöner Tag im März, der späte Winter hatte endlich begonnen, sich vor warmer südlicher Luft zurückzuziehen, der Schnee, der in diesem Jahr wochenlang gelegen war, gab endlich dem braunen Gras Platz, das sich als kaum zwei Meter breiter Streifen zwischen dem getrockneten, staubigen Gehsteig und dem Wohnblock, in dem seine Mutter lebte, dahinzog. Er musste in die Stadt, in der er eine Vorlesung abhalten sollte, an dem Institut seiner Universität, an welchem er vor vielen Jahren seine akademische Laufbahn begonnen und vollendet hatte als Privatdozent der Naturwissenschaften.

Von der Wohnung, die natürlich auch die seiner eigenen Kindheit war, bis zur Haltestelle der Straßenbahn, die in die Stadt fuhr, waren es nur zweihundert Meter. Das letzte Stück dieser Strecke musste er im Laufschritt zurücklegen, da der Zug, den er erreichen wollte, eben in die Station einfuhr. Es handelte sich um eine alte dreiteilige Garnitur, einen Triebwagen in Holzbauweise und zwei Anhängerwaggons. Der Mann erreichte den Bahnsteig eben, als die hintere Türe des letzten Wagens neben ihm hielt und sich unter dem Zischen von Pressluft öffnete, nachdem er den Türknopf mit der roten Signallampe, die eben zur Freigabe des Einstiegs aufleuchtete, gedrückt hatte. Er nahm an dem rechten Fensterplatz der hintersten Sitzreihe Platz, als der Zug anfuhr und sich mit dem deutlich vernehmbaren Geräusch seiner Elektromotoren in Bewegung setzte.

Wie oft war er die kurze Strecke von der Wohnung seiner Eltern bis ins Zentrum seiner Heimatstadt gefahren? Von der Zeit seines Gymnasiastendaseins, all die Jahre hindurch bis zur Abschlussprüfung an dieser Schule, die ihn neben vielen Freuden auch durch die Plagen des für ihn kaum zu bewältigenden großen Latinums zerrte, das ihm immer wieder Quelle von Sorge um sein Fortkommen wurde. Schließlich war es dennoch geschafft, nicht zuletzt Dank eines verständnisvollen Lehrers, der ein Einsehen hatte und erkannte, dass der fragliche Schüler eben nicht für die klassische Philologie, sondern vielmehr für die modernen Naturwissenschaften veranlagt sei. Diesen Weg hatte er auch zielstrebig eingeschlagen und in kürzestmöglicher Zeit wurde ihm die Doktorwürde seiner Fakultät verliehen, nicht zum geringen Stolz des Mannes, der die entscheidende Prüfung mit Auszeichnung bestanden hatte. Da er während der gesamten Zeit im Hause seiner Eltern lebte, nie über die finanziellen Mittel zum Autokauf verfügte, noch sich jemals bequemt hatte, eine Fahrprüfung wenigstens der niedrigsten Stufe abzulegen, die ihn berechtigt hätte, einen Kleinwagen zu lenken, so benutzte er täglich die Straßenbahn des Verkehrsunternehmens seiner Stadt. Diese Stadt, die eigentlich nichts Richtiges war. Zu klein, um Großstadt genannt zu werden mit ihren nicht einmal eine viertel Million zählenden Einwohnern und ohne wirtschaftlichen oder kulturellen Brennpunkt. Mit einem Theater und einem Opernhaus zweiten bis dritten Ranges, diese aber doch wieder größer als irgendein Kleintheater der wirklichen Provinz. Und die Einwohner der Stadt entsprachen diesem Bild in vollkommener Weise. Sie waren so farblos, ohne Profil, genauso wie die Stadt, in der sie lebten. Man konnte das Leben an diesem Ort eigentlich nur mit eingeschränktem Bewusstsein seiner Umgebung leben, am besten noch mit einem eingeschränkten Bewusstsein seiner selbst. Bei dem Mann führte dieser Zustand hingegen nicht zum Alkohol oder sonstigen Drogen, wie bei vielen seiner näheren und entfernteren Bekannten, denn das hätte er sich bei seinem, ziemlich anspruchsvollem Studium, nur schwerlich leisten können. Vielmehr kam es dazu, dass sein Zeitgefühl sich veränderte. Durch die erzwungene Unaufmerksamkeit für seine Umgebung erschien ihm jegliches Zeitintervall ungleich schneller zu vergehen, so schnell, dass er bisweilen meinte, die Länge eines Jahres wäre auf die eines Monats zusammengeschrumpft. Manchmal fragte er sich, ob er mit diesem Empfinden nicht seinen Tod zu sich herzog, der, wenn er eines Tages unangemeldet sich einstellen würde, ihn gänzlich unvorbereitet antreffen würde, da er dank seiner eingeschränkten Beziehung zur Außenwelt einfach zu wenig gelebt haben wird.

