Zwischen Begabung und Verletzlichkeit - Antje Sabine Naegeli - E-Book

Zwischen Begabung und Verletzlichkeit E-Book

Antje Sabine Naegeli

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Beschreibung

Hochsensible Menschen fühlen sich in ihrer leibseelischen hohen Empfindsamkeit häufig unverstanden, leiden an Selbstzweifeln, Selbstwertproblemen und fühlen sich schneller gekränkt. Durch ihre intensive Wahrnehmung bewegen sie sich ständig zwischen einer Verletzlichkeit und einer besonderen Begabung. Antje Sabine Naegeli möchte hochsensiblen Menschen helfen, sich mit dem Anderssein zu versöhnen – Freunden und Angehörigen möchte sie den Blick für diese Menschen öffnen. Dieses Buch liefert psychologisch fundierte Hilfestellungen mit den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Befragung von Betroffenen.

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Antje Sabine Naegeli

Zwischen Begabung und Verletzlichkeit

Leben mit Hochsensibilität

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © 5 second Studio – shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, München

ISBN (E-Book) 978-3-451-80843-2

ISBN (Buch) 978-3-451-60009-8

Dem Andenken meiner geliebten Tanten

Lotti Wrage und Anna Maria Gardels

dankbar gewidmet

Inhalt

Impressum

Widmung

Vorwort

Hinweis für die Leserinnen und Leser

Die ersten Anzeichen

Angeboren oder erworben?

Die Feinheit der Sinne

Intensität der Wahrnehmung

Hochsensibel gleich introvertiert?

Wie der Körper reagiert

Stärken entdecken

Liebe zur Natur

Sorgsam und verlässlich

Empathie und Mitgefühl

Hochsensibilität und Beziehung

Begegnung und Nähe

Einsamkeit erfahren

Veränderung als Herausforderung

Von der Schwierigkeit zu verzeihen

Risikofaktoren

Ängsten begegnen

Reize und ihre Folgen

Das Weitergehen einüben

Die innere Einstellung ist entscheidend

Hochsensibilität und Arbeitswelt

Das heilsame Maß finden

Abschied vom inneren Antreiber

Heftige Gefühle regulieren lernen

Vom Umgang mit Kritik und Kränkung

Das schwierige Thema Wut und Aggression

Selbstwertgefühl und Selbstmitgefühl

Spiritualität als bergender Raum

Sehen was ist

Lebenskunst für Hochsensible?

Worte, die wohl tun

Innere Bilder, die wohl tun

Selbstermutigung

Was ich mir noch sagen wollte

Brief an eine hochsensible Frau

Literatur

Danksagung

Informationen zur Autorin

Vorwort

Vom Fenster meines Arbeitszimmers aus blicke ich über eine Wiese auf einen angrenzenden Waldrand. Wenn ein leichter Wind aufkommt, erkenne ich das zuerst an einem der Laubbäume. Viel schneller als seine »Artgenossen« zeigt er die Bewegung der Luft an. Blätter und Zweige wiegen sich bereits, während alle anderen Bäume noch stillhalten und eines wachsenden Luftzugs bedürfen, um überhaupt zu reagieren.

Meine Beobachtung lässt mich immer wieder an hochsensible Menschen denken, die mit ihren feinen Antennen so viel mehr und so viel empfindsamer aufnehmen als andere. Viele Gesichter erscheinen vor meinem inneren Auge.

Es ist erst einige Jahre her, dass ich auf den Begriff »Hochsensibilität« stieß und mit ihm eine Benennung fand für ein Phänomen, das mir längst vertraut war, dem aber in der landläufigen Psychotherapieausbildung und in der Praxis kaum Beachtung geschenkt wurde. Das Erscheinungsbild der hohen Empfindsamkeit war und ist jedoch keineswegs neu. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Ernst Kretschmer in seiner Darstellung menschlicher Charaktertypen die erhöhte Sensibilität beschrieben. Erst in unserer Zeit aber wird diesem Thema allmählich mehr Aufmerksamkeit und fachliches Interesse entgegengebracht. Endlich, so meine ich, denn zum einen haben es fein strukturierte Menschen verdient, dass sie angemessen wahrgenommen und unterstützt werden, und zum anderen ist die Zahl Betroffener spürbar im Zunehmen begriffen.

