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*** Zwei Mädchen. Zwei Pferde. Ein großes Geheimnis *** BAND 2: Marie hat alles, wovon andere nur träumen. Sogar ein eigenes Pferd! Bis sie bei einem Unfall ihr Gedächtnis verliert. Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Denn Marie wird verwechselt und landet auf einem heruntergekommenen Schüler-Reiterhof. Dort entdeckt sie Dark Shadow, ein junges, wildes Pferd, das nur sie bändigen kann. Gemeinsam mit Robbie, dem Sohn des Besitzers, kümmert sie sich um ihn. Dass die beiden ein dunkles Geheimnis verbindet, ahnt sie nicht … Spannender Zweiteiler für echte Pferdefans! Band 1: Pias Geschichte Band 2: Maries Geschichte Von der ehemaligen internationalen Turnierreiterin und Bestsellerautorin Sabrina J. Kirschner *** Ab 11 Jahren ***
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Seitenzahl: 313
Sabrina J. Kirschner
Zwei Herzen – Eine Pferdeliebe: Maries Geschichte
Zwei Mädchen. Zwei Pferde. Ein großes Geheimnis.
Marie hat alles, wovon andere nur träumen. Sogar ein eigenes Pferd! Bis sie bei einem Unfall ihr Gedächtnis verliert. Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Denn Marie wird verwechselt und landet auf einem heruntergekommenen Schüler-Reiterhof. Dort entdeckt sie Dark Shadow, ein junges, wildes Pferd, das nur sie bändigen kann. Gemeinsam mit Robbie, dem Sohn des Besitzers, kümmert sie sich um ihn. Dass die beiden ein dunkles Geheimnis verbindet, ahnt sie nicht …
Die Serie »Zwei Herzen – Eine Pferdeliebe« umfasst zwei Bände, dieses ist der zweite Band.
Wohin soll es gehen?
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Vita
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Leseprobe
Für DestacoEs bedarf Mut zu fliegen und Zuversicht, um oben zu bleiben.
Ich habe ein wunderbares Pferd,es hat die Leichtigkeit des Windes und des Feuers Hitze, aber wenn sein Reiter es besteigt,ist seine Sanftmut nichts als die Ruhe vor dem Ausbruch des Sturmes.William Shakespeare, Heinrich VIII.
Während er rannte, bebte die Erde unter seinen Hufen. Staub wirbelte durch die Luft. Er warf sich zur Seite, bäumte sich auf, schwang sich dem Himmel entgegen. Immer schneller und immer größer wurden seine Sprünge. Er war schön, er war stark, er war gerissen. Wo auch immer er entlangstürmte – die Jungtiere machten ihm Platz, wichen ängstlich zur Seite. Niemand stellte sich seinem wütenden Tanz in den Weg, niemand wagte es.
Sein Weg war frei, aber einsam. Bald schon schenkten ihm die anderen Pferde kaum noch Beachtung. Angst hielt sie fern.
Das machte den schwarzen Hengst nur noch wilder, nur noch wütender, und er stürmte der Herde entgegen. Was konnte er tun, damit sie ihn beachteten? Was konnte er tun, damit sie ihn akzeptierten? Er wollte kein Anführer sein – nur Teil ihrer Herde. Doch er war von einem anderen Schlag. Er war schön und er war stark und er wurde gefürchtet.
Also durchstreifte er die Wiesen allein. Wagte sich vor bis zu dem schiefen Bretterzaun, der ihm den Weg zum Meer versperrte. Ganz gleich, wie oft er daran entlangstreifte, ihn mit den Hufen, Zähnen und schließlich mit seinem mächtigen Hals bearbeitete – es gab kein Entkommen. Doch das Jenseits des Zaunes lockte ihn jeden Tag ein wenig lauter, jeden Tag ein wenig mehr, und schließlich war es so weit. Er wurde geholt auf die andere Seite und seine Welt war fortan nicht mehr dieselbe. Es gab kein Zurück.
Marie von Elstenbühl starrte in den Spiegel, ohne zu blinzeln und ohne tatsächlich etwas zu sehen. Sie war in Gedanken ganz woanders. Schon seit Wochen. Ihre Augen begannen zu tränen. Alles um sie herum verschwamm.
Sie atmete scharf ein. Dabei rutschte ihre Hand ab, und der Mascara, mit dem sie sich eben die Wimpern hatte nachtuschen wollen, fiel lautlos auf den schwarz gefliesten Boden. Die hämmernde Musik vor der Toilettentür übertönte alles.
„Shit …“, presste sie durch die Zähne hervor und ging in die Hocke. Mit der einen Hand hatte sie noch immer die goldene Kette ihrer Handtasche umfasst, mit der anderen tastete sie unter dem Waschbecken nach dem Mascara. Wie in den meisten Clubs war es auf der Toilette beinahe genauso schummrig wie auf der Tanzfläche. Marie knickte in ihren hohen Riemchenstilettos um. Wieder fluchte sie leise.
Gerade als sie die Wimperntusche wiedergefunden hatte, wurde hinter ihr eine Klotür aufgerissen. „Hey, Chica, alles klar?“
Marie richtete sich auf. Dabei warf sie ihre langen blonden Haare schwungvoll über die Schulter. „Mir reicht’s. Der Laden ist total lahm geworden“, sagte sie zu ihrer Freundin Celine. Wobei „Freundin“ in diesem Fall ein dehnbarer Begriff war. Celine verbrachte lediglich jeden Sommer mit ihren Eltern auf der kleinen, hippen Urlaubsinsel, wo sich die Schönen und Reichen tummelten. Da lief man sich zwangsläufig immer wieder über den Weg.
