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Zwielicht - das Horrormagazin - schon zum zehnten Mal. Inhalt: Geschichten Michael Siefener - Die Messe für das besondere Buch Julia Annina Jorges - Für immer Helena Algernon Blackwood - Aileen /Old Clothes (1910) Abel Inkun - Insel der Glückseligen Christian Künne - Mona Usman T. Malik - Auferstehungspunkte /Resurrection Points (2014) Michael Tillmann - Bemerkenswerter Bericht, welcher beschreibt, wie der ehrwürdige Bruder Michael gegen alle Widerstände der Welt seinen Seelenfrieden in einem Beinhaus fand Ray Bradbury - Vielleicht ein Traum /Asleep in Armageddon (1948) Sascha Dinse - Isabelle Karin Reddemann - Die bessere Geschichte Nicole Kudelka - Die Nacht des Kranichs Artikel Matthias Kaether - Schlottern zum kleinen Preis Achim Hildebrand - Verbotene Bücher Vincent Preis 2016 Horror 2016 Michael Schmidt - Streifzüge
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Seitenzahl: 385
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Hrsg. Michael Schmidt & Achim Hildebrand
Zwielicht X
Horrormagazin
Horrormagazin Zwielicht
Band 10
Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand
Kontakt: [email protected]
Das Copyright der einzelnen Texte liegt beim jeweiligen Autor
Titelbild: Björn Ian Craig
Illustrationen: Oliver Pflug
Lektorat: Marianne Labisch
Juni 2017
Inhalt
Vorwort
Geschichten
Michael Siefener – Die Messe für das besondere Buch
Julia Annina Jorges – Für immer Helena
Algernon Blackwood – Aileen
Paul Sanker – Insel der Glückseligen
Christian Künne – Mona
Usman T. Malik – Auferstehungspunkte
Michael Tillmann – Bemerkenswerter Bericht, welcher beschreibt, wie der ehrwürdige Bruder Michael gegen alle Widerstände der Welt seinen Seelenfrieden in einem Beinhaus fand
Ray Bradbury – Vielleicht ein Traum
Sascha Dinse – Isabelle
Karin Reddemann – Die bessere Geschichte
Nicole Kudelka – Die Nacht des Kranichs
Artikel
Achim Hildebrand – Verbotene Bücher
Matthias Kaether - Schlottern zum kleinen Preis
Michael Schmidt – Vincent Preis 2016
Michael Schmidt – Horror 2016
Michael Schmidt – Streifzüge
Autoreninfos
Zehn Ausgaben Zwielicht, das sind acht Jahre geballte Ladung Horror und unheimliche Phantastik.
Zehn Ausgaben Zwielicht, das sind über dreitausend Seiten Lesefreude. Mal verstörend, mal brutal und manches Mal erheiternd. Zwielicht bietet die gesamte Bandbreite des Genres. Kein Thema, keine Redaktionsvorgaben bremsen die Autoren und Illustratoren in ihrer Kreativität.
Zwielicht bietet dem Leser Vertrautes. Algernon Blackwood ist in sieben, Christian Weis in sechs, Marcus Richter in fünf Bänden vertreten, das sind nur die Autoren, mit den meisten Geschichten in Zwielicht. Einige hatten einen einmaligen Auftritt. Bisher, denn die Geschichte von Zwielicht geht weiter.
Zehn Ausgaben Zwielicht sind ein erster Meilenstein, aber es wird nicht der letzte sein.
Zehn Ausgaben Zwielicht bedeutet viermal den Vincent Preis zu gewinnen: Dreimal als beste Anthologie und einmal für das herausragende Titelbild von Zwi3licht für den Coverkünstler Björn Ian Craig, der sich seit dieser Ausgabe dafür verantwortlich zeigt. Aber es wurden auch acht Kurzgeschichten nominiert sowie zwei weitere Titelbilder.
Aber Zwielicht hat auch bei den Lesern Begeisterung hervorgerufen. Zahlreiche Rezensionen, Leserunden, Zuschriften und Forenbeiträge belegen, Zwielicht hat eine feste Leserschaft und immer wieder stoßen neue Interessenten dazu.
So freuen Sie sich auf die zehnte Ausgabe. Drei Übersetzungen haben wir diesmal ausgewählt. Old Clothes heißt der Originaltitel der 1910 erschienen Geistergeschichte von Algernon Blackwood. Ebenso freuen wir uns, Ray Bradbury in einer deutschen Erstveröffentlichung zu zeigen. Asleep in Armageddon ist aus dem Jahre 1948 und vom Grundsatz eine SF Geschichte, aber gruseln werden Sie sich trotzdem.
Usman T. Malik ist ein in Amerika lebender Pakistani und zeigt sein Können zum ersten Mal einem deutschen Publikum.
Zwielicht bietet aber nicht nur Übersetzungen. Ein Bericht über einen Priester, Ausführungen zu einem besonderen Buch oder die Unwägbarkeiten eines langen Lebens, all das und vieles mehr sind Themen unserer Jubiläumsausgabe und neben schon in Zwielicht bekannten Stimmen dürfen wir zum ersten Mal Christian Künne dem geneigten Publikum mit einer Geschichte präsentieren, die unter die Haut geht und nichts für schwache Nerven ist.
Im Artikelteil freuen wir uns mit Matthias Kaether einen neuen Mitarbeiter zu begrüßen, der uns über vergessene Pulps aus vergangenen Zeiten berichtet, ebenso wie Herausgeber Achim Hildebrand den Bogen zur Geschichte Die Messe für das besondere Buch schlägt.
Abgerundet wird dies durch die Auflistung der erschienenen Horrorwerke 2016 sowie der Gewinner des Vincent Preis 2016.
Mit dunklen Grüßen
Mein Name ist Marie Buchmann; ich bin es, an die der folgende Bericht adressiert ist.
Eine Zeit lang waren Franz Raabe und ich ein Paar, doch wir haben uns schon vor mehr als einem Jahr getrennt, da mir seine Büchermanie zu weit ging. Dennoch standen wir in loser, durchaus freundschaftlicher Verbindung. Nun bin ich in großer Sorge um ihn. Zunächst will ich hier seine Zeilen ungekürzt wiedergeben:
Liebe Marie,
morgen werde ich mich in ein Abenteuer stürzen, dessen Ausgang für mich nicht absehbar ist. Es ist verrückt, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich nicht die geringste Vorstellung davon, was mit mir geschehen wird, und ich hoffe, dass ich am Ende der Ereignisse diesen Bericht zerreißen und über meine Befürchtungen lachen kann. Doch mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Allerdings steht mein Entschluss fest.
Du bist einer der wenigen Menschen, denen es etwas ausmachen könnte, wenn ich nicht mehr da bin, und deshalb will ich Dir gegenüber darlegen, was in der letzten Zeit geschehen ist. Wir haben uns seit einigen Wochen nicht mehr gesehen, und bei unseren wenigen Telefonaten habe ich stets behauptet, es gehe mir gut und es sei nichts Bedeutendes in meinem Leben geschehen.
Das stimmte nicht ganz.
Ich wünschte, ich könnte mich noch einmal mit Dir treffen - vorher - und Deine Meinung einholen, vor der ich mich aber, wie ich voller Scham gestehen muss, gleichzeitig fürchte. Also habe ich die Entscheidung allein getroffen, und morgen Nachmittag werde ich dorthin gehen.
