Zwischen Hölle und Morgenrot - James Miller - E-Book

Zwischen Hölle und Morgenrot E-Book

James Miller

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Beschreibung

Piet Höller meldet sich in einem kriegslüsternen Deutschland freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht. Beim Eintritt in die Armee hatte er ein genaues Ziel. Sein Dienst sollte weit hinter der Front stattfinden, fern des höllischen Blutvergießens der Schlachtfelder. Der Plan geht lange Zeit auf. Er leistet seinen Dienst im besetzten Frankreich. Bis ein verhängnisvoller Brief alles aus dem Ruder laufen lässt. Seine Reise wird ihn bis nach Afrika und weit über seine persönlichen Grenzen hinausführen.

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Seitenzahl: 380

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Zwischen Hölle und Morgenrot

Zwischen Hölle und MorgenrotI. Isles les VillenoyII. ParisIII. Mazara del ValloIV. LuciaV. Tunesiens KüsteVI. FlugfeldVII. Klein LeedsVIII. ManchesterIX. die Wüste TunesiensX. LondonImpressum

Zwischen Hölle und Morgenrot

Die handelnden Personen sowie ein Großteil der hier abgebildeten Operationen sind frei erfunden und zum Teil in den Kontext des realen Kriegsverlaufes gesetzt. Mit der historischen Genauigkeit wurde zum Wohle der Handlung sehr freizügig umgegangen.

Am 01. September 1939 begann der zweite Weltkrieg durch einen Angriff Deutschlands auf Polen, der sich zu einem Krieg in nahezu allen Staaten Europas, vielen Ländern Asiens und Afrikas ausbereitete. Infolgedessen standen sich 110 Millionen Soldaten in 60 beteiligten Staaten gegenüber. Der Krieg kostete über 60 Millionen Menschen das Leben und sollte der gesamten Menschheit ein mahnendes Beispiel dafür sein, wie schnell sich wirre Ideologien, wirtschaftliche Fehlentwicklung, falsche strategische und politische Entscheidungen, Sturheit und Realitätsverlust zu einem Blutbad entwickeln. Diese fiktive Geschichte beschreibt den Kriegsverlauf eines von Propaganda getriebenen Menschen. Einem von vielen Freiwilligen auf der Seite Nazideutschlands. Dies ist die Geschichte von Piet Höller.