Ich mache die Erfahrung, dass dünnhäutige Menschen sich in ihrer leibseelischen hohen Empfindsamkeit häufig unverstanden fühlen von ihrer Umgebung und dass sie sich nicht selten schwer damit tun, sich selbst in ihrer Eigenart zu verstehen und liebevoll anzunehmen. »Anders als die anderen«, so erleben sie sich, was nicht selten Selbstzweifel, Selbstwertprobleme und eine erhöhte Kränkbarkeit zur Folge haben kann sowie Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle.

Wie mit sich selber umgehen? Darin besteht nicht selten eine große Rat- und Hilflosigkeit.

Da das Thema Hochsensibilität in der Gesellschaft erst zögerlich am Ankommen ist, fehlt es weitgehend an Verständnis für betroffene Menschen. Sie werden allein gelassen mit ihrem Sosein, sind Zuschreibungen ausgesetzt, die sie erst recht in die innere Isolation treiben, mangeln der Wertschätzung, die ihnen zukäme und sind immer wieder missverstanden. Das vorliegende Buch möchte helfen, dass die Vertrautheit hochsensibler Menschen mit ihrem Sosein zunehmen darf, dass Selbstkompetenz und Selbstakzeptanz wachsen.

Nichtbetroffenen möchten meine Ausführungen den Blick für diese Menschen mit ihrer filigranen inneren Struktur und ihrem überaus reaktiven Körper öffnen und sie erkennen lassen, wie viele Begabungen und wertvolle Eigenschaften mit der Hochsensibilität einhergehen. Dabei ist es mir wichtig festzuhalten, dass es um Annäherungen geht und nicht um Festschreibungen. Jede Betroffene hat ihre ganz individuelle Persönlichkeit.

Meinen Ausführungen liegen langjährige Erfahrungen und Beobachtungen zugrunde. Darüber hinaus habe ich sechzehn ausführliche Fragebogen mit je gut fünfzig Fragen an Betroffene verteilt, die ich für dieses Buch bearbeitet und ausgewertet habe. Um wissenschaftliche Aussagen zu machen, wäre freilich eine weitaus umfassendere Studie notwendig. Dennoch, so meine ich, gibt das Erfahrungsmaterial wichtige und hilfreiche Aufschlüsse zu unserem Thema.

Ich wünsche mir sehr, dass Menschen dieser so besonders ausgeprägten Empfindsamkeit einen vertieften Zugang zu sich finden und dieses Buch ihnen dabei Unterstützung und Hilfe sein kann. Und ich wünsche mir auch, dass anders strukturierte Menschen in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit wachsen und das Potential Betroffener erkennen und wertschätzen lernen.

Antje Sabine Naegeli

Hinweis für die Leserinnen und Leser

Ich verwende bei den folgenden Ausführungen abwechselnd die weibliche und die männliche Person. Die erwähnten Fragebogen sind vor allem von Frauen beantwortet worden. Ihnen fällt es deutlich leichter, über ihre Wesensart zu reflektieren und sich mitzuteilen als Männern. Ich führe dies in weiten Teilen auf unsere gesellschaftlichen Strukturen zurück, die es Männern nicht leicht machen, zu ihrer Empfindsamkeit zu stehen.

Die Begriffe »sensibel« und »hochsensibel« werden in diesem Buch überwiegend synonym verwendet.

Die ersten Anzeichen

Wenn hochsensible Menschen auf ihre Kindheit zurückschauen, erinnern sich die meisten von ihnen daran, dass es damals schon erste Anzeichen gab, die auf eine ausgeprägte Empfindsamkeit und Gefühlstiefe hinweisen.

»Ich war ein sehr scheues, ängstliches Kind«, erzählt Cornelia. »Dadurch dass ich mich ruhig verhielt, fühlte ich mich eher als Randfigur. Oft war ich krank und musste das Bett hüten.« Als ruhiges, eher verschlossenes und pflegeleichtes Kind erkennt sich auch Heike. Wie sie berichten auch andere davon, dass sie von ihren Bezugspersonen wenig wahrgenommen wurden wegen ihres stillen, unauffälligen Verhaltens. Sie erkennen sich aber als äußerst wahrnehmungsfähig. Vieles von dem, was um sie herum geschah, beschäftigte die Kinder mehr als es die Erwachsenen je hätten ahnen und vermuten können. »Ich fühlte immer, wie es den Eltern ging«, erzählt Nicole. »Sie aber wollten sich oft verbergen und fühlten sich unangenehm durchschaut. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten, empfanden mein Gespür als mühselig und versuchten mir meine Wahrnehmung auszureden, was mich sehr irritierte und traurig machte.«

