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Die Geschichte vom kleinen Riesen, der in die Welt zieht, wurde geschrieben für alle Leser, die bereit sind, die Welt auch mit den Augen der Fantasie zu betrachten und zu verstehen. Wir begleiten einen Jungen auf seinem Weg in die Unabhängigkeit, fortgetrieben von einem Zuhause, in dem er nicht mehr leben konnte und wollte. Als dieser Junge muss er wichtige Erfahrungen machen, die sein Verhalten in der realen Welt betreffen und ihm beim praktischen Überleben in der Natur helfen. Dabei taucht er ein in eine noch viel größere Welt der verborgenen Zusammenhänge und Wirkungen.
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Seitenzahl: 173
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Eigentlich wollte der Riese lieber noch zu Hause bleiben, aber es war schon seit längerer Zeit immer schwieriger geworden, im Haus seiner Eltern zu leben. Genauer gesagt, war es für den Riesen schwer, in irgendeinem Haus zu leben, denn schon an seinem zwölften Geburtstag war er größer als sein Vater. Mit vierzehn hatte er große Mühe, mit gesenktem Kopf durch die Türe des Wohnraumes zu gelangen, in dem die Familie lebte und als der Riese schließlich fünfzehn Jahre alt war, musste er seinen Schlafplatz in dem geräumigen Keller des Hauses suchen und konnte die meisten anderen Räume, in denen sich die Familie aufhielt, nicht mehr betreten.
Dabei waren der Vater und die Mutter des Riesen von ganz normaler Größe und auch seine zwei Schwestern und der kleine Bruder fielen nicht aus der Reihe. Die Ärzte, die man befragte, waren ratlos über das Wachstum des Riesen, sie konnten sich bei all ihrem Wissen keinen Reim auf die absonderliche Körpergröße dieses Kindes machen. Und so redeten sie sich – wie immer, wenn sie etwas nicht zu erklären wussten – auf die Launen der Natur aus, die ja immer wieder die Menschen in Verwirrung und Erstaunen zu setzten wüsste.
Abgesehen von seinen Körpermaßen war der Riese ein ganz normales Kind, das sich langsam zu einem jungen Erwachsenen wandelte. Nur war eben sein Leben viel komplizierter als das, anderer Kinder. An Schule war schon bald nicht mehr zu denken, denn der Riese konnte sich nicht mehr durch die niedrige Türe des Klassenraumes drängen, da er zu breit und zu hoch für den Türrahmen geworden war. Und so musste er aus den Büchern lernen, die ihm seine Kameraden nach Hause brachten. Auch das Essen wurde zum immer größeren Problem, da er mit der Zeit Unmengen von Nahrung zu sich nahm.
Eines nachts schlief der Riese wie immer auf seiner Decke am Boden des Kellers und träumte, dass er mit seinen Freunden auf dem Sportplatz der Schule wäre, wo sie Fußball spielten. Es war immer das Gleiche in diesen Träumen: Der Riese war zwar er selbst, aber er war kein Riese mehr, sondern ein ganz normaler Junge, der für seine Mannschaft im Tor stand. Und nur in diesen Träumen kam es vor, dass sich der Riese ganz und gar glücklich fühlte und wusste, dass er zu den anderen gehörte, die ihn brauchten und mochten. Wahrscheinlich war es aus diesem Grund, dass der Riese den Traum so oft träumte; er wollte eben auch einmal ganz einfach glücklich sein und sich keine Sorgen um den nächsten Tag machen müssen, an dem wieder irgendetwas Unangenehmes geschehen würde, das mit seiner Größe zu tun hätte. Und noch etwas war anders in diesen Träumen, als es am Tag war: Hier waren viele der anderen Mädchen und Buben eben wirklich seine Freundeund nicht nur seine Kameraden. Da war zum Beispiel dieser eine, der, den Ball vor seinen Füßen, sich eben vor dem geträumten Fußballtor in Stellung brachte. Wie gerne hätte der Riese ihn als wirklichen Freund gehabt und wie sehr bewunderte er ihn für seine Geschicklichkeit beim Spiel. Aber wenn sie nebeneinanderstanden, dann reichte der Freund ihm gerade bis knapp zur Brust. Und die Erfahrung hatte dem Riesen gezeigt, dass es sehr schwierig ist, befreundet zu sein und auch zu bleiben, wenn man sich äußerlich von seinem Freund zu sehr unterscheidet.