I. Isles les Villenoy

Sein Herz raste und der Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass ihm jemand einen Dolch in die Rippen gerammt hatte. Die pure Verzweiflung zeichnete sich in seinen, noch jungen, Gesichtszügen ab. Da stand er nun, im November 1940, mitten in Frankreich. Einundzwanzig Jahre hatte er auf dem Buckel und eigentlich war er davon überzeugt, dass für ihn dieser Krieg in Frankreich endete. Und das ohne jemals in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt zu haben. Die Zeitungen und Radiomeldungen waren voll mit Nachrichten und zum Ausdruck gebrachter Freude über siegreiche Verbände und schnelles vorrücken in allen Regionen und an allen Frontabschnitten. Es wurde nur über flüchtende Gegner und der Überlegenheit deutscher Waffentechnik berichtet. Auch die Luftangriffe der Engländer auf Industrieanlagen verschafften diesen wohl keine Entlastung und so blieben den Briten am Ende nur erhebliche Verluste. Der hastige Rückzug und die anschließende Kapitulation der französischen Streitkräfte vermittelte Piet den Eindruck, dass niemand das deutsche Heer aufhalten konnte. So bekam er in seinen ersten Einsatztagen sehr gut mit, wie schwierig es war, wenn die Frontlinie schneller vorrückte als der Nachschub hinterherkam. Er gehörte zum Nachschub und die ersten Wochen des Frankreicheinsatzes bestanden hauptsächlich darin, der Front hinterher zu laufen und den Anschluss nicht zu verlieren. Es deutete also für jeden alles darauf hin, bis Ende des Jahres wieder daheim zu sein. Weihnachten bei der Familie. Das wäre ein Traum. Ein sehr optimistischer Traum. Die Frage nach dem Verursacher des Krieges stellte sich für ihn gar nicht. Sie wurden in Polen angegriffen, oder sollten angegriffen werden. So genau nahm er es damit nicht. Die Zeitungen und Radiosendungen jedenfalls berichteten davon, dass dies alles nur der Verteidigung der Heimat diente. Was in der Zeitung stand musste ja wohl der Wahrheit entsprechen. Ihm war relativ schnell klar, dass es Dinge gab, die nicht seiner Besoldungsstufe entsprachen und die hinterfragte er nicht. Nach der Kapitulation der französischen Armee war es für ihn sehr bequem geworden in Frankreich. Seine Einheit war knappe fünfzig Kilometer vor Paris stationiert. Die gelegentlichen Ausgänge in diese Metropole gefielen ihm, auch wenn diese jedes Mal etwas Organisationstalent erforderten. Bis nach Paris zu kommen und vor allem wieder pünktlich zurück war nicht immer ganz so einfach. Seit dem deutschen Einmarsch in Frankreich hatte die französische Eisenbahn noch mehr ihrer Zuverlässigkeit verloren. Von der deutschen Pünktlichkeit war ebenfalls wenig zu spüren. Diese funktionierte nur bei der Feldpost. Ein Witz den man sich während der Grundausbildung gerne erzählte, sich aber mittlerweile als Realität herausgestellt hatte. Absurderweise kam ein Großteil der Post mit dem Zug. Das persönliche Ziel von Piet war es nach seinem Frankreichaufenthalt unbeschadet wieder zurück in sein Dorf nach Schleswig-Holstein zu kommen. Im Idealfall sogar ohne selber Leben nehmen zu müssen. Selbstverständlich auch ohne sein eigenes Blut zu vergießen. Die Abneigung der, vor allem männlichen, Franzosen war oft spürbar. Aber vielen Mädchen hier gefiel die Uniform und das wiederum gefiel ihm. Da ließ es sich ertragen, dass ihm ab und zu alte Männer vor die Füße spuckten oder Beleidigungen auf Französisch vor sich hin flüsterten. Ein Mädchen wartete zu Hause nicht auf ihn und so machte er, wenn er Ausgang hatte das Beste aus seiner Freiheit. Auch wenn das Fraternisieren mit den Frauen des Feindes verboten war. Die einzige Gefahr die er aktuell sah, war, dass man ihn mit einer Französin erwischte. Dieses Risiko ging er aber gerne ein. In seiner Einheit nahm man das, wie so viele andere Dinge auch, nicht so ernst. Die Offiziere seiner Einheit nahmen Vorschriften nicht ganz so genau und waren eher darauf bedacht selbst ein ruhiges Leben zu haben. Wenn er etwas mutiger wäre, würden die Abende für ihn wahrscheinlich ganz anders aussehen.  Er mochte ein Mädchen aus seinem Ort, ärgerte sich seit Jahren darüber, dass er nie den Mut gefunden hatte dieses anzusprechen und so heiratete sein Schulschwarm am Ende Piets direkte Nachbarin. In diesem Falle war das Schicksal nicht sehr gut zu ihm. Musste er den beiden doch sehr oft beim turteln zusehen. Jetzt konnte er natürlich die Abende genießen und musste keine Rücksicht nehmen. Auch die Hackfresse, die ihm seine Else ausgespannt hatte, musste er aktuell nicht sehen. Ein Grund mehr die Abende hier zu genießen. Er durfte sich nur nicht von spießigen Offizieren, die es hier trotz aller Freiheiten dann eben doch vereinzelt gab, erwischen lassen. Frankreich hatte ihn zum Mann gemacht. Seine ersten Erfahrungen sammelte er in einem Bordell in Paris. Wie viele andere Soldaten auch. Hier stimmte der alte Spruch: „Erst der Krieg macht dich zum Mann“ wieder. In der Grundausbildung