Celine schminkte sich mit sicherer Hand die knallpinken Lippen nach und fuhr sich durch ihre kurzen schwarzen, perfekt gestylten Haare.
Marie startete einen neuen Versuch, sich die Wimpern zu tuschen. „Desaster!“, schimpfte sie und ließ es schließlich bleiben. Vielleicht hatte sie einfach den einen oder anderen Drink zu viel gehabt. Aber wie sollte man einen Abend in diesem öden Schuppen auch sonst überstehen? Wenigstens fragte sie hier keiner nach ihrem Alter oder ihrem Ausweis. Was im Pearl zählte, war eine funktionierende Kreditkarte.
„Ach komm, lass uns einfach noch ’ne Flasche Champagner killen. Geht auf mich“, kicherte Celine überdreht, während sie sich bei Marie unterhakte. „Wir müssen doch noch auf deinen großartigen Ritt anstoßen!“
Das Turnier am Vormittag! Das hatte Marie beinahe schon wieder vergessen … oder verdrängt. „Ich habe total abgelost“, zischte Marie genervt. „Der blöde Bock hat wieder nicht gezogen am Sprung. Ich weiß langsam echt nicht mehr, was ich noch mit ihm anstellen soll …“
Beim Gedanken an ihr Spitzenpferd Goldglanz sank Maries Stimmung nur noch weiter in den Keller. Sie hasste es zu verlieren. Sie ritt, um zu siegen. Das heutige Turnier auf dem Festland war eine Katastrophe gewesen, und wenn sie nicht bald ein neues Pferd von ihrem Vater bekam, würde sie es nicht einmal zu den Meisterschaften schaffen. Geschweige denn in den Kader.
Marie warf den Mascara in ihre Handtasche.
„Warum bist du denn so mies drauf, Süße?“, lallte Celine. „Du hast doch alles, wovon andere Mädchen träumen! Ein eigenes Pferd, einen riesigen Palast, einen supersüßen Bruder …“
„Hör mir bloß mit dem auf!“, fauchte Marie und entzog Celine ihren Arm. Dabei geriet sie mächtig ins Schwanken.
„Ist Helge eigentlich solo?“, fuhr Celine unbeirrt fort. „Für eine kleine Sommerromanze würde ich ihn mir auf jeden Fall mal ausleihen“, kicherte sie und zog Marie zur Tür.
Auf einmal war Marie so richtig genervt. Helge war erst am Morgen aus England zurückgekommen, wo er auf ein Internat ging, und trotzdem war die eiskalte Stimmung, die seit seinem letzten Besuch zu Weihnachten zwischen ihnen herrschte, sofort wieder spürbar gewesen. Sie hatten seit dem Morgen kaum ein Wort miteinander gewechselt – von den üblichen Sticheleien einmal abgesehen. „Ich weiß nicht, ob mein Bruder eine Freundin hat, und es ist mir auch total egal, aber …“ Celine öffnete die Tür, und augenblicklich musste Marie schreien, um die wummernden Bässe der Musikanlage zu übertönen. „… lass die Finger von ihm!“ Damit stürmte Marie los, hinaus auf die volle Tanzfläche. Celine hing wieder an ihr wie eine Klette und stolperte hinterher.
Während sie sich durch die Menge schob, entgingen Marie nicht die Blicke von allen Seiten. Sie wusste, welche Wirkung sie auf andere hatte. Nicht nur auf die Jungs. Selbst die meisten Mädchen sahen sie bewundernd oder neidvoll an und begannen zu tuscheln, sobald sie an ihnen vorbeilief.
Maries schwarzes Minikleid reflektierte das Licht der Scheinwerfer, wobei es ihre Modelfigur perfekt zur Geltung brachte. Sie genoss diese Art von Aufmerksamkeit. Es lenkte sie wenigstens für ein paar Stunden von all den Dingen ab, die gerade nicht so gut liefen.
Marie stolzierte an dem Türsteher vor dem VIP-Bereich vorbei, ohne auch nur in seine Richtung zu sehen. Stattdessen fixierte sie Helge, der sich auf einem der Loungesofas fläzte. In seiner Nähe hatte sich eine Traube Mädchen versammelt – was Marie wenig überraschte. Sie wusste ja, dass nicht nur Celine ein Auge auf ihren umwerfend gut aussehenden Bruder geworfen hatte.
Helge wiederum war das alles herzlich egal. Wenn Marie ihn nicht angebettelt hätte, sie ins Pearl zu begleiten, damit ihre Eltern sie gehen ließen, wäre er wahrscheinlich gar nicht mitgekommen, sondern hätte stattdessen die halbe Nacht vor seinem Laptop gehockt und gepaukt. Im Gegensatz zu Marie war Helge fürchterlich pflichtbewusst. Na gut, ihre Eltern investierten ja auch ein halbes Vermögen in die Ausbildung ihrer Kinder. Diesmal hatten sie ihren Sohn jedoch ausnahmsweise nach Hause abkommandiert, damit er Marie in Schach hielt, während sie auf Kreuzfahrt waren. Maries letzte Hausparty war ihnen wohl noch in lebhafter Erinnerung gewesen …
Marie ließ sich neben Helge aufs Sofa fallen. „Mir ist langweilig“, maulte sie.
Helge setzte sich auf und runzelte die Stirn. „Dann fahren wir nach Hause. Du siehst sowieso aus, als gehörtest du dringend ins Bett“, stellte er fest.