Alles begann mit dem Tod eines meiner besten Kunden. Ich möchte seinen Namen nicht nennen, Du kennst ihn nicht, und wer weiß, in welche Hände diese Zeilen zufällig geraten könnten. Es reicht aus, zu sagen, dass er ein manischer Sammler okkulter Literatur war und durch die Hilfe meines Antiquariats seiner beachtlichen Sammlung etliche schöne Stücke hatte hinzufügen können. Vor einigen Wochen erhängte er sich auf dem ausgebauten Dachboden seines Hauses, wo er seine außergewöhnlichsten Bücher vor den neugierigen Augen verständnisloser Besucher verbarg. Seine Frau fand ihn; er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen und keinen Grund für seine Tat angedeutet. Es muss leider gesagt werden, dass es mit seiner Ehe schon längere Zeit nicht mehr zum Besten stand, woran auch seine exzessiven Bücherkäufe und die Art der von ihm erworbenen Bände nicht ganz unschuldig waren. Jedenfalls hielt sich die Trauer der Witwe nach dem anfänglichen Schock in gewissen Grenzen, und schon bald bot sie mir an, die gesamte Bibliothek anzukaufen. Sie kannte mich von einigen Besuchen bei ihrem Mann und wusste um unsere Geschäftsbeziehung. Da sie durch den Tod ihres Mannes zu einer reichen Erbin geworden war, kam es ihr nicht darauf an, durch den Verkauf der Bücher noch mehr Geld einzunehmen, auch wenn ich es als meine moralische Pflicht ansah, sie darüber aufzuklären, dass die Sammlung einen nicht unbeträchtlichen Wert darstellt. Sie tat diese Einlassung mit einer knappen Handbewegung ab und verlangte nur, dass ich die „alten, stinkenden, unheimlichen Scharteken“, wie sie die Bücher nannte, so schnell wie möglich abtransportierte.
Du kannst Dir vorstellen, in welcher Hochstimmung ich nach Hause fuhr. Einerseits war auch ich entsetzt über den Selbstmord meines Kunden, doch andererseits hatte ich ihn nicht gut genug gekannt, um ihn einen Freund nennen zu können, und dieser unverhoffte Ankauf würde die finanziellen Schwierigkeiten auflösen, die ich bis vor kurzer Zeit noch hatte. Du weißt ja, wie oft ich über die schleppenden Geschäfte und die hohen Abgaben gestöhnt habe. Nun würde alles anders werden, dessen war ich mir sicher.
Ich beauftragte ein Umzugsunternehmen für den Abtransport der Bücher, da die Vereinbarung mit der Witwe vorsah, dass sie innerhalb der nächsten drei Tage aus ihrem Haus entfernt werden mussten. Bereits zwei Tage nach dem Geschäftsabschluss standen alle Kartons in meinem Ladenlokal sowie in dem Lagerraum dahinter. Die Bibliothek umfasst etwa dreitausend Bände, von denen ungefähr siebenhundert besonderen antiquarischen Wert besitzen; der Rest ist so etwas wie eine Referenzbibliothek. Außergewöhnlich sind vor allem die vielen Grimoires, die der Verstorbene in dem ausgebauten Dachzimmer aufbewahrte. Insgesamt handelt es sich bei dieser Sammlung um eine der besten, die je zusammengetragen wurde. Und um eine der wertvollsten.
Nachdem ich die Zahlung durch eine Vereinbarung mit meiner Bank veranlasst hatte - die Bücher sind als Sicherheit akzeptiert worden, denn auch die vergleichsweise kleine Summe, die von der Witwe gefordert wurde, konnte ich nicht aufbringen -, machte ich mich daran, einen Karton nach dem anderen auszupacken.
Zufällig waren die ersten Bücher, die ich in die Hand nahm, allgemeine Standardwerke zum Hexenwesen und zur Magie, und beim Durchblättern fiel mir auf, dass ein früherer Eigentümer etliche Anmerkungen mit Bleistift an den Rand geschrieben hatte. Da die Handschrift in den einzelnen Bänden stets dieselbe war, ging ich sofort davon aus, dass die Kommentare vom letzten Besitzer stammen. Ein wenig ärgerte ich mich darüber, denn obwohl sie ausradierbar waren, waren es doch so viele, dass es mich eine Menge Zeit kosten würde - oder ich verkaufte die Bücher so, wie sie waren, musste dann aber einen niedrigeren Preis ansetzen. Hoffentlich ist er bei den bibliophilen Stücken nicht genauso verfahren, dachte ich mit einem gewissen Unmut. Doch als ich endlich an einen Karton mit alten Drucken gelangte und eine Daemonolatreia von Nicolaus Remigius in der Erstausgabe von 1595 herauszog, musste ich feststellen, dass auch diese Kostbarkeit nicht von Anmerkungen verschont geblieben war. Mein Radiergummi würde viel zu tun bekommen.
Also machte ich mich daran, zumindest in den wertvollen Büchern die Anmerkungen zu löschen, die mit einer spinnenartigen, feinen Handschrift hineingeschrieben worden waren. Natürlich ließ es sich dabei nicht vermeiden, zumindest einige von ihnen zu lesen. Bei den meisten handelte es sich um Querverweise zu anderen Autoren, die entweder die gleiche oder eine abweichende Meinung zu einem strittigen Punkt hegten, doch hin und wieder fanden sich auch persönliche Bemerkungen des Verstorbenen, zum Beispiel, wenn ein Autor ein Werk zitierte, das dem Sammler bisher nicht bekannt gewesen oder ungeheuer schwer aufzutreiben war. Dann las ich Sätze wie: „Muss ich haben!“ oder „Im Katalog 14 von Lange gesehen, aber nicht gekauft - ich Idiot!“ oder „Diese Ausgabe existiert nicht - hoffentlich nicht.“ Es war relativ leicht, dies alles zu tilgen, und mehr als einmal musste ich über die Sammelwut und Bibliomanie des Verstorbenen schmunzeln.
Doch manche Randbemerkungen waren ausgesprochen verstörend.
In mehreren berüchtigten Zauberbüchern - zum Beispiel im Grimoire du Pape Honorius und auch in einer Handschrift der Clavicules de Salomon aus dem Ende des 18. Jahrhunderts - fand ich Kommentare zu den Ritualvorschriften, die sich auf die Beschwörung von Planetengeistern, aber auch von Dämonen beziehen. Aus diesen Hinweisen ergibt sich, dass sich der Sammler nicht nur theoretisch mit den Texten auseinandergesetzt hat. Manche Anweisungen tragen ein Häkchen, bei anderen steht „Mist“ oder „falsch“ am Rande, oder es werden alternative Handlungen oder Zutaten beschrieben. Es lief mir kalt den Rücken herunter, als ich mir vorstellte, wie mein ehemaliger Kunde in seinem Dachkämmerlein magischen Verrichtungen nachgegangen war und den Teufel oder einen Dämon zu beschwören versucht hatte. Allmählich wunderte ich mich nicht mehr so sehr über seinen Selbstmord. Ich kam zu dem Schluss, dass sein Geist sehr zerrüttet gewesen sein muss.
Immer tiefer drang ich durch die Randglossen in seine innere Welt ein, und sie wurde immer erschreckender. Nicht nur die praktische Anwendung der Bücher, die er gekauft hatte, erstaunte mich, sondern auch die alles verschlingende Bibliomanie. In einer zeitgenössischen Arbeit über Henri Boguet und dessen Discours exécrable des sorciers fand ich einen seitenlangen Bericht darüber, wie er ein höchst seltenes Exemplar dieses Buches auf einer Antiquariatsmesse in Ludwigsburg gekauft hatte. Ich las über seine Ängste, das Buch könnte bei seiner Ankunft auf der Messe schon verkauft sein, und darüber, dass er die ganze Reise dorthin in einer schrecklichen Aufregung hinter sich brachte, nur um dann am Stand des Antiquars, der das Buch anbot, mit belustigten Blicken bedacht zu werden, als er heiser und fahrig verlangte, das Buch sofort zu sehen und in der Hand halten zu dürfen. Niemand sonst hatte sich dafür interessiert, vor allem da der Preis sehr hoch gewesen war. Er kaufte es natürlich sofort.