Der Traum des Riesen war farbig und er wurde immer schneller und voller Spannung. Eben bemerkte er, wie Franz versuchte, den Ball durch winzige, geschickte und schnelle Bewegungen der beiden Füße unbemerkt in eine günstige Lage für den Schuss ins Tor zu bringen. Der Riese erstarrte in seiner Bewegung und für wenige Augenblicke wurde es in seinem Traum ganz still, so groß war seine Konzentration. Und dann kam der Schuss: Franz hatte den Ball ganz unbemerkt in eine andere Lage gebracht, sodass die Richtung genau in die freie Seite des Tores, und zwar an die obere Kante zielte. Der Riese wusste in diesem Moment, dass es nur eine Chance gab, diesen Ball zu halten und damit seine Mannschaft – seine Freunde!– vor einer drohenden Niederlage zu bewahren: Er musste mit all seiner Kraft in die obere freie Ecke des Tores springen, bevor der Ball, der mit unglaublicher Geschwindigkeit herannahte, das Netz berühren konnte! Und so sprang er, wie er noch nie gesprungen war, und er erhob sich vom Boden und durchquerte den über ihm liegenden Raum.
Was dann geschah, konnte der Riese, der ganz in seinem Traum gefangen war, nicht verstehen: Seine Umgebung, seine Freunde zusammen mit Franz, dem Schützen, verschwand und blieb unsichtbar. Die obere Seite des Tores bewegte sich auf einmal wie von selbst auf den Riesen zu und sein Kopf stieß viel härter und schmerzhafter, als man es von dem Netz eines Fußballtores erwartet hätte, an ein hartes Hindernis. Der auf diese Art so schnell zum Stillstand gekommenen Bewegung folgte ein lautes Geräusch wie von brechendem Holz und berstenden Wänden. Und da sich der Riese immer noch in der Geschichte seines Traumes glaubte, hielt er das, was er für den Ball des Gegners hielt, fest in seinen Händen. Etwas Enges hatte sich um seine Brust gelegt und er tat sich schwer beim Atmen. Erst durch heftige Bewegungen wurde diese Bedrängnis erleichtert und so fand sich der Riese in einer schrecklichen Lage: Statt im Fußballtor zu liegen mit dem Ball in seinen Händen, hing er in einem großen Loch, das sich dicht um seinen Brustkorb legte. Er war in seinem Traum so kräftig gesprungen, dass er mit seinem Kopf mitten durch die dünne Kellerdecke des Hauses stieß und sich nun mit Kopf und Oberkörper im Erdgeschoss des Hauses und mit seinen Beinen im Keller befand, wobei er mit beiden Füßen beinahe noch auf dem Boden stand.
Da steckte er nun fest, der arme Riese und wieder einmal hatte er eine Unordnung geschaffen, die er nicht wollte und er hatte es auch wieder erreicht, dass alle böse auf ihn waren. Der Vater schimpfte mit ihm, regte sich auf und sparte nicht mit bösen Vorwürfen. Doch das ertrug der Riese noch leichter als die schweigende Mutter, die nur dastand und ihn mit ihren Augen bestrafte. Das war einfach schrecklich für den Riesen, denn dazu konnte er sich alle Vorwürfe selbst ausmalen, die ihm die Mutter machte ...! Und wie immer bei ähnlichen Zwischenfällen wurde der Riese traurig. Doch diesmal war jenes Gefühl so stark, wie es die meisten Kinder im Alter des Riesen nicht kennen. Es war nämlich nicht nur Traurigkeit über das, was geschehen war, sondern auch über das Wissen, dass er für ein normales Leben mit den anderen Menschen, natürlich auch mit denen, die er lieb hatte, nicht geeignet war. Und er wusste, dass auch die anderen so dachten, auch wenn sie ihm das nicht direkt sagten. Nicht der Vater mit seinem Geschimpfe und nicht die Mutter mit ihren vorwurfsvollen Augen. Und auch nicht seine Geschwister, obwohl auch die schon unter ihrem unbeholfenen Riesenbruder zu leiden hatten. Aber denken, dass sie ihn eigentlich nicht brauchen konnten und auch nicht haben wollten, das taten sie alle und das wusste der Riese und das machte ihn so übermäßig traurig. So einfach war das – und so traurig auch.