Marie stöhnte theatralisch, beugte sich über Helge hinweg und klopfte auf den freien Platz neben ihm. „Komm, Celine, setz dich doch, falls du die Spaßbremse hier ertragen kannst.“
Das ließ sich Celine nicht zweimal sagen. Ungalant plumpste sie neben Helge aufs Sofa und versank sofort in den weichen Polstern.
„Hi …“, begrüßte sie ihn lallend.
„Hallo, Celine“, antwortete Helge steif.
„Celine hat versprochen, noch eine Runde springen zu lassen“, klinkte sich Marie wieder ein. „Komm schon, stoß mit uns an, Bruderherz.“
Helge verzog das Gesicht. „Auf was genau stoßen wir denn an? Darauf, dass du unser bestes Pferd heute sauer geritten hast? Dass du Dad schon wieder richtig clever um den Finger gewickelt hast? Oder darauf, dass du einfach dein übliches, ach so liebenswertes Selbst bist?“
Celine kicherte albern und zupfte übermütig an Helges weißem Hemd. Helge trug sonst nie weiße Hemden, aber hier im hoteleigenen Nachtclub sowie in dem ganzen 5-Sterne-Schuppen wurde Wert auf Dresscode gelegt. Andernfalls kam man nicht rein. Nicht einmal, wenn man von Elstenbühl hieß und somit einer der wohlhabendsten Gäste der Insel war.
Helge ließ Celine gewähren, allerdings funkelte er sie böse an. „Ehrlich gesagt bin ich es leid, dein Kindermädchen zu spielen, Marie. Lass uns gehen!“
Marie schmollte und legte ihm provozierend die Arme um den Hals. „Komm schon, ich hatte echt einen miesen Tag. Gönn deiner kleinen Schwester doch mal ein klitzekleines bisschen Ablenkung. Nur noch zehn Minuten …“, jammerte sie und sah ihm dabei direkt in die grünen Augen. Doch dann wanderte ihr Blick an seiner Schulter vorbei – und sie erstarrte.
„Robbie Heinemann, was machst du denn hier?“, rief Marie lachend und ließ ihre Arme fallen. Helge war schlagartig vergessen.
Der Junge jenseits der VIP-Absperrung schnaubte. „Das frage ich mich auch!“ Er wandte sich zum Gehen.
„Wir wollten gerade noch eine Runde bestellen. Willst du nicht auch was trinken?“, fragte Marie und musste sich beherrschen, dabei nicht zu eifrig zu klingen. Verstohlen musterte sie seine dunklen Haare und die breite Brust, die sich deutlich unter seinem Hemd abzeichnete. Meist sah sie ihn nur von Weitem auf einem der klapprigen Reitschulgäule, in Reiterkluft und mit verstrubbeltem Haar. Doch heute Abend war er genau wie Helge ordentlich angezogen und frisiert.
Robbie verzog den Mund. „Nein, danke. Ich bin bloß hier, um nach meinem Alten zu sehen. Anscheinend hat er trinktechnisch mal wieder über die Stränge geschlagen“, erwiderte er genervt, doch Marie stellte mit Genugtuung fest, dass sein Blick dabei eine Sekunde länger als nötig auf ihren langen Beinen ruhte. Tatsächlich war sie Robbies Vater, dem alten Heinemann, vorhin auf dem Weg zu den Toiletten begegnet. Er war am Arm einer – für ihn – viel zu jungen Frau über den schummrigen Flur gewankt. Rainer Heinemann war ein Stammgast des Hotels und saß fast jeden Abend an der Bar oder im hauseigenen Kasino, wo er den Rest seines einst so großen Vermögens verzockte.
Marie schenkte Robbie ihr strahlendstes Lächeln. „Ach, komm schon, Robbie. Sei nicht so ein Spielverderber wie mein spießiger Bruder.“
Robbies dunkle Augen verengten sich. „Nein, lass gut sein. Ich muss gehen.“
Marie sog die Luft ein. Hatte Robbie ihr gerade wirklich eine Abfuhr verpasst? Ärger stieg in ihr hoch. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Die Hälfte der Jungs in diesem Club – nein, eigentlich alle – hätten dafür Schlange gestanden, dass sie, Marie von Elstenbühl, sie einmal so anlächelte. Und er ließ sie einfach abblitzen? Eiskalt auflaufen?!
Bevor Helge oder Celine eine Bemerkung machen konnten, sprang Marie vom Sofa auf und stürmte in Richtung Tanzfläche. Jetzt reichte es ihr! Das war einfach alles zu viel.
Sie schluchzte trocken, während sie sich rücksichtslos durch die Menge drängelte. Was zum Teufel hatte sie Robbie getan? Seit sie denken konnte, begegnete er ihr mit Abneigung.
Halb blind vor Tränen stolperte sie auf den Ausgang zu und stieg die Treppe zum Hotelfoyer hinauf. Dort war es nach der lauten Musik und dem dumpfen Wummern der Bässe fast paradiesisch still. Irgendwo spielte jemand leise Klavier.
Die Absätze ihrer Riemchenstilettos rutschten über den glatten Marmorboden, während Marie auf den Concierge zustöckelte. Wütend knallte sie ihre Tasche auf den Tresen, an dem der Mann in eleganter Uniform saß. „Den Wagen, bitte!“, schniefte sie laut, ohne den Concierge dabei anzusehen.
„Natürlich, Fräulein von Elstenbühl!“, sagte der Mann höflich. Trotzdem rührte er sich nicht.
Sie sah ihn zornig an. „Wenn’s geht, heute noch.“
„Sehr wohl, die Dame …“ Der Concierge griff zögernd nach dem Telefon. „Ihr werter Herr Bruder wird dann sicher auch gleich kommen?“ Er ließ die Frage in der Luft hängen.
Marie schnaubte. Sie war noch keine achtzehn und durfte darum noch nicht selbst fahren. Um genau zu sein, war sie gerade erst fünfzehn geworden. Eine Tatsache, über die – dank einer spektakulären Geburtstagsparty auf dem Anwesen der von Elstenbühls – offensichtlich die ganze Insel Bescheid wusste.
„Er muss jede Sekunde hier sein“, log sie also und drehte dem Mann den Rücken zu.
Ihre Antwort schien ihm zu genügen, denn er wählte eine Nummer und veranlasste, dass ein Hotelpage den Wagen vorfuhr. „Zwei Minuten, Fräulein von Elstenbühl“, sagte er dann. „Darf ich Sie schon einmal zur Tür geleiten?“
Marie stieß sich vom Tresen ab und wackelte los. „Nein, danke, ich komme allein klar.“
Sie steuerte auf den Ausgang zu und lief einigermaßen geradeaus durch die Drehtür nach draußen. Kühle Sommerluft umfing sie und ließ sie ein wenig klarer denken. Robbie Heinemann. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Und das schon seit einer ganzen Weile. Sie konnte nicht sagen, wann es angefangen hatte oder warum. Nur dass er der einzige Junge war, für den sie sich ernsthaft interessierte. Vielleicht weil er sich kein bisschen für sie interessierte? Sie war es nicht gewöhnt, nicht zu bekommen, was sie wollte. Und dieser Kerl hatte sie auch noch vor aller Augen bloßgestellt und eiskalt abserviert!
In diesem Moment bog ein teurer dunkelgrauer Sportwagen um die Ecke. Der Fahrer bremste direkt vor ihr ab, stieg aus und umrundete das Fahrzeug, um Marie die Beifahrertür zu öffnen. Den Schlüssel ließ er stecken.
Marie kaute auf ihrer Lippe. Sie war es leid, von allen Seiten bevormundet zu werden wie ein kleines Kind. Sie warf sich auf den Beifahrersitz, doch noch während sie den Hotelpagen weglaufen sah, rutschte sie hinüber auf den Fahrersitz. Sie war schon öfter mit diesem Auto gefahren, allerdings nur heimlich auf dem Grundstück ihrer Eltern. Aber sobald sie achtzehn war, würde der Wagen ihr gehören – und sie konnte endlich fahren, wann und wohin sie wollte.
Marie betätigte den Startknopf, der Motor heulte auf. Sie lächelte grimmig und drückte ihren Stiletto aufs Gaspedal. Der Wagen schoss nach vorn. Marie kreischte auf, als sich die geschlossene Schranke der Ausfahrt rasend schnell näherte. In letzter Sekunde schaffte sie es, mit ihrem Fuß die Bremse zu finden. Ein heftiger Ruck ging durch den Wagen, dann schepperte es laut. Marie bremste noch einmal und kam zum Stehen.
Vorsichtig öffnete sie die Augen einen kleinen Spalt – und hätte sie am liebsten sofort wieder geschlossen und sich unter dem Autositz verkrochen. Neben ihr auf dem Gehweg stand Robbie – wutschnaubend, denn am Straßenrand lag sein altes Motorrad. Marie musste es beim Vorbeifahren gerammt haben.
Und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Hinter ihr hallten Schritte übers Pflaster, und vor ihr begann Robbie zu brüllen: „Du verdammtes Miststück! Du hast mein Bike geschrottet!“
Marie hatte noch niemals jemanden so wütend erlebt. Sie schluckte schwer, während sie auf die Trümmerteile des Motorrades starrte. Was hatte sie getan?
Ihr Blick schoss wieder zu Robbie. Zum Glück war er unverletzt.
„Marie, geht es dir gut?“ Das war Helge.
Vor lauter Erleichterung begann sie zu heulen. „Es tut mir so leid!“, jammerte sie und meinte es ausnahmsweise ernst. Das hatte sie nicht gewollt! Sie hatte doch bloß …
„Ich rufe jetzt die Polizei. Deine Schwester hat doch nicht einmal einen Führerschein!“, schrie Robbie jetzt Helge an.
Helge hob beschwichtigend die Hände. „Hey, Robbie, warte mal …Was ist überhaupt passiert? Ich dachte, du wolltest nach deinem Vater sehen …“
„Hab ich auch. Der ist genauso dicht wie die da“ – er deutete auf Marie – „und war der Meinung, sich noch ein Gläschen genehmigen zu müssen.“
In diesem Moment waren wieder Schritte zu hören.
Marie versank im Fahrersitz. Helge sah zwischen ihr und Robbies Bike hin und her. Dann warf er einen raschen Blick über die Schulter. „Marie, steig aus!“ Er riss die Fahrertür auf, um Marie aus dem Wagen zu ziehen.
Sie sagte nichts und ließ es einfach über sich ergehen. Die Wut in Robbies Gesicht war so einschüchternd, dass sie es in diesem Augenblick nicht wagte, sich zu widersetzen.
Kaum war sie ausgestiegen, stürmte ein groß gewachsener Mann über den Parkplatz auf sie zu. Zu ihrem Entsetzen erkannte Marie den Hotelmanager Herrn Söderberg, einen Bekannten ihres Vaters, der gelegentlich auch mit seiner vornehmen Gattin bei Turnieren auftauchte. Hoffentlich hatte er nicht gesehen, dass Marie am Steuer gesessen hatte! Und erst recht durfte er nicht merken, dass sie betrunken war – wobei sich Marie nach dem Schock schlagartig wieder stocknüchtern fühlte.
Helge wandte sich an Robbie. „Bitte, Robbie, lass mich das regeln. Marie hat das echt nicht mit Absicht gemacht.“
Robbies Atem ging stoßweise.
Herr Söderberg war fast bei ihnen.
„Komm schon, Robbie, wenn du Marie verpfeifst, bin ich auch dran. Schließlich war ich heute Abend ihre Aufsichtsperson.“
Marie schluckte. Was Helge sagte, stimmte zwar, allerdings wusste sie auch, dass das nur der verzweifelte Versuch ihres Bruders war, Robbie umzustimmen. Helge würde nie versuchen seinen eigenen Hintern zu retten – ihren allerdings jederzeit.
Die Tränen liefen ihr heiß und schwer über die Wangen. Schnell wischte sie sie weg.
Robbie beruhigte sich tatsächlich ein wenig und Helge nickte ihm zu. Dann drehte er sich um. „Hallo, Herr Söderberg“, sagte er in bemühtem Plauderton. „Es gab hier leider einen kleinen Zusammenstoß mit Blechschaden. Aber es wurde niemand verletzt.“
Der Hotelmanager strich seinen Anzug glatt. „Na, Gott sei Dank!“ Und mit Blick auf Robbies Motorrad sagte er: „Soll ich vielleicht den Abschleppdienst kommen lassen … und die Polizei?“ Jetzt sah er verunsichert zu Marie und Helge.
„Polizei ist nicht nötig“, erwiderte Helge gelassen. „Wir werden selbstverständlich für den gesamten Schaden aufkommen. Darauf habe ich mich mit Herrn Heinemann junior schon verständigt. Stimmt’s, Robbie?“ Er sah Robbie durchdringend an.
Robbie murmelte etwas Unverständliches, doch der Hotelmanager schien zufrieden. „Na dann nur den Abschleppdienst. Ich bin gleich wieder da!“, rief er und eilte zurück zum Hotel.
Kaum war er außer Hörweite, baute sich Robbie vor Marie auf. „Das wirst du noch bereuen!“, zischte er böse. „Mein Bike ist unersetzbar! Ich hab’s selbst zusammengeschraubt und euer dreckiges Geld will ich ganz bestimmt nicht.“
„So war das doch nicht gemeint“, versuchte Helge ihn zu beschwichtigen. „Bestimmt finden wir eine Lösung …“
Robbie schnaubte. „Die Lösung wäre, dass deine verdammte Schwester endlich mal die Konsequenzen für ihr bescheuertes Verhalten tragen muss!“
Mit tränenverschleiertem Blick starrte Marie Robbie an. Ihr Kopf war vollkommen leer. So stand sie da, bis ihr Bruder sie am Unterarm packte und zur Beifahrerseite zerrte. „Du setzt dich jetzt ins Auto und wartest, bis ich das hier geregelt habe. Du hattest deine Show für heute.“
Auf der ganzen Fahrt nach Hause redete Helge kein Wort mehr mit ihr.
Marie kroch aus dem Bett. Die Sonne war gerade aufgegangen und blendete sie. Ihre verquollenen Augen brannten. Genervt stapfte sie zum Fenster, um die Vorhänge zuzuzerren. Dann ließ sie die Hände sinken und starrte auf den schönen cremefarbenen Stoff.
Sie hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Wie auch? Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, und die Sache mit Robbie Heinemanns Bike war dabei nur die Spitze des Eisberges.
Nachdem Helge sie schweigend in der Garage hatte stehen lassen, war sie müde auf ihr Zimmer geschlichen und hatte sich dort eingeschlossen – nur für den Fall, dass ihre Mutter auf die Idee kam nachzusehen, ob Marie auch wirklich mit ihrem Bruder nach Hause gekommen war. Ihre Eltern wussten nur zu gut, dass sich Marie keine Vorschriften machen ließ, erst recht nicht von Helge.
Achtlos pfefferte Marie das schwarze Kleid vom Vorabend in ihren begehbaren Kleiderschrank und sah aus dem Fenster hinaus auf den Park des riesigen Anwesens. Dahinter lagen das Meer und die Dünen und …
Sie schluckte. Sie musste sich beruhigen. Immer wieder war sie in Gedanken ihren Plan durchgegangen. Die ganze kurze Nacht lang. Sie würde gleich zum vereinbarten Treffpunkt in den Dünen reiten, so wie sie es mit dem Mann im Regenmantel, der sie seit Wochen verfolgte, abgemacht hatte. Sogar auf dem Anwesen der von Elstenbühls hatte er sich heimlich herumgetrieben – mit Vorliebe bei der Ruine des alten Pferdestalles, die sich in einem kleinen Wäldchen befand.
Sie war auf seinen Vorschlag eingestiegen – denn sie musste die Wahrheit erfahren. Musste hören, was er zu sagen hatte.
Trotzdem gelang es Marie nicht, sich zu beruhigen. Sie hatte Angst. Langsam stieß sie die Luft aus.
Alles war falsch, alles fühlte sich falsch an. Diese ständige Leere in ihr. Selbst ihr Herzschlag dröhnte hohl und leer in den Ohren.
„Marie?“, hörte sie mit einem Mal Helges gedämpfte Stimme durch die verschlossene Tür. „Es ist schon gleich neun. Du hattest eigentlich versprochen, heute Morgen gemeinsam mit Nele den Stalldienst zu übernehmen.“
„Ich hab Ferien!“, keifte Marie. Hatte ihm der Abend gestern nicht gereicht? Konnte er sie nicht wenigstens einmal in Ruhe lassen?
„Und ich hab keine Lust auf Diskussionen“, schoss Helge zurück.
Na toll. Dieser Tag begann ja genauso wunderbar, wie die Nacht zuvor geendet hatte.
Marie stampfte in ihren begehbaren Kleiderschrank, griff nach ein paar unauffälligen Reitklamotten – Jeansreithose, weißes Trägertop – und zog sich um. Dann suchte sie ihr Handy. Wo war das olle Ding nur? Sie durchwühlte ihr Bett und wurde fündig.
„Verdammt!“, zischte sie. Der Akku war leer! Wütend hängte sie ihr Telefon ans Ladekabel.
„Marie!“, rief Helge ungeduldig.
Zähneknirschend riss sie die Zimmertür auf. „Was stehst du hier so rum?“, pampte sie ihren Bruder an. Wie sie es hasste, wenn er sie behandelte wie eine Zweijährige! Klar, war er älter als sie, aber dafür, dass er noch nicht einmal ihr richtiger Bruder war, nahm er sich ganz schön viel heraus! Marie war als kleines Mädchen mit ihrer Mutter auf die Insel und auf Gut Sturmbö, das Anwesen von Herrn von Elstenbühl, gezogen. Der hatte ebenfalls ein Kind aus einer früheren Beziehung – den damals siebenjährigen Helge.
Statt zu antworten, musterte Helge Marie kritisch. Zum Glück verkniff er sich jeden weiteren Kommentar – zum Beispiel darüber, dass seine Schwester noch ungeschminkt war – und ließ sie vorbei.
Normalerweise ging Marie nie ungeschminkt und ungestylt aus dem Haus, ja nicht mal in den Stall! Doch heute wollte sie so wenig wie möglich auffallen.
Marie eilte über den Flur zur Treppe. Helge folgte ihr im Schlenderschritt. Als Marie die Berge von Koffern erblickte, die vor der Tür in der Eingangshalle parkten, blieb sie stehen. „Fliegen die heute schon?“, fragte sie Helge und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter.
„Ja“, antwortete Helge. „Wo bist du eigentlich die ganze Zeit mit deinen Gedanken?“, setzte er irritiert hinzu. „Sie reden seit einem Monat über nichts anderes mehr als über diese dämliche Kreuzfahrt. Jedes Mal wenn deine Mum mich angerufen hat, ging es immer nur um ihre bekloppte Reise. Dass ich mitten in den Prüfungsvorbereitungen stecke und Besseres zu tun habe, als deinen Babysitter zu spielen, war völlig nebensächlich.“
„Ich brauch keinen Babysitter“, zischte Marie und warf sich dann gespielt sorglos den geflochtenen hellblonden Zopf über die Schulter. „Sag den Eltern schöne Grüße von mir, ich muss los.“
„Du willst dich nicht mal verabschieden? Ernsthaft?“, fragte Helge fassungslos.
„Wozu? Damit ich mir von Mama wieder ellenlange Vorträge darüber anhören darf, was ich während ihrer Abwesenheit zu tun und zu lassen habe? Danke, keinen Bedarf.“ Damit rannte sie die Stufen hinab, ohne die Koffer eines weiteren Blickes zu würdigen, riss die schwere Eingangstür auf und verschwand nach draußen. Helge ließ sie einfach stehen.
Ihr Stiefvater würde ihr ihren Abgang auch nicht lange übel nehmen. Denn dafür, dass Helges Vater einer der größten Reedereidynastien Deutschlands vorstand, war er ein unglaublicher Softie. Viel zu gut für diese Welt und zu seinen Kindern – und Marie behandelte er wie seine eigene Tochter. Was Herrn von Elstenbühls Gutmütigkeit betraf, kam Helge total nach seinem Vater. Egal was sie tat, um ihn zu provozieren – er kam immer wieder an. Wie ein treudoofer Hund. Ein treudoofer Hund, dem es nichts ausmachte, getreten zu werden. Und wie ein Hund konnte Helge spüren, wenn es ihr nicht gut ging. Marie war davon unendlich genervt. Von ihm und seiner ewigen Fürsorge.
Woher diese Wut kam, die sie andauernd in sich trug, wusste Marie selbst nicht so genau. Manchmal fühlte sie sich einfach schrecklich einsam, unverstanden und verloren auf dieser spießigen kleinen Schickimicki-Insel.
Marie wischte sich über die Augen. Sie hatte Kopfschmerzen. Und das schon seit Tagen. Mit zusammengepressten Lippen betrat sie den Stall, und wie jedes Mal wenn sie hierherkam, spürte sie, wie sie innerlich ruhiger wurde. Verstohlen blickte sie die Stallgasse hinunter. Wenn sie doch nur ein einziges Mal allein hier sein könnte, ohne dass jemand …
„Guten Morgen, Marie!“, ertönte eine Stimme hinter ihr.
Marie straffte die Schultern und drehte sich um. Aus war der Traum von einem ungestörten Moment bei den Pferden.
„Ich reite aus. Mach Goldglanz fertig“, befahl sie ihrer Pferdepflegerin, ohne das rothaarige, sommersprossige Mädchen eines Blickes zu würdigen.
Wie immer zuckte Nele erschrocken zusammen und zog den Kopf ein.
Marie seufzte. „Aber flott. Ich hab’s eilig.“
Nele rührte sich nicht. Stattdessen öffnete und schloss sie den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Marie legte den Kopf schief und stemmte die Arme in die Hüften. „Was?“
„Ich … ich … mache mir Sorgen um Goldglanz. Er wirkt so … so traurig irgendwie. Ich glaube, du solltest ihn öfter mal …“
Marie schnaubte und marschierte Richtung Sattelkammer, um ihre Springstiefel anzuziehen. Gute Ratschläge von Nele hatten ihr heute gerade noch gefehlt! Dennoch zwickte sie das schlechte Gewissen. Goldglanz war einmal ihr Liebling gewesen – war es eigentlich noch immer. Aber seit er nicht mehr sprang und im Parcours nur noch Stangensalat fabrizierte …
Jemand hatte das Chaos vom Vortag in der Sattelkammer beseitigt, die Sättel ordentlich geputzt, die Stiefel der Größe und Farbe nach sortiert und den Boden geschrubbt, bis er glänzte. Man hätte glatt Walzer darauf tanzen können!
Marie ging hinüber zu dem Regal mit den maßgeschneiderten, zum Teil mit Glitzersteinen besetzten Lederstiefeln. Ein Paar glänzte schöner als das andere. Während sie die beeindruckende Sammlung begutachtete, hörte sie im Hintergrund Goldglanz’ müde und taktlose Schritte durch die Stallgasse klappern. Ihr Herz zog sich zusammen. Plötzlich hätte sie heulen können. Vielleicht war es kein Wunder, dass ihr Goldpferd nicht mehr recht laufen wollte. Wahrscheinlich spürte er genau, wie sie sich fühlte.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück auf die Stallgasse. Sie konnte genauso gut in ihren Gummistiefeln reiten. Hauptsache, sie kamen endlich los.
„Bist du fertig?“, blaffte sie Nele an.
Prompt ließ das Mädchen die Trense rasselnd zu Boden fallen. „Eine Sekunde … Ich …“ Nele tauchte ab und stolperte um ein Haar vor Goldglanz’ Hufe.
Marie seufzte übertrieben. „Ich kümmere mich um den Rest. Mach du weiter mit dem Stall. Wenn ich wiederkomme, helfe ich dir vielleicht.“
Nele ergriff erleichtert die Flucht. Dass sich Marie vor dem Stalldienst drückte, war nichts Neues für sie, und Marie hatte den Verdacht, dass Nele die Arbeit sowieso lieber allein machte als gemeinsam mit ihr.
Marie biss sich trotzig auf die Lippe, während sie Goldglanz den Sperrriemen eng um die Nase schlang. Das war ihr alles nur recht. Sie konnte auf Neles Gesellschaft genauso verzichten. Sie kam allein klar.
Mit feuchten Händen packte sie ihr Pferd am Zügel und zerrte es hinter sich her. Sie konnte Goldglanz dabei nicht einmal ansehen. Zu sehr erinnerte sie sein trauriger Blick an ihr eigenes miserables Gefühl im Bauch.
Geschmeidig zog sich Marie am Sattel hoch und setzte sich aufrecht hin. Während sie den goldenen Hengst hinaus auf den gepflasterten Weg laufen ließ, der zum Springplatz führte, gurtete sie nach. Der süßlich schwere Duft der Rhododendronbüsche schlug ihr entgegen und verstärkte ihre Kopfschmerzen. Marie sehnte sich nach der Kühle des Meeres, der Frische des Windes und der rauen Kargheit der Dünenlandschaft.
Ungeduldig trieb sie ihr Pferd vorwärts. Doch anstatt schneller zu werden, stolperte Goldglanz einfach nur nervös vom gepflasterten Weg auf den Sandpfad. Dieser führte vom Reitplatz zu den Koppeln.
Grimmig griff Marie den Zügel kurz – so kurz und eng, dass sie Goldglanz’ Bewegungen genau kontrollieren konnte.
Sie ritt ihre gewohnte Strecke zwischen den Wiesen hindurch, hinaus in Richtung Dünen und Meer. Eine wilde Unruhe erfasste sie, als sie vor sich die Brandung rauschen hörte. Ein paar Pferde steckten die Nasen neugierig übers weiß lackierte Gatter, als Marie vorbeiritt. Darunter war auch Goldglanz’ Lieblingsstute Poetin, die Helge gehörte. Doch heute zeigte der Hengst nicht einmal an ihr Interesse, sondern lief einfach nur teilnahmslos an den Koppeln vorbei.
Marie versuchte sich vom Schaukeln seiner Bewegungen beruhigen zu lassen. Aber sein unrhythmisches Stolpern war alles andere als beruhigend. Sie musste sich anders ablenken. Sie musste einen Gang hochschalten.
Also trieb sie den Hengst in einen schnellen Galopp.
Der raue Meereswind riss an ihrem Zopf und peitschte ihr die losen Strähnen ins Gesicht. Goldglanz galoppierte wild und mit angelegten Ohren durch die Dünenlandschaft. Marie ließ seinen Zügel etwas länger, da seine Tritte im Sand viel sicherer waren. Sofort legte er noch einen Zahn zu und übersprang sogar einen herumliegenden Ast.
Während Maries Augen fieberhaft nach der richtigen Abzweigung suchten, hörte sie auf einmal Stimmen. Auch Goldglanz spitzte jetzt die Ohren.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte sie, als sie Robbie mit einer Gruppe von Reitschülern ihren Weg kreuzen sah. Die Heinemanns waren Besitzer einer Strandreitschule und eines Gasthofes. Soweit Marie wusste, schmiss Robbie den Laden aber mehr oder weniger allein, da sein Vater sich ungern die Hände schmutzig machte und lieber in Kasinos und Bars herumhing.
Ob Marie wollte oder nicht – sie musste an der Gruppe vorbei, denn diese ritt auf denselben Abzweig zum Strand zu, den auch sie hatte nehmen wollen.
Sie erhaschte einen Blick auf Robbie – und war wie gelähmt. In seinem Gesicht spiegelte sich noch dieselbe Wut wie in der Nacht zuvor. Was mit seinem Bike passiert war, tat ihr leid, und sie hätte es gern rückgängig gemacht – aber das gestrige Unglück erklärte noch lange nicht den Hass, mit dem Robbie ihr begegnete. Mit einem Mal waren Maries Knie einfach nur noch Gummi. Es kostete sie all ihre Kraft, sich einfach nur auf Goldglanz’ Rücken zu halten. Panik stieg in ihr auf, als sie in einem Affenzahn auf die Schülergruppe zuflogen. Doch sie konnte den Blick nicht von Robbie abwenden.
Da traf ihr Hengst auch schon auf die Gruppe. Sofort wichen die ersten Schulpferde erschrocken zur Seite.
Endlich erwachte Marie aus ihrer Schockstarre und riss entsetzt die Hand hoch. Goldglanz reagierte prompt, rollte angstvoll die Augen und schoss nur noch wilder voran.
„Verdammt! Dieses verfluchte Miststück!“, hörte sie Robbie hinter sich schimpfen.
Nichts wie weg hier!, schoss es Marie durch den Kopf, und sie presste ihrem Hengst die Absätze in die Seiten.
„Wenn ich dich in die Finger bekomme! Mein Bike geht auch auf dein Konto!“, brüllte Robbie ihr nach, doch da war sie schon zwischen den Dünen abgetaucht.
Ihr Herz raste und trommelte mit Goldglanz’ Hufen um die Wette. Warum mochte Robbie sie nur so wenig? Früher, als sie noch Kinder waren, hatte er manchmal mit ihr und Helge am Strand gespielt. Doch daran erinnerte er sich bestimmt nicht mehr.
Der Boden wurde immer unebener und Goldglanz langsamer. Marie holte tief Luft. „Eigentlich kann der Tag ja nur noch besser werden“, sagte sie zu ihrem Hengst und klopfte ihm abwesend den Hals. „Gleich sind wir da.“
Wenig später kam inmitten der hügeligen Dünenlandschaft ihr Ziel in Sicht: ein alter, rostiger Wohnwagen. Marie zog abrupt am Zügel und parierte durch. Goldglanz blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ängstlich riss er den Kopf hoch, während er schnaubend die Luft durch die Nüstern stieß.
Marie sprang ab, zog ihm den Zügel über den Hals und führte ihn auf den Camper zu. Seine metallicfarbenen Wände reflektierten das Licht der Morgensonne, das Marie nun schmerzhaft in den Augen stach. Sie hob die Hand vors Gesicht und blinzelte.
Eine einsame Gestalt saß auf der Treppe des Wohnwagens und wartete bereits auf sie. Langsam ging Marie auf den Mann im dunklen Regenmantel zu, doch weit kam sie nicht, denn Goldglanz blieb stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle.
Keinen Zentimeter.
Ungeduldig zerrte sie am Zügel und zog den Hengst hinter sich her. Widerwillig folgte er ihr schließlich mit angelegten Ohren und schlagendem Hals.
„Hier bin ich“, sagte Marie mit erstaunlich fester Stimme. Sie räusperte sich. „Also, worüber wolltest du so dringend mit mir reden? Sag schon.“
Der Mann verzog das Gesicht. „Nein.“
„Nein?“, fragte Marie irritiert. „Und warum sollte ich dann …“
Langsam erhob er sich, griff in die Tasche seines Mantels und zog einen zerknitterten, vergilbten Umschlag hervor. „Lies das hier!“
Mit zittrigen Fingern griff Marie danach, klappte den Umschlag auf und zog eine zerfledderte Seite hervor. Sie war dicht beschrieben in einer ihr unbekannten Handschrift.
„Lies!“, rief der Mann im Regenmantel.
Während Marie Goldglanz noch immer am Zügel hielt, überflog sie die Zeilen, und je weiter sie kam, umso stärker zitterten ihre Hände. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. „Das kann nicht sein …“, krächzte sie entsetzt. „Das … das … das ist …“
„Lies weiter!“, drängte der Mann unnachgiebig.
Die Zeilen begannen vor ihren Augen zu verschwimmen, doch sie zwang sich weiterzulesen. Jedes Wort war wie ein Schlag in die Magengrube.
Dann ließ sie den Brief sinken. „Aber das verstehe ich nicht. Warum …?“
Plötzlich schoss die Hand des Mannes auf sie zu und packte sie am Arm. „Da fragst du noch, warum?“, brüllte er sie an.
Marie versuchte sich loszureißen. Doch sein Griff war zu fest.
„Was ist passiert?“, schrie sie verzweifelt. „Sag mir, was passiert ist!“
Goldglanz an ihrer Seite begann zu steigen. Da ließ der Mann sie los und Marie taumelte gegen ihr Pferd.
„Du willst wissen, was passiert ist? Die Wahrheit?“, donnerte die Stimme des Mannes ihr entgegen. Sein Hass und seine Wut ließen Marie stolpern. Sie konnte das nicht ertragen. Und doch musste sie Gewissheit haben.
„Ja“, wisperte sie kaum hörbar in Goldglanz’ Fell.
„Sie ist tot!“, brüllte der Mann, entriss ihr den Brief und zerfetzte ihn vor ihr in der Luft.