In diese Gedanken war er versunken, während die Straßenbahn ihren gewohnten, kaum mehr wahrgenommenen Weg verfolgte, der ihr durch die seit Jahren bestehende Streckenführung vorgeschrieben war. Der Zug fuhr quietschend durch die Kurven, er kam an dem alten Unfallkrankenhaus vorbei, wo man die Rollstühle in dem den Geleisen zugewandten Park fahren sehen konnte, beleuchtet von der Vorfrühlingssonne, geschoben teilweise von Besuchern und Besucherinnen der Patienten, die vorübergehend oder nie mehr in der Lage waren, sich selbständig zu bewegen. Gleich danach kam auf der anderen Seite die alte Lehrerbildungsanstalt, jenes dunkelgelb gestrichene Gebäude, von noch blattlosen Kastanienbäumen umgeben. Und dann die zwei unmittelbar aufeinander folgenden neunzig Grad Kurven, die heute mit dem lauten Kreischen schleifender Außenräder durchfahren wurden, wegen der trockenen Metalle der Räder und des von ihnen malträtierten, gequälten Gleiskörpers.

An der nächsten Haltestelle stieg ein Bediensteter des städtischen Verkehrsunternehmens zu. Es handelte sich um einen korpulenten Mann mittleren Alters mit auffallend rotem Haar und einem zu seiner sonstigen Beleibtheit in seltsamen Kontrast stehenden hageren Gesicht mit hellblauen kleinen Augen. Er trug eine graue Uniform und die dazugehörige Schirmmütze, die ihn als Beamten des öffentlichen Dienstes kenntlich machte. Kaum hatte sich die Türe des Waggons, in dem auch der junge Mann saß hinter ihm geschlossen, so zog er blitzschnell eine silberne Marke aus seinem Uniformrock, hielt sie von sich und erwies sich so als Kontrolleur, als einer also, der die Fahrkarten der Fahrgäste auf ihre Gültigkeit und vor allem auf ihr Vorhandensein überprüfte. Als es der Mann sah, wurde er sich sofort seines Fehlers gewahr. In der Eile des Nachlaufens und anschließenden Einsteigens hatte er nämlich vergessen, den Fahrschein, den ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte, an einem der Automaten zu entwerten, die überall in den Waggons montiert waren, entlang der Haltestangen und an den Wänden der Fahrzeuge. Mehrere in solchen Situationen typische Gefühle und Bestrebungen erfassten ihn jetzt. Als erstes erhob er sich unwillkürlich von seinem Platz und ging zur hinteren Türe, die jene mit der größten Entfernung zu dem Beamten war. Gleichzeitig versuchte er, die Entfernung und benötigte Zeit bis zur nächstliegenden Haltestelle zu schätzen. Er hoffte, der ohne Zweifel unangenehmen Situation entkommen zu können, indem er sich den Anschein gab, an dieser Haltestelle auszusteigen, die nur noch eine Station weit von seinem eigentlichen Ziel entfernt war. Allerdings waren nur sehr wenige Fahrgäste in dem Wagen und die hatten alle ihre Fahrscheine bei sich, sodass die Kontrolle reine Routinesache war und schnell vorankam. Unaufhaltsam näherte sich der Kontrolleur dem jungen Mann, der indes versuchte, einen möglichst harmlosen Gesichtsausdruck beizubehalten, obwohl er innerlich bebte und sich deutlich sichtbaren Schweißflecken an seinem grauen Hemd unterhalb seiner Achseln bildeten. Es war nicht die Angst, Bußgeld bezahlen zu müssen, sondern jene vor der Peinlichkeit der zu erwartende Situation. Glaubhaft darstellen zu müssen, dass es sich bei dem scheinbaren Betrug an den Verkehrsbetrieben seiner Stadt nicht um ein vorsätzliches Vergehen handelte, sondern bloß um ein Versehen und dass es ihm leidtäte und er sich in Zukunft bemühen wolle, Ähnliches zu vermeiden. Und natürlich gerne bereit wäre, die Strafe zu bezahlen, wenn damit die Angelegenheit aus der Welt geschafft wäre.

