ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Barbara Büchner - E-Book

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG E-Book

Barbara Büchner

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Beschreibung

Alles wird gut. – Warum man Kindern heute noch diesen Bären aufbindet, ist schwer zu erklären. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um eine simple Kompensation handelt – der Tatsache nämlich, dass dem eben gerade *nicht* so ist! Glaubt man dem Volksmund, dem man ansonsten eher misstrauen sollte, kommt nichts Besseres nach. Die Erkenntnis, dass Freiheit nichts mit der Freiheit, alles Gewünschte konsumieren zu können, zu tun hat, ist in den meisten Köpfen noch lange nicht angekommen. Gerade China ist der beste Beweis dafür, dass die Erzeugung von Demokratie durch Handel nicht funktioniert. Die Entwicklungen haben begonnen. Nicht erst gestern. Wir sind bereits mittendrin. Die Autoren, die sich an dieser Anthologie beteiligt haben, kamen zum selben Schluss. Vielen ist offenbar bewusst, dass der eingeschlagene Weg seine Tücken haben wird. Nun mag die Titelwahl dieser Sammlung eine gewisse Ausrichtung nahegelegt haben – die eifrige Beteiligung spricht für eine empfundene Dringlichkeit. … nicht nur, den Anfängen zu wehren!

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Rainer Schorm & Jörg Weigand (Hrsg.)

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

Orwells Albtraum

AndroSF 107

Rainer Schorm & Jörg Weigand (Hrsg.)

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

Orwells Albtraum

AndroSF 107

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Rainer Schorm

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 171 6

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 913 2

Im Juni 1949 erschien George Orwells Roman »1984«.

Das ist einundsiebzig Jahre her.

Das Handlungsjahr 1984 ist sechsunddreißig Jahre her.

2020 ist ein guter Zeitpunkt für dieses Buch.

Vorwort

Alles wird gut.

Warum man Kindern heute noch diesen Bären aufbindet, ist schwer zu erklären. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um eine simple Kompensation handelt – der Tatsache nämlich, dass dem eben gerade nicht so ist! Glaubt man dem Volksmund, dem man ansonsten eher misstrauen sollte, kommt nichts Besseres nach.

Die Verwirrung ist spätestens hier umfassend und der Mensch, das prognostizierende Wesen, weiß einmal mehr nicht, was auf ihn zukommt. Prognose ist unserer Spezies eingebaut. Denkfähigkeit dürfte entstanden sein, um gute Lebensbedingungen vorhersagen zu können – und wahrscheinlich, seit es in der Evolution zur ersten Ausprägung von Sinnesorganen kam. Das ist nichts anderes, als aus Wahrnehmungs- und Empfindungsfakten abzuleiten, was jenseits davon liegen könnte: räumlich und zeitlich. Prognose eben!

Die Literatur zeitlicher Prognose ist die Science-Fiction; kombiniert man das mit den Eingangsbemerkungen, landet man wo? Genau: bei der Dystopie … dem skeptischen, hässlichen, kleinen Bruder der Utopie.

Little Brother – Big Brother.

Orwells Dystopie ist die bekannteste, gerade, wenn man das Science-Fiction-Getto verlässt und in die Breite der Gesellschaft geht. Ob jeder, der Orwell zitiert oder sich auf ihn beruft, ihn gelesen oder gar verstanden hat, darf gerne bezweifelt werden. Es ist auch definitiv nicht die schlimmste aller Dystopien, sondern vielleicht diejenige, die dem simplen Gemüt am eingängigsten ist. Den Herausgebern fallen einige andere ein, viele darunter sehr viel bedrohlicher und ihrer scheinbaren Heimeligkeit wegen sehr viel heimtückischer: Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« etwa. Aber es gibt weitere: Ray Bradburys »Fahrenheit 451«, E. M. Forsters »Die Maschine steht still«, Jevgenij Samjatins »Wir« oder Harry Harrisons »New York 1999«.

Als ob das nicht bereits schlimm genug wäre – es sieht so aus, als ob die Dystopien recht behielten. Die Utopien, sozialistisch oder anders geprägt, sind brachial gescheitert, der Versuch, einen neuen Menschen zu erziehen ebenso. Das Rollback etwa hin zu nationalistischen Traditionen beweist leider, dass die Annahme, die soziale Entwicklung habe die biologische abgelöst, falsch ist. Die Schönwetterideologien, die sich heute im Konsumismus festgesaugt haben, wirken in ihrer Armseligkeit mitleiderregend. Die Vorstellungen basieren auf einem verzerrten Nachhall der Geist-Körper-Trennung; traditionell, aber längst überholt. Der Mensch als Gegenpol zur Natur, Soziologie als Gegenentwurf zur Evolution.

Nach wie vor sieht sich der Mensch nicht als integralen Teil der Natur, sondern, wenn schon nicht als Krone der Schöpfung, dann wenigstens als das größte anzunehmende Übel. Und der »Gutmensch«, selbst längst ein ideologischer Kampfbegriff, steht dagegen auf, um das Klima zu retten – vor dem Menschen selbstverständlich. Wobei es in der Regel sehr erheiternd ist, wenn man Verfechter dieser Weltanschauung fragt, was genau sie denn da retten wollen, oder gar wie. In einem hochdynamischen System wie dem Gesamtklima der Erde (ohnehin eine extreme Simplifizierung) einen speziell für uns angenehmen Zustand auf Dauer arretieren zu wollen, entspricht auf bizarre Weise wieder dem humanen Größenwahn.

Nähme man den Ansatz ernst, müsste man den Menschen ausrotten. Zu glauben, dass man bald zehn Milliarden Individuen auf dem Planeten herumspazieren lassen kann, ohne Auswirkungen auf die Umwelt zu haben, ist an Naivität kaum noch zu überbieten. Zumal alle Menschen angeblich dasselbe Recht auf Wohlleben haben – Konsum eingeschlossen. Viel Spaß bei der Entwicklung von klimaneutralen Produkten, die das kompensieren …

Abgesehen vom mitleiderregenden Scheitern am Begriff: Der Mensch sieht sich als seine eigene Dystopie und arbeitet hart daran, sie wahr werden zu lassen. China macht bereits die ersten Schritte: Genmanipulation am Menschen, wie die HIV-Immunität an Zwillingen, von He Jiankui an der Southern University of Science and Technology in Shenzhen mit der Gentechnik CRISPR erzeugt. Moral hin oder her, der erste Schritt ist getan. Wer glaubt ernsthaft, die ethischen Bedenken würden standhalten, sähe der Westen sich massenhaft mit gentechnisch optimierten Menschen aus Fernost (oder sonst wo) konfrontiert? Ohne Zweifel empfanden auch die alten Weber die Entwicklung des mechanischen Webstuhls als unfair. Die Entwicklung interessierte sich bereits damals nicht für Moral. Auch wenn Bertolt Brecht das sehr viel prägnanter formulierte.

Noch einmal China: Das von der Partei geplante System digital kontrollierter Bürgerbonität wird für jeden Despoten eine Verlockung sein. Der Ameisenstaat ruft und die freien Bevölkerungen nutzen jede datenerhebende App, die sie bekommen können (und ja, über den aktuellen Freiheitsbegriff kann man mit gutem Recht diskutieren!).

Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten? Leider ist es umgekehrt: Ohne Privatsphäre gibt es keine Freiheit. Wer alles offenlegt, sollte sich besser fürchten. Vor der Rückkehr der Tyrannei. Vor Demagogen. Vor Leuten, die einfache Lösungen versprechen. Und vor Leuten, die glauben, alles was ihr Nachbar tut, ginge sie etwas an. Oder müsse im Sinne einer »schönen, neuen Welt« geregelt werden.

Kommt Ihnen das bekannt vor?

Vor allem deshalb sollten Sie sich fürchten: weil sie es uns bequem machen wird, die neue Despotie. Smart Home, Industrie 4.0, autonomes Fahren. Big Data ist längst Realität. Nicht unbedingt big enough für viele, aber wir stehen schließlich erst am Anfang. Niemand kann die erhobenen Daten nutzen, weil wir es bürokratisch untersagt haben? Sie werden genutzt werden – mit Können oder Dürfen hat das so gut wie nichts zu tun.

Die Erkenntnis, dass Freiheit nichts mit der Freiheit, alles Gewünschte konsumieren zu können, zu tun hat, ist in den meisten Köpfen noch lange nicht angekommen. Gerade China ist der beste Beweis dafür, dass die Erzeugung von Demokratie durch Handel nicht funktioniert. Die Entwicklungen haben begonnen. Nicht erst gestern. Wir sind bereits mittendrin.

Die Autoren, die sich an dieser Anthologie beteiligt haben, kamen zum selben Schluss. Vielen ist offenbar bewusst, dass der eingeschlagene Weg seine Tücken haben wird. Nun mag die Titelwahl dieser Sammlung eine gewisse Ausrichtung nahegelegt haben – die eifrige Beteiligung spricht für eine empfundene Dringlichkeit.

… nicht nur, den Anfängen zu wehren!

Vielleicht sollte der eine oder die andere doch noch einmal Huxleys »Brave New World« lesen …

Oder eben diese Anthologie.

Rainer Schorm & Jörg Weigand

Freiburg, Frühling 2020

Journalism is printing

what someone else does not want printed.

Everything else is public relations.

Auf gut Deutsch:

Journalismus ist, das zu drucken,

was jemand nicht gedruckt haben will.

Alles andere ist Public Relations.

George Orwell zugeschrieben …

Werner Zillig: Das Vermächtnis des Großen Bruders

1

Manchmal frage ich mich, wann diese politische Katastrophe, die sich nun fortsetzt, begonnen hat. Viele werden sagen, sie hat mit mir begonnen. Ich selbst glaube, dass man unterscheiden muss nach Anzeichen und realen Ereignissen. Das wichtigste Anzeichen ist für mich in der Rückschau: dass seinerzeit die großen Zeitungen alle verschwunden sind. Die kleinen Zeitungen natürlich sowieso. Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche, der Spiegel – innerhalb von zwei Jahren hat es sie nicht mehr gegeben. Anrührend war der Versuch von Spiegel und Süddeutscher Zeitung, ihre Redaktionen in Berlin zusammenzulegen. Da war die Anzahl der Leser dieser beiden schon auf insgesamt vierzigtausend zusammengeschrumpft. Wenn man bedenkt, dass gut dreißig Jahre vorher noch fast fünfzehn Millionen Tageszeitungen und vier Millionen Wochenzeitungen verkauft worden sind – was hat sich da in kurzer Zeit alles verändert!