»Ich habe viel Rückzug gebraucht und mich oft ins Kinderzimmer verzogen«, erinnern sich viele. Weil die Antennen so überdurchschnittlich fein sind, hilft der Rückzug vor Überreizung oder trägt dazu bei, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, wenn zu viele Eindrücke auf das Kind eingestürmt sind. Heute noch erinnert sich Anna daran, dass sie, obwohl ein waches und frohes Kind, in der Grundschulzeit regelmäßig geweint habe und nur schwer zu beruhigen gewesen sei, wenn sie überreizt und übermüdet war. Das sei häufig vorgekommen.

Ausnahmslos alle Befragten besaßen schon als Kind ein ausgeprägtes Gespür für herrschende Stimmungen in der Familie oder im sonstigen Umfeld. Spannungen waren schon in dieser Zeit nur schwer auszuhalten, lösten innere Unruhe und Ängste aus. Ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis ist bereits früh erkennbar. Dies hat zusammen mit der Fähigkeit, sich auf Gefühle anderer nachhaltig einzuschwingen, zur Folge, dass sich bei den betroffenen Kindern ein hohes, dem Alter keineswegs angemessenes Verantwortungsgefühl ausbildet. Sie bemühen sich sehr, hilfreich zu sein und zu einer harmonischen Stimmung beizutragen. Annemarie weiß noch gut, wie sie bereits als Kind in der Grundschule die benachteiligten und weniger beliebten Kinder intensiv wahrnahm und versuchte, ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben, indem sie sich ihnen zuwandte.

Anna erinnert sich lebhaft daran, dass sie als Sechsjährige auf dem Schulweg mit einem gleichaltrigen Mädchen in Streit geraten sei und ihr dabei einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben habe. Dabei sei die rötliche Kopfhaut unter dem feinen blonden Haar sichtbar geworden und sie habe die andere als sehr schutzlos empfunden, obwohl nicht einmal Tränen flossen. Sie sei äußerst bestürzt gewesen über ihr Tun. Noch am gleichen Tag sei sie zu dem Mädchen nach Hause gegangen und habe ihr mehrere Spielsachen von sich geschenkt, um sie zu trösten. Nie mehr habe sie später ein anderes Kind körperlich angegriffen. Der Schrecken sei einfach zu groß gewesen.

Wir erkennen, wie nachhaltig hier ein Erleben seine Spuren hinterlässt, das normalerweise bei einem Kind rasch wieder der Vergessenheit anheimfällt. Große Empfindsamkeit führt dazu, dass sich gefühlte Erfahrung bleibend einprägt.

Die meisten hochsensiblen Kinder spielen durchaus gerne mit Gleichaltrigen, aber auch hier gilt, dass weniger das Laute, Wilde, Überbordende gesucht wird, sondern das Ruhigere. Bei den Betroffenen zeigt sich schon früh eine besondere innere Tiefe, ein ausgeprägter emotionaler Reichtum. So erzählt Christiane, wie sehr sie es im Alter von etwa sechs, sieben Jahren liebte, sich kleine Theaterstücke auszudenken, die sie dann mit von ihr eigens zu diesem Zweck entworfenen einfachen Kartonfiguren aufführte. Ein großer Phantasiereichtum, der in den Geschichten und ihrer Gestaltung zum Ausdruck kam, wird ihr rückblickend bewusst.