Der Zug setzte gerade zum Bremsen für die nächste Haltestelle an, als der Kontrolleur ihn erreichte und ihn mit gezwungener Höflichkeit, aber umso bestimmter nach seinem Fahrausweis fragte, wie er das Billet zu nennen pflegte, um seiner Aufforderung einen amtlichen Ton zu verleihen. „Nun durch“, dachte der Mann bei sich und mit dem Ausdruck ehrlichen Bedauerns gestand er dem Kontrolleur sein Missgeschick. Wie erstaunte es ihn, als jener, statt mit einem Ausdruck geschäftigen Bedauerns seinen Rechnungsblock und das Formular für die fällige Ordnungsstrafe hervorzuholen, mit ernstem Blick seine rechte Hand auf die linke Schulter des Mannes sinken ließ und ihn mit ungewöhnlicher Kraft festhielt. Mit seiner Linken griff er – ohne den Erstaunten loszulassen - in die tiefe Tasche seines Uniformmantels und holte aus dieser ein altmodisches Funkgerät, welches wohl auf eine feste Frequenz eingestellt sein musste, da er sofort zu sprechen begann. Der Mann erlebte von nun an alles wie im Traum. Er bemerkte am Rand des Geschehens, wie sämtliche Fahrgäste des Waggons ihn mit blankem Entsetzen anstarrten, ja teilweise mit Abscheu aber auch mit einem Ausdruck des allertiefsten Bedauerns, gerade so, als ob sie eben Zeuge gewesen wären, wie ein Arzt ihm seinen vorzeitigen Tod infolge einer ebenso tödlichen wie unheilbaren Krankheit angekündigt hätte. Dann gleich erwachte er aus dem traumähnlichen Zustand, als er begriff, dass der Kontrolleur, immer noch während er ihn mit erbarmungsloser Härte festhielt, die Polizei rief, um ihnen seine Ankunft am Rathausplatz der Stadt anzukündigen. Auch der Fahrer des Triebwagens musste wohl informiert worden sein, denn eben bevor die Bahn in diese Station einfuhr, hielt sie vorzeitig an, wobei die Türen geschlossen blieben. Gleich, wenige Minuten später ertönte das Folgetonhorn mehrerer Polizeiwagen, die aus der Fußgängerzone der Innenstadt kommend in voller Fahrt auf den Platz einfuhren und mit quietschenden Reifen an der Haltestelle mitten unter den wartenden Passanten zum Stillstand kamen. Der Mann dachte an einen Bankraub mit Geiselnahme, an einen Anschlag, der vielleicht auf den nahen gelegenen Sitz der Stadt- und Landesregierung verübt worden war. Es dauerte lange, bis er begriff, dass nichts davon zutraf, sondern, dass es um ihn ging, ausschließlich um ihn. Schnell erforschte er sein Gewissen, eine Gewohnheit, die ihm seit jeher eigen war. Er neigte dazu, sich schuldig zu fühlen, auch wenn es dazu keinen Grund gab. Er wusste auch, dass es daherkam, dass ihm immer wieder gesagt wurde, dass er zu sehr außerhalb der gesellschaftlichen Gepflogenheiten stand, dazu neigte, ihre ungeschriebenen Gesetze nicht ausreichend zu beachten und daher stets unangenehm auffiele, aus Prinzip unangenehm sozusagen. Und er wusste auch, dass es häufig seine Mutter war, die ihn solcher Geisteshaltung bezichtigte, was sie sehr verunsicherte und ihre Übellaunigkeit ihm gegenüber herausforderte. Doch trotz intensivsten Nachdenkens wollte ihm nichts anderes einfallen, als sein Versehen, die Fahrkarte, die sie, seine Mutter, ihm mitgegeben hatte auf seinen heutigen Weg, nicht zu entwerten.