hatte er diesen oft gehört, nun wusste er auch was damit gemeint war. Aber nun das... Es sollte für ihn und seine Einheit nach Griechenland gehen. Neuer Einsatzort, neuer Oberbefehlshaber, neue Aufgaben. Wahrscheinlich war es dann mit der Lockerheit vorbei. Ok, in Griechenland war das Wetter besser, aber was zum Henker sollte man da? Ein paar Brocken französisch konnte er sprechen, griechisch nicht. Er hatte schon von Athen gehört, von der Akropolis. Er wusste so gut wie gar nichts über Griechenland und die Griechen. Oft hielten die alten Griechen als Sinnbild für Strategie und Kampfesmut her. Aber wie viele gab es davon noch? Stimmten diese Geschichten überhaupt? Egal. Dieser Brief passte überhaupt nicht in seine Planung. Ob sie dort genauso aufgenommen werden würden wie in Paris? Wollte man sie in Griechenland überhaupt haben? Waren es Verbündete oder waren sie Besatzer dort? Oder war Griechenland ein Schlachtfeld über das er nur noch nichts gelesen und gehört hatte? Auch Gerüchte über einen bevorstehenden Einmarsch in Afrika hielten sich schon lange in der Truppe. Ebenfalls über Rommel, dem seine Truppe angeschlossen werden sollte. Rommel war ein Soldat alter Schule und duldete keine schleifende Disziplin. In Piets jetziger Einheit war das Soldatenleben eher locker und kleinere Verfehlungen wurden gewissenhaft übersehen. Von der oft propagierten deutschen Disziplin war nur sehr selten etwas zu spüren. Die Italiener schlugen sich bereits seit einem Jahr mit den Engländern in der Wüste Afrikas und das weniger erfolgreich. Auch wenn der Informationsfluss darüber sehr vage war, so war es doch ein offenes Geheimnis, dass Italien nicht ohne deutsche Hilfe auskommen würde. Die Ausrüstung veraltet, die Strategen der Italiener schienen mit ihren Aufgaben gnadenlos überfordert. Wo war er da nur hineingeraten? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr gerieten seine Gedanken außer Kontrolle. Im Brief stand was von Griechenland, da ist Afrika noch weit von entfernt. Irgendwie musste er seinen Kopf jetzt gerade bekommen. Im jugendlichen Wahn meldete er sich 1939 freiwillig. Die Welle aus überschwänglichem Patriotismus, welche durch das ganze Land zog, hatte ihn dazu bewogen, sich freiwillig zu melden. Der Einfluss der Schule trug ebenfalls einen Teil dazu bei. Alle Jungs aus seinem Ort meldeten sich freiwillig, kneifen konnte er da nicht. Auch wenn er sich sicher war, dass sich niemand über die möglichen Konsequenzen des Kriegseinsatzes Gedanken gemacht hatte. Er, so musste er sich das eingestehen, ebenfalls nicht. Seinen Vater wollte er auf keinen Fall enttäuschen. Dieser leistete bereits seinen Dienst im letzten großen Krieg und fing sich dort eine Kugel im linken Oberschenkel ein. Er sah es als seine Pflicht an dem Beispiel seines Vaters zu folgen. Ohne die daraus resultierende Schusswunde selbstverständlich. Piets Vater sah in Hitler einen Heilsbringer, welcher dem Land lange gefehlt hatte. Jemand der sie nicht sinnlos an der Front verheizen würde, wie der Kaiser es getan hatte. Ein Feldherr, der die Schrecken des Krieges kannte und niemanden sinnloser Gefahren aussetzen würde. Ein Mensch, der nur auf das Wohl des Volkes und nicht auf sein eigenes bedacht war. Wirklich begründen konnte er dies nie, aber die Worte seines Vaters hatten wie immer für Piet Gewicht. Selbst wenn er ihm, was die Begeisterung für den Führer anging, nicht folgen konnte. Politiker waren für ihn alle gleich. Sein Opa wiederum hatte ihn deutlich gewarnt. Er kämpfte ebenfalls im letzten großen Krieg und wurde in die Schulter getroffen, irgendwo hier in Frankreich. Wo genau hatte er ihm nie gesagt. Die Verletzung schränkte ihn heute noch ein, so dass Oma auf dem Hofe deutlich mehr helfen musste als es ihr lieb war. Der Opa hielt nicht viel von Hitler, daraus machte er – zumindest hinter verschlossenen Türen – auch keinen Hehl. Diese völlig unterschiedlichen Positionen sorgten nicht selten für Stress am heimischen Esstisch. Piet lebte vor seinem Aufbruch mit seinen Eltern und den Großeltern der väterlichen Seite gemeinsam auf einem kleinen Hof. Politik war Piet grundsätzlich ziemlich egal. Er sah es als seine Pflicht an, seinen Beitrag zu diesem Krieg zu leisten und seinen Vater stolz zu machen. Dass beide Beteiligten angeschossen wurden verdrängte Piet bei allen seinen Überlegungen. Jeden Tag hörte er in der Schule und las er in den Zeitungen, dass die halbe Welt nur darauf wartete seine Heimat zu vernichten, wie konnte er da anders? Es wäre doch das Werk eines Feiglings sich nicht den Feinden seiner Heimat entgegenzustellen oder zumindest dabei zu helfen, dass sich andere problemlos dem Feinde entgegenwerfen können. Nach Polen verschlug es ihn nie, wofür er auch recht dankbar war. Er hörte viele grausame Geschichten aus Polen, außerdem Stand der Russe dort vor der Tür und wie lange der Frieden mit diesen obskuren Kommunisten anhalten würde wusste auch niemand so recht. Wurde nicht vor dem Krieg noch vor der Gefahr durch die Roten gewarnt und heute sollen es verlässliche Menschen sein, mit denen man gemeinsam das Polenland aufteilen kann? Er sollte zunächst als Meldegänger und Funker, genau wie sein Vater, ausgebildet werden, begann dann aber direkt nach der Grundausbildung eine Ausbildung zum Sanitäter. Mehr als Grundwissen konnte er jedoch dort auch nicht erlangen. Zu schnell wurde sein Können am Gewehr erkannt und die Sanitätsausbildung abgebrochen.  