Oliver kann sich erinnern, dass er, ein fröhlicher kleiner Junge im Kindergartenalter, eines Abends auf dem Bett gesessen sei und geweint habe. Als die Mutter hereingekommen sei und nach dem Grund seiner Tränen gefragt habe, habe er bekümmert erzählt, dass er gerade daran habe denken müssen, wie traurig der »liebe Gott« doch sein müsse, weil so viele Menschen nicht an ihn dächten. Niemand von den Erwachsenen habe ihm Anlass gegeben zu derlei Gedanken. Sie seien plötzlich einfach da gewesen. Auch hier erkennen wir, wie früh sich die Fähigkeit des Mitgefühls, die Hochsensiblen innewohnt, ausbilden kann. Auch in einer anderen Episode, die Oliver berichtet, zeigt sich eine große Gefühlstiefe: Als die Mutter diesmal ins Kinderzimmer gekommen sei, habe er gestrahlt. »Weißt du,« habe er geschmunzelt, »ich habe gerade dem ›lieben Gott‹ erzählt, dass ich eine Tüte Chips gegessen habe und dass sie mir so wunderbar geschmeckt haben. Da hat er bestimmt gelacht vor Freude.«

Anna kann sich erinnern, dass sie sich als Sechs- oder Siebenjährige allein im Wohnzimmer der Großmutter aufhielt, an der sie sehr hing. Plötzlich sei ihr der Gedanke gekommen, dass diese eines Tages sterben werde, obwohl sie sich zu jener Zeit guter Gesundheit erfreute. Sie sei in Tränen ausgebrochen und habe die Situation, vor der sie sich sehr fürchtete, in der Phantasie so lebhaft vorweggenommen, dass sie lange brauchte, um sich wieder zu beruhigen.

Selbst nach Jahrzehnten kann sich Larissa daran erinnern, dass sie im ersten Lesealter das Buch »Bambi« von Felix Salten las und tagelang verstört war, dass das junge Reh in dieser Geschichte seine Mutter verlor. Sie sei so erschüttert gewesen, dass sie immer wieder in Tränen ausgebrochen sei, aber niemand von ihrem inneren Erleben erzählt habe.

Auch an eine andere Begebenheit, die deutlich aufzeigt, wie sehr ihre Einfühlungskraft damals schon ausgeprägt war, erinnert sie sich sehr genau. Sie war fünf oder sechs Jahre alt und hüpfte, wie Kinder es zu tun pflegen, einen Gehsteig entlang. Als sie auf einen beinamputierten Mann traf, der sich mit seinen Krücken nur mühsam vorwärts bewegte, hielt sie augenblicklich in ihrer Bewegung inne und ging mit ruhigen, langsamen Schritten an ihm vorbei. Sie wollte nicht, dass er traurig würde, weil er ja nicht mehr hüpfen oder rennen konnte. Kein Erwachsener hatte das Kind je angehalten, auf eine solche Weise Rücksicht zu nehmen.

Nicht immer lassen sich in der Rückschau sichere Hinweise auf eine Hochsensibilität erkennen. Es stellt sich die Frage, ob sich Sensibilität und Hochsensibilität klar voneinander abgrenzen lassen. Meines Erachtens sind die Grenzen fließend, aber wir können in einem ersten Schritt davon ausgehen, dass je niedriger die psychophysische, die leibseelische Reizschwelle sich zeigt, dies umso mehr auf das Vorhandensein von Hochsensibilität hindeutet. Hochsensibilität bedeutet, dass eine besondere Reizempfindlichkeit vorliegt, sich Sinneseindrücke in einer großen Tiefe und Nachhaltigkeit einprägen. Die weiteren Ausführungen werden zeigen, welche Auswirkungen dies auf das Leben der Betroffenen hat. Eines nehme ich schon vorweg: Es geht nicht um etwas Defizitäres. Hochsensibilität ist keine Krankheit.

Angeboren oder erworben?

Diese Frage beschäftigt wohl alle, die eine stark ausgeprägte Empfindsamkeit besitzen. Elaine Aron und einige andere gehen davon aus, dass es sich bei der Hochsensibilität mit großer Sicherheit um eine genetisch bedingte Wesenseigenschaft handelt, also um Veranlagung. Da es aber keine hinreichenden wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, gilt es, mit dieser Aussage zurückhaltend zu sein. Wir können uns zum jetzigen Zeitpunkt nur auf Beobachtungen stützen.

In der Tat gibt es Kinder, die schon als Säuglinge durch ihre besondere Zartheit auffallen, die etwa deutlich früher und intensiver auf Geräusche, grelles Licht, körperliche Missempfindungen reagieren als andere. Bei ihnen liegt der Gedanke nahe, dass es sich um eine genetisch bedingte Hochsensibilität handeln könnte. Diskutiert wird etwa, dass der Hirnbereich, der für die Verarbeitung von Reizen zuständig ist, in seiner dämpfenden Funktion unterentwickelt sein könnte. Wir müssen aber auch berücksichtigen, welchen Einflüssen Säuglinge womöglich während der Schwangerschaft ausgesetzt waren, denn wir wissen heute, dass sich das Ergehen der Mutter pränatal – also vorgeburtlich – auf das werdende Kind auswirkt, sodass es diese Erfahrungen bereits bei der Geburt mitbringt.