Schon oft hatte es, wie gesagt, Ärger gegeben, wenn der Riese auf Grund seiner Körpergröße und seiner ihm schwerfallenden Kontrolle über seine Bewegungen, was ebenfalls von seiner Größe kam, etwas im und um das Haus der Familie zerstört hatte. Doch diesmal war es so schlimm, wie nie zuvor. Nicht nur, dass der Schaden, den er angerichtet hatte, diesmal so groß, wie noch nie war, nein es war auch die schreckliche und lächerliche Lage, in die er sich gebracht hatte: Hilflos und dumm in einem Bodenloch zwischen Keller und Erdgeschoss des Hauses zu stecken, war demütigend, sehr demütigend! Und als der Vater in seinem Zorn dann auch noch den Satz „... wäre er doch nur fort und käme er nie wieder und könnten wir ihn einfach vergessen ... “ sagte, da stand es für den Riesen fest. Er musste raus aus diesem Haus und aus dem Dorf, weit weg von all den Menschen mit ihren winzigen unpassenden Behausungen, in denen er sich nicht rühren konnte und mit jedem harmlosen Traum eine Katastrophe verursachte! Und weit weg von den Menschen, die einen nur litten, weil man ihr Kind war und weil man Kinder eben nicht wegschickt! Der Riese wusste auch, dass er diesen Entschluss sofort ausführen musste. Wartete er zu lange, so könnte er nicht mehr weg, weil dann die Angst davor, allein zu sein, viel zu groß geworden wäre. Eigentlich stand fest, dass er gehen würde, sobald er aus seiner Lage befreit wäre, und zwar heimlich, gleich in der kommenden Nacht. Allerdings nicht ohne Nahrungsmittel. Das schuldeten sie ihm zumindest! Wenn sie ihn danach für immer los wären, könnten sie das auch verschmerzen!
Ja, jetzt war er auch böse, der kleine Riese, weil er sich ungerecht behandelt fühlte. Manchmal ist es besser, böse zu sein als traurig. Wenn man böse ist, weiß man nämlich meistens, warum oder auf wen man böse ist. Ist man aber traurig, so kann es geschehen, dass man den Grund dafür bald vergisst und einfach nur noch traurig ist. Und so etwas kann später zu einer schlimmen Krankheit werden.
So kam es also, dass der Riese nach seiner Befreiung mit Hilfe des Vaters und sobald er wieder in seinem Kellerzimmer war, begann, seinen Aufbruch vorzubereiten.
Stunden später verließ der Riese das Haus durch die Gartentüre. Diese führte aus dem Keller, durch einen kleinen Vorgarten direkt auf die Straße des Dorfes. Die Vorbereitungen hatten länger gedauert als der Riese sich vorgestellt hatte; den ganzen Tag war er damit beschäftigt, seine Sachen und vor allem viel Essbares in einem riesigen braunen Stoffsack zu sammeln. Ganz obendrauf kam noch ein Bild von der älteren seiner beiden Schwestern; er wusste im Moment nicht so genau, warum gerade von dieser und keines von der anderen Schwester und keines von seinem Bruder, aber er war in diesen Stunden auch gar nicht in der Stimmung, darüber nachzudenken. Zum Denken würde er später noch sehr viel Zeit haben, das wusste der kleine Riese ganz sicher.
Und so war es bereits später Abend, als der Riese – unbemerkt – aus dem Haus schlüpfte, mit einem Schwung seinen Sack über die rechte Schulter schwang und mit großen Schritten die fast menschenleere Straße entlangging. Die einzige breite Straße verlief in gerader Linie zwischen den Häusern und der Riese erreichte den Rand des Dorfes dank seiner großen Schrittlänge bereits nach zwei Minuten.
Nun muss man nicht denken, dass der Riese einen bestimmten Plan hatte, die Vorstellung einer bestimmten Richtung, in die er gehen wollte. Es kam ihm nicht darauf an, wohin er ging, sondern vielmehr darauf, aus seinem viel zu schwierigen Leben hinauszugehen. Wenn aber jemand den Riesen in diesen Stunden gefragt hätte, warum er denn wegliefe, so hätte er es wahrscheinlich nicht genau erklären können. Und trotzdem tat er genau das. Und dass es richtig war, musste er sich nicht in fertig gedachten Gedanken durch den Kopf gehen lassen. Er wusste es einfach, weil er es fühlte.
Gleich nach dem Ende des Dorfes bog ein Weg links von der Straße ab und verlief leicht ansteigend durch eine Wiese. Es war ein ungewöhnlich warmer Abend gegen Ende des Monats April. Der Weg führte einem dunklen Waldrand entgegen. Die letzten Lichter des Dorfes verblassten und über dem Wald leuchteten die Sterne so stark, dass es dem Riesen vorkam, als wären kleine Löcher in den Himmel gestanzt worden, hinter denen ein unvorstellbar helles Licht eingeschaltet wäre, das sein Leuchten auf die Erde schickte.
Ein ungewöhnliches Glücksgefühl durchströmte den Riesen. Später, wenn er an diese Zeit des Fortgehens dachte, fiel ihm als Erstes dieses überaus starke Empfinden ein und diese ersten Minuten auf seinem Weg, in denen er einfach wusste, dass er die richtige Entscheidung für sein weiteres Leben getroffen hatte.
In dieser Stimmung schritt er schneller aus und fühlte nicht die Anstrengung des Bergaufgehens. Er merkte auch gar nicht, wie er in den Wald eintauchte und wie es vollkommen dunkel wurde um ihn. Auch nicht, dass der Weg sich verengte und der steinige Grund sich in einen weichen, moosbedeckten Waldpfad verwandelte.
Eine halbe Stunde später, der Weg verlief jetzt eben dahin, gelangte der Riese auf die andere Seite des Waldes. Vor ihm lag eine abschüssige Wiesenebene, die vom Sternenlicht beleuchtet als Rand zu erkennen war, der sich vor dem etwas weniger dunklen Nachthimmel schwarz hervorhob. Das Gras links und rechts von ihm roch so stark, wie Gras nur im Frühsommer riecht. Ganz weit weg, dort wo der Horizont sein musste, war ein schwacher silberner Streifen zu sehen. Zwischen dem Riesen und seinem Dorf lag der Wald.
War der Riese bisher immer nur in Bewegung gewesen, so blieb er jetzt zum ersten Mal stehen und atmete tief die würzige Nachtluft ein. Es war, als ob die frische Luft alles, worunter der Riese in den letzten Monaten und Jahren zu leiden hatte, aus ihm herausblies und er fühlte eine große Erleichterung. Zugleich merkte er mit einem Mal, dass er müde war. So müde, dass er keine große Lust mehr verspürte, weiter zu wandern und sich einfach seitlich des Weges ins hohe Gras fallen ließ. Er freute sich darauf, am Rücken liegend die Sterne zu betrachten, die still und ihm so nah über den Himmel zogen. Und er erinnerte sich später daran, sich kurz danach gewundert zu haben, dass er keine Sterne sah, obwohl er auf dem Rücken lag.
Das Nächste, was er sah, war hellblaue Farbe. Und was er fühlte, war eine empfindliche nasse Kälte, die seine Schultern entlang kroch. Ohne dass der Riese es bemerkt hatte, war der neue Tag angebrochen. Er lag immer noch am Rand des Weges, auf dem er gekommen war, im morgendlichen, taunassen Gras. Und er merkte, dass er den Rest der Nacht vor Müdigkeit einfach so im Freien verschlafen hatte. Es war doch noch recht kalt geworden in dieser Aprilnacht. Beim Aufstehen bemerkte der Riese, dass seine Glieder steif geworden waren vor Kälte. Es tat etwas weh, sich zu strecken und es war deutlich zu spüren, wie kribbelnd und stoßend das Blut in seine kalten Hände und Füße floss. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte der Riese wie es ist, wenn man ohne den Schutz eines Hauses die Nacht in der Natur verbringt. Es war neu für ihn und für einen ganz kurzen Augenblick überlegte er, ob es nicht besser wäre umzudrehen und zurück nach Hause zu gehen. Aber dann erinnerte er sich daran, wie schwierig es gewesen war, im Haus seiner Eltern zu leben und er spürte wieder ganz deutlich die Ablehnung seiner Familie.
Und noch etwas wurde ihm in diesem Augenblick bewusst. Hier in der Natur verlor seine ungewöhnliche Größe jede Bedeutung! Was machte es aus, dass der mittlerweile drei Meter hohe Riese einigen kleinen Bäumen bis an die halbe Höhe reichte! Er konnte sich trotzdem ohne Schwierigkeiten zwischen den Bäumen bewegen, er konnte mit ihnen sein, zwischen ihnen leben! Und jeder kleine Wiesenfleck konnte ihm Platz genug zum Schlafen bieten. Er würde nirgendwo anstoßen, auch nicht, wenn er wieder einmal aus einem Traum auffahren sollte. Nein, es wäre nicht richtig, umzukehren. Er musste hinaus in die Welt und sich sein Leben dort draußen einrichten, das wurde dem Riesen jetzt endgültig klar. Und so schwang er sein Gepäck wieder über die Schulter und folgte kräftig ausschreitend dem Weg in seiner vorgegebenen Richtung weg von seiner alten Heimat und hinaus in eine große, freie und ihm ausreichend Platz bietende neue Welt!
Noch niedrig stand die Morgensonne über dem Horizont. Nebel stiegen seitlich über die Wiese und erreichten den Riesen, der zügig auf seinem Weg vorankam. Dank seiner Größe ragten sein Kopf und Oberkörper aus dem niedrigen, aber sehr dichten Nebel, sodass er sich nur bis zu seinen Knien sehen konnte. Den Weg konnte er nur mit seinen Füßen ertasten und es war ihm, als ob er über einem riesigen Wolkenmeer schwebte, über ihm der inzwischen vormittagsblaue Himmel und unter ihm die weiße Nebelmasse. Er freute sich sehr über dieses heitere Erlebnis, das ihm dank seiner Körpergröße zuteilwurde. „Die Natur ist besser zu den Riesen als die Menschen“, sagte er sich und zog seines Weges dahin.
Im Laufe des Vormittags verschwand der Nebel und es wurde warm, fast schon wie im Sommer. Der Riese begann zu schwitzen und plötzlich fühlte er, dass der Beutel über seiner Schulter eigentlich sehr schwer war. Gleichzeitig fiel ihm ein, dass sich darin ja sein Frühstück befand. Und dass es für ihn ganz ungewohnt war, jetzt am späten Vormittag und bei leerem Magen noch keinen Hunger gespürt zu haben! Und das, obwohl die letzte Mahlzeit fast einen ganzen Tag zurücklag. Jetzt ganz plötzlich spürte er den Hunger und er setzte sich ins Gras. Er öffnete sein Bündel und nahm heraus, was er gerade fand: Eine Bratwurst, ein gebackenes Schnitzel, zwei Äpfel, drei Birnen, einen Kanister mit Wasser und einen mit Kaffee, dann noch zwei Packungen mit Chips. Danach war er zwar satt, aber von den gesalzenen Chips hatte er noch so viel Durst, dass er dem leisen Geplätscher nachging, das an jenem Ort zu hören war und einen Bach fand. Da es wirklich warm geworden war, legte er sich gleich der Länge nach in das Bachbett und öffnete seinen Mund und ließ das Wasser in sich hineinfließen. Er genoss das Gefühl, wie das kalte Wasser in seinen Magen floss. Als er sich triefend aus dem Bachbett erhob, schwappte eine Riesenwelle aufgestauten Wassers den Bach entlang und überschwemmte das Ufer auf beiden Seiten. Der Riese sah es und musste lachen. Schon nach wenigen Minuten kam die Überschwemmung wieder zum Stillstand und alles war so, als wäre nichts geschehen.
Gestärkt und ohne Durst schritt der Riese zügig voran und kam während dieses ersten Tages seiner Reise gut voran. Noch immer hatte er keine klare Vorstellung, wohin es gehen sollte. Die Gegend, durch die er ging, war eher dünn besiedelt. Wilde Heide und viel Gras wechselte mit ausgedehnten Waldgebieten. Manchmal war der Weg breit und ausgetreten, meist jedoch schmal und oft kaum sichtbar. In den Wäldern wurde der Pfad beinahe unsichtbar. Nur die Spuren von Tierhufen deuteten darauf hin, dass man hier vorankam. Manchmal gab es Abzweigungen, die zu etwas entfernteren Bauernhäusern führten. Sie waren von eingezäunten Gärten und Wiesen umgeben und hie und da sah man Vieh gemächlich weiden. Und da es vor dem Aufbruch des Riesen einige Tage lang ohne Unterlass geregnet hatte, war alles frisch und grün.
Trotz seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit und der Freude darüber, in der Natur bestehen zu können, war der Riese sehr froh, als er gegen Abend, als es kühl und taufeucht wurde, an einem Waldrand eine scheinbar unbewohnte Holzhütte entdeckte. Die Tür stand weit offen, sie schien aber leer und unbenutzt zu sein. Der Gedanke, in der Hütte zu übernachten, war verlockend, zumal ein Blick in das Innere dem Riesen zeigte, dass eine Menge frischen Heues den Boden bedeckte, gerade genug, um bequem darauf die Nacht zu verbringen. Da niemand zu sehen war, den man hätte fragen können, ob man die Nacht in diesem Haus verbringen dürfte, betrat der Riese einfach die Hütte, schloss das Tor hinter sich und öffnete ein Fenster, das noch genügend Licht des vergehenden Tages hereinließ.
Die Abendluft wehte ins Innere, ihr Duft vermischte sich mit dem starken Heugeruch. Und wieder, wie schon oft zuvor, erlebte der Riese, wie deutliche und starke Erinnerungen ein Geruch erzeugen konnte. Auf dem bequemen Heu liegend sah er sich vor fünf Jahren zusammen mit seiner Mutter bei einem Spaziergang entlang eines Flusses in der Nähe einer Stadt, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Sehr wohl war ihm aber der starke Geruch im Gedächtnis haften geblieben, der dem jetzigen exakt glich. Seit jenem Tag war der Geruch von Heu mit der Erinnerung an diesen schönen Nachmittag verbunden. Er wusste noch sehr genau, dass er damals etwas kleiner war als seine Mutter, also noch kein Riese, wie in den darauffolgenden Jahren. Traurig stimmte ihn, dass es damals wirklich möglich war, in seiner Familie zu leben und niemand böse auf ihn war. Er holte tief Luft, um diese aufbrausenden Gefühle der Erinnerung ein wenig zu verdrängen. In diesem Augenblick fiel ihm auch das Gedicht ein, das ihm seine Mutter damals vorsagte und die Stimmung, in die ihn diese Zeilen damals versetzten:
Abend, Abend komm zu mir
ich bin so lang gegangen
mein ganzes Wesen ruft nach dir,
der Tag hat mich gefangen
Kühle Luft weh her zu mir
Mir ist so heiß geworden
Winde, Winde blaset ihr
aus dem fernen Norden.
Komm du Nacht ich wünsche mir
dass deine schwarzen Schwingen
sich über meine Schultern legen
und mir Vergessen bringen ...