Seine Künste auf den Schießständen ließen ihn schnell als potentiellen Scharfschützen ins Gespräch kommen. Er konnte sich aber bisher erfolgreich davor drücken. Seine Vorgesetzten hielten ihn am Ende für den Einsatz als Scharfschützen für zu weich. Manchmal auch für zu ungeduldig. Die Zeit aus ihm einen harten Kerl zu machen hatten sie nicht. Vielleicht sahen sie, bei genauerer Betrachtung, auch nicht mehr das Potential in ihm. Sein Ziel blieb es irgendwo hinter der Front seinen Dienst zu verrichten. Blut an den Händen wollte er nie haben, tief im Inneren war er vielleicht doch ein kleiner Pazifist.  In diesem Zwiespalt sah er sich schon seit Ausbildungsbeginn gefangen. Das Schießen bereitete ihm Freude, die Vorstellung eine Waffe auf einen Menschen anlegen zu müssen aber nicht. Der Gedanke versetzte ihn regelrecht in Panik. Er wollte etwas bewirken, aber keine Leben beenden. Er gestand sich selbst ein, dass dies eine ziemlich naive Einstellung für einen Kriegsfreiwilligen war, aber es war für eine gute Sache, redete man ihm zumindest immer ein. Er hatte wenig erlebt, dass ihn daran zweifeln ließ. Auf das Geschwätz der Soldaten die in Polen kämpften und von Erschießungen, Aufständen und Deportationen faselten gab er nichts. Was gibt es Größeres als für seine Familie und sein Heimatland zu kämpfen? Schließlich waren die Anderen ja die Bösen. Am Ende seiner Ausbildung schaffte er es seine Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass er gut anpacken konnte, dass er eher jemand ist, der Kisten schleppt, Züge und LKWs belädt. Er hatte Erfolg damit. Dass er nun für die Versorgung der kämpfenden Truppenteile verantwortlich war und eigentlich ein Lagerarbeiter in Uniform war, empfand er nicht als unwichtige Aufgabe. Ganz im Gegenteil. Ohne ihn gäbe es keine Kugeln, keine Gewehre, kein Essen oder Wasser in den Frontabschnitten. Außerdem, wo wurde in Frankreich noch ernsthaft gekämpft? Tatsächlich verluden sie hauptsächlich Material für die Lazarette und die Truppenerholungsheime, in denen sich verwundete Soldaten aus halb Europa auskurierten. Bisher ließ sich das also mit dem Blut an den Händen, zu seiner vollsten Zufriedenheit, gut vermeiden. An zwei kleinen Auseinandersetzungen war er beteiligt, jedoch fanden diese mit wütenden Zivilisten statt, als diesen ein paar Kugeln über den Kopf gefeuert wurden ergriffen sie schnell die Flucht. Verletzte gab es auf beiden Seiten nicht. Das größte Übel war ein Einschussloch in einem Bahnwagon, beziehungsweise ein eingeworfenes Fenster. Auch gemeldet wurde dieser Vorfall nie, so blieben den Zivilisten mögliche Racheaktionen und den Offizieren jede Menge Papierkram erspart. Die Franzosen zogen sich schneller zurück als die Wehrmacht vorrücken konnte. Das war die Variante, die man ihnen erzählte. So kam es, dass man die Franzosen, nach wie vor, nicht ernst nahm. Der Verlauf des ersten Weltkrieges war bei allen vergessen. Vor allem dessen katastrophales Ende. Sie eilten von Sieg zu Sieg, es wurde nie über Rückschläge gesprochen. Was sollte da schon schiefgehen? Noch so ein Fiasko würden sie wohl kaum erleben. Nur sehr wenige Soldaten sahen den Feldzug als Retourkutsche für den schrecklichen Verlauf des ersten Weltkrieges, für den Vertrag von Versailles. Für den anschließenden Hunger, den Zusammenbruch der Wirtschaft, die Inflation, kurz: für alles. Aber der Großteil der Soldaten machte sich über so etwas keine Gedanken. Bei einigen Kameraden hatte man das Gefühl sie würden sich im Abenteuerurlaub befinden. Eine Art Kraft durch Freudeausflug mit Waffen. Eins hatten jedoch alle gemeinsam: Man amüsierte sich köstlich über die Feigheit der Froschfresser, wie sie hier genannt wurden. Im Falle von Piet allerdings mit einer Spur von Dankbarkeit. So blieb ihm der Anblick von Leichen und Verwundeten bisher komplett erspart. Piet war ein kräftiger Kerl, der wenn Not am Mann war auch mit anpacken musste, aber hauptsächlich Wachdienst leistete. Wenn er so darüber nachdachte, verbrachte er maximal einen Tag in der Woche mit seiner eigentlichen Aufgabe. Die restliche Einsatzzeit verbrachte er auf einem Turm, beim Patrouillengang oder am Tor. Seinem direkten Vorgesetzten war es lieber jemanden im Wachdienst zu haben, der im Notfall auch treffen konnte. Viele Kameraden seiner Einheit waren nur in der Logistik eingesetzt, weil sie schlichtweg auf dem Schießstand katastrophale Leistungen zeigten.