Andererseits sehen wir Erwachsene, die hervorstechen durch eine sehr zarte Konstitution. Der Körperbau ist äußerst feingliedrig, die Haare sind ebenfalls extrem fein, die Stimme ist eher zart als kraftvoll. Es mangelt in jeder Beziehung an Belastbarkeit. Der ganze Mensch wirkt fragil. Was liegt näher, als dass wir in einem solchen Fall eine genetisch bedingte Hochsensibilität vermuten? Dennoch können wir im Normalfall keineswegs von der körperlichen Konstitution auf das Vorliegen oder Fehlen einer Hochsensibilität schließen. Es gibt viele Menschen, denen die stark erhöhte Empfindsamkeit nicht äußerlich angesehen werden kann.

Wenn ich mir die zahlreichen mir bekannten Menschen, die ich zu den Hochsensiblen rechne, vor meinem inneren Auge vorüberziehen lasse, ihre Lebensgeschichten bedenke, legt sich mir die Vermutung nahe, dass der deutlich größere Teil von ihnen die Hochsensibilität erworben hat, obwohl eine feine Grundkonstitution eine Rolle spielen mag.

Ich habe gerade unter sehr empfindsamen Menschen viele Frauen und Männer kennen gelernt, deren Säuglings- und Kinderzeit von einer mangelnden Bindungserfahrung geprägt war. Es ist nachgewiesen, dass elterliche Ängste oder starke emotionale Schwankungen bereits auf das Kind im Mutterleib, aber auch nachgeburtlich und in den prägenden Folgejahren eine nachhaltige Wirkung ausüben. Wenn eine (werdende) Mutter zu viel Stress hat, so gibt sie die Stressanfälligkeit an ihr Kind weiter. Das Stressverarbeitungssystem gestaltet sich also nicht primär aus den ursprünglichen Genen, sondern die Gene verändern sich im Hirn des Kindes durch die Gemütslage der Mutter. Die Interaktionen mit der wichtigsten Bezugsperson prägen das Wesen des Menschen. Mit anderen Worten: Das Entscheidende ist nicht, welche Gene wir haben, sondern welche von ihnen durch Bezugsperson und atmosphärisches Umfeld aktiviert werden. Das lehrt uns die moderne Neurowissenschaft.

Eine total überforderte, vielleicht durch traumatische Erfahrungen verunsicherte Mutter, ein abwesender Vater, eine belastete Elternehe, eine mangelnde Verlässlichkeit in der Zuwendung, aktivieren im Kind alle Alarmglocken. Es schärft seine Antennen mehr und mehr, um die herrschende Stimmung herauszuspüren, um zu eruieren, ob etwas Bedrohliches im Raum steht. Eine andauernde Überwachheit entsteht. Nie weiß das Kind, worauf es sich einstellen muss. Unsicherheit statt emotionaler Sicherheit ist das vorherrschende Element. Und mangelnde Bindungserfahrung bedeutet höhere Stressanfälligkeit. Es braucht immer weniger Auslöser, dass das innere Alarmsystem aktiviert wird. Die überfein gewordenen Antennen nehmen Beunruhigendes mit großer Reaktivität auf. Das Kind reagiert auf sich wiederholende Verunsicherungen mit einer erhöhten Aktivierung der Stressgene. Das Auf-der-Hut-Sein wird zum Dauerzustand. Bereits geringfügige Schwingungen werden aufgenommen. Das Kind ist den Gefühlszuständen seiner Bezugspersonen ausgeliefert. Hier erkennen wir wesentliche Wurzeln der Hochsensibilität. Der Arzt und Neurobiologe Joachim Bauer formuliert es so: »Frühe Erfahrungen von mangelnder Fürsorge hinterlassen eine Art biologischen Fingerabdruck, indem sie das Muster verändern, nach dem die Gene später auf Umweltreize reagieren.«

Menschen die unsicherer Bindungserfahrung ausgesetzt waren, entwickeln eine fehlende Dämpfung eines bestimmten Stressgens durch ein wichtiges Antistressgen. Diese Erfahrung teilen wir übrigens mit den Tieren. Tiere, die einen Zuwendungsmangel erlitten haben, reagieren auf die gleiche Weise wie wir Menschen. Damit wäre das Argument Elaine Arons widerlegt, dass das unbestreitbare Vorkommen von Hochsensibilität im Tierreich ein Beweis dafür sei, dass wir von einer genetischen Gegebenheit ausgehen müssen.

Nein, es sind früh erfahrene seelische Belastungen und Entbehrungen, die eine dauerhaft anhaltende höhere seelische Verletzbarkeit zur Folge haben, sodass im Vergleich mit denen, die in ein Vertrauen förderndes Umfeld hineingeboren wurden, unsicher Gebundene auch späteren Belastungen und Herausforderungen weniger gut gewachsen sind.

Dass ein Mangel an Zuwendung in der Kindheit bis ins Körperliche hinein und bis in spätere Jahre Folgen haben kann, ist schwer zu akzeptieren. Da mag es leichter sein, von einer angeborenen Wesensart auszugehen. Und doch müssen wir uns solchen gut erforschten Erkenntnissen stellen. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass auch unsicher gebundene Menschen eine sichere Bindung lernen können. Die Dünnhäutigkeit jedoch bleibt.

Hochsensibilität können wir akzeptieren lernen und einen förderlichen Umgang mit ihr einüben. Um es vorwegzunehmen: Es gibt gutes und erfülltes Leben auch mit dieser Wesensart.

Ergänzend ist festzuhalten, dass sich besonders auch auf dem Hintergrund traumatischer Erlebnisse (Gewalt, Misshandlung, Missbrauch) eine Hochsensibilität ausbilden kann, wobei auch Bindungsunsicherheit bereits traumatische Qualität haben kann. Wir wissen als Therapeuten und Therapeutinnen auch, dass zum Erscheinungsbild der ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, eine stark ausgeprägte Empfindsamkeit gehört. Diese kann jedoch nicht mit Hochsensibilität gleichgesetzt werden. Hochsensible weisen die typischen Merkmale, die zur ADHS gehören (Hyperaktivität, Impulsivität), nicht auf. ADHS-Betroffenen fehlt im Vergleich zu ihnen die Tiefe emotionalen Erlebens und die Nachhaltigkeit in der Verarbeitung von Eindrücken. Auch von autistisch gestörten Menschen wissen wir, dass sie sehr stark auf Sinnesreize reagieren und dadurch überfordert werden können. Im Gegensatz zu Hochsensiblen besteht aber eine deutliche Empathiestörung. Sie sind kaum in der Lage, emotionale Resonanz zu geben.

Eine hohe Empfindlichkeit und Reizbarkeit beobachten wir bei narzisstisch gestörten Menschen. Sie sind leicht und nachhaltig kränkbar. Aber diese ihnen eignende Seite hat wiederum nichts mit Hochsensibilität zu tun, denn das Einfühlungsvermögen, wenn es um das innere Ergehen, um Verletzungen oder Kränkungen anderer Menschen geht, ist nicht vorhanden. Es geht um ausschließliche, übertriebene Selbstbezogenheit, während der hochsensible Mensch ein Mitfühlender ist und teilnimmt an dem, was andere Menschen betrifft. Er ist im Gegensatz zum Narzissten durchaus der Selbstkritik fähig.

Die Feinheit der Sinne

Was gehört zu den Eigenheiten signifikant erhöhter Empfindsamkeit?

So wenig es »den« hochsensiblen Menschen gibt, so bestehen doch Merkmale des Empfindens, die Betroffene teilen. Sinnesreize werden überaus intensiv wahrgenommen. So erzählt Anna, dass sie in einer Buchhandlung oder einem Kleiderladen ständig auf der Flucht sei vor den zahlreichen Spotlampen, weil das grelle Hitze ausstrahlende Licht unerträglich für sie sei, sodass sie sich nur sehr begrenzte Zeit in solchen Läden aufhalten könne. Alle Befragten erkennen bei sich eine ausgeprägte Lärmempfindlichkeit. »Wie viele Arten teuflischen Lärms es gibt«, schreibt die Schriftstellerin Luise Rinser, von der noch mehrfach die Rede sein wird, in ihrem Tagebuch. Worte, die einem Aufstöhnen gleichen.