Irgendwann hörte ich auf zu radieren und las, las, las. Natürlich präsentierten sich mir die Randbemerkungen nicht in einer korrekten zeitlichen Folge, doch allmählich fügten sich die einzelnen Informationen zu Bildern zusammen, die zugleich furchtbar und faszinierend waren. Ich will hier nicht alles über den Sammler wiedergeben, was ich nach wochenlanger Suche durch die Notizen herausgefunden habe, denn das würde Dich nur langweilen und vom Sinn und Zweck dieser Zeilen ablenken. Vielmehr will ich die wesentlichen Ereignisse, die sich mir aus den Bemerkungen erschlossen haben, in ungefähr chronologischer Reihenfolge schildern, sodass sie vielleicht zur Erklärung dessen dienen können, was morgen auf mich zukommt - oder auch nicht. Ach, ich weiß es einfach nicht, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, erscheint mir das Ganze so verworren und unglaublich. Morgen weiß ich mehr.
Aus den Randglossen folgt, dass der Sammler noch weitaus fanatischer beim Aufbau seiner höchst beachtlichen Bibliothek war, als ich es mir je hätte erträumen lassen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass er mich einmal fragte, ob ich ihm ein Exemplar der Ars Notoria in der ersten englischen Übersetzung, angefertigt von Robert Turner und 1657 in London veröffentlicht, beschaffen könnte. Ich recherchierte ein wenig und fand heraus, dass nur die British Library in London und die Bodleian Library in Oxford Exemplare besitzen. Ferner war mir ein Sammler in der Schweiz bekannt, der ebenfalls schon seit vielen Jahren ein Exemplar sein eigen nannte. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen teilte ich meinem Kunden mit und bedauerte, seinen Wunsch nach diesem sagenhaft seltenen Buch nicht erfüllen zu können. Ich weiß, dass der Schweizer Sammler einen bis heute ungeklärten Tod fand, und ich entdeckte ein Exemplar der Ars Notoria mit entferntem Exlibris, von dem noch schwache Klebespuren zeugten, unter den Büchern, die ich der Witwe abgekauft hatte. Natürlich habe ich keinen Beweis dafür, dass der Tod des Schweizer Sammlers und das Vorhandensein der Ars Notoria im Nachlass meines Kunden miteinander in Verbindung stehen, aber ich fand im Innenspiegel des unschätzbar wertvollen kleinen Buches den folgenden Eintrag: „Was lange währt, wird endlich gut, kostete es auch heißes Blut.“ Ich hoffe, es ist metaphorisch gemeint.
Und dann stieß ich auf etwas äußerst Seltsames.
Der Sammler stand natürlich mit vielen Händlern und auch mit anderen Bibliophilen in Verbindung, und von einem der letzteren scheint er Informationen über eine sehr seltsame Antiquariatsmesse erhalten zu haben, die im Gegensatz zu den üblichen Messen nicht regelmäßig stattfindet und keinerlei Werbung für sich macht, weder im Internet noch in den Druckmedien. Ich hatte nie zuvor von ihr gehört; sie nennt sich „Messe für das besondere Buch.“ Der Sammler hatte durch einen meiner Kollegen, der in Berlin ein Ladengeschäft betreibt, von ihr erfahren. In einem Buch über die Magie in Frankreich zur Zeit des Ancien Régime fand ich den Ausdruck einer E-mail, die dieser Antiquar von einem Freund erhalten und deren Inhalt er an seinen Kunden weitergegeben hatte:
„Lieber Bernd, leider kann ich Dir die Informationen, die Du haben möchtest, nicht geben. Ich habe zwar eine Einladung zu der Messe erhalten, und ich hörte, dass sie in der Vergangenheit oft in abbruchreifen Fabrikhallen oder an ähnlichen trostlosen Orten abgehalten wurde, aber Termin und Ort werden immer erst einen Tag vorher bekannt gegeben. Ich bin sehr aufgeregt, denn es hat mich viele Jahre Arbeit und Mühe gekostet, eine persönliche Einladung zu bekommen. Ohne sie hat man nicht die geringste Chance, eingelassen zu werden. Ich habe so viele Gerüchte gehört, aber noch niemanden getroffen, der wirklich dort gewesen ist. Angeblich findet man die ungeheuerlichsten Bücher und Buchobjekte, für die verrückte, handverlesene Sammler ein Vermögen auszugeben bereit sind. Man munkelt von Einbänden in Menschenhaut, von überaus schockierenden indizierten Texten, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken dürfen und den Leser nicht selten in den Wahnsinn schicken, und von Händlern, die seltsame Preise für ihre Bücher verlangen - nicht immer ist es Geld. Einmal habe ich sogar die verrückte Drohung gehört, dass solche Käufer, die nicht an Ort und Stelle bezahlen können, unmittelbar in die Hölle gerissen werden. Es ist erstaunlich, mit welchen Ammenmärchen solche Berichte ausgeschmückt werden. Aber angeblich lohnt es sich auf alle Fälle. Ich werde Dir berichten, wie es war. Grüße, Jan.“
Den versprochenen Bericht habe ich indes nirgendwo gefunden. Da meine Neugier geweckt war, stellte ich eigene Nachforschungen an. Allerdings hatte nur ein einziger meiner Kollegen von dieser Messe gehört. Ich lud ihn zu einem Essen ein, das ich ihm im Austausch für Informationen spendierte, aber er konnte mir lediglich sagen, dass er hinter vorgehaltener Hand schlimme Gerüchte mitbekommen hatte. Er wusste nicht, wer die Händler waren, die ihm von einem Kunden, der jedoch selbst nie diese Messe hatte besuchen können, als „wohl irgendwie nicht von dieser Welt“ beschrieben worden waren. Mein Kollege war sich nicht sicher, ob es sich vielleicht nur um einen besonderen, sehr speziellen urbanen Mythos handelt. Jedenfalls kenne er keinen Aussteller auf dieser besonderen Messe und habe auch noch nie jemanden getroffen, der tatsächlich dort war und etwas gekauft hatte. Allerdings sei ihm vor ein paar Jahren ein Exemplar eines handgeschriebenen Zauberbuches angeboten worden, das eindeutig einen Einband aus Menschenhaut hatte; auf dem Hinterdeckel konnte man noch schwach die Tätowierung eines Kreuzes erkennen. Der Verkäufer hatte angegeben, es sei auf der „Messe für das besondere Buch“ erworben worden, aber er konnte seine Behauptung nicht beweisen. Mein Kollege erinnerte sich gut daran, dass ihm der Mann einen gehörigen Schreckensschauer verursacht hatte, denn er habe so leblos und mechanisch gewirkt - „als hätte er keine Seele mehr“, wie es mein Gegenüber ausdrückte, während er den Rotwein im Glas hin und her schwappen ließ. Natürlich hatte er das Buch nicht angekauft und den Mann später nie wieder gesehen. Mehr konnte er mir nicht über die „Messe für das besondere Buch“ sagen.
Die Handschrift mit dem Einband aus Menschenhaut fand ich drei Tage später in einem der Kartons, die sich in meinem Hinterzimmer stapelten.
Ich fasste es nur mit spitzen Fingern an, doch im Innendeckel befand sich eine längere Notiz des Sammlers, die ich hier wiedergeben möchte:
„Von Winterbacher erworben. Der arme Kerl, wie er ausgesehen hat! Ein Schatten seiner selbst. Er sagte, das Buch habe ihn seine Seele gekostet, und er wolle es unbedingt loswerden. Mich hat es hingegen nur Geld gekostet, dafür aber reichlich davon. Ich hätte trotzdem nicht mit ihm tauschen wollen. Er hat behauptet, das Buch auf der ‚Messe für das besondere Buch’ erworben zu haben. Was gäbe ich nicht alles, um einmal an ihr teilnehmen zu können. Winterbacher sagte, ich sollte es mir besser nicht wünschen. Dort werde alles angeboten, was man sich vorstellen kann, aber die Preise seien zu hoch - viel zu hoch. Mir egal. Er wollte mir aber nicht verraten, wie man an eine Einladung kommt. Ich sollte ihm dankbar dafür sein. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht! Wie sehr ich dorthin will!“
Dieser Wunsch taucht hin und wieder in weiteren Randbemerkungen zu ungeheuer seltenen und seltsamen Drucken oder Manuskripten auf. Der Sammler scheint geradezu besessen davon gewesen zu sein, einmal diese sagenumwobene Antiquariatsmesse zu besuchen, vermutlich, weil er sich davon erhoffte, wesentliche Lücken in seiner Kollektion schließen und Bücher kaufen zu können, von denen nicht einmal er bisher gewusst hatte. Die dunklen Gerüchte, die sich um die Messe rankten, scheinen ihm zunächst keine Sorgen gemacht zu haben. Er ordnete alles seiner Bibliothek unter. Ich hatte diesen Mann über Jahre hinweg flüchtig gekannt, aber ich hatte nicht gewusst, wie weit seine Bibliomanie gegangen war.
Auf einem in die Erstausgabe des Magus von Francis Barrett (London 1801) eingelegten Blatt chamoisfarbenen Büttenpapiers fand ich die folgende Botschaft:
„Spät kam dieses wunderbare, breitrandige, unbeschnittene Exemplar zu mir, aber es kam. Fünf statt der üblichen vier kolorierten Tafeln! Mit einer Widmung von Barrett auf dem Titelblatt! Erworben durch Vermittlung des Antiquars Bergendorff in Münster von einem Privatsammler. Angeblich hat der Kerl ein noch besseres Exemplar in seiner Bibliothek - und auch das Manuskript des Buches, das er, wie er mir hämisch grinsend mitteilte, auf der ‚Messe für besondere Bücher’ erworben habe, deren Einladungen er jedes Jahr erhalte; die für dieses Jahr sei erst vor ein paar Tagen bei ihm eingetroffen. Ich fragte ihn, ob es ihm möglich sei, auch mir eine solche Einladung zu beschaffen, aber er lehnte ab. Soll ich aufschreiben, was ich getan habe? Niemand sonst wird es lesen, zumindest nicht, solange ich lebe, und ich bin so voller Freude und Stolz! Ich kann es niemandem mitteilen, aber ich muss es loswerden. Ich werde die nächste ‚Messe für das besondere Buch’ besuchen!!! Ich habe endlich eine Eintrittskarte, Barrett sei Dank. Was der Sammler mir so schadenfroh berichtet hatte, ließ mir keine Ruhe, nachdem ich ihn mit dem Magus in meiner gepolsterten Ledertasche verlassen hatte. Also stattete ich ihm einen weiteren, unverhofften Besuch ab. Ich will hier nicht meine Überredungskünste beschreiben; es genügt zu sagen, dass er mir nach einer Weile verriet, wo er die Karte für die kommende Messe versteckt hatte. Er sagte, das Datum und der Ort werden auf der Karte erscheinen, einen Tag vor dem Öffnen der Tore. Es sind die Tore der Hölle, wie er sagte, als ich die Klinge erneut in ihm umdrehte, und sie werden mich verschlucken, so wie sie ihn verschluckt haben. Aber das ist mir egal. Jeden Tag schaue ich auf die Karte - schwarze Pappe mit goldenem, schnörkeligem Aufdruck: ‚Messe für das besondere Buch. Eintrittskarte. Gültig zum einmaligen Besuch’ - und warte darauf, dass Datum und Ort erscheinen. Wie sollen sie erscheinen? Wahnsinn. Aber schön gelacht Blutlachen kreischendes Lachen …“
Hier bricht der Text ab. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Offensichtlich war die geistige Verwirrung des Sammlers zu dieser Zeit schon weit fortgeschritten. Was er mit seinem Konkurrenten angestellt haben mochte? Ich versuchte erst gar nicht, es herauszufinden. Wo mochte er die geraubte Eintrittskarte aufbewahrt haben? Bisher war sie mir nicht in die Finger gefallen. Vermutlich befand sie sich noch in seinem Haus. Ich wollte die Witwe nicht danach fragen, aber in den nächsten Tagen bemerkte ich, dass meine Gedanken immer stärker um diese rätselhafte Antiquariatsmesse kreisten. Ich fragte mich, ob ich sie besuchen würde, wenn ich eine Einladung erhielte.
Dann fand ich den nächsten längeren Eintrag, der zeitlich, dem auf wohl höchst fragwürdige Weise zustanden gekommenen Erwerb der Eintrittskarte, nachfolgte. In einem Werk über die sieben Todsünden des Eberbacher Abtes Matthias Gerberus (Über die sieben Schlüssel zur Pfort der Höllen, Mainz 1727) steht die folgende Anmerkung im breiten Rand des Kapitels über die Gier („… welche ist eine der Todsünden, so aufschließen die Pforten der Höllen …“):
„Kann seit Tagen nicht mehr schlafen. Habe schreckliche Albträume, seit ich die Karte besitze. Und dann diese Zeilen von Gerberus. Was ist falsch daran, etwas haben zu wollen? Etwas aufzubauen - wie meine Sammlung? Aber was ist mit mir los? Nachts irre ich durch gewaltige Räume, gehetzt von unnennbaren Wesen, und jede Nacht kommen sie mir näher. Sind die Pforten der Hölle wirklich aufgeschlossen? Sollte ich die Karte vernichten? Niemals. Sie stellt eine einmalige Gelegenheit dar. Der gute alte Delrio persönlich passt auf sie auf. Aber ist der Preis nicht doch zu hoch? Ich würde ihn bezahlen, das weiß ich. Habe mich wieder etwas beruhigt nach dem Besuch bei … Warum wollte er mir die Karte nicht freiwillig geben? Warum musste ich das tun? Jetzt ist doch alles egal. Gerberus, Gerberus, ich weiß, wovon du schreibst. Und du wirst es auch gewusst haben. Du warst ein bücherverliebter Abt, und du hattest eine Bibliothek, die ihresgleichen suchte. Woher hast du deine Bücher gehabt? Ich weiß es, du weißt es.“
Es ist durchaus verständlich, dass der Sammler inzwischen von seiner grässlichen Tat heimgesucht wurde. Sein Geist muss sich immer stärker umwölkt haben. In einem Buch, das ich ihm erst kürzlich verkauft hatte (Commentatio de Crimine Coniurationis Spirituum von Johann Ernst Floercke, Jena 1721), hatte er notiert: „Traum des toten Friedens, kein Glück ohne Bücher, Glück ist Unglück, bald wäre es so weit. Ich habe gehört - habe so vieles gehört - die Tore der Hölle - der Preis ist zu hoch - muss ihn bezahlen - muss dorthin gehen - kann nicht anders - wäre der Tod nicht besser als die ewige Verdammnis? - es gibt keine Ewigkeit - keine Verdammnis - und wenn doch - ich muss mich davon abhalten - muss etwas dagegen tun muss muss muss.“ Was er tat, ist klar - er hat sich erhängt, damit er die Messe nicht besuchen und dort in Versuchung geführt werden konnte. Ein schrecklicher Schritt. Ich weiß inzwischen nicht mehr, was ich von alldem halten soll. Ich habe in das Innere eines immer stärker zerrütteten Geistes geblickt, doch zumindest die legendenumrankte „Messe für das besondere Buch“ ist ein Topos, der auch außerhalb der Wahnvorstellungen des Sammlers existiert. Und als ich las, dass er die Eintrittskarte offenbar im „Delrio“, also wohl in den Disquisitionum Magicarum Libri Sex des alten Jesuiten verborgen hatte, machte ich mich natürlich auf die fieberhafte Suche nach diesem Buch, einem Meilenstein der dämonologischen Literatur. Zwei Tage später fand ich es.