Bei den realen Ereignissen war der ›Fast-Bürgerkrieg‹ die entscheidende Zäsur. So hat der Spiegel diese Straßenkämpfe in seiner letzten Ausgabe ja genannt. Nun gut, in dieser Zeit habe ich tatsächlich die Macht übernommen. Aber war ich wirklich der Auslöser des großen Zusammenbruchs oder nur ein kleiner Indikator auf dem Weg dahin? Einer, der den Zusammenbruch eine Zeit lang verhindert hat? Eine ganz andere Art eines realen Ereignisses waren die drei überkalten Winter, mit denen niemand in den Zeiten des Global Warmings gerechnet hatte. Und die Abkühlung in Mitteleuropa hält an. Heute sind die Wissenschaftler sicher, dass die Erdkugel sich weiter erwärmt, während der schnelle Zusammenbruch des Golfstroms Mitteleuropa bald eine veritable Eiszeit – na gut, sagen wir eine schlimme Kaltzeit beschert. Dass das Weltklima in so kurzer Zeit vollkommen verrücktspielt, damit hat niemand gerechnet. Es ist wie ein Fanal, real und vollkommen unbegreiflich. So müssen sich die Menschen im ausgehenden Mittelalter gefühlt haben, damals als die Pest ausgebrochen ist.

2

Sie nennen mich jetzt den Großen Bruder. Das haben mir meine Anhänger, die wenigen, die sich noch in Freiheit befinden, gestern zugetragen. Einige also haben sich doch retten können. Wie die Botschaft in meine Zelle – Verzeihung! – mein Zimmer gekommen ist, darüber will ich nicht nachdenken. Denn wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich diese Verbindung nach draußen verloren. Meine Gedanken werden von den Guten, die jetzt an der Macht sind, nahezu lückenlos überwacht. Könnte ich ruhig und konzentriert denken wie früher, würde ich darüber sprechen, wie doch die Menschen danach gieren, andere, vor allem wenn diese anderen erfolgreich waren, als böse und gemein hinzustellen. War ich böse? Sie werden die zurückliegenden Jahre schon ins rechte Licht rücken. In ein Licht, das sie mit einem Glorienschein umgibt und mich als Schurken dastehen lässt. So habe ich es erwartet, so ist es gekommen.

Als Prophet war ich immer gut.

Das mit dem Großen Bruder ist offenbar eine Erfindung von Eric Ode, den die neuen Machthaber, die Guten, dazu ausersehen haben, die Geschichte meiner abgrundtief bösen Alleinherrschaft zu schreiben.

Und ich? Noch sitze ich hier, in meinem Weißen Zimmer, dieser Gefängniszelle, die ich nicht Zelle nennen darf. Mein Zimmer, in dem wirklich alles weiß ist. Der Boden, die Wände, das Bett, die Toilette. Sogar die Gitterstäbe sind weiß. So sehr weiß ist meine gesamte Umgebung, dass sich schon nach knapp zehn Tagen in diesem Raum am Rande des Wahnsinns war. Aber diese subtile Folter hat ihr Ziel nicht erreicht. Mein Verstand ist nicht gekippt, und also bin ich nicht wahnsinnig geworden. Das war ihre Absicht. Dass ich wahnsinnig werde und mit Grimassen und wahnsinnigem Augenrollen im Gerichtssaal auftrete. So ist es nicht gekommen, aber das ist auch nicht mehr wichtig.

Vorgestern ist das Urteil gefallen, es gab nur diese eine Instanz, und morgen werde ich für den Rest meines Daseins in das Schwarze Zimmer gebracht. Ich nehme an, dass es nicht länger als drei Tage dauert, bis ich nur noch ein mittelgroßes Tier bin, eingesperrt, vegetierend, bis es dann irgendwann, es wird nicht lange dauern, mit mir zu Ende geht.

Die Todesstrafe haben sie, weil sie die Guten sind, abgeschafft, wohl wissend, dass das Schwarze Zimmer mir und den anderen in meiner Lage schnell den Tod bringt, ohne dass sie mich selbst umbringen müssen. Was für eine elegante Lösung! Menschen in schwarzen Räumen schnell verwelken zu lassen, statt sie selbst zu töten.

3

Das Denken fällt mir inzwischen wirklich sehr schwer. Meine Erinnerungen sind wie kalter Honig, so sehr erstarrt, dass ich sie nur noch in Brocken abschlagen und formulieren kann. Also rekapituliere ich, was geschehen ist, diese schlimmen zehn Jahre, in denen ich versucht habe, den Untergang des Landes abzuwenden.

Die Menschen konnten sich eine wahrhaft wahnsinnige Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Dabei hätten sie nur die Kommentare zu Zeitungsartikeln lesen müssen. Wie viel Hass und Rechthaberei sich da schon vor zwanzig Jahren Bahn gebrochen hat. Wo waren wir denn vor zehn Jahren? Die Auseinandersetzungen, ausgehend von Berlin und Hamburg, wurden zusehends stärker. Am Anfang, als die Wirtschaft noch einigermaßen funktionierte, schien alles halb so schlimm. Aber es dauerte nur knapp zwei Jahre, und dann ging es mit diesen dreiundzwanzig politischen Morden innerhalb von knapp zwei Monaten wirklich los. Sie waren so sehr verwöhnt, unsere Bürger, durch hundert Jahre Frieden.

Auf einmal aber – Europa war auseinandergefallen. Nicht nur die EU, die natürlich sowieso. Auch die Vorstellung, dass es so etwas wie ein politisches Europa überhaupt geben könnte.

Und die deutschen Bürger, am wenigsten die ideologisch herrschende Klasse, also die Besserwisser – die Besserwisser konnten nicht glauben, dass ihr Land wieder wahnsinnig wird. Bis zuletzt, bis zu der Nacht auf den 24. August, dem Tag, als der Bundeskanzler umgebracht wurde, wollten sie es nicht glauben.

Aber dann, auf einmal war er da. Der Bürgerkrieg in den Straßen war da und breitete sich in wenigen Tagen über das ganze Land aus. Unsere feinsinnigen Feuilletonschreiber, die sich allerdings schon seit längerer Zeit nicht mehr liberal zu nennen wagten, sie standen fassungslos da und beschworen die Aufklärung, das friedliche Miteinander, den inneren Frieden, den es längst nicht mehr gab.

Und ich, wer war ich damals?

Ein kleiner Provinzpolitiker in Niedersachsen, den keiner kannte. Ich habe mich mit einigen Freunden in Hannover in einer Kneipe zusammengesetzt, und wir haben die Lage sachlich analysiert, auch wenn das mit dem Sachlichbleiben schwerfiel. Wir waren sechs Frauen und fünf Männer, und am Ende des Abends hat eine Frau, eine von den Stillen in der Runde, auf einmal das Wort ergriffen und vorgeschlagen, dass ich die Sache mit dem neuen Programm und der neuen Partei in die Hand nehmen sollte.

Uns allen war damals klar, dass es ohne eine groß angelegte und lückenlose Überwachung der verschiedenen gewalttätigen politischen Strömungen, die das Land zerrissen, nicht ging.

Ich habe mich hingesetzt und habe in einer einzigen Nacht dieses Zwölfpunkteprogramm entworfen. Natürlich war das ein Notstandsprogramm, was hätte es denn anders sein sollen? Ich habe niemanden bevorzugt, nicht die Linken und nicht die Rechten, nicht die Anhänger des Islam und nicht die, die seit zehn Jahren für ein radikales Christentum eintraten. (Das war die große Überraschung gewesen, dass sich das tot geglaubte Christentum auf einmal zu einer radikalen politischen Richtung emporschwang. Die metaphorische Formel von den Kreuzrittern, sie war innerhalb eines einzigen Jahres Realität geworden. Und waffentechnisch waren die Kreuzritter allen anderen Gruppen in kürzester Zeit weit voraus.)

Die Ideen des Zwölfpunkteprogramms für den inneren Frieden waren ganz einfach, und sie entsprachen in jeder Hinsicht jenen demokratischen Normen, die soeben gestorben waren. Ja, im Grunde war es nur eine einzige Norm: Körperliche Gewalt, und das schloss die Androhung körperlicher Gewalt mit ein, war strikt verboten. Das Gewaltmonopol des Staates habe ich mit aller Macht durchgesetzt. Ich wollte den totalen Bürgerkrieg verhindern, und ich habe ihn verhindert.

4

Habe ich Deutschland und seine Bewohner überwacht? In jeder Hinsicht?

Ja, natürlich habe ich das. Aber doch nur, weil ich den totalen Zusammenbruch verhindern wollte. Da waren wir angekommen: alle gegen alle. Natürlich Muslime gegen Christen. Wer um alles in der Welt hätte gedacht, dass es noch einmal eine christlich fundamentalistische Bewegung geben könnte? Die Atheisten und die Aufgeklärten standen ungefähr fünf Jahre verdattert herum, weil sie nicht wussten, auf welche Seite sie sich schlagen sollten. Zuerst haben sie betont, dass beide Richtungen gleich unvernünftig seien. Jede Religion sei – Methamphetamin für das Volk. Aber dann, als sie gesehen haben, dass solche Sätze keinen Sinn mehr ergeben, weil das halt immer nur ein Kommentieren der Straßenschlachten aus der Entfernung war, da haben sich die Aufgeklärten aufgespalten, und zwei Drittel sind auf die Seite der Muslime gewandert und ein Drittel auf die Seite der Christen. Ein winziger Rest der einstigen intellektuellen Oberschicht hat sich eingeigelt und versucht, in einigen dekadenten Salons zu überleben.

Warum, so habe ich gefragt, konnten die Leute nicht dreißig Jahre vorher die Zeichen lesen? Da hat es die Zeitungen gegeben. Es wäre so viel einfacher gewesen, damals. Warum haben sie gedacht, wenn sich warnende Stimmen erhoben haben, dass das alles nur Panikmache sei? Warum haben sie nicht in die Geschichte geschaut? Es wäre ein Leichtes gewesen, ein paar historische Parallelen herzustellen.

1880 war eine prima Zeit. Dann der Erste Weltkrieg. Damit war das Drama der ersten Jahrhunderthälfte eingeläutet. Dann also die Nazis und der große Untergang. Wenn sich gesellschaftliche Konflikte nicht mehr ausgleichen lassen, wenn die Möglichkeiten des Miteinanderredens zu Ende gehen, dann kommt der große Moloch und sieht sich um. Krieg oder Bürgerkrieg? Es gibt auf einmal keinen Ausweg mehr. Früher hat man den Krieg mit den anderen Ländern gewählt. Diese Möglichkeit hat sich jetzt nicht mehr ergeben. Ich habe nicht verstanden, warum es nicht mehr möglich war, einen innereuropäischen Krieg anzufangen. Oder unter irgendeinem Vorwand einen Krieg gegen Russland zu führen. Es ging nicht mehr. Und also ging es nur mit einem Fast-Bürgerkrieg weiter.

5

Damals, fünf Jahre, bevor ich die Macht übernommen habe, war die Lage schon so weit verfahren, dass das mit dem Verbot jeglicher körperlicher Gewalt ein frommer Wunsch geblieben wäre, wenn ich später nicht gleichzeitig die entsprechenden Überwachungsmaßnahmen mit eingeführt hätte. Wir hatten seit Langem die technischen Möglichkeiten, um wirklich ›in die Köpfe der Menschen hineinzusehen‹. Bis dahin hatte das zivile, feinsinnigen Standards verpflichtete Bürgertum laut aufgeschrien. Dass solche Maßnahmen unethisch seien und niemals zugelassen werden dürften. Aber es war dann allen Menschen in diesem chaotischen Deutschland schnell klar, dass diese schöne Zeit, die Zeiten des Friedens, gerade zu Ende gegangen war. Mein Gott, ist es langweilig, wenn man sich politische Abläufe vergegenwärtigt! Aber ich komme nicht darum herum. Zwei Tage später habe ich, der kleine niedersächsische Abgeordnete, im Landtag meine Rede gehalten. Meine Freunde haben dafür gesorgt, dass diese Rede rasch landesweit bekannt wurde, und schon zwei Tage später stand der Regierungswechsel in Berlin an, und ich stand auf einmal zur Wahl, ohne dass es allgemeine Wahlen gegeben hätte. Der Bundestag stimmte ab, und ich – ich war auf einmal Kanzler dieses Landes.

6

Ja, wir haben sofort damit begonnen, all jene technischen Überwachungsmaßnahmen einzuleiten, die damals schon möglich waren. Eine wissenschaftliche Forschergruppe, zusammengesetzt aus den verschiedensten Wissenschaftsrichtungen, hatte vor knapp zehn Jahren das Modell entworfen, mit dem es möglich war, Verbalradikale von Terroristen zuverlässig zu unterscheiden.

Im Grunde genommen sah die Sache so aus: Achtzig Prozent der Bürger, auch wenn sie mit großem Geschrei irgendwo auftraten, schreckten vor jeder Form körperlicher Gewalt zurück. Diese Menschen blieben vollständig unbehelligt. Die anderen zwanzig Prozent mussten zu einem Terroristentest antreten, der zuverlässig festlegte, ob sie Gewalttäter waren oder nicht.

(Hoppla, eh ich's vergesse: BILD Online gibt es immer noch! Wer anders als die BILD-Leute hätten dieses schöne Wort »Terroristentest« so rasch kreieren können?)

Wir waren ein wenig überrascht, dass sich die Gewalttäter nicht unter den Gruppen gleich verteilten. Es waren weniger – deutlich weniger Muslime, als wir dachten, und es waren mehr von den sogenannten liberalen Gruppierungen, die behaupteten, einen liberalen Staat im Sinne des Grundgesetzes erhalten zu wollen. Es war für mich nicht verwunderlich, dass sich jetzt eine dieser gewalttätigen Liberalengruppen durchgesetzt hat. Die Nachfolgeorganisation der FDP, die sich – es darf noch immer gelacht werden! – auch tatsächlich so nennt. Kein langes Herumreden: Diese neue FDP hat jetzt die Macht. Ich bin der Letzte, der politische Realitäten nicht anerkennt.

7

Wieder so eine Erinnerung, die leuchtend wie ein Christbaum in mein Gedächtnis tritt: Ich hatte im Punkt sieben meines Programms etwas festgelegt, das für einen sich lang hinziehenden Aufschrei im Internet sorgte: Alle Gewalttäter aller Gruppen sollten nach einer Zufallsauswahl in Parzellen zusammengefasst werden, ohne jede Waffe. Das mit dem Waffenverbot war das Einzige, das überwacht wurde. Es gab keine Polizei in den Parzellen, die die Gruppen trennte. Wenn sie sich gegenseitig mit den Händen oder irgendwelchen alltäglichen Gegenständen umbringen wollten, so blieb das den Bewohnern dieser Parzellen selbst überlassen. Meine These war: Es würden sich, wenn es keine Polizei gab, die dazwischen ging, nach einer kurzen Übergangszeit Macht- und auch Polizeistrukturen in den Parzellen herausbilden. So ist es dann gekommen.

Es hat diesen kleinen, kindischen Aufschrei gegeben. Der Untergang des Abendlandes und all seiner großen demokratischen Errungenschaften wurde beschworen. Die, die auf meiner Seite waren, wiesen wieder darauf hin, dass die Erschrockenen nur aus dem Fenster zu sehen brauchten, um den realen Untergang Deutschlands in Augenschein zu nehmen. Meine Leute wiesen auch darauf hin, dass wir nur gut hundert Jahre zurückschauen mussten, um zu sehen, wie rasch ein Land in die Barbarei kippen konnte. Wie dem auch sei, auf einmal hatte ich die Macht, und ich muss sagen, die Macht war mir egal. Die Gewalttäter, die mit den Mitteln der fortgeschrittenen Wissenschaft ausgemacht wurden, kamen in diese Großgefängnisse, die Parzellen, und am Anfang, im ersten Jahr, haben sich tatsächlich ungefähr vierhundert Menschen gegenseitig umgebracht. Wir haben allerdings verhindert, dass über diese sinnlosen Massaker auch nur irgendwie berichtet wurde.

Als die Gewalttäter bemerkten, dass sie keinerlei öffentliches Echo hatten, erstarb die Gewalt wie ein Feuer, dem der Sauerstoff ausgeht. Die Leute mitsamt ihren Aggressionen rauften sich zusammen und gaben Ruhe. Vereinzelt wurden sogar Polizeieinheiten aufgestellt, aber in den meisten Fällen war das gar nicht mehr nötig.

8

Soll ich darüber auch noch sprechen? Ich glaube schon. Meine Maßnahmen betrafen an dieser Stelle ja eines der größten Probleme, die es seinerzeit in dieser Gesellschaft gab. Ich meine die Überalterung. Die Rentensysteme trugen nicht mehr, der Pflegenotstand, den es früher einmal gegeben hatte, war längst zu einer Nichtpflegekatastrophe geworden, die Menschen, kaum dass sie fünfzig Jahre alt geworden waren, starrten nach vorne, weil sie wussten, dass sie auf ein unsäglich elendes Ende zusteuerten.

Ich habe zwei Kommissionen eingesetzt, die sich aller Fragen annehmen sollten. Ungewöhnliche Vorschläge waren ausdrücklich erwünscht. Man kann das Verrückte, Ungewöhnliche, auch das Verbotene immer noch ausschließen, hieß es in meinem Memo.

Es waren die drei Biochemiker in der Gruppe B, die, wie sie sagten, noch einen verbotenen Vorschlag parat hatten. Dieser Vorschlag lief darauf hinaus, von einem bestimmten Gesundheits- und Altersstand an – Drogen zu verabreichen, sei nicht der richtige Ausdruck. Es ginge viel eher darum, das Leben im Alter leichter zu machen. Natürlich sei die Sache als vollkommen freiwillig gedacht. Niemand müsse mitmachen.

Ich ließ diesen Gedanken ausarbeiten, und bald schon begannen die ersten Tests. Es waren schwer leidende Menschen, Todkranke, die ohnehin nicht mehr lange zu leben hatten. Sie bekamen die ersten Cocktails, und es wurden nach allen Regeln unterschiedlicher Wissenschaften Protokolle geführt. Die Betroffenen gaben Interviews. Obwohl in diesem Stadium noch alles geheim bleiben sollte, drangen, wie das so ist, erste Signale nach draußen. Wieder ein großer öffentlicher Aufschrei. Daraufhin wurden die Maßnahmen und Protokolle innerhalb von zwei Wochen vollständig freigegeben.

Auch die größten Kritiker saßen starr da, als ich nach Alternativen gefragt habe. Die, die Versuche mitgemacht hatten, erzählten euphorisch von ihren Erfahrungen. Sie wollten die Dosis steigern. Als wir nach Freiwilligen gesucht haben, bei denen diese Steigerung nahe an den Tod heranführen sollte, um dann abzubrechen und die Erfahrungen wiedergeben zu lassen, da meldeten sich für die erste Versuchsreihe viele. Als dann andere die Berichte und Interviews gelesen hatten, war überhaupt kein Halten mehr. Wir wurden überrannt von Bitten und Anfragen. Es gab so viele, die in dieses Paradies – von einem Paradies hatten mehrere der Versuchsteilnehmer geschwärmt – eintreten wollten.

Dann waren auch diese Versuche abgeschlossen. Versuche, bei denen bereits einige in ihr persönliches Paradies hinüberglitten, ein seliges Lächeln im Gesicht. Da erst wurden die Maßnahmen in Gesetzesform gegossen. Betont wurde, wie die ganze Zeit vorher schon, die Freiwilligkeit.

Natürlich trugen die Bedenkenträger ihre Gegenargumente vor. So etwas dürfe niemals statthaft sein in einer Zivilisation wie der unseren. Da war die öffentliche Meinung aber schon auf meiner Seite. Das Gesetz sollte vorläufig für drei Jahre gelten. Dann sollte eine neue Debatte geführt werden. Diese Debatte erwies sich als überflüssig, denn die, die sich freiwillig gemeldet hatten, wollten sehr schnell nicht mehr zurück. Sie wollten, dass die Dosis rasch gesteigert würde. Sie wollten, wie es einer der Wissenschaftler in einer der geschützten Gesprächsrunden etwas sehr despektierlich formulierte: möglichst rasch im Orgasmus sterben.

Natürlich haben diese Maßnahmen nicht alle Probleme unserer überalterten Gesellschaft gelöst, aber immerhin wurde die Alterskatastrophe damit zuerst eingedämmt und abgemildert und später sogar in ganz ruhige Bahnen gelenkt. Es gab die Gruppe derer, die bei diesem Programm nicht mitmachen wollten. Aber diese Gruppe wurde immer kleiner, und nach zehn Jahren schon wurde es selbstverständlich, sich bei den ersten Anzeichen ernsthafter Krankheit oder bei ersten schwereren Altersbeschwerden bei dem Programm, das nun ganz offiziell Paradies hieß, anzumelden.

Ich habe mich nicht gewundert, dass bei diesem Umsturz mir auch mein Paradiesprogramm vor die Füße geworfen wurde. So unmenschlich sei ich, dass ich solche Dinge in die Welt gesetzt hätte. Aber natürlich haben sie, die Guten, dieses Programm bis heute nicht ausgesetzt. Sie wüssten ja, welche Probleme zurückkehren würden, und natürlich haben sie nicht die geringste Idee, wie sie mit diesen Problemen fertig werden sollten.

9

Heute Morgen, in meinem weißen Bett in diesem Weißen Zimmer, habe ich auf einmal überlegt: Hatte ich überhaupt ein Privatleben? Eine Frau, Kinder? Meinetwegen auch einen Mann und keine Kinder? Vollkommen egal. Irgendetwas in der Art?

Ja, ich hatte ein Privatleben, und ich habe es vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. War das ein Fehler? Ich weiß es nicht. Wenn man ein Politiker in Krisenzeiten ist, dann verliert man die Fähigkeit, ein normales Privatleben zu führen, ganz rasch. Vielleicht ist es auch andersherum – man wird ein erfolgreicher Politiker, weil man nicht in der Lage ist, ein Privatleben zu führen.

Ich habe aus ganz pragmatischen Gründen mein Privatleben immer vor den Medien abgeschirmt. Nein, ich war kein Päderast, aber ich habe, ich gebe es zu, sehr junge Frauen immer bevorzugt. Sehr junge Frauen – das stimmt, und es stimmt auch nicht. Als ich fünfundzwanzig war, hatte ich eine Freundin, sie hieß Theofina, die war drei Jahre älter als ich. Ich habe sie vergöttert, und sie hat mich nach zwei Jahren verlassen, weil sie einen Künstler, einen Maler, kennengelernt hat, von dem sie wahrscheinlich dachte, dass er einst weltberühmt und weltbewegend sein werde. Er ist nie in einem größeren Zusammenhang in Erscheinung getreten. Nie hat er auch nur eine Ausstellung gehabt, die in den Zeitungen erwähnt worden wäre. Gleichwohl – ich habe Theofina nie vergessen. Sonst aber waren meine Freundinnen immer deutlich jünger als ich. Die Erste, sie hieß Monja, war vierzehn und ich war dreiundzwanzig.

Mit dreiunddreißig habe ich zum ersten Mal geheiratet, und Sabeth war damals gerade achtzehn geworden. Ich habe, weitab von meinem öffentlichen und politischen Leben, das mir immer wichtig war, in einem paradiesischen Abseits, an einem geheimen Ort, den Geist und den Körper von Frauen immer wie eine Offenbarung gesehen, und hinter dieser Offenbarung verbargen sich der Weltraum und alles das, was ich nicht verstand und nie verstehen würde. Kinder zu bekommen war für mich das größte aller Geheimnisse. Der Akt der Zeugung lag so weit ab vom Akt der Geburt! Verstehe einer diese Zusammenhänge.

Die meisten machen sich da ohnehin keine Gedanken. Ich habe immer sehr schmerzlich empfunden, dass es da ein Geheimnis gab. Ich habe fünf Kinder, drei mit Sabeth und zwei mit meiner zweiten Frau Corinna. Die Kinder sind, wie man so sagt, wohl geraten. Sie haben bürgerliche Berufe, und ich habe ihnen, auch wenn ich zu Hause war, beizeiten beigebracht, nicht zu viel von ihrem Vater, dem Politiker, zu sprechen. Sie halten mich vor ihren Freunden nicht geheim, aber sie geben mit mir auch nicht an. Sie gaben mit mir nicht an, muss ich sagen.

Heute bin ich der Große Bruder. Mit dem kann man nicht angeben. Dass sich meine Kinder von mir – nun ja, nicht gerade losgesagt haben, aber kein Aufhebens um diese Verbindung gemacht haben, das hatte und hat Vorteile. Jetzt geraten sie nicht in die Verlegenheit, mich verleugnen zu müssen, wenn es heißt, dass ich, der Große Bruder, dem Land geschadet hätte.

Warum rede ich überhaupt von den privaten Dingen? Nun ja, vielleicht einfach nur, weil das Private zum Leben gehört, und auf der anderen Seite, um zu zeigen, dass ein Politiker nie ein vernünftiges Privatleben haben kann. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

10

Jetzt bin ich der Große Bruder. Diese Bezeichnung ist ein wenig hirnlos und abgedroschen, aber darauf ist es in der politischen Rhetorik noch nie angekommen. Die meisten Bürger im Land gaben wenig darauf, dass es diese, nun gut, wirklich totale Überwachung gab. Sie wussten, dass es der Preis des Friedens und der Sicherheit war. Die Anzahl an Verbrechen ging innerhalb von drei Jahren um zwei Drittel zurück, die Anzahl der Morde sogar um mehr als neunzig Prozent.

Noch einmal: Ja, wir hatten zuverlässige Mittel, um aus der großen Menge der Gefährder diejenigen herauszufiltern, die tatsächlich andere Menschen verletzen oder umbringen würden. Und jedes Verbrechen, das dennoch geschehen ist, hat uns in die Lage versetzt, unsere Modelle zu verbessern. Ich bin einmal gespannt, ob die neuen Guten auf Dauer auf diese Überwachungsmaßnahmen verzichten können. Wenn die Verbrechensraten schnell wieder ansteigen? Wir werden sehen.

Nein, ich werde nichts mehr sehen. Das ist nur so dahingesagt. Eine Floskel, die man nicht aus dem Kopf bekommt. So ist das, das Leben eines jeden Politikers besteht am Ende aus Floskeln.

11

Und weiter? Das Land richtete sich in diesem Zustand ein. Ich wurde wieder und wieder gewählt. Das Land war befriedet, die Wirtschaft lief wieder einigermaßen rund. Unter wirtschaftlichen Notstandsgesetzen natürlich. Wir hatten dieses Deutschland vom Rest Europas und vom Rest der Welt losgelöst und versorgten uns selbst. Manchmal wies jemand ironisch darauf hin, dass Deutschland einmal Exportweltmeister gewesen war und dafür gescholten wurde. Diese Angriffe hatten wir uns nun vollständig und konsequent vom Hals geschafft. Wir erzeugten im Land, was nötig war, und wir sahen zu, wie ringsumher Europa und der Rest der Welt im Chaos versanken.

Ich habe auf diese Weise fünf Wahlen hintereinander gewonnen. Weil ich den Menschen vermitteln konnte, dass ich den besten Weg für das Land genommen hatte, auch wenn es ein sehr steiniger Weg geworden war. Als ich zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl angetreten bin, war ich zweiundvierzig Jahre alt, jetzt bin ich vierundsechzig. In den letzten zwei Jahren haben sie sich zusammengerauft, die, die nie etwas miteinander zu tun haben wollten. Die große Opposition! Ihr einziges Ziel war, dass sie mich vor Gericht bringen könnten, mich, den Großen Bruder, der sie ihrer Freiheit beraubt hat. Was für eine tolle Geschichte!

Sie haben vergessen, dass sie es mir verdanken, dass sie in Frieden leben und ihre aberwitzigen Ideen von der großen alten Freiheit ausbrüten konnten.

Die Parzellen der Gewalttäter sind längst aufgelöst. Man hat sie am Ende nicht mehr gebraucht. Aber es machen neue Schlagworte die Runde. Ich hätte, so heißt es, das Land gelähmt, jede Veränderung und jeden Fortschritt verhindert, die Freiheit abgeschafft mit der Drohung, ohne mich bräche wieder der Bürgerkrieg aus. Das sei aber nicht so. Nun gut, wir werden sehen.

Wenn ich noch wetten könnte, würde ich mein gesamtes Vermögen einsetzen. Und dann? Ja nun, dann haben sie mich vor Gericht gestellt.

12

Noch einmal: Ich – ich habe dieses Land befriedet. Ich habe den Bürgerkrieg, als er unmittelbar bevorstand, verhindert. Ich habe einen kleinen Wohlstand immer garantiert und das, was man einst Raubtierkapitalismus nannte, Schritt für Schritt abgebaut. Es gibt seit zwanzig Jahren tatsächlich so etwas wie einen allgemein akzeptierten sozialen Ausgleich. Es gibt reiche und es gibt weniger reiche Menschen. Aber es gibt keine vollständig Armen und keine Hyperreichen mehr. Die, die man früher einmal Ausbeuter genannt hat, die haben wir abgeschafft.

Aber dann – ich hätte es wissen müssen! Natürlich schläft das Raubtier in einem politisch denkenden Menschen nie. Irgendwann kamen die, die sicher waren, dass ihre Leistung größer war als ihr Vermögen, auf die Idee, mich vor Gericht zu stellen. Das Wort Hochverrat, das sehr alt war und allzu lächerlich geklungen hätte, haben sie wohlweislich nicht in den Mund genommen.

Obwohl nie einer daran zweifeln konnte, dass es bei allen Wahlen gerecht und richtig zugegangen war, obwohl auch wirklich niemand daran gezweifelt hatte, fanden sie ein neues Schlagwort, das in die Köpfe der Menschen wie ein perfektes Gift hineinlief: Ich hätte, so sagten meine Feinde, die strukturelle Gewohnheit genutzt, um mich an der Macht zu halten, und diese strukturelle Gewohnheit sei das politische Übel schlechthin.

Obwohl in Deutschland weiterhin das Grundgesetz galt und alle Gerichte funktionierten, die Wahlen pünktlich abgehalten wurden, jeder seine Meinung kundtun und plakatieren durfte – die strukturelle Gewohnheit habe es mit sich gebracht, dass die Bürger mich als alternativlos ansähen. Und genau das, diese Alternativlosigkeit, die sei der manifeste Ausdruck der strukturellen Gewohnheit, die ich mit den technischen Mitteln der Überwachung in die Köpfe und Herzen der Menschen eingepflanzt hätte.

Ich halte dieses Gerede für den Ausdruck von Schwachsinn, schon immer und jetzt auch. Aber was sinnvoll ist und was schwachsinnig, das bestimmt die Bewegung derer, die den Zeitgeist im Rücken haben. Die neue FDP hat den Zeitgeist im Rücken, und ich habe ihn gegen mich. Ich hatte am Ende nur noch wenige treue Leute, die an meiner Seite waren. Wenn einer, so wie ich, lange an der Macht war, dann gibt es tatsächlich: Abnutzungserscheinungen. Den Menschen geht es gut, aber sie wollen am Ende mehr als nur Ruhe und Geborgenheit, sie wollen Abwechslung und wenn es sein muss: Randale.

Sie spüren sich nicht mehr, die Bürger, und sie suchen Aufregung, einfach, damit sie nicht das Gefühl haben, sie seien Zombies. Wenn ich noch genug Kraft hätte, um ein politisches Testament aufzusetzen, dann würde ich diesen Satz ganz an die Spitze stellen: ›Der Mensch hält Glück und Ruhe nicht allzu lang aus!‹

13

Ich habe mich immer für Geschichte und Geschichten interessiert.

Wahrscheinlich gibt es keinen Politiker, der sich nicht für Geschichte interessiert. Damit meine ich nicht, dass Politiker sich für das akademische Fach interessieren müssen. Sie stellen nur alle irgendwann fest, dass sie anderen historischen Typen ähneln, die es schon einmal gegeben hat. Wem war und wem bin ich ähnlich? Die Sache ist im Grunde genommen ganz einfach. Ich bin in jungen Jahren, ohne es wirklich zu wollen, an die Macht gekommen. Ich hatte diese Macht lange inne, und am Ende bin ich, einfach weil sich mein, sagen wir: Charisma abgenutzt hatte, vor Gericht gestellt und gestürzt worden. Es fehlte den Menschen an Action. Ein Wohlfahrtsstaat voll von innerem Frieden war auf die Dauer zu langweilig. Wie haben sie sich gefreut, als endlich der Prozess gegen mich eröffnet wurde! Dass dieser Prozess einem Hexenprozess ähnlich war, haben sie nicht mehr gesehen. Die Ideologie bestimmt, was man sieht und was verborgen bleibt.

Dass ich die Todesstrafe wieder eingeführt hatte, war für sie das entscheidende Zeichen. Ich hatte mich an allen Werten der guten alten Bundesrepublik Deutschland vergangen. Sie haben nicht gesehen, dass es Zeiten gibt, in denen man ohne die Todesstrafe ein Land nicht mehr friedlich halten kann. Natürlich waren wir seinerzeit noch nicht ganz so weit. Aber wir hatten etwas auf unserer Seite, was auch meine Feinde jetzt weiterhin benutzen: das perfekte gesellschaftspsychologische Modell, das Voraussagen über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren erlaubt.

In diesen Modellrechnungen hat sich gezeigt, dass ohne Todesstrafe die Gesellschaft ins absolute Chaos driften wird. Wo also liegen die Grenzen des politischen Handelns, was die Härte politischer Sanktionen angeht? Sie liegen dort, wo nur noch mit den Mitteln der brachialen Gewalt das große Chaos abgewendet werden kann. Und das bedeutet, dass man die Anführer der Todesschwadronen in einigen Fällen selbst in den Tod schicken muss. Auch mich hat dieser Gedanke erschreckt. Aber es gab keine Alternative.

War ich radikal? Linksradikal? Rechtsradikal?

Die Frage hat sich mir nicht mehr gestellt. Wir standen am Abgrund. Wollte ich die Macht, wollte ich sie behalten? Nein, ich wollte nicht die Macht, und ich wollte sie auch nicht behalten. Sie wurde mir aufgedrängt, weil die Mehrheit der Menschen gesehen hat, dass ich ihnen das Leben rette.

14

Darauf muss ich zurückkommen: Sie haben den gefunden, der mich und meine Zeit in der ihnen genehmen Weise darstellen wird. Er heißt mit bürgerlichem Namen Erich Bär. Kein Name für einen Schriftsteller. Erich Bär hat sich darum vor ein paar Jahren ein Pseudonym zugelegt. Er heißt jetzt Eric Ode.

Eric mit c, darauf legt er Wert. Er wird, so hört man, ein Standardwerk über die vergangenen zwanzig Jahre schreiben, und ich, ich werde darin als ein Scheusal vorkommen, als einer, der das Leben von allen Bürgern überwacht hat. Der Große Bruder eben.

Einer der alles reglementiert hat, selbst die Sprache. Der die Wahrheit verdreht hat. Sie drehen sie wieder zurück und machen daraus ihre Wahrheit, von der sie sagen, es sei die eine und wirkliche Wahrheit. Das verkaufen sie als Leistung. Eric Ode wird sich gewisser historischer Vorbilder bedienen und behaupten, dass ich viele gute, alte Begriffe mit neuen Bedeutungen versehen hätte. Eine Neusprache hätte ich eingeführt. Obwohl ich wirklich die Sprache niemals auch nur mit spitzen Fingern angefasst habe. Es wäre ein Wahnsinn, etwas völlig Verrücktes, zu versuchen, ausgerechnet die Sprache zu manipulieren!

Aber wie auch immer – sie haben mit Eric Ode offenbar den Richtigen gefunden. Er wird mich zum Unmenschen ummodellieren, und ich, ich werde bald in einem Schwarzen Zimmer sterben. Als ein Unhold und ein Scheusal soll ich in die Geschichte eingehen.

Die schlichten Menschen, die, die es immer einfach haben und also immer einen Schurken brauchen – Eric Ode wird mich ihnen als den Schurken ausliefern. In den Schulen wird sein Buch ›2084‹ bald Abiturstoff sein. Um das zu sagen, muss man kein Prophet sein.

Lassen wir es gut sein. Ja, die Geschichten sind immer die Geschichten der Sieger und ich, der ich dieses Land vorm Bürgerkrieg bewahrt habe, ich bin der Schurke. Das war meine Bestimmung. Es hat keinen Sinn, dass ich mich dagegen auflehne.

15

Was bleibt mir noch? Was kann ich in dieser kurzen Zeit, die mir noch bleibt, nach draußen schicken? (Nein, noch einmal: Ich sage nicht, wie ich das anstelle. Vielleicht wird jemand einmal darauf angewiesen sein, den gleichen Weg zu gehen. Ich möchte der neuen Regierung der Guten nicht verraten, wie ich meine kleine Anhängerschaft draußen erreiche und unterrichte.)

Es ist eine Voraussage. Das Land wird sich kurzzeitig erholen, sie werden mich zum Diktator aufbauen, zur Abschreckung. Und dann, spätestens nach zehn Jahren, wird der Bürgerkrieg mit seiner vollen Wucht und Kraft zurückkommen und die gesamte Ordnung im Land zerstören. Die guten Menschen werden sich in ihren Exklaven einrichten. Über einige Zeit hin werden sie Überwachungsmannschaften gut entlohnen, aber dann werden die unzufriedenen Bürger diese Exklaven belagern und einnehmen. Da werden die Guten längst zu meinen Methoden zurückgekehrt sein, und was die Überwachung angeht, werden sie mich bald übertroffen haben.

Eric Ode freilich wird die ganze Sache anders beschreiben. Er wird sie als alternativlos überliefern. Er ist nun einmal ein großer politischer Schriftsteller. Einer, der die großen Zusammenhänge zu schildern weiß.

Noch einmal mit meiner Gabe der Prophetie: Wenn alle Ordnung zerfallen ist, wird sich eine Frau finden, die sich an die Spitze setzt und die dann wirklich zeigen wird, wie man eine Diktatur entwirft, einrichtet und durchsetzt. Ich werde da schon nicht mehr leben. Ich werde als der Große Bruder in die Geschichte eingehen, der Mann, der das Unglück über das Land gebracht hat.

Entspricht das der Wahrheit? Was ist schon Wahrheit? Es gibt die Wahrheit von Eric Ode und es gibt die meine.

16

Ich bin im Schwarzen Zimmer angekommen, und nichts von meinem Denken wird mehr nach draußen dringen. Mein Schwarzes Zimmer nimmt mich auf, saugt mich aus, verwandelt mich zuerst in ein tiefes Nichts, um mich dann als leere Hülle den Wänden einzuverleiben. Irgendwann werden die Wächter die Türen aufmachen, um mir meine kleine Mahlzeit auf den Boden zu stellen, und sie werden verblüfft feststellen, dass ich nicht mehr existiere. Sie werden den Gefängnisdirektor anrufen, nervös, aber sehr diszipliniert. Sie werden feststellen, dass ich verschwunden bin, und der Direktor wird sich unverzüglich zu meiner Zelle begeben und nicht mehr tun können, als den Bericht seiner Wächter zu bestätigen.

Die Nachricht wird an die Frau Kanzlerin gehen, und weil die das alles längst vorausgesehen hat, wird sie in die Schublade greifen und einen tatsächlich gedruckten Maßnahmenplan hervorholen.

Als Allererstes wird die Öffentlichkeit unterrichtet werden, dass der vormalige Große Bruder in seiner Zelle in Berlin-Moabit verstorben ist. Ungefähr fünfzig meiner Anhänger werden sich, alt und kraftlos geworden, an einem geheimen Ort in Norddeutschland zu einer kleinen Gedenkveranstaltung versammeln und sich am Ende sinnlos betrinken.

Am nächsten Tag wird sich eine kleine Arbeitsgruppe aus dem Kanzleramt daran machen, dem Volk alles zu erklären. Die Regierungssprecherin wird eine Nachtsitzung anberaumen. Der erste Satz der Erklärung wird lauten: »Politik in Zeiten der Gefahr dient vor allem dem Ziel, ein Volk vor dem Bösen, das tief unten in ihm ruht, zu beschützen.« Der letzte Satz wird lauten: »Wir haben das Böse, wir haben den Großen Bruder besiegt!« Sie werden noch eine Zeit lang überzeugt sein, dass das Gute gewonnen hat. Dann aber, wenn diese Frist abgelaufen ist, wird der Albtraum beginnen. Jener Albtraum, den ich über zwanzig Jahre lang von diesem Land abgewendet habe.

Thomas Le Blanc: Hochzeitsvorbereitungen

Silvia war überglücklich. Vor einem halben Jahr hatten sie sich beim alljährlichen Reutlinger Friedensfest kennengelernt, sie hatte sich hoffnungslos in diesen Freigeist verliebt, der es wagte, beim Liebemachen den Ton des Staatsfernsehens leiser zu drehen, damit sie seine Schmuseworte hören konnte. Schon zwei Monate später waren sie zusammengezogen und hatten fortan gemeinsam in seiner Werkswohnung in Mössingen gewohnt, das noch zur Reutlingen-Regio gehörte, wodurch sie alle Vorteile des städtischen Sozialverbunds genoss. Und gestern hatte Roderich tatsächlich die etwas altmodisch gewordene, aber immer noch beglückende Frage gestellt, ob sie ihn heiraten wollte. Sie hatte auf ihr Herz gehört und sofort ja gesagt.

Heute am Morgen beim Aufstehen war sie erfüllt von ihrem Glück, aber dennoch vernünftig genug, um die Hochzeitsvorbereitungen mit dem Gang zum Gesoa, zum Gemeinschaftlichen Sozialamt, zu beginnen. Denn natürlich musste sie wissen, welche Neueinstufungen sich durch die Änderung ihres zivilen Status ergaben und welche Verpflichtungen sie künftig zusammen für ihr Gemeinwesen, die VSE, die Vereinigten Staaten von Europa übernehmen konnten.

Das Gesoa-Gebäude befand sich in Reutlingen in dem neuen Komplex gleich hinter dem Bahnhof; es war ein gigantisches Gebäude, weil es das einzige Amt beherbergte, in dem noch Menschen als Ansprechpartner arbeiteten, denn bei allen anderen kommunizierte man nur noch mit einem elektronischen Terminal. Sie wurde vom Eingang aus zu einem von zahlreichen schmalen Büros im achten Stock geleitet und sah am Türschild, dass ihr Sachbearbeiter Gernot Weber hieß.

Kaum hatte sie sich ihm gegenübergesetzt, da sprudelte sie schon heraus, dass sie zu heiraten beabsichtige und dieses Ereignis zum Anlass nehmen wolle, ihre verschiedenen aktuellen Scores durchzugehen und möglicherweise zu optimieren und außerdem ihren Partnerschaftsscore in einen Ehescore umzubeantragen.

»Das passt recht gut, Frau Silvia Rosenheim, Ident 20620317FF00-EUDE08416048-0059-14335, dass Sie heute bei uns vorsprechen.« Der Sachbearbeiter ließ sich von ihrer quirligen Gemütslage nicht beeindrucken, sondern schaute stoisch auf sein Deskterminal. »Wir müssen Ihnen einige Scoreanpassungen zur Kenntnis geben; Sie können dazu gerne Stellung beziehen, und wir können Ihnen auch Strategien anraten, einzelne Scorewerte zu verbessern.«

Er reichte ihr eine Datenkarte aus stabiler Pappe und erläuterte gleichzeitig: »Ihr Einkaufsscore hat sich auf unter achthundert vermindert, Ihr Sozialscore ist nur deshalb stabil geblieben, weil Sie weiterhin gemeinschaftsfördernd Ihre Mutter pflegen – eigentlich hätte er deswegen ja deutlich steigen müssen, Ihr Politikscore ist auf sechshundertfünfzig geradezu abgestürzt, und wegen Ihres Wohnungsscores haben wir Sie bereits angeschrieben, aber leider keine Reaktion erhalten.« Er sah sie auffordernd an. »Um Ihren Fragen gleich vorab zu begegnen: Alle Veränderungen ins Negative beruhen nicht auf eigenen Handlungen, sondern sind mittelbare Veränderungen, weil wir die Handlungen Ihres Lebenspartners, wenn auch mit Ausgleichsfaktoren gewichtet, auch Ihnen zurechnen müssen.«

»Was soll er denn getan haben?«

»Er soll nicht, er hat aus seiner Etathälfte der für den gemeinsamen Haushalt erworbenen Lebensmittel mehrfach Joghurtsorten mit einem Fettfaktor oberhalb dreieinhalb Prozent und-oder einem Zuckergehalt von über sieben Gramm pro hundert Gramm eingekauft, die – wie sich über die Befüllung der gelben Tonne vor Ihrem Haus nachweisen lässt – von Ihnen gemeinsam auch verzehrt worden sind. Er hat des Weiteren mehrfach blutiges Realfleisch statt Sojaimitationen eingekauft, Tiefkühlpizza ohne Kalorienreduktion, außerdem Vollfettkäse von nicht glücklichen Kühen. Dadurch haben Sie über die Schwächung Ihres Körpers die statistische Volksgesundheit geschädigt. Im Wiederholungsfall wird Ihr Krankenversicherungsbeitrag erhöht, aber durch das Unterschreiten der Marke achthundert beim Einkaufsscore haben Sie schon mal alle Rabattaktionen in den nächsten hundert Tagen verloren. Die schädlichen Einkäufe für die gemeinschaftliche Ernährung sind Ihnen mit einem Scorefaktor von null Komma fünf, ab der dritten Woche allerdings verschärfend mit null Komma sechs zugerechnet worden, weil Sie offenbar nicht mäßigend auf Ihren Partner eingewirkt haben. Bei seinem Einkauf von Süßigkeiten und süßen Limonaden sind wir – freundlicherweise – davon ausgegangen, dass das allein für seinen eigenen Gebrauch bestimmt war, sodass wir Ihnen den Negativwert lediglich mit dem Faktor null Komma zwei zugerechnet haben. Als Maßnahme zur Wiederanhebung Ihres Scores empfehlen wir Ihnen verstärkte Einkäufe bei schwäbischen Biobauern und vielleicht eine komplette neue Sommergarderobe bei einem lokalen Schneider, der Stoffe aus Schafzucht auf Karstböden oder Dritteweltläden verarbeitet.«

Silvia wurde mulmig zumute, als Sachbearbeiter Weber nun den Ton verschärfte.

»Ihr derzeitiger Partner erweist sich zunehmend als Sozialschädling. Uns liegen mehrere Memos von Frau Rettenberger, Alter zweiundsiebzig, und Ehepaar Birkner, fünfundsiebzig und neunundsechzig, aus Ihrem Mietshaus vor, dass Ihr Lebenspartner Roderich Scheuffele keine Angebote unterbreitet hat, ihnen die Einkäufe die Treppen hinauf zu tragen. Er hat sich seit Wochen nicht mehr beim freiwilligen Reparaturtrupp des Kinderspielplatzes des Areals blicken lassen, und er ist mehrfach an auf Parkbänken der Arealerholungswiese herumlungernden unerwünschten Elementen, die dort öffentlich Alkohol konsumierten, vorbeigegangen, ohne sie zu ermahnen oder sie dem Abschnittsbeamten zu melden. Stattdessen wurde er gesehen, wie er sich in zweifelhaften Etablissements herumgetrieben hat.« Jetzt schaute Sachbearbeiter Weber sehr pikiert.

»Was meinen Sie mit ›zweifelhaften Etablissements‹?«

»Eckkneipen, Tränken, Schankwirtschaften, Flaschenbierkioske. Sein Sozialscore liegt gerade noch einen Hauch über vierhundert –, darunter müssten wir für ihn zwangsweise Eintritte in gemeinnützige Vereine organisieren –, weil er immer noch den Sonderbonus aufzehrt, da er im vergangenen Monat im kommunalen Freibad einen Jungen vor dem Ertrinken gerettet hat.«

Sie war bei dieser heroischen Tat dabei gewesen und hatte auch einige Tage später stolz mitbekommen, wie er vom Regiopräsidenten persönlich eine Rettungsurkunde überreicht bekommen hatte plus einem Guthaben von tausend Scorepunkten, die er beliebig auf seine Einstufungen verteilen durfte.

»Tja, und dann sind da noch seine politischen Einstellungen. Wohlgemerkt: Wir leben in einem freien Land, in dem jeder uneingeschränkt sagen darf, was er will, aber gegen unsere Feinde, Freunde behandelt man stets freundlich und mit Hochachtung, und die Chinesen sind seit vielen Jahrzehnten unsere Freunde und Wohltäter. Außerdem ist laut europäischer Verfassung jede politische Äußerung auf die optoakustisch gesicherte Privatwohnung und auf speziell lizenzierte Stammtische beschränkt, deren Gesprächsrunden von einem Blockwart angeleitet werden. Politik auf der Straße und in den Medien wird vom Staat formuliert und zugeteilt. Unerlaubterweise hat er die ihm übersandten und freundlicherweise vorformulierten Leserbriefe abgeändert und sie zudem an Pressemedien geschickt, die ohnehin unter verschärfter Beobachtung stehen und deren verantwortliche Redakteure bereits mehrfach zu Anleitungskursen für aufbauende Berichterstattung nach Nordkorea geschickt wurden. Daraufhin haben wir seinen Zuverlässigkeitsstatus als Bürger infrage gestellt, und er wird in den nächsten Tagen eine Vorladung des Demokratieausschusses zugestellt bekommen, der seine Wahlmündigkeit feststellt. Da wir davon ausgehen müssen, dass das Zusammenleben mit einem solch unzuverlässigen Subjekt sich mindestens unterschwellig auch auf Sie auswirkt, haben wir Ihren Politikscore stark auf sechshundertfünfzig absenken müssen.«

Silvia wurde abwechselnd heiß und kalt. All ihre Euphorie war mittlerweile verflogen. Sie spürte, dass sie in Gefahr geraten konnte, Segnungen des Sozialsystems nur noch eingeschränkt wahrnehmen zu können. Sie musste gegensteuern, um ihren Score wieder zu erhöhen.

Doch bevor sie nach entsprechenden Aktivitäten fragen konnte, empfahl der Sachbearbeiter bereits: »Gehen Sie heute noch zu Ihrem Gewerkschaftssekretär, der kann Ihnen nicht nur Rhetorikkurse zur Argumentationsstärkung gegenüber Sozialschädlingen anbieten, sondern Sie auch als Motivatorin zu den Anonymen Anarchisten vermitteln, wo Sie Ihre Negativerfahrungen als Abschreckung weitergeben können. Gerade andere wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, bringt Punkte! Außerdem bietet jede örtliche Volkshochschule Kurse zum Erkennen von Lügen in der Presse an – das brauchen Sie einfach, um jeder politischen Erörterung gewachsen zu sein.«

Das schätzte sie so am Gesoa: Jeder bekam seine Chance, sich für die Gemeinschaft nützlich zu machen und mit einer entsprechenden Scoreaufwertung belohnt zu werden. Keiner blieb auf Dauer außen vor.

»Wir helfen Ihnen sogar, sich elegant von Ihrem aktuellen Partner zu trennen«, kam Sachbearbeiter Weber nun zum entscheidenden Punkt ihres Gesprächs. »Da der Arbeitgeber von Herrn Scheuffele, der Weltkonzern Great Wall Accumulators in Reutlingen, natürlich via Sozialdatenabgleich zeitnah über alle Scoreänderungen informiert wurde, ist sein Tätigkeitsprofil am Arbeitsplatz rigoros angepasst worden, was zwangsläufig Auswirkungen auf die Größe des ihm zustehenden Wohnraums nach sich zieht. Das wurde ihm mitgeteilt, aber er hat die elektronischen Weisungen unterdrückt und nicht darauf reagiert und sogar die Kontrollmeldungen an Sie gelöscht. Sein Heiratsantrag an Sie war nur ein untauglicher Versuch, von Ihren Scorewerten zu profitieren. Denn so wie seine Werte Ihnen anteilig angerechnet werden, ist das umgekehrt genauso: Ein Zusammenleben mit einem sozialverantwortlichen Partner kann – zwar nur in kleinem Umfang – manches ausgleichen oder zumindest temporär überdecken. Aber er wird jetzt lernen, dass seine Strategie nicht aufgeht. Er wird in den Werksferien nicht mit Ihnen in einen Erholungsurlaub in eines unserer Freizeitressorts reisen. Stattdessen ist ihm Aktivurlaub in landwirtschaftlichen Produktionsstätten mit Spargelstechen tagsüber und Seminaren abends zur Auffrischung der Gemeinschaftsmotivation sowie nächtlichen Hypnosebändern verordnet worden. Und danach schickt ihn Great Wall Accumulators drei Jahre zum ehrenvollen Arbeitseinsatz zur Lithiumchloridgewinnung in die chilenischen Salzwüsten, wo er sich um den Abbau der wichtigsten Erzressource für Akkumulatoren verdient machen kann – was ihm durch seinen Körpereinsatz einen hohen Scorewert verspricht. Sie sehen, wir kümmern uns um jeden.«

Silvia fragte nun scheu: »Und was geschieht mit mir?«

Jetzt strahlte der Sachbearbeiter regelrecht. »Sie haben das große Los gezogen. Wir haben Sie bei der Vermittlungsbörse www.LovePartner.cn angemeldet, die die Sozialscores von Männern und Frauen gleichen Alters und regionaler Nähe optimal vernetzt. Sie werden es erfahren: Auch Liebe geht über Punkte.«

Rainer Schorm: Vote!

Man fand seine Leiche am Montag. Er war nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht auf Anrufe reagiert. Da er allgemein als zuverlässig galt, hatte man umgehend eine Untersuchung eingeleitet. Jetzt stand Dominik Venter vor dem Toten und war trotz allem, was er mittlerweile wusste, fassungslos. Ein unangenehmes Gefühl des Déjà-vu stellte sich ein.

Er hatte es nicht glauben wollen, auch wenn die Hinweise immer deutlicher geworden waren. Sperling selbst hatte längst keine Zweifel mehr gehabt – und nun war er tot. Vielleicht hatte er geahnt, was ihm bevorstand.

Venter verzog wütend das Gesicht. Er wusste, dass er es schaffen würde, irgendjemanden zur Verantwortung zu ziehen und wie selten zuvor spürte er die Unzulänglichkeit, die seiner Position anhaftete. Offiziell diente seine Organisation, die PAP, die Polizeiliche Aufklärung im Prekariat, der Ermittlung im ständig wachsenden Bereich der Unterschicht. Der Aufwand normaler Polizeikräfte galt dort seit Langem als Zuschussgeschäft. Die PAP hatte durch eine kompromisslose Reduktion von Personal und Mitteln Abhilfe geschaffen. Tatsächlich jedoch, das war ihm bereits vor vielen Jahren klar geworden, war die einzige Funktion, die seine Dienststelle besaß, die eines Feigenblattes.

›Polizei light … nein: extra light!‹, dachte er mürrisch. Die Ausstattung mit Mitteln und Kompetenzen entsprach diesem Bild im Übrigen aufs Deprimierendste. Die Resignation, die ihn seit einiger Zeit beherrschte, wich in diesem Moment kalter Wut. Sperling war tot, er hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt, und es gab viele andere, die für weniger gestorben waren.

Für sehr viel weniger!

Eine Woche davor …

Er spürte, wie das altbekannte Brennen seine Speiseröhre emporstieg. Dann bemerkte er den sauren, gleichzeitig bitteren Geschmack.

Venter schluckte. Ein eher instinktiver Versuch, das Sodbrennen schnell loszuwerden, der natürlich zum Scheitern verurteilt war. Die Folge dieser Erkenntnis war ein unwilliges Verziehen des Gesichts zu etwas, das einem Außenstehenden wie ein Grinsen erscheinen mochte.

»Nett hier, oder?«, erkundigte sich Kelber ironisch und warf bezeichnende Blicke in die Runde.

Venter antwortete nicht. Wieso auch? Sekundärkommissar Kelber schien auch nicht mit einer Reaktion gerechnet zu haben, denn er fuhr fort, sich mit den Habseligkeiten des Toten zu beschäftigen.

›Schon wieder einer!‹, schoss es Venter durch den Kopf. Er sah sich ebenfalls etwas genauer um. Was er sah, war deprimierend, aber keineswegs ungewöhnlich: Eine kleine, ungepflegte Wohnung, die Wände glänzten lackiert. So gut wie jeder freie Quadratzentimeter war mit OLEDs bedeckt, flexible Werbeflächen, aufgetragen wahrscheinlich mit einer billigen Spraydose.

Der kakofone Lärm der ablaufenden Dauerwerbesendungen zeichnete sich nicht so sehr durch seine Lautstärke aus, als vielmehr durch eine geradezu teuflische Penetranz. Lautstärke und Frequenz waren abgestimmt auf maximale Wirksamkeit bei gleichzeitig ausreichender Akzeptanz. Niemand konnte die Werbung ignorieren – bewusst oder unbewusst. Und doch erreichte sie nur selten ein Niveau, das den Empfänger empfindlich gestört hätte.

»Ausblenden!«, befahl Venter. Einer der Untersuchungstechniker kam der Aufforderung sofort nach. Ein Vertreter des Rumpfstaates zu sein, hatte eindeutig Vorteile. Ein normaler Bürger war nicht in der Lage, die vertraglich eingegangene Verpflichtung zum dauerhaften, individuellen Werbekonsum so einfach zu umgehen.

›Immerhin‹, dachte sich Venter, der ehemalige Bewohner hatte sich mit den Werbeabos und den damit verbundenen Einnahmen oder Vergünstigungen einen gewissen, wenn auch nicht gerade hohen Lebensstandard sichern können: Es gab einige Geräte, die das Minimalniveau überstiegen, darunter eine beinahe schon luxuriöse Espressomaschine.

Venter lächelte ironisch in sich hinein: ›Hauptsache, die Crema stimmt!‹

Er warf einen ersten Blick auf den Schreibtisch, oder das, was er dafür hielt.

Einige Ausdrucke lagen dort, ungeordnet, verschmiert mit irgendetwas Unsäglichem und mit gewaltigen Eselsohren.

»Schon gewählt?«, erkundigte sich Kelber beiläufig. Natürlich reagierte der interaktive iFLOW sofort und nutzte die Aufmerksamkeit des Teilnehmers.

iFLOW: WAHLAUFFORDERUNG

voteSTREAM:LEVEL1:ENTER:

CONSCIOUS:reaction delay: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747-XXX

PRIORITY:High:delay:VOTE reflexion necessary:delayed reaction: immidiate reaction blocked.

Politics:Parliamant.Local.

Download: selection list

VOTE:

Appendix: Ballot

Venter verzog das Gesicht. Natürlich hatte er bisher nicht gewählt – wie Kelber sehr gut wusste. Dennoch blendete er den Votestream erneut mit einem einfachen Fingertip aus. Der Personal-iFLOW-Server lenkte die Wahlaufforderung einmal mehr in die Warteschleife.

»Angenehm, wenn man’s wegdrücken kann, nicht?«, erkundigte sich Fredkowski, seines Zeichens Leiter der KTU-Gruppe. Venter grunzte nur und sah unter halb geschlossenen Augenlidern nach links, wo zwei jüngere Kollegen die üblichen Schattenkämpfe ausführten. Ein recht neues Phänomen unter denjenigen, die den iFLOW nicht mehr über die altmodische Hardwarebrücke am Handgelenk nutzten, sondern voll in das iFLOW-NET integriert waren. Ein Mediziner hatte die Erscheinung als »Übersprung- und Kompensationshandlung« bezeichnet.

»Und manche genießen das!«, knurrte Venter giftig.

Die beiden Angesprochenen nahmen den Kommentar nicht einmal zur Kenntnis, sondern fuhren fort, neben ihrer Tätigkeit ziellos in der Gegend herumzufuchteln. Ein bizarres Bild, das dem Kommissar Magendrücken verursachte. Diese Menschen hatten die Realität zu einem Gutteil verlassen und gegen eine hochaufgelöste Virtualität eingetauscht. Wanderer zwischen den Welten … und nie ganz bei der Sache.

Venter war mit einem Mal speiübel.

»Level X-low!«, murmelte Kelber leise und nahm vorsichtig einige Blätter in die Hand. »Name: Malik Perwane, neunundzwanzig Jahre alt. Ohne Beschäftigung, natürlich. Stufe V. Auf Jahre hinaus nicht vermittelbar. Migrationshintergrund in dritter Generation.«

Venter überflog die behördlichen Bescheide und fand seine Vermutung bestätigt. Unterstes Existenzniveau, ergänzt durch die Scheineinkommen aus den Dauerwerbeverträgen: Die Aufgabe jeglichen werbefreien Raumes in der privaten Umgebung war ein häufig angewandtes Mittel, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Er war sicher: Sogar Schlafzimmer, Toilette und Bad würden mit den Werbeflächen bedeckt sein und ohne Unterbrechung ihre Botschaften in die Welt plärren. Individualisiert, mit den Massedaten abgeglichen und so sehr auf die Wünsche der Person abgestimmt, dass Manipulation und freier Wille zu etwas Monströsem verschmolzen. Keine Chance, dem Marketingdruck zu entgehen: nicht im Wachen, nicht im Schlaf. Und allzu häufig als normale Sendung getarnt. Product-Placement auf höchstem Niveau.

›So still war es in dieser Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr‹, dachte er. Das Brennen im Hals verstärkte sich. ›Noch kann man sich freikaufen, wenn man sich's leisten kann. Irgendwann wird auch das unmöglich sein.‹

Venters linkes Augenlid zuckte nervös, wenn er nur daran dachte, und begann leicht zu schwitzen. Verärgert strich er die Feuchtigkeit, die seine Stirn bedeckte, in seinen stark nach hinten verschobenen Haaransatz. Er wandte sich um und trat zu dem Toten, der beinahe in der Mitte des Raumes lag.

Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin. Der Tote selbst wirkte beinahe friedlich. Er beugte sich nach vorn. Der junge Pathologe blickte auf und sah den Kommissar ratlos an.

»Und, Sperling?«, fragte dieser. »Was haben Sie?«

Der Gerichtsmediziner räusperte sich. Man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte, dann erhob er sich. »Ich fürchte, das kann ich Ihnen einmal mehr nicht sagen, Kommissar!«

Venter runzelte die Stirn.

»Ich hab’ mich verhört?«

»Nein! Leider nicht. Tut mir leid. Ich kann nicht einmal im Ansatz beurteilen, woran der Mann gestorben ist! Schon wieder! Äußere Hinweise auf Gewalt gibt es nicht, bis auf eine Unterblutung im Bereich des Schlüsselbeins – sieht für mich nach einer Sturzverletzung aus. Könnte dort an der Schreibtischkante passiert sein. Ich kann einen tiefen Schnitt anbieten – dummerweise war der nicht letal. Verkrampfungen, die auf Koronartod hinweisen würden, gibt’s ebenfalls nicht!«

Venter blickte den jungen Pathologen böse an: »Worauf hinweisen?«

Jetzt grinste der junge Mediziner, dem man das Engagement und die Energie des Berufsanfängers noch anmerkte: »Herzinfarkt, Kommissar Venter. Herzinfarkt!«

»Das werden immer mehr«, brummte Venter unwillig. »Kann mir jemand zum Teufel noch mal sagen, was das soll? Eine Epidemie von Leuten, die aufhören zu leben. Mit neunundzwanzig stirbt man nicht so. Er sieht nicht krank aus. Oder seh’ ich das falsch?«

Er wandte sich dem Toten zu: »Auch keine Zeichen für einen Schlaganfall, ein Aneurysma oder etwas Vergleichbares …«

»Selbstmord? Bitte!«

Der Pathologe verzog den Mund.

»Wäre ja schön. Gift oder Drogenmissbrauch … möglich. Aber das kann ich erst nach dem Drogenscreening und dem toxikologischen Gutachten sagen. Hinweise darauf habe ich nicht entdecken können. Nichts Auffälliges, würde ich meinen. Und das Übrige …« Er grinste, und Venter beendete den Satz: »… nach der Autopsie!«

Er seufzte: »Ich weiß!«

Die Kommission II des PAP lag im Dunkeln. Nur in einem Büro brannte eine kleine, grelle Schreibtischlampe. Venter saß still in seinem Drehstuhl und starrte nach draußen in die Nacht. Er fühlte sich merkwürdig. Nach wie vor ätzte die Magensäure sich ihren Weg nach oben und ignorierte hartnäckig alle Versuche, sie mit Natron in den Griff zu bekommen. Das alte Hausmittel hatte Venter wiederentdeckt, nachdem alles andere, was ihm die Ärzte empfohlen hatten, kläglich versagt hatte. Er wusste, dass er sich mit schnellen Schritten einem offenen Magengeschwür näherte, doch die extrem teure Spezialbehandlung würde seine kompletten Rücklagen – ohnehin nicht üppig – und dazu ein komplettes Jahresgehalt verschlingen, Beamtenzuschuss hin oder her. Die Beschwerden waren als »minderwichtig« klassifiziert worden – und somit kein Problem der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Zudem hatte er etliche Vergünstigungen durch dauerhaft unerwünschten Lebenswandel verloren. Er atmete tief durch.

Vor ihm lagen einige Asservate dieses sonderbaren Falles. Das PAP war gehalten, die Untersuchungen, was Zeit- und Materialaufwand anging, in engen Grenzen zu halten. Gegenstand der Untersuchungen waren ausnahmslos Bürger, die dem Prekariat zugerechnet wurden. Humankapital ohne Rendite. Und die Untersuchung des Todes sollte keinesfalls mehr Aufwand bedeuten, als nötig.

Noch nicht einmal ein Feigenblatt. Eine Lächerlichkeit!

Venter zog ein altes Taschentuch hervor und spuckte wütend hinein.

Draußen auf dem Gang schaltete sich das Licht ein: Billiges, grünstichiges LED-Licht, dann tanzte, wirr gestikulierend, ein Schatten an der Sichtscheibe des Büros vorbei. Ein Nachzügler auf dem Weg ins Wochenende. Vollvernetzt und verloren in seiner individuellen Virtualität. Der Kommissar nahm einen Schmalzkringel aus der Packung und biss hinein. Natürlich tat er seinem Magen damit keinen Gefallen, aber etwas anderes hatte er nicht zur Verfügung. Kaum hatte er den ersten Bissen geschluckt, kam die obligatorische Meldung:

iFLOW:LEVEL2:ENTER:

CONSCIOUS:reaction not necessary: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747

PRIORITY:High:official healthcare

Language:native:german:

    Ihr Ernährungsverhalten entspricht nicht den Maßgaben des Gesundheitssystems und verletzt die Präventionspflichten.

    Zucker-, Fett- und Kohlenhydratlimit überschritten. Die Zusatzprämie steigt um null Komma null vier Prozent.

VOTE: not possible

Appendix: Zusatztarif Xb.Gesundheitskasse SanityPool.

Your partner for a long and healthy life!

Venter seufzte und vertiefte sich erneut in die Unterlagen. Er war müde, hatte aber noch nicht vor, nach Hause zu gehen. Dort wartete lediglich ein Multiplex auf ihn, der ihm gefühlte zehntausend völlig sinnfreie Kanäle mit ebenso sinnfreien Sendungen anbot, nach Wahl, wann, wo und wie lange er wollte. Dazu jede Menge Spiele, die er zumeist für hirnschreddernden Unsinn hielt.

›Panem et circenses‹, dachte er wütend. ›Die Spiele sind scheiße und Brot enthält Kohlenhydrate – sogar wenn's glutenfrei und vollkommen vegan ist. Zum Teufel damit.‹

Die Akte des Toten war dünn. Viel gab es nicht über ihn zu wissen. Ein Individuum, das der Allgemeinheit auf der Tasche lag – und dies seit vielen Jahren. Abgebrochene Fortbildungen, Arbeitseinsätze, die wegen Inkompetenz oder mangelnder Akzeptanz nicht lange gedauert hatten. Malik Perwane, so der Name des Verstorbenen, hatte keinerlei Neigung gehabt, sich irgendwo oder -wie nützlich zu machen. Oder es war ihm nicht möglich gewesen. Venter war, nach all den Jahren, in denen er ähnliche Schicksale aufarbeitete, nicht mehr sicher, was davon der Realität näherkam. Letztendlich spielte es auch keine Rolle.

Ein ernüchterndes Fazit.

Wütend schob er die Akte nach hinten und ging zur Toilette. Die gleich darauf auflaufende Meldung ruinierte den Tag komplett.

iFLOW:LEVEL2:ENTER:

CONSCIOUS:reaction possible: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747

PRIORITY:High:official healthcare

Language:native:german:

    Ihre Darmtätigkeit ist suboptimal. Die Methanproduktion ist stark überhöht und widerspricht den Vorgaben des europäischen Gesundheitspanels zum Klimaschutz. Methan wird mit doppeltem Faktor ins Portfolio der Klimagase eingerechnet. Grund ist Ihre suboptimale Ernährung – siehe iFLOW:SanityPool – healthstream, locked and backuped.

    Wären Sie bereit, sich einer für Sie positiven Änderung Ihres Lebenswandels zu unterziehen? Hilfsprogramme stehen Ihnen in der beigefügten Short-iTrack zur Verfügung. Download komplett.

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VOTE: Yes/No

Venter übergab sich und ging dann nach Hause.

Sperling schluckte. Wütend gab er den Extraktionsbefehl erneut ein. Das VirtualPad reagierte – endlich! Der UltraChip, der alle relevanten Daten über die Person des Verstorbenen enthielt, Sozialfiles, Gesundheitsfiles und was der Dinge mehr waren, gab Rückmeldung. Sperling atmete auf. Der Chip war intakt – immerhin. Häufig genug wurde versucht, sich der allgemeinen Überwachung zu entziehen. Ein Piepen signalisierte, dass der Extraktor einmal mehr nicht funktionierte. Die Mängel an der Ausrüstung waren ein ständiges Ärgernis. Der Pathologe verzog verärgert den Mund. Er nahm das altmodische Skalpell und setzte den notwendigen, kleinen Schnitt im linken Schlüsselbeinbereich selbst. Als er den Chip entfernte, fiel ihm eine dunkle Verfärbung des umliegenden Gewebes auf. Er stellte fest, dass es sich weder um einen nekrotischen Prozess handelte, noch um eine andere krankhafte Veränderung, die er hätte zuordnen können.

»Was ist das, zum Teufel?«, murmelte er leise und nahm eine Gewebeprobe.

Natürlich war ihm klar, dass er die Sparprotokolle vollkommen ignorierte, doch die sich häufenden Todesfälle der letzten Monate und das völlige Fehlen einer plausiblen Erklärung lagen ihm schon geraume Zeit schwer im Magen.

Die Werbebotschaft lenkte ihn ab:

iFLOW:

voteSTREAM:LEVEL3:ENTER:

CONSCIOUS:reaction: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Sperling.Leo

ID 9990123-834747

PRIORITY:middle:delay:VOTE immidiate reaction possible:

ECONOMY:Advertising.Change.

Download: commercial

    Hallo, Leo Sperling! Ihr neuer eBolide von Main Electric ist jetzt verfügbar! Sauber, schnell, cool und stylish! Your way to the top! Get it now!

Credit:payment:the way you need it!

VOTE:

Get it: Yes / No

Verärgert drückte er den Votestream weg. Diese Art von Ablenkung konnte er nicht brauchen. Endlich hielt er den Chip in der Hand. Er sah, dass der Schnittstellenkomplex, die den Kontakt zum Körper des Patienten herstellte, leicht verbogen war. Wahrscheinlich war dies beim Sturz geschehen. Immerhin würden die Protokolle vollständig sein. Das alte VirtualPad las den Chip ohne Weiteres ein, meldete jedoch keine Verbindung zur Transcloud. Ein Problem, das hier häufiger auftrat: No wireless access. Die Hardware war definitiv nicht mehr auf dem neuesten Stand. Nur die iFLOW-Nachrichten kamen durch. Wie immer und überall. Ohne Werbung kein Leben.

Sperling schnalzte unwillig. Er würde die Kabelverbindung benutzen müssen. Doch zunächst interessierte ihn die sonderbare Verfärbung, die er bemerkt hatte. Dieses Phänomen war ihm neu und er hatte keine Erklärung dafür. Die Ergebnisse des Drogenscreenings waren negativ: keine Drogen, kein Medikamentenmissbrauch! Sonderbar. Die Verfärbung wirkte beinahe schon organisch – und sie verästelte sich in zahllose, immer feiner werdende Filamente. Sperling zögerte. Eine Röntgenaufnahme war in den Dienstvorschriften bei einem solchen Fall nicht vorgesehen, ein Multiscan erst recht nicht. Lediglich bei einem begründeten Verdacht auf ein Tötungsdelikt, das für andere Bürger relevant war. Dafür hatte er keinen Hinweis finden können.

Egal!

Er bereitete die Aufnahme vor. Und er hatte ein ungutes Gefühl dabei.

Dominik Venter wachte schweißgebadet auf. Nicht zum ersten Mal; seit einem guten Jahr beherrschte ihn ein diffuses Gefühl der Angst. Woran das lag, hatte er bisher nicht herausgefunden. Seine Arbeit war so unbefriedigend, wie seit Beginn; daran hatte sich nichts geändert und er hatte sich an vieles gewöhnt.

»Abgestumpft trifft’s eher«, murmelte er und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Laken und Decke waren klamm.

Dann erst nahm er das Rufsignal zur Kenntnis.

Fluchend setzte er sich auf und wickelte sich in einen abgewetzten Morgenmantel.

»Ja? Venter hier. Was ist denn, verdammt noch mal? Es ist drei Uhr morgens …« Er gab die Verbindung frei.

Sperlings Gesicht erschien vor ihm.

Venter runzelte verblüfft die Stirn. Dass ein Kollege aus dem PAP sich um diese nachtschlafende Zeit meldete, war extrem ungewöhnlich.

»Sperling«, fauchte Venter. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wissen Sie, wie spät es ist?«

Sperlings Gesicht war grau, aber er verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Drei Uhr morgens, Kommissar. Sie haben mich gerade eben darauf aufmerksam gemacht. Ich … war mir dessen nicht wirklich bewusst.«

Venter hustete und blockte eine iFLOW-Nachricht zur Erkältungsprophylaxe ab. »Was?«

Sperling schluckte. Er schien Angst zu haben. Wenn Venter ein Gefühl beurteilen konnte, dann war es Angst. Zu häufig hatte er es gesehen und gespürt.

»Was ist los, Sperling? Sie sehen scheiße aus, wissen Sie das?«, fragte er und band den Morgenmantel zu.

Sperling lächelte nicht mehr. »Ich wollte Ihnen … ich habe etwas entdeckt, das Sie wissen sollten. Entschuldigen Sie, ich hätte Sie nicht anrufen dürfen. Das war ein Fehler … ich war zu voreilig. Und ich bringe Sie in Gefahr …«

Sperling unterbrach die Verbindung und Venter saß ratlos im Dunkel seiner Wohnung. Aus dem Wohnzimmer hörte er das unaufdringliche Plappern der Mietwerbung.

Verwirrt stand er auf und ging in die Küche. Er nahm eine offene Packung Orangensaftsurrogat heraus und trank. Es war Gift für den Säurehaushalt seines Magens, aber das war ihm gleichgültig.

Der Kühlschrank meldete sich zu Wort. »Ihr eingegebenes Vorratsquantum an O-Surr-QuasiSunDrink ist unterschritten. Nachschub wird geordert. Möchten Sie eine neue Packung Bioeier und QuaWurst hinzufügen? Die CO2