Hochsensible erleben zum Beispiel den Wecker am Morgen als Folterinstrument. Häufig wird er unter einem Berg Kleider versteckt, um gedämpfter zu läuten, aber auch um sein ständiges Ticken nicht hören zu müssen. Die Hintergrundmusik in Einkaufzentrum oder Restaurant ist für sensible Menschen eine entnervende Störquelle. Aber auch leisere Geräusche wie das Surren des Kühlschranks oder des Ventilators im Bad werden als belastend empfunden. Die Konzentration auf einen Kinofilm geht verloren, wenn in der Nähe jemand mit Zellophan raschelt oder Kinobesucher geräuschvoll ihr Popcorn essen. Wenn es irgend möglich ist, werden Situationen, die zu einer Überreizung führen können, gemieden. Stark befahrene Straßen, Flugverkehr, viele Menschen, laute Restaurants, Partys, Discos, öffentliche Verkehrsmittel mit hohem Lärmpegel, Massentourismus, Feuerwerk, Bau- und Bohrmaschinenlärm bedeuten eine Tortur und lösen regelmäßig Fluchtimpulse aus, weil sie die Grenzen des Erträglichen überschreiten.

Hochsensible Menschen erleben sich als äußerst schreckhaft. Das unerwartet ertönende Martinshorn eines Rettungs- oder Streifenwagens, das unerwartete Läuten des Telefons oder der Hausglocke lassen zusammenzucken. Wie das Gehör eines Hundes um ein Vielfaches höher ist als dasjenige von uns Menschen, so ist auch die Aufnahmefähigkeit des sensibel empfindenden Menschen deutlich gesteigert, wobei die Belastungsschwelle beim jüngeren Menschen höher liegt als bei Älteren. Dünnhäutigkeit nimmt im Alter eher zu.

Neben der auditiven Empfindsamkeit sind auch die anderen Sinne von besonderer Feinheit und Durchlässigkeit. Intensive aufdringliche Gerüche etwa können als sehr belastend erfahren werden. Carmen, ein elfjähriges hochsensibles Mädchen, erträgt den Kaffeegeruch am Frühstückstisch der Familie schlecht. Er belastet sie, sodass sie mit Übelkeit reagiert und am liebsten für sich allein sitzen möchte, um ungestört ihr Brötchen zu essen. Mehrere Befragte wissen zu erzählen, dass der Duft eines schweren Parfüms ihnen regelmäßig zu schaffen macht, ebenso kalter Zigarettenrauch, der Benzingeruch an der Tankstelle, frisch gestrichene Räume, Schweissausdünstungen, der Geruch einer überreifen Banane im Abfallkübel neben dran oder die Alkoholfahne eines anderen Menschen. Diese alle bewirken Ekel und Übelkeit.

Auch im taktilen Bereich besteht die Gefahr einer Überreizung. Der kratzende Wollpullover oder ein eher rauer Stoff werden ebenso wenig auf der Haut vertragen wie ein scheuerndes Kleidungsetikett, ein Stück Tüll in der Spitzenapplikation der Unterwäsche oder drückende Nähte in Kleidung und Schuhen. So kann der Schuhkauf mühsam werden, weil es in fast allen Modellen auf irgendeine Weise drückt und schmerzt. Lotti hat aus diesem Grund eine Unmenge von Schuhen in ihrem Regal und es ist trotz sorgfältiger Auswahl kaum ein Paar darunter, der problemlos bequem wäre.

Je nach Überreizungszustand kann es auch im Bereich der Berührungen schwierig werden, weil es Zeiten gibt, wo sie schlecht ertragen werden und äußerst unangenehm sind, sogar wenn sie von geliebten Menschen kommen. Eine Bahn- oder Busfahrt, eine Reise im Flugzeug kann dadurch zu einer wahren Tortur werden, dass ein Mitreisender sich auf engem Raum neben uns quetscht, sodass es notgedrungen zu unerwünschtem Körperkontakt kommt und auch andere sinnliche Wahrnehmungen uns gleichsam aufgedrängt werden. In solch einer Situation wird unser berechtigtes Distanzbedürfnis grob ignoriert.