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Was bedeutet es, nicht nur verliebt zu sein, sondern eine Beziehung zu führen? Wie machst du mit deinem Single-Ich Schluss, ohne dich selbst zu verlieren in einem WIR? Und weiß eigentlich irgendjemand, wie sich eine gute Beziehung anfühlen soll? Als Lina Mallons Bestseller »Schnell.liebig« erscheint, hat sie sich mehrmals ver- und entliebt, um zu erkennen: Singles in den Zwanzigern sind nicht beziehungsunfähig, nicht zu arrogant oder zu ängstlich für die Liebe, sondern einfach so verdammt schnell unterwegs. Dann tritt ein neuer Mann in ihr Leben. Er ist charmant und nicht wesentlich anders als alle anderen – aber er ist authentisch. Die beiden nehmen das Tempo raus, haben Dates, verbringen viel Zeit miteinander und nicht nur die Nächte. Und auf einmal will er bleiben, will eine Beziehung. Und was will Lina? »Zweit.nah« ist die Fortsetzung von »Schnell.liebig«, die nicht das Singledasein in den Vordergrund stellt, sondern die moderne Beziehung, die auf so viele Arten großartig sein kann – wenn wir uns trauen, sie zuzulassen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 313
Vorwort
Ich, Liebe
Begin again
Warum wir aufhören müssen, uns finden zu lassen
Selbst bestimmt, abgehakt
Die einzigen Datingregeln, die wir wirklich brauchen (und die tatsächlich alles verändern)
Zwei Geister, Teil 1
Uno!
Slow Dating
How will I know?
Toxische Datingmuster, die wir loslassen müssen
Die innere Bridget
Befreite Egos
Lockdown, 21 Tage
Der erste, gute Streit
Die richtige Distanz?
Tinder, gelöscht
Seltsame Single-Selfcare
Was wir haben, was wir wollen
Das Gegenteil von …
Rote Flaggen
Zwei Geister, Teil 2
Die Ex-Akte
Vollkommen
»Girlfriend«
Funkstille
Wie man sich entscheidet
Zeit für die richtigen Fragen
Wohin jetzt?
Epilog
Danksagung
»Never go in search of love, go in search of life, and life will find you the love you seek.«
– Atticus
Für all die Frauen da draußen, die den Mut aufbringen, nicht nur nach der Liebe zu suchen, sondern sich selbst zu finden.
Du bist eine davon, Magdalena.
Genau wie schnell.liebig basiert auch zweit.nah auf meinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen. Viele meiner Geschehnisse wurden gekürzt, umstrukturiert oder zusammenfassend erzählt und finden manchmal auch an neuen Schauplätzen statt.
Ich wollte meine eigene Geschichte so offen, so authentisch und so ehrlich wie möglich schreiben. Daher sind Ortsnennungen real, und engste Freunde, die in zweit.nah vorkommen, erscheinen weitestgehend unter ihren Klarnamen. Mit Rücksicht auf die Privatsphäre aller anderen Personen in diesem Buch habe ich deren Namen und Charakterzüge verändert. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind demnach rein zufällig und unbeabsichtigt.
Nichts lädt. Nicht einmal eine E-Mail. Nicht wenn ich auf der Terrasse stehe und den Arm weit über die Brüstung ausstrecke. Nicht wenn ich auf den kleinen Hügel, knapp zweihundert Meter vom Bootshaus entfernt, steige. Und auch jetzt noch immer nicht, während ich schon seit einer halben Stunde über die Farm laufe. Ich habe keinen Empfang – und um ganz ehrlich zu sein auch keine Ahnung, wohin ich eigentlich unterwegs bin. Ich weiß lediglich, was ich finden will: im besten Fall einen Sendemast.
Heute ist der 3. April 2020. Heute kommt mein erstes Buch heraus, heute erscheint schnell.liebig im deutschen Buchhandel, heute Abend gibt es online bestimmt schon Reaktionen, morgen früh vielleicht eine erste Rezension. Man sagt, ein Buch wird erst dann wahr, wenn es gedruckt ist, wenn man es selbst festhält und noch einmal darin liest. Meines ist zwar gedruckt, getrocknet und gebunden, aber ich gerade 9.855 Kilometer davon entfernt. Und ich habe nicht einmal ein beständiges Signal, um mit meinen mobilen Daten die Entfernung zu verkürzen.
Vermutlich blättern jetzt schon Hunderte Menschen in dem Buch, das meine Geschichte erzählt, in den 62.821 Worten, mit denen ich die Zeit beschreibe, in der ich gute, aber auch desaströse Dates erlebe, nach Liebe und vor allem mir selbst suche. Ich verliebe mich in meinem ersten Buch. Immer wieder. Und ich breche mir dabei selbst das Herz. Um zu lernen, dass es heilt. Immer wieder. Und während dieses Prozesses begreife ich etwas: Die Antworten auf die Frage, was du von der Liebe willst, liegen vor allem in den Entscheidungen, die du selber triffst. Und ob sie richtig oder falsch sind, wohin sie dich bringen, stellst du dabei manchmal erst fest, nachdem du sie getroffen hast.
Eine meiner letzten hat mich hierher geführt, nach Chrissiesmeer, einem kleinen Ort in Mpumalanga, einem der nördlichen Distrikte Südafrikas. Seit ein paar Tagen lebe ich in einem Bootshaus auf einer Farm. Stromversorgung oder ein stabiles 4G-Netz gibt es hier, zumindest im Umkreis der dreihundert Meter, die ich bisher abgelaufen bin, nicht. Dafür weite, lang gestreckte Graslandschaften und Frösche, vermutlich Zehntausende. Blikslaanertjies – also kleine Blechdosen – heißen diese kleinen Frösche auf Afrikaans, denn nachts, wenn Hunderte von ihnen ebenfalls nach Liebe suchen, klingt es, als würde man viele Dosen klappern hören oder mit einem Stock an ihnen entlangstreichen (neben meiner ständigen Nervosität um den heutigen Tag auch einer der Gründe, warum ich in der letzten Nacht schlecht geschlafen habe).
Vor zwei Wochen hatte die Welt die Türen zugemacht. Erst Europa, dann die USA – und jetzt auch Afrika. Sie alle versuchten, das Coronavirus einzudämmen. »Kommst du mit?«, hatte er gefragt, kurz nachdem der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa den Lockdown für das Land verkündet hatte. 21 Tage lang plante Südafrika, sich unter absolutem Verschluss zu halten. Niemand durfte sein Zuhause verlassen, lediglich einer Person war es erlaubt, den wöchentlichen Einkauf zu erledigen, alle Flüge wurden gestrichen, Züge sowieso, und kein Alkohol, kein Tabak durften mehr verkauft werden. (Die restlichen Details kennt ihr auch aus Deutschland, ich muss sie euch nicht aufzählen. 2020 ist gerade mal ein paar Monate her, ihr wart vermutlich dabei.)
Er, das ist Chris. Ein Mann, den ich gerade mal einen Monat vorher kennengelernt hatte.
»Kommst du mit?« Das war die Frage, ob ich ihn begleiten wollte, auf das Stück Land seiner Familie, 1.800 Kilometer von Kapstadt entfernt.
Nach 18 Stunden Autofahrt waren wir angekommen und in die kleine Hütte gezogen. Während der ersten zwei Tage hatte ich auf meinen Spaziergängen auf der Farm noch Angst vor Schlangen im hohen Gras gehabt. Jetzt gerade, heute, fürchte ich mich ausschließlich vor Amazon und den offenen Bewertungen.
Ein befreundeter Autor hat mir erzählt, dass er die Kritiken seiner Bücher nie liest. Daraufhin habe ich es getan und gedacht: »… vermutlich besser so.« Kommentarspalten können ein grausamer Ort sein. Vor allem dann, wenn nicht nur eine Figur oder ein Charakter, sondern du selbst zwischen all den Worten steckst.
»Ich weiß noch nicht, ob ich es wirklich authentisch finde …«, hatte zum Beispiel eine Pressevertreterin, nachdem sie einen Blick in das Manuskript werfen durfte, geurteilt, und ich gedacht: Es ist so oft das Leben, das die Kapitel und Wendungen schreibt, die dir in einem Roman, wenn du sie noch einmal erzählst, niemand abnehmen würde. Ich hatte es trotzdem versucht. Nur, um mir jetzt selbst nicht mehr sicher zu sein, ob es mir gelungen war.
»Ich hoffe ja, dass sie am Schluss bereit für eine echte Beziehung ist und es sich mit einem der Männer ernsthaft entwickelt, das fände ich reif und erwachsen, denn diese leichtsinnige Singlefrau, die sich immer wieder auf neue Dates einlässt und behauptet, all diese Erfahrungen wirklich zu genießen, nehme ich ihr nämlich nicht so ganz ab«, hatte die Kritikerin außerdem noch getippt.
Vermutlich wird sie bitter enttäuscht sein, denn mein erstes Buch endet mit mir selbst. Nicht mit einer endlich gefundenen Beziehung, nicht mit dem gängigen Ende eines Singleromans, in dem ich entweder den kriege, den ich zu lange übersehen habe oder mich gegen zwei entscheide, die beide nicht ganz passen. Ich bekomme sie nicht, die zwei Hauptcharaktere, in die man sich verlieben könnte, während man von ihnen liest. Einem entkomme ich. Den anderen muss ich loslassen. Und trotzdem fühlt sich das letzte Kapitel nicht wie ein Trostpreis an, wie ein Ende, das ich umschreiben muss, weil mir die Darsteller in der letzten Minute doch noch ausgegangen sind. Für mich ist es eine Befreiung, die pure Erkenntnis, die ich tatsächlich erst in den letzten Monaten meiner Reise endlich gewann: Ich habe auf 256 Seiten nicht vorrangig und schlussendlich (vermeintlich) erfolglos nach tollen Männern oder Beziehungen gesucht, sondern den Weg zu mir gefunden, in mein tiefstes Innerstes.
Ich weiß jetzt, was ich will.
Ich weiß, was ich von der Liebe will; was ich durch all die Erfahrungen, die ich manchmal kaum erwarten konnte und manchmal unfreiwillig machen musste, über sie gelernt habe. Und immer, wenn ich die letzten Sätze wieder lese, spüre ich dieses tiefe Vertrauen in mir, das mich ausfüllt, das mir eine Richtung gibt, der ich instinktiv folgen kann. Ich habe gelernt, dass ich keine anderen Menschen, Freunde, Männer oder Orte mehr finden muss, die blind verstehen sollen, was mich auszeichnet und wie man mich glücklich macht. Bei diesem Gefühl bin ich selbst angekommen – und trage es in mir. Überallhin.
»I am a small fish in a big, big blue sea and I like it.«
– Billie Marten
Eigentlich ist es verrückt. Frauen, die nach einer längeren Weile als Single eine neue Beziehung eingehen, werden beglückwünscht, haben offenbar ein paar weitere Stufen ihrer persönlichen Entwicklung genommen und schlagen eine neue Seite auf. Frauen, die sich bewusst gegen die Chance auf irgendeine Beziehung entscheiden, werden hinterfragt. Als könnten sie in Wahrheit nur entweder unreif, unglücklich oder aber unehrlich zu sich selbst sein.
Die Welt erwartet von allen »normalen« Menschen eben doch noch, dass sie einander irgendwann finden (am besten, ohne zu suchen, logisch), dass sie Beziehungen eingehen, dass sie »ankommen« – und sendet damit gleichzeitig die Message, dass etwas mit all denen, die es vermeintlich immer wieder ausschlagen oder aber immer wieder scheitern, schlicht nicht stimmen kann. Wenn man rein rechnerisch mehr als drei Versuche wagt und trotzdem weiterhin »leer« ausgeht (als wären wir Hüllen, die andere füllen sollen), kann da doch etwas mit den Erwartungen, den Einstellungen oder gleich der ganzen Persönlichkeit nicht stimmen, oder?
Wer mit über 30 noch Single ist, der ist entweder rebellisch, narzisstisch oder egoman oder schlicht zu verkrampft auf der Suche. Auf jeden Fall aber: nicht angekommen. Dabei bin ich mir sicher, dass grundsätzlich jeder von uns längst weiß und fühlt, dass sein Wert oder eben auch seine Entwicklung nicht von einem Partner abhängt. Dass Singles genauso erfolgreich oder interessant, so erwachsen und gefestigt sind wie ihre Freunde in Partnerschaften und sie nicht auf einem schlechteren, weniger erfüllenden oder auf dem Weg in die Sackgasse sind. Das ist ja keine Neuigkeit.
Und trotzdem müssen vor allem Frauen noch immer ihren Singlestatus erklären, verteidigen oder generell gut gemeinte Ratschläge veratmen. Es wird immer noch großflächig missbilligt, eine alleinstehende Frau oder Person mit einer Vagina zu sein. Wer Single wird, ist frei. Wer lange Single ist, muss auf der Suche sein. Und wer zu lange Single bleibt, der scheint gescheitert?
Es gab Menschen, die sich wünschten, ich hätte das Ende um- und mich näher an eine neue Beziehung herangeschrieben. Als würde dieses Buch, in dem eine Frau über ihre Erfahrungen als Single und ihre Sehnsucht nach Liebe schreibt, irgendwie an Wert verlieren, wenn sie sie am Ende nicht mit Nathan oder Gustav findet. Es gab auch Menschen, die fanden, dass dieses Buch mit dem ehrlichen, ungeschönten Ende nicht genug Inspiration sein könnte und mehr Hoffnung bräuchte, dass das schnell.liebige bald endet, dass bald etwas bleibt. Ein Wort: niemals.
Ich rücke in den letzten Sätzen nicht dichter an den nächsten Mann oder an die nächste Beziehung heran. Ich gehe meine eigenen Schritte. Und ja, das klingt wie eine Floskel, aber es ist vielleicht eine der intensivsten Lektionen überhaupt: sich nicht auf jemanden zu- oder von jemandem wegzubewegen – sondern einfach nur sich selbst. Ich warte nicht auf die Liebe, ich suche nicht nach der Liebe, ich finde nicht die Liebe. Ich trage die, die ich wirklich brauche, bei mir. Aber jetzt das Wichtigste: Ich will trotzdem noch so, so viel mehr von ihr, in all ihren Facetten. Ich war nie näher an ihr und mir dran.
Das ist der Punkt, an dem mein erstes Buch endet. Das ist der Ton, mit dem ich weitergemacht, weitergelebt und weitergeliebt habe. Nichts hat sich daran geändert, als ich begonnen habe, am zweiten Manuskript zu arbeiten.
Ich weiß noch nicht, nach wie viel mehr Liebe ich hier, auf dieser Farm, mit diesem Mann, greifen kann. Ich kenne ihn erst seit zwei Monaten, seit vielleicht sieben Dates, aber ich habe gar nichts zu verlieren. (Außer meine Nerven, das hier ist ja trotzdem immer noch der Tag, an dem mein erstes Buch erscheint.)
Ich habe jetzt und hier noch immer keinen festen Plan, ich habe ja noch nicht einmal genug Empfang, aber ich habe Antworten.
Ich, Liebe. Punkt. Aber von vorn …
Wir rollen langsam um die letzte Kurve, behäbig, leicht wankend. Dann halten wir inne, bleiben kurz stehen, als würden wir Luft holen, als müsste sich ein Schalter umlegen, als müsste jemand eine Entscheidung treffen – und starten. Wir nehmen mit jedem Meter mehr Kraft auf, brauchen die Strecke bis zu ihrem Ende auf, bis wir schließlich abheben können. Wir sind nicht federleicht, wir haben viel Gepäck dabei. Aber: Wir sind in Bewegung.
Es gibt Menschen, die gehen zwölf Stunden durch einen Kampf. Manche mit ihren Ängsten, andere mit ihrem Sitznachbarn oder diversen Rückenlehnen. Für mich ist es jedes Mal einfach ein langer Sonntag mit, zugegeben, weniger Beinfreiheit, aber gutem Service. In regelmäßigen Abständen bekommt man Snacks oder einen Drink gebracht, das Essen hat die gleiche Qualität wie die der erreichbaren Lieferdienste in Eimsbüttel, und ich habe endlich mal wieder Zeit, ein paar neue Filme zu schauen – oder alte wiederzuentdecken. Ich liebe Langstreckenflüge. Ganz im Ernst. Wenn man die sperrigen Koffer, das Umsteigen, die eventuellen Verspätungen und die drängelnde Menschenschlange am Gate hinter sich hat, wenn die schwere Tasche (die aufgrund meiner Kameraausrüstung und meines Laptops, der Ladegeräte, der Bücher und Notizhefte, die ich immer dabeihabe, sicher wieder zwölf Kilogramm wiegt, obwohl es maximal acht sein dürfen) sicher verstaut und der Fensterplatz meiner ist, entspanne ich mich.
Ich bin auf dem Weg nach Kapstadt. Mal wieder, schon wieder, endlich wieder. Vor zwei Jahren saß ich zum ersten Mal mit Übergepäck in diesem Airbus, lebte drei Monate am Kap – und auch wenn ich es noch immer nicht ganz laut sage, habe ich damals schon beschlossen, irgendwann mal ganz zu bleiben. Nicht unbedingt in den nächsten fünf Jahren, aber irgendwann. Für den Moment fühlt es sich noch richtig an, hier für ein paar Monate zu überwintern, mir langsam ein zweites berufliches Standbein aufzubauen und trotzdem die Verbindung nach Deutschland zu halten. Wenn ich irgendwann den zweiten Fuß nachziehe, den Dackel und einen Container packe, um meinen Lebensmittelpunkt nach Südafrika zu verlegen, will ich sicher sein, dass ich es hier drüben schaffe. Vor acht Wochen habe ich mit meiner Freundin Maggs ein kleines Start-up gegründet, das kleine, individuelle Weintouren anbietet. Nicht die Art, bei der du viel über Wein wissen musst, um dich vor dem Sommelier nicht zu blamieren, und dann, nachdem die ersten Fragen in die Runde gestellt werden, dich und dein Glas in der hintersten Ecke versteckst. Sondern die, bei der ein paar Menschen einen Tag lang gemeinsam über die Winelands touren, in entspannter Atmosphäre miteinander anstoßen, neue Weinsorten und lokale Produkte auf den Farmen probieren, die Landschaft und einen gemeinsamen Lunch zwischen Weinstöcken genießen und vor allem eines in sich aufsaugen dürfen: das ganz besondere Lebensgefühl von Südafrika.
Die Idee dafür hatten wir schon lange, aber erst im November, kurz vor Weihnachten, machten wir bei einem langen Telefonat und zwei Gläsern Wein auf jeder Seite Ernst. In zwei Wochen starten wir mit unserer ersten Tour, die ausverkauft ist. Bis in den April hinein soll unsere erste Saison laufen – und ein Test dafür sein, was wir aus we need glassesirgendwann mal entwickeln könnten.
Mein Manuskript für schnell.liebig habe ich noch vor dem Jahreswechsel abgegeben. Während ich auf dem Weg über den afrikanischen Kontinent hin zu seinem südlichsten Teil bin, liegt es bei einem Korrektor, wird in vier Wochen dann in den Satz gebracht und schließlich gedruckt. Bis dahin bleibt mir Zeit. Zeit, mich auszuprobieren, Zeit, mir Gedanken über meine nächsten Schritte zu machen.
Als ich im vergangenen September zuletzt nach Kapstadt gereist war, hatte ich vor allem einen Weg zurück gewollt (auch wenn ich es vor allen anderen und auch mir selbst als die Suche nach einem Abschluss getarnt hatte): Zurück zu dem letzten Mann, in den ich mich verliebt hatte, der sich in mich verliebt hatte, nur um dabei zu bemerken, dass er eigentlich noch eine andere liebte – und schließlich zu ihr zurückkehrte. Seit unserer letzten Begegnung auf dem Old Biscuit Mill Market hatte ich nie wieder von ihm gehört. An Weihnachten schickte ich ihm um kurz vor Mitternacht, während ich in der Dunkelheit in meinem geparkten Auto vor meinem Elternhaus saß, noch einmal eine Nachricht – vor Pathos triefend, hochemotional und am Ende absolut unnötig. Natürlich hat er nicht geantwortet, hätte ich auch nicht.
Nathan und Tansy waren glücklich. Ich war nur ein kleiner Teil seiner Vergangenheit, eine Lücke im Lebenslauf ihrer Beziehung, die irgendwann verschwimmen und schließlich ganz verschwinden würde. Ich wusste das. Seit Monaten, ich hatte uns längst genug betrauert, hatte ich es akzeptiert. Und wollte trotzdem noch einmal ganz sichergehen, dass es wirklich vorbei war. Es ist nämlich so: Wenn dein Herz erst einmal vor jemandem liegt, fällt es nicht schwer, für die Zugabe noch mal in alle Taschen zu greifen und nachzusehen, ob du nicht doch noch ein bisschen Sehnsucht und Gefühl findest, das du für ein letztes bisschen Glitzer draufstreuen könntest wie ein Zauberkünstler, der längst weiß, dass sein letzter Trick nicht zündete, aber zumindest auf ein bisschen leisen Applaus hofft, bevor er wirklich final von der Bühne abtritt.
Die Stille hatte ich verdient. Und sie tat mir gut.
Ich war für niemand anderen als mich in dieses Flugzeug gestiegen. Am anderen Ende der Welt gab es niemanden, den ich jagen musste oder der auf mich warten würde. Ich war nicht auf der Flucht, ich war nicht am Ziel. Ich war einfach unterwegs.
Als die Stewardess mich nach meinem Getränkewunsch fragt, bestelle ich einen Gin Tonic.
Für manche mag das der Drink sein, den sie zwischen 2016 und 2018 einfach zu oft getrunken haben. Für mich ist er ein Ritual. Auf jedem Flug ins oder aus dem Land heraus bestelle ich Gin Tonic. Seit meinem ersten Besuch in Südafrika (damals fotografierte ich als Reisejournalistin eine einwöchige Safari durch das Wildreservat von Madikwe), bei dem wir den Drink im Sonnenuntergang, mit Blick auf eine Elefantenherde, die ungestört an uns vorbeizog, tranken, schmeckt Gin Tonic für mich nach Afrika und nach einer der besten Erinnerungen überhaupt. Auf dem Rückflug hatte ich die Zeit genutzt und mehr als achthundert Aufnahmen gesichtet und vollkommen überwältigt über dieses Land nachgedacht, das zu keinem Zeitpunkt auf meiner bucket list gestanden hatte, aber damals, nachdem ich nur einen Funken davon erleben durfte, schon so viel in mir bewegte.
Ich weiß noch genau, welchen Film ich damals sah – und seitdem immer wieder schaue, vor allem dann, wenn ich ein bisschen Inspiration suche, die sich mir nicht aufdrängt, aber trotzdem immer wieder trifft. Begin again heißt der Film, in dem eine Songwriterin mit gebrochenem Herzen einen Produzenten in einer Bar trifft, der gerade seinen Job und auch generell jede Richtung verloren hat. Zusammen fangen sie neu an. Von ganz unten. Sie schreibt über ihren Kummer und er nimmt ohne Budget in den Straßen New Yorks einen Sommer lang ein Album mit ihr auf. Er weiß nicht, wie er es verkaufen wird, ob es sich je verkaufen wird – aber er glaubt wieder an etwas. Sie glaubt an gar nichts mehr, außer ihre Musik – und bleibt genau deshalb.
»Can a song save your life?«, fragt der Film in seinem Untertitel. Kann etwas so Kleines wie ein Song, den du nebenbei in einer Bar hörst, wirklich dein Leben verändern, es sogar retten? Kann ein noch so unscheinbarer Moment rückblickend der eine sein, nach dem du zum Glück gegriffen hast? Der wirklich alles ändert, nachdem nichts mehr zu ändern war? Kann der eine, anfangs kleine Schritt, den du ohne echte Richtung machst, wirklich schon genug für einen unerwarteten Anfang sein?
Die Antwort ist nicht sehr laut, der ganze Film ist es nicht. Er schreit dir nicht entgegen, dass du alles noch einmal drehen kannst, wenn du es nur willst. Du erwartest an verschiedenen Stellen und Wendepunkten, dass jetzt ganz bestimmt die Dinge passieren oder eintreten, die nun mal passieren würden oder eintreten müssten. Denn das hier ist doch ein Film über die Liebe oder zumindest eine Geschichte darüber. Und dann passiert das Gegenteil. Nicht weil das Schicksal für die Protagonisten Greta oder Dan entscheidet – sondern sie selbst. Sie steuern nicht den ganzen Film über darauf zu, ein gebrochenes Herz mit dem Erstbesten (Versöhnung) oder Zweitbesten (neue Liebe) zu flicken, sondern konzentrieren sich auf ihre eigenen, kleinen Neuanfänge. Auch wenn das, was sie tun, nur ein vages Ziel hat. Greta geht, ohne es zu planen oder zu lange darüber nachzudenken, einen impulsiven, kreativen Prozess ein, der vielleicht nicht viel mehr für ihr Leben bedeutet, als einen Sommer lang Erinnerungen zu schaffen. Sie krempelt nicht ihr Leben um. Sie macht keine harten Schnitte, sie fängt nicht einfach von vorne oder neu an und liest sich mithilfe eines Ratgebers keine Skills für eine völlig neue Sicht- oder Lebensweise an. Sie macht einen kleinen Schritt. Und dann noch einen.
Nichts in diesem Film ist eine riesige Entscheidung, er erzählt nicht von dem ganz großen Feuerwerk, das wir als Belohnung bekommen, wenn wir unsere verlorenen Pläne über den Haufen werfen und bereit sind, sie anzuzünden.
Begin again ist wie ein tiefer Atemzug, wie frische Luft in der Lunge. Und er bringt dieses Gefühl mit, dass kleine oder wichtige Neuanfänge jederzeit möglich sind. Und dass du immer dann, wenn du das Gefühl hast, dass das nicht so ist, wenn du glaubst, generell nichts mehr an deinem eigenen Leben ändern zu können – es erst recht tun solltest.
Die Dinge, die den Unterschied machen, passieren nicht irgendwann, sondern unterwegs. Und genau darauf freue ich mich, wenn ich in ein paar Stunden lande, ins Auto steige und vor der kleinen Wohnung parke, von der aus ich über die Kloof Street schauen kann. Ich freue mich auf alles, was in den nächsten Monaten kommt. Auf die Dates, die ich wieder haben werde, die Menschen, die ich kennenlerne, die Türen, an denen ich vorbeikommen könnte. Ich spüre Vorfreude auf das Unbekannte. Ich habe Lust darauf, den nächsten Mann, den Ausgang von meinem nächsten Samstag oder den nächsten ersten Kuss noch gar nicht kennen zu können.
Endlich wieder.
Paul ist Musiker. Hauptberuflich. Und ich übertreibe nicht zu seinen (oder meinen) Gunsten, wenn ich an dieser Stelle erwähne, dass er wie eine Kombination aus Freddy Mercury und Harry Styles aussieht, als er auf mich zukommt: Die Ärmel seines Shirts nach oben gekrempelt, die Haare zurückgeworfen, die Hände hat er in die Hosentaschen gesteckt und mit seinen dunkelgrünen Chucks gerade noch eine Zigarette ausgetreten.
Natürlich hat er lange Locken und ein instinktives Autoritätsproblem, natürlich habe ich ihn getindert, natürlich war er eine Impulsentscheidung, natürlich gehen wir noch am gleichen Abend ein Bier trinken. Das hier ist eine Verabredung, um nach Monaten der absoluten Pause den Staub von mir, meinem signature outfit (Jeansjacke, das eine Blumenkleid) und meiner eigenen Datingroutine zu klopfen. Daten, das musst du immer wieder lernen oder zumindest immer mal wieder hinterfragen, was genau du eigentlich von so einem Abend willst, damit er Spaß macht und sich leicht und unbeschwert anfühlt. Denn ganz egal wo du hinwillst – das ist immer der Anfang. Eine gute Zeit, kein Krampf, kein Kampf.
In Hamburg hatte ich meine kurzen Wintertage am Schreibtisch oder mit meinem Hund in den Parks verbracht. Ich hatte mit jedem Kapitel, das ich schließlich abgab, ein paar mehr Türen geschlossen, durchgeatmet und weitergemacht. Ich hatte nie entschieden, dass ich eine Pause von Dates oder Männern bräuchte, ich hatte mir nicht auferlegt, mich nicht zu verlieben oder jeder Chance darauf aus dem Weg zu gehen. Die letzten Monate mit mir – ganz allein – passierten unterbewusst und vielleicht auch weil ich nicht das eine wollen und nur das andere geben konnte. Ich hätte nichts investieren, aber trotzdem alles fühlen wollen. Und das ist eine toxische Rechnung, die nie aufgeht. Wenn du eigentlich noch den einen willst, aber ein anderer trotzdem dich wollen soll – führt das in der Realität nur dazu, dass dir umso bewusster wird, wie sehr du vermisst, was du nicht haben kannst. Menschen sind keine Pflaster. Oder sollten keine sein. Ich war gerade erst zu einem gemacht worden. Und es hatte gedauert, vielleicht genau diese Zeit gebraucht, mein eigenes Herz sich von dieser Erfahrung erholen zu lassen.
Denn jetzt wollte ich ein Date. Mehr nicht und genau das. Eine Bar, ein Mann, eine Frau, vielleicht zwei Bier und ein gutes Gespräch. Das Gefühl, einem völlig Unbekannten von mir zu erzählen, von ihm zu hören und in unserer Konversation nach diesem bisschen Chemie zu suchen, das den Unterschied ausmacht. Ich wollte es auf mich zukommen lassen, ob wir nach einem Drink getrennt zahlen oder noch eine zweite Runde bestellen. Ob wir noch vor zehn Uhr oder nach Mitternacht nach der Rechnung fragen. Ob ich mir ein Uber rufe oder wir gemeinsam die vierhundert Meter bis zu meinem Apartment laufen. Ob ich ihn vor der Haustür nur kurz umarme oder noch ein bisschen länger in seiner Nähe hängen bleibe, bis wir uns küssen. Ob der Kuss endet oder dauert und dauert und dann intensiver wird. Ob seine Hände an meiner Taille bleiben oder er in meinen Nacken greift. Ob ich mich dann von ihm löse, ein paar Zentimeter zwischen uns bringe und allein den Code eintippe, der meine Haustür öffnet, oder ob ich ihm in die Augen schaue, ihn mit einem Blick herausfordere und abwarte …
Paul zögert, die Lederjacke von meinen Schultern zu nehmen, die er mir eben auf dem Weg nach Hause geliehen hat. Aber er zögert auch, noch einen Schritt auf mich und meine Haustür zuzumachen. Von einem Moment auf den anderen wirkt er nicht mehr wie dieser unangepasste Künstler, der aus der Einöde von Bloemfontein nach Kapstadt geflohen war, um hier Musik zu machen, seine Welt, seine Einflüsse und seine Inspiration zu vergrößern und um mit seiner Jazzband nachts in Klubs zu improvisieren, statt mit einer Gitarre auf Hochzeiten den immer gleichen Ed-Sheeran-Song zu spielen. Eben noch war er der Typ, der den Barkeeper mit einem Handschlag und einer Umarmung begrüßt hatte, ungefragt Tequila bestellte, der seinen Arm die gesamte Zeit über auf meiner Rückenlehne liegen ließ, seinen Platz einnahm – und auch mich. Zwei Stunden lang hatte ich ihm zugehört und es genossen, dass er so viel zu erzählen hatte, dass er es uns so leicht machte, dass unsere Themen in unterschiedlichste Richtungen ausuferten, dass wir nicht für einen Moment im Small Talk hängen blieben. Ich fand Paul spannend. Jetzt auf einmal fand ich ihn still. Sehr still.
»Hör zu, ich würde gerade super gern einfach mit dir nach oben kommen, aber ich muss dir da noch was sagen … und ich weiß jetzt gar nicht wirklich, wo ich da anfangen soll«, beginnt er vorsichtig, verlagert sein Gewicht vom einen auf das andere Bein, wartet meine Reaktion ab, als würde sie beeinflussen, wie seine Geschichte gleich weitergeht.
Ich zucke mit den Schultern, weiß was jetzt kommt, verkürze den Dialog.
»Du hast eine Freundin.«
»Nein …«
»Du hast eine Ex-Freundin, in die du noch verliebt bist?«
»Oh, Gott, nein.«
»Du hast Kinder?«
»Nein, man … wie kommst du denn darauf?«
»Nenn es Instinkt, oder vielleicht auch Erfahrung …«
»Ich hab da bei einer Sache gelogen. Aber ich habe keine Kinder und ich bin auch nicht verheiratet oder so …«
»Was bist du dann? Auf Bewährung? Ist das hier eine Henri-van-Breda-Situation?«*
»Ich bin kein Mörder, okay? Ich bin einfach nur nicht 25 Jahre alt …«
»Sondern?«
»Ich bin 19.«
***
Okay, das war neu. Ich hatte schon ein Date mit einem Mann, der ein paar Minuten nach dem Sex zu weinen begann, weil er seine Ehefrau so vermisste. Dass es überhaupt eine gab und sie sich erst vor zwei Wochen von ihm getrennt hatte, erfuhr ich erst in diesem Moment. Ich hatte schon einmal ein Abendessen mit dem abgehalfterten Star einer ehemaligen Boyband durchgestanden, zwischen dessen realer Ausstrahlung und den (Presse-)Bildern, die er auf Tinder benutzt hatte, in etwa der Marianengraben hätte passen können. Ich war belogen worden, wenn es um Jobs ging, um Ex-Freundinnen, generell, wenn es sich um den emotionalen Zustand nach einer Trennung handelte. Ein Typ hatte mir sogar mal erzählt, er hätte zwei Jahre für die Navy gedient, während er eigentlich schon in einem Tretboot seekrank wurde. Aber ich hatte noch nie einen Mann geküsst, der sich sechs Jahre älter gemacht hatte, als er war. Ich hatte generell noch nie einen Mann gedatet, der zehn Jahre jünger war als ich.
(Ich habe das Gefühl, es ist eigentlich unnötig zu erwähnen, aber der Vollständigkeit halber: Es blieb mein einziges Date mit Paul.)
***
»Lass mich kurz zusammenfassen: Kate hat ihren Anwaltstitel bekommen, ihr habt ein Business gegründet, ich wandere nach Indonesien aus, Maggs und ihr Freund sind zusammengezogen. Kate und ihr Freund sind zusammengezogen. Ich bin weiterhin Single – oh, und Lina hat vor ein paar Tagen einen Teenager geküsst. Fehlt noch was?«
Es ist der klassische Brunch in Kapstadt: ein Tisch draußen in der Sonne, breakfast cocktails, Rührei oder Omelett und zwölf angerissene Gesprächsthemen in den ersten dreißig Minuten.
Ich habe die girls seit Monaten nicht gesehen. Von Maggs höre ich täglich, und auch Kate ist zu einem Teil meines Lebens geworden, aber alle anderen Bekanntschaften in Südafrika leben immer erst dann wieder wirklich auf, wenn ich im Land bin. Während meiner Zeit in Deutschland sind wir auf den sozialen Netzwerken in Kontakt, aber um uns wirklich voneinander zu erzählen, fehlt dann doch meistens entweder die Zeit oder auch einfach die Nähe. Mein erster Samstag zurück in der Stadt wird darum zum Catch-up-Date.
Jana wickelt ihr Besteck aus der Serviette und nimmt noch einen Schluck aus ihrem Glas, während ich von meinem Date erzähle.
»Er war kein Teenager, als ich ihn geküsst habe. Da war er noch 25!«
»Red es dir nur ein, wenn es dir damit besser geht«, Maggs nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und schüttelt lachend den Kopf.
»Vielleicht suchst du ja auch einfach an der falschen Stelle oder dir eben immer die falschen Männer aus …«, will Jana gerade ansetzen, aber Kate unterbricht sie:
»Das sind ja nun keine News. Ein Wort zu Linas Männergeschmack: Aroma-Jesus.«
»Entschuldigung, was?«, werfe ich noch ein, aber gehe in dem Gelächter der Gruppe unter.
»Oh mein Gott, nie hat es jemand besser beschrieben!« Maggs wischt sich die Tränen aus den Augen.
»Es ist wahr. Jeder Typ, den du in den letzten zwei Jahren gedatet hast, hatte lange, dunkle Haare, eine schmächtige Gestalt und sah generell aus, als würde er morgens frisch gepflückte Kräuter erst zu einem Cleansing-Ritual und dann zu einer belebenden Haarkur verarbeiten. Jeder von denen wurde von der Welt irgendwie noch nicht ganz verstanden und hatte irgendein Leiden, bei dem du ihm auch nicht helfen konntest.«
»Gustav hatte die Drogen, okay, aber Matt hatte kein Leiden?«
»Seine Karriere.«
»Sein Ego.«
»Seinen eingefrorenen Trustfonds.«
»Okay, aber Nathan …«
»Seine Ex.«
»Punkt für euch.«
»Aber jetzt mal ehrlich. Vielleicht brauchst du einen Cut.«
Jana zieht eine Stange Sellerie aus ihrer Bloody Mary und zuckt mit den Schultern.
»Den hatte ich doch …«
»Nein, ich meine, vielleicht musst du dich einfach mal zurücklehnen, nach keinem Mann auch nur die Augen offen halten und gucken, was passiert, wer dich findet. Du weißt schon, absolut nichts und niemanden suchen, ganz offen annehmen, was auch immer auf dich zukommen mag und dabei etwas total Unerwartetes erleben …«
»Das trifft vielleicht auf Indonesien und das backpacking zu. Ich meine, nicht genau zu wissen, wo du bist oder wohin du als Nächstes willst, ist sozusagen die Essenz von einer Reise, von einem Abenteuer – aber wenn es um Beziehungen geht, klingt diese grenzenlose Freiheit für mich eher nach maximaler Fremdbestimmung.«
»Meine Freundin Charly zum Beispiel hatte beschlossen, erst einmal Single zu bleiben und das Jahr nach der Uni für neue Erfahrungen zu nutzen, aber dann hat sie im letzten Festivalsommer auf dem Rocking the Daisies auf einmal Jack getroffen und …«
»… und seitdem ist alles ganz anders gekommen und statt der neuen Erfahrungen, nach denen sie suchen wollte, lebt sie jetzt einfach die, die er machen wollte? Das ist doch genau das, was ich meine.«
Ich führte dieses Gespräch nicht zum ersten Mal und ich habe sicher schon Hunderte Artikel über »glückliche, moderne« Beziehungen oder »erfolgreiches« Dating gelesen, die immer ungefähr den gleichen Beginn hatten: Ich wollte eigentlich Single bleiben./Ich wollte mich eigentlich auf meine Karriere konzentrieren./Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen und ein paar Monate reisen./Ich hatte eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben, aber dann kam er und alles war anders.
Was ist das für eine moderne Rettungsfantasie, die wir da einander erzählen, und warum muss eigentlich immer alles anders sein, sobald irgendein Mann auf der Bildfläche auftaucht?
Als ginge es in der Liebe darum, dass irgendjemand kommt, uns an die Hand nimmt und in irgendeine Situation schiebt, die wir gar nicht erwartet oder erdacht haben, aber jetzt einfach mal so an- und schließlich übernehmen.
Warum muss der Mensch, der uns glücklich macht, immer alles, was wir eigentlich wollen, umwerfen und eine neue Richtung festlegen?
Wir müssen unbedingt aufhören, uns finden zu lassen.
Wir müssen aufhören, keine Erwartungen zu haben.
»Ich weiß heute, was ich von der Liebe will. Und das bedeutet, dass ich selbstbestimmt zugreifen und mich für sie entscheiden kann, wenn ich sie finde. Wo ich sie finde, unter welchen Umständen ich sie finde oder bei wem, das darf ja trotzdem offenbleiben. Ich habe bei Paul, um ehrlich zu sein, gar nichts gesucht, außer mal wieder ein gutes Date. Ich habe keine Agenda, ich wollte einfach irgendwo wieder anfangen – und dabei Spaß haben«, sage ich in die Runde.
»Aber dann bist du ja doch gar nicht so weit von Janas Theorie entfernt, oder? Du willst ja auch auf dich zukommen lassen, was aus deinen Dates wird.«
»Ich glaube, der Unterschied ist der, dass ich aussuche, wen ich date, unter welchen Umständen, für wie lange oder mit welcher Absicht. Ich kann sie ändern, wenn ich es möchte, aber warte nicht passiv darauf, dass sie mir irgendjemand vorgibt oder mich mitreißt, aus meinen Plänen herausreißt oder mir überhaupt das Gefühl gibt, dass ich wieder welche hätte. Ich bin offen, aber date trotzdem selbstbestimmt. Das heißt, dass ich mich auf jede Erfahrung, die ich noch machen will oder die sich gut anfühlt, einlassen kann, aber mich darin nicht verlieren muss.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagt Kate. »Und ich habe manchmal auch das Gefühl, dass wir es viel zu oft an unserem Alter oder der Frage, wie lange wir schon Single sind, festmachen, wie wir daten oder wonach wir suchen sollten. Wenn du zum Beispiel so wie Jana gerade mit dem Studium fertig bist, erwartet man von dir, dass du gar keine Erwartungen hast und einfach nur Erfahrungen sammelst. Das ist die Grundidee. Wenn du auf das Ende deiner Zwanziger zugehst und vielleicht über mehr als zwei Jahre Single geblieben bist, solltest du langsam anfangen, deinen Plan zu ändern und dich zu fokussieren. Und wenn du dann mit Mitte dreißig immer noch keine Wurzeln schlägst, bist du entweder egoistisch oder lost …«
»Und das ist so ein Blödsinn!«, stimme ich ihr zu. »Ich habe zum Beispiel einen großen Teil meiner Zwanziger damit verschwendet, vermeintlich längst fertig mit mir und erwachsen zu sein. Ich habe mich in eine Beziehung gezwungen und an den Wochenenden unsere Wohnung umdekoriert und Dinnerpartys mit anderen Paaren gegeben. Es hat ewig gedauert, aufzuwachen und mich selbst zu fragen: Was mache ich hier eigentlich? Und viel wichtiger: Will ich das? Oder folge ich hier nur einem fremden Plan, in den ich irgendwie so hineingerutscht bin? Ich hatte mit Anfang zwanzig nicht die geringste Idee, wie mein eigenes Leben wirklich sein soll, wie meine Beziehung wirklich sein soll. Ich wusste nur, was andere vermutlich erwarten würden.«
»Und genau das ist der Punkt! Im Ernst, wir müssen es endlich mal normalisieren, dass man auch mit Mitte vierzig oder nach acht Jahren als Single noch entspannt nach der Liebe suchen darf. Dass eine Beziehung nichts ist, was du brauchst, sondern wofür du dich entscheidest. Es ist total okay, wenn du erst in deinen Dreißigern oder sogar Fünfzigern anfängst, deine eigenen Träume zu leben, oder vielleicht sogar erst jetzt den Mut aufbringst, sie zu verfolgen. Unser Leben endet ja nicht magisch mit 29, und bis dahin musst du gefühlt alles erlebt haben, um dir jetzt sicher zu sein oder alles entscheiden, bevor es zu spät wäre.«
»Cheers«, sage ich und stoße mit Maggs an.
»Das große Problem ist nicht, niemanden zu finden – sondern jemanden, der einfach nur darauf wartet, dass ich ihn irgendwo finde.«
*Henri van Breda ist ein verurteilter Mörder aus Südafrika. Während er auf seinen Prozess wartete, durfte er sich frei bewegen, nahm einen neuen Job an, verliebte sich. Seine Freundin erfuhr erst Monate später, wer er wirklich war.
»Weißt du jetzt eigentlich schon, wann du Sonntag wieder nach Kapstadt kommst? Du kannst mir ja einen Live-Standort schicken!«
Ich antworte nicht.
»Ist sonst auch egal. Ich bin nur so aufgeregt, dich am Sonntag endlich zu sehen, ich weiß gar nicht, ob ich heute Nacht ruhig schlafen kann«, schreibt er.
Ich lese die Nachricht, schließe sie und lehne mich zurück in die Kissen meines Hotelbettes. Dieses Date ist ein Fehler. Jetzt schon. Nicht weil der Typ mit den braunen Locken und dem schönen Lächeln, den ich vor ein paar Tagen auf Tinder fand, mir so offen schreibt, dass er aufgeregt ist, mich kennenzulernen – sondern weil er tatsächlich meine Rückfahrt aus Hermanus tracken will. Vor allem aber, weil seine nervöse Vorfreude auf unser Date (süß) sich binnen weniger Stunden in mittlerweile mehrfach erwähnte Schlafstörungen gesteigert hat (creepy) und er mir in den letzten vier Tagen, die seit unserem Match vergangen waren, mehr als dreißig Nachrichten schickte. Und ich wünschte, das wäre eine Übertreibung.
Seine dritte Nachricht war ein langes Kompliment gewesen, in dem er mir ausführlich erklärte, was für eine große Anziehung ich allein durch meine Fotos auf ihn ausüben würde. Seit der fünften Nachricht nannte er mich »sweet Lina«. Morgens wollte er wissen, wie ich geschlafen, abends, was ich erlebt, gegessen oder gedacht hatte.
»Ich find ihn total süß. Er bemüht sich doch einfach nur um eine Konversation …«, sagt meine Freundin, als ich ihr ein paar der Nachrichten beim Abendessen zeige.