Das war heute Nachmittag.
Und in dem Folianten (Mainz 1603, die erste Ausgabe mit der bizarren radierten Titelbordüre, darstellend die biblischen Plagen) fand ich eine längliche Karte aus schwarzer Pappe mit dem goldenen Aufdruck „Messe für das besondere Buch. Eintrittskarte. Gültig zum einmaligen Besuch.“
Und auf der Rückseite standen in der gleichen verschnörkelten goldenen Schrift ein Datum und ein Ort.
Das Datum ist das des morgigen Tages.
Den Ort werde ich Dir, liebe Marie, nicht mitteilen.
Es ist nicht sehr weit von hier entfernt.
Es ist unmöglich, dass sich diese Angaben nicht von Anfang an auf der Rückseite der Eintrittskarte befunden haben; sie sind genauso eingedruckt wie der Text auf der Vorderseite. Dass der Sammler sie nicht wahrgenommen hatte, zeugt nur von seinem zerrütteten Geisteszustand.
Ich habe etliche Stunden überlegt, ob ich hingehen soll. Ich glaube nicht an all das wirre Zeug, das ich gelesen habe. Zuerst war ich erschrocken, dann fand ich es unheimlich, doch jetzt überwiegt etwas anderes. Ich muss gestehen, dass ich neugierig geworden bin. Nur neugierig, nicht gierig. Ich bin mir sicher, dass nichts hinter alldem steckt. Und vielleicht kaufe ich sogar ein Buch. Obwohl ich es nicht nötig hätte, jetzt da ich diese wunderbare Bibliothek angekauft habe, die mir lange ein gutes Auskommen sichert. Vermutlich wirst Du diese Zeilen nie lesen, Marie, und ich werde den Bericht, den ich in den letzten Stunden bis tief in die Nacht hinein verfasst habe, nach dem Messebesuch vernichten. Zumindest hatte ich bisher keine Albträume. Aber ich habe auch noch nicht geschlafen. Jetzt, wo ich alles niedergeschrieben habe, sind meine Ängste und Befürchtungen zurückgewichen und irrational geworden. Ich werde Dir mündlich in allen Einzelheiten von dieser seltsamen Veranstaltung berichten.
Morgen weiß ich mehr.
Es grüßt Dich (von wo?)
Dein Franz
Nachdem ich Franz Raabe zwei Wochen lang nicht erreichen konnte, habe ich mir mit dem Schlüssel, den ich mit seinem Einverständnis noch besitze, Zutritt zu seiner Wohnung verschafft. Ich fand das oben mitgeteilte Schreiben, nicht aber die rätselhafte Eintrittskarte; er scheint sie benutzt zu haben. Seitdem ist er verschwunden. Ich bitte jeden, der Aufschluss über den Verbleib von Franz Raabe geben kann, sich mit mir oder mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.
„Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz!“ Helena beugte sich zu Martha hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Haut unter ihren Lippen fühlte sich unangenehm rau an, als bedürfe sie dringend einer Pflegecreme. Dass Martha so wenig auf ihr Äußeres hielt! Vielleicht würde die Woche im luxuriösen Wellnesshotel, die Helena in Form eines Gutscheins auf den Gabentisch gelegt hatte, ihre Tochter auf den Geschmack bringen, doch insgeheim bezweifelte sie es. Anders als sie hatte Martha im Kampf gegen das Alter kapituliert. Es überlief Helena kalt, als sie spürte, wie knochig, wie zerbrechlich die schmalen Schultern ihrer Ältesten waren. Etwas zu rasch zog sie die Hände fort und überging Marthas Stirnrunzeln mit einem Lächeln. „Gesundheit, Glück und noch viele schöne Jahre!“
„Danke, Mutter, du wirst mich ganz bestimmt überleben“, kam es distanziert zurück. Durch die Gläser der Gleitsichtbrille schaut Martha zu ihr auf.
Zu ernst, viel zu ernst, dachte Helena verstimmt. Offenbar wusste Martha die für sie organisierte Feier nicht zu schätzen. Täuschte sie sich oder glänzten Tränen in den Augen ihrer Tochter? „Na, na, jetzt redest du aber Unsinn“, versuchte sie den drohenden Gefühlsausbruch abzuwenden.
„Unsinn?“, schnappte Martha und erweckte kurz den Anschein, als wolle sie sich aus dem Rollstuhl hochstemmen, um Helena ihre Meinung ins Gesicht zu schleudern. „Das glaubst du doch selbst nicht.“ Sie fing sich wieder und lächelte bemüht. „Aber vielleicht möchtest du mir ja endlich dein Geheimnis verraten, als Geburtstagsgeschenk sozusagen.“
Helena runzelte die Stirn, etwas, das sie selten tat. Gewiss hatte Martha schon vom Champagner gekostet, andernfalls hätte sie es nie über sich gebracht, die in Jahren gewachsene Übereinkunft des Stillschweigens zu diesem Thema zu brechen, an die sich das Gros der Verwandtschaft mittlerweile hielt. Ganz im Gegensatz zu früheren Jahren, als vornehmlich deren weibliche Hälfte Helena ständig das Geheimnis ihres makellosen Äußeren zu entlocken suchte. Entsprechend spitz fiel ihre Erwiderung aus. „Ach, Martha. Nimm es, wie es ist. Schau, nicht viele Frauen deines Alters sind in der glücklichen Lage, überhaupt noch eine Mutter zu haben, die sie darüber hinaus mit allen Annehmlichkeiten versorgt. Wärst du glücklicher, mir das Pflegeheim zu bezahlen?“
Die Flügeltüren des Festsaals schwangen auf und Marthas Kommentar ging unter in den bewundernden Ausrufen der Gäste, als vier Serviererinnen ein mehrstöckiges Tortenkunstwerk hereinrollten, auf dem aus Zuckerguss die „70“ prangte.
Perfektes Timing, dachte Helena dankbar und trat hinter ihre Tochter, um deren Rollstuhl aus dem abgeteilten Seitenbereich an den Ehrenplatz der Tafel zu schieben, wobei sie die Hilfe zweier heraneilender junger Leute energisch zurückwies. Das Gemurmel verebbte, Köpfe wandten sich der Jubilarin und, mehr noch, der sie überragenden Patriarchin zu. Zufrieden ließ Helena den Blick über die Häupter ihrer Lieben schweifen. Fünf ihrer sechs Enkel waren der Einladung gefolgt, begleitet von Ehegatten und Kindern. Die Geburt des jüngsten Sprosses der Sippe, Jonathan, hatte sie kürzlich zur Ururgroßmutter gemacht. Genau genommen sagte ihr dieser Umstand nicht sonderlich zu, doch wurde ihr Unbehagen gemildert durch die Gewissheit, dass niemandem einfallen würde, sie auch so zu nennen. Erfreulicherweise hatten die jungen Eltern dem Wunsch Helenas entsprochen und den kleinen Schreihals bei einem Babysitter gelassen, nachdem sie im Vorfeld auf Marthas Unverträglichkeit hohen Geräuschpegeln gegenüber verwiesen hatte.
Erst als es bereits mucksmäuschenstill war, klopfte Helena an ihr Glas und begann ihre sorgfältig einstudierte Rede auf das Geburtstagskind.
Als der Beifall verebbte und sie sich gerade setzen wollte, fiel ihr am Ende der u-förmig aufgestellten Tafel eine junge Frau auf. Schwarzes Kostüm, schwarzer Hut mit Schleier. Als säßen sie zum Leichenschmaus beisammen … Helena rümpfte die Nase und ließ sich eilig in den von Schwiegersohn Andreas bereit geschobenen Stuhl gleiten, bevor jemand ihre Irritation bemerkte. Wer war diese Person, die hinter Laura saß, der Frau von Enkelsohn Maximilian? Hatten die beiden sie spontan mitgebracht? Sie würde ein ernstes Wort mit ihnen sprechen – und mit der Security, die gehalten war, niemanden ohne Einladung zur Feier vorzulassen. Und was zum Teufel sollte diese modische Extravaganz? Wenn dies ein Scherz war, dann ein äußerst geschmackloser.
Während des Menüs schielte Helena immer wieder zu der Fremden hinüber, die ihren Blick mit kaum wahrnehmbarem Heben der Mundwinkel erwiderte. Ob sie Martha zu ihr befragen sollte? Etwas in ihr sträubte sich dagegen; schlimm genug, sich selbst gegenüber eingestehen zu müssen, ihre Familie doch weniger gut im Griff zu haben als angenommen. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Tischgespräche in ihrer Umgebung, lächelte, nickte, gab sich unbefangen. Mit Andreas scherzend ignorierte sie geflissentlich die giftigen Seitenblicke ihrer jüngeren Tochter Caroline. Ihre Jüngste war noch nie eine gute Verliererin gewesen. Nach Helenas Dafürhalten setzte Andreas’ offenkundige Bewunderung für ihre Person der Vierundvierzigjährigen mindestens ebenso zu wie der Umstand, dass Fremde in ihr schon seit geraumer Zeit mitnichten die Tochter, sondern Helenas ältere Schwester sahen. Martha hielt man mit schöner Regelmäßigkeit für die Mutter der beiden. Aber anders als Caroline, die jede Gelegenheit nutzte, zu sticheln und zu spionieren, begegnete Martha dem Phänomen Helena mit stoischer Gelassenheit. Aus diesem Grund wäre die mehr als bloß unterschwellige Feindseligkeit, die vorhin aus Marthas Worten gesprochen hatte, durchaus dazu angetan, Helena die Laune zu verderben – wenn ihre Haltung sie nicht davor bewahrt hätte. Das Leben war zu kurz, um es mit Grübeleien zu vergeuden. Der Gedanke an die Verwechslungen, die das Mutter-Töchter-Verhältnis mitunter auslöste, rief ihr das reizend verwirrte Gesicht des jungen Chauffeurs ins Gedächtnis, und so kam das Lächeln, das sie ihren Töchtern schenkte, aus tiefstem Herzen.
Das Abräumen der Teller bot den Rauchern Gelegenheit, sich zu entschuldigen. Zeit, der Frau in Schwarz auf den Zahn zu fühlen … Der Platz am Ende der Tafel war leer. Wohin konnte die Fremde so plötzlich verschwunden sein? Verärgert presste Helena die Lippen zusammen. Sie hatte sich ablenken lassen von Andreas, dessen Humor mit steigendem Alkoholpegel ins Zotige abdriftete, während sein Knie gegen das ihre drückte und seine Hand mehr unter als auf dem Tisch verweilte. Ihrem geflüsterten Einwand, dies käme jetzt ungelegen, hatte er – zu Recht nicht überzeugt von ihrer Ablehnung – wenig Beachtung geschenkt. Helena verspürte das Bedürfnis nach einer Zigarette. Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. Vielleicht war der ungebetene Gast ja in den Rauchersaal vorausgeeilt.
Helena durchquerte die opulent nach ihren Vorstellungen geschmückte Halle, begleitet von bewundernden, hauptsächlich jedoch argwöhnischen Blicken. Es störte sie nicht. Zu einer Grande Dame gehören Geheimnisse, die sie umwehen wie edles Parfüm. Die Liebe des Publikums, das ihretwegen in die Konzertsäle strömte, genügte ihr. Natürlich gab es Gerüchte, sie habe bei ihrem Äußeren nachhelfen lassen. Es entlockte Helena jedes Mal ein Schmunzeln, wenn sie in den Zeitschriften Spekulationen über Botox, Facelifting oder Frischzellentherapie las. Willkommene Publicity, unabhängig davon, ob sie gerade ein neues Album herausbrachte. Böswillige Zungen behaupteten gar, sie würde vom Verband der Schönheitschirurgen gesponsert – wer wäre als Werbeträger effektiver als eine knapp Neunzigjährige, die aussah wie Mitte dreißig? Oder doch wenigstens keinen Tag älter als vierzig. Die meisten Menschen jedoch – ob nun Intendanten, Kollegen und Reporter oder ihre Fans – hielten Helenas vorgebliches Geburtsdatum für den eigenwilligen Humor einer Diva, die mit „guten Genen“ und „eiserner Selbstdisziplin“ kokettiert.Sie hütete sich, dagegen Einspruch zu erheben.
Am Ziel angekommen zögerte Helena, sich eine Zigarette anzustecken, denn auch hier konnte sie die Fremde nicht ausmachen. Inzwischen war sie sich relativ sicher, ihr doch schon früher begegnet zu sein, nur war sie da anders frisiert und anders gekleidet gewesen. Zuerst vor rund einer Woche vom Fenster ihrer Villa aus. Die Frau hatte verlangt, zu ihr vorgelassen zu werden, mit der Begründung, sie sei eine alte Freundin und mit Helena verabredet … Ha! Keine wahrhaft alte Freundin besaß ein solch jugendliches Äußeres. Nachdem die Hausangestellte die Betrügerin abgewimmelt hatte, war Helena ans Fenster getreten, von wo aus sie eine ihr unbekannte blonde Frau beobachtete, wie sie kurz zu ihrem Fenster hinaufblickte, um dann fortzugehen. Ein paar Tage später hatte dieselbe Dame in der Zentrale ihrer Modefirma vorgesprochen, aber auch dort gelangte sie nicht einmal in die Nähe der Chefetage. Allerdings war sie damals, soviel hatte Helena auf dem Überwachungsmonitor gesehen, brünett gewesen. Und nun schwarzhaarig. Offenbar eine Stalkerin, die nicht erkannt werden wollte … Sie musste sie finden und zur Rede stellen!
Nervös strich Helena mit den Fingern über die Wange. Ihre Verunsicherung wuchs, als sie etwas ertastete, das nicht dorthin gehörte. Unverrichteter Dinge verließ sie den Raucherbereich und eilte zu den Waschräumen. Im Wandspiegel begutachtete sie ihr Gesicht, doch dessen ebenmäßige Züge brachten ihr die Ruhe nicht zurück. Linien, fein, aber unübersehbar, krochen aus den Winkeln ihrer veilchenblauen Augen. Vertikale Fältchen auf der Oberlippe, die am Morgen, nein, noch vor einer Stunde, nicht da gewesen waren. Selbst ihre prächtige blonde Mähne schien ihren Glanz einzubüßen. Ohne Zweifel lag das Alter nicht länger auf der Lauer, es hatte bereits zum Sprung angesetzt.
Nun, wenigstens in dieser Hinsicht konnte sie etwas tun. Nachdem sie sich vergewissert hatte, allein zu sein, öffnete Helena ihre Handtasche. Sie besaß es, das Mittel, dem sie seit einem halben Jahrhundert vertraute und dessen Rezeptur sich die Pharmakonzerne, bekämen sie je Wind davon, Millionen würden kosten lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Mittel, das ihre Jugend und Schönheit erhielt, zuverlässiger als jeder plastische Chirurg. Von einer entfernten Großtante hatte sie es geerbt, einer Namensvetterin, und ein Schreiben war der Erbschaft, die sich in einem Koffer befand, beigefügt gewesen, in dem sie Helena beschwor, das Geheimnis sorgfältig zu bewahren.
Sie tastete nach der kleinen, silbernen Dose, die sie immer mit sich führte und in der sich ihre Notfallration befand. Anfangs hatte Helena das Mittel nur hin und wieder eingenommen, vor wichtigen Terminen oder Partys, später monatlich, dann wöchentlich. Mittlerweile griff sie beinahe täglich zu den goldglänzenden, knapp erbsengroßen Perlen, die ein wenig schwer zu schlucken waren, sodass sie anfangs versucht hatte, sie mit dem Messer zu zerteilen, im Mörser zu zerstoßen oder in Flüssigkeiten aufzulösen, ohne Erfolg. Der Vorrat ihrer Wunderkügelchen schrumpfte, doch noch befanden sich einige Hundert davon in ihrem Safe. Wie es weiterginge, wenn die Perlen aufgebraucht waren, darüber mochte sie sich jetzt noch keine Gedanken machen. Notfalls würde sie einen Chemiker darauf ansetzen, die Formel für sie – und nur für sie – zu entschlüsseln. Dass sich der körperliche Verfall jetzt so rasch bemerkbar machte, war kein gutes Zeichen. Zärtlich hob sie die Perle mit Daumen und Zeigefinger aus ihrem samtenen Polster und führte sie an die Lippen.
Unversehens entglitt das Kügelchen ihren Fingern, fiel mit leisem Pling auf die Fliesen und rollte unter einer der Toilettentüren hindurch. Helena riss die Kabine auf, doch statt der erwarteten Keramik empfing sie nachtschwarze Dunkelheit, als würde das Deckenlicht an der Tür abgeschnitten.
Einen Fluch ausstoßend setzte sie ihre im zierlichen Manolo-Blahnik-Stiletto steckende Fußspitze hinein und tippte probehalber auf den unsichtbaren Boden. Glatt und hart, nicht anders als die übrigen Fliesen. Sie reckte den Hals, spähte ins Nichts. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie weiter hinten einen hellen, schimmernden Punkt entdeckte. Im Bewusstsein, dass sie für jeden, der jetzt hereinkäme, einen befremdlichen Anblick böte, kniete sie vor der Kabine und tastete mit den Fingerspitzen über den Untergrund, vermochte die Perle jedoch nicht zu erreichen.
Kurzerhand zog sie einen Schuh aus, um mit dessen Hilfe nach dem Objekt der Begierde zu angeln. Als ihr wiederum kein Erfolg beschieden war, blieb sie an der Grenze zwischen Licht und Schatten hocken. Ein Blick auf ihre Hände zeigte, dass der Alterungsprozess unbarmherzig voranschritt. Verblichene Haut wie Pergament, gesprenkelt von braunen Flecken, daraus hervortretend bläuliche Venen. Ihr grauste bei dem Gedanken, wie ihr Gesicht aussehen mochte. Draußen näherten sich Schritte. Würde man sie erkennen? Die Gefahr der Entdeckung erschreckte Helena mehr, als die Finsternis vor ihr es tat. Auf allen Vieren kroch sie in die Kabine und empfand beinahe Dankbarkeit, als das Dunkel sie fremden Blicken entzog.
Als hätte eine unbekannte Macht sie hineingestellt, fand sie sich auf einer Straße wieder; jedenfalls deuteten der Asphalt unter ihren Absätzen und die lang gezogene Perspektive vor ihr darauf hin, dass es sich um eine solche handelte. Um sie herum wogte Nebel, bildete eine undurchdringliche graue Masse, die hinter ihr ineinanderfloss, als sie sich umdrehte. Es gab nur einen Weg, vorwärts. Einen anderen hätte sie auch gar nicht einschlagen wollen, denn da lag sie, die Perle, keine drei Meter von ihr entfernt. Als Helena auf sie zuging, rollte sie weiter. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch das verfluchte Ding passte sich ihrer Geschwindigkeit an. Helena blieb stehen und fixierte die Perle, die in höhnischer Reglosigkeit liegen blieb.
Während sie noch verschnaufte, schälte sich seitlich des Weges ein Bild heraus. Das Innere einer Kirche, bis auf den letzten Platz gefüllt mit Menschen. Menschen, die sie kannte. Niemand nahm Notiz von ihr; sie war nicht mehr als ein unsichtbarer Beobachter. Helena erblickte sich selbst, vor dem Traualtar, daneben ihren verstorbenen zweiten Mann, Heinz, der ihr den Ring an den Finger steckte. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Hinreißend sah sie aus in der Designerrobe, die ein kleines Vermögen gekostet hatte, aber jeden Pfennig wert war. Die Hochzeitsgesellschaft bestand aus Kollegen und einflussreichen Bewunderern sowie Freunden und Familienmitgliedern, erstere zahlreicher, letztere etwas weniger stark vertreten als auf Marthas Geburtstagsfeier.
Das Bild wechselte. Die Feierlichkeiten hatten sich ins Freie verlagert, in den Schlosspark, den Helena und Heinz, Erbe einer deutschen Waschmittelherstellerdynastie, für dieses Ereignis angemietet hatten. Ein Stück abseits der prächtigen Pavillons stand Caroline, die sich mit einer alten Frau unterhielt.
„Mein Gott, sie ist einundsiebzig. Einundsiebzig! Was ist bloß ihr Geheimnis? Schönheitsoperationen?“ Die Worte stammten von Frieda, Helenas Schulfreundin, die sich auf einen Stock stützte und kopfschüttelnd in Richtung der Braut unter dem weißen Baldachin blickte, bevor sie sich wieder der damals Sechsundzwanzigjährigen zuwandte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen möchte“, hörte Helena ihre Tochter seufzen. „Es ist unnatürlich und macht mir Angst. Sie macht mir Angst“, fügte sie leise hinzu.
Die Worte gaben Helena einen Stich. Jäh wurde ihr bewusst, wie einsam es um sie geworden war, ungeachtet ihrer weitläufigen familiären und gesellschaftlichen Beziehungen – und beileibe nicht nur deshalb, weil viele Freunde inzwischen senil oder tot waren. Das aufkeimende Unbehagen abschüttelnd, ging sie weiter, denn die Perle hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Weitere Szenen erschienen nebst des Weges. Die Geburt von Caroline, die Beerdigung von Alfred, Helenas erstem Mann, Premieren, Jahreswechsel, Geburtstagsfeiern. Immer war sie der Mittelpunkt des Geschehens, immer lächelnd, mal verhalten, mal strahlend. Immer schön. Kein Kummer, keine Sorgen vermochten ihr Antlitz zu trüben, nicht einmal Freudentränen, denn nichts berührte sie wirklich.
Der Pfad führte sie zurück durch die Jahre, gesäumt von Ereignissen ihres Lebens, unbedeutenden Episoden wie biografischen Meilensteinen. Die Perle rollte nur noch sehr langsam, Helenas Schritte wurden schwerer, schleppender. Längst hatte sie die Schuhe ausgezogen, auf denen sie das Gleichgewicht zu halten nicht mehr imstande war, geschweige denn, dass ihr abgesenktes Fußgewölbe der Belastung standgehalten hätte. Sie waren liegen geblieben auf ihrer ersten Hochzeit, wie ein Geschenk an die junge Braut, mit der Helena kaum mehr etwas gemein hatte. Nur mit Mühe vermochte sie ohne Stütze voranzuschreiten, doch noch immer führte die Straße sie weiter, tiefer hinein in die Vergangenheit.
Da, endlich, der Weg endete vor einem Gebäude. Blumendekoration, buntes Zuckerzeug und Torten in der Auslage wiesen es als Café aus. Helena war, als müsse sie es kennen, aber die Erinnerung ließ sich nicht einfangen. Zögernd betrat sie das Haus in dem Wissen, am Endpunkt ihrer seltsamen Reise angekommen zu sein: Die Perle rollte durch die offen stehende Tür ins Innere und Helena folgte ihr.
Keiner beachtete sie. Einrichtung und Kleidung der Gäste ließen auf die Sechziger Jahre schließen. An den Wänden hingen Fotos von Romy Schneider, Katharine Hepburn, Mario Adorf und anderen Filmgrößen. Manche von ihnen hatte sie während ihrer Zeit am Theater persönlich kennengelernt … Die Perle! Wo war sie? Ein stechender Schmerz schoss Helena in die Brust und sie rang um Atem. Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft zwang sie sich zur Ruhe. Nur nicht zusammenbrechen, jetzt, so kurz vor dem Ziel. Sie musste der Perle habhaft werden, um wieder sie selbst sein zu können. Helena verwünschte ihre schwindende Sehkraft. Hinten glänzte etwas; mattes Gold auf poliertem Holz. Voll Misstrauen in die eigene Muskulatur stakste sie zwischen den Tischen hindurch, den Blick auf den Boden gerichtet, zog sich, gestützt auf die Lehnen, von Stuhl zu Stuhl.
Das Fischgrätmuster der Dielen rief die Erinnerung wach. Ja, sie war schon früher an diesem Ort gewesen. Zuletzt um 1980 herum, als sie hier mit ihrem Finanzberater zu einem zwanglosen Treffen zusammenkam, in dessen Folge sie Aktien an einem indischen Unternehmen erwarb, das Schädlingsbekämpfungsmittel produzierte. Eine Fehlentscheidung, die sie fast schon vergessen hatte: Bedauerlicherweise entwichen aufgrund menschlichen Versagens und unglücklicher Umstände im Jahre 1984 etliche Tonnen hochgiftiger Chemikalien nach draußen und verseuchten die Landschaft. Kritiker und Umweltaktivisten machten die von den Investoren erzwungenen Sparmaßnahmen für die Katastrophe verantwortlich, die zu mangelhaften Sicherheitskontrollen und dem Einsatz minderwertiger Materialien geführt hätten – ein Vorwurf, der an Helena abgeperlt war, die sich aus technischen Details noch nie etwas gemacht hatte. Glücklicherweise wurde ihr Anteil an dem Konzern nicht publik und sie befasste sich nicht weiter mit der Angelegenheit. Nun aber drängte der traurige Sachverhalt in ihr Bewusstsein, dass das Unglück Tausende Tote gefordert hatte. Tote, die zu einem Teil auf ihr Konto gingen. Bhopal. Der Name bohrte sich in ihre Gehirnwindungen und in ihre Magengrube. Nach all den Jahren fühlte sie sich schuldig.
Als hätte die Erkenntnis ein Tor geöffnet, fielen ihr weitere Entscheidungen ein, die sie getroffen hatte, ohne einen Gedanken an mögliche Auswirkungen zu verschwenden …
„Hallo, Helena.“
Zitternd hob sie das Kinn, um zu sehen, wer sie so vertraulich anredete. Am Tisch in der Ecke saß eine junge Frau. Schwarze Haare, schwarzes Kostüm, schwarzer Hut mit Schleier. Die Frau, die sie verfolgt hatte, der sie gefolgt war. Neben ihr ein wuchtiger Koffer. Helena schluckte. Ein nahezu identisches Exemplar befand sich in ihrer Wohnung. Aus einem nostalgischen Gefühl heraus hatte sie ihn aufgehoben, damals, vor fünfzig Jahren, nachdem sie seinen kostbaren Inhalt in ihrem Safe verstaut hatte. Nachdem er ihr von einer gewissen Notarin überreicht worden war, die ihr auch die kurze Nachricht ihrer bis dato unbekannten Erbtante überbrachte, ebenfalls hier in diesem Café. Fünfzig Jahre, in denen sich ihr Gegenüber kein bisschen verändert hatte. Nur das Haar war damals rot gewesen.
„Sie haben unsere Verabredung offenbar vergessen.“ Helena zog die Schultern hoch und die Bewegung verursachte einen reißenden Schmerz in den seitlichen Halsmuskeln. „Da Sie mich nicht empfangen wollten, blieb mir nichts anderes übrig, als Sie herzubitten.“ Die Frau wies auf den freien Stuhl ihr gegenüber. „Setzen Sie sich.“ Mühsam und umständlich folgte Helena der Aufforderung. Die Schwarzhaarige beobachtete ihre Bewegungen, ohne Hilfe anzubieten.
Helenas Blick wanderte von der Frau über den Koffer und suchte den Boden ab. „Ich bin mir nicht sicher, von was für einer Verabredung Sie sprechen“, sagte sie zögerlich. „Ich habe etwas verloren, eine Perle.“ Die Notarin lächelte; ihre Augen hinter dem dünnen Netz blieben ausdruckslos. Sie öffnete die rechte Hand, die bis eben locker auf dem Tisch gelegen hatte, und präsentierte den gesuchten Gegenstand. Wie von selbst streckten Helenas Finger sich der Perle entgegen. Die Frau zog die Hand zurück. Mit dem Zeigefinger ihrer Linken rollte sie die Perle hin und her und betrachtete ihre matten Reflexionen. „Sie gehört mir. Bitte geben Sie sie mir.“ Helena hasste den flehentlichen Klang ihrer Stimme, doch was blieb ihr anderes übrig?
„Und dann? Wie lange wird diese eine Perle Ihre Bedürfnisse befriedigen?“ Die schwarz Gekleidete schüttelte den Kopf. „Vergessen Sie die übrigen in Ihrem Tresor. Sie sind wirkungslos ohne Vertragsverlängerung.“
„Vertragsverlängerung?“
„Sie waren zufrieden mit unserem Produkt?“, fragte die Frau. „Den Perlen. Um Ihre Jugend und Schönheit zu erhalten“, setzte sie hinzu, als Helena sie begriffsstutzig anstarrte. „Immerhin hatten Sie fünfzig Jahre, um ihren Effekt zu testen. Wenn Sie mögen, verlängern wir Ihren Vertrag, und im Gegenzug erhalten Sie Perlen für die nächsten fünf Jahrzehnte.“ Helena bezweifelte, dass der Bogen Papier, den ihr die junge Frau entgegenschob, eben schon auf dem Tisch gelegen hatte. Überlassungsvertrag