Ein Blick aus dem Fenster seiner Baracke ließ ihn aufschrecken. Es war bereits stockdunkel. Er hatte Nachtwachdienst. Bisher war er immer pünktlich und das sollte diesmal auch so bleiben. Er mochte die Nachtwachdienste, diese Dienste waren ruhig. Die Passanten lagen im Bett und es wirkte alles ungemein friedlich. Es passierte so gut wie nie etwas. Tagesüber musste man schon aufpassen, dass wirklich nur die Personen das Gelände betraten, die es tatsächlich auch durften. Nicht wenige Franzosen versuchten am Anfang ein wenig was aus den Lagerbeständen abzugreifen. Es kamen gelegentlich auch übermotivierte Offiziere vorbei. Diese nörgelten gerne an Haltung oder einer minimal falsch sitzenden Uniform herum, als wenn es nichts Wichtigeres im Leben gab. Nicht selten wurde der Eindruck erweckt, dass ein gepflegtes Erscheinungsbild wichtiger sei als funktionierende Waffen. Nachts lagen diese Nörgler wahrscheinlich besoffen im Bett und erfreuten sich daran, dass sie einem kleinen Soldaten am Nachmittag einen Einlauf verpasst hatten. Piet war felsenfest davon überzeugt, dass es diesen Menschen nur darum ging ihr Ego durch Machtgehabe aufzupolieren. Abgesehen von der Waffe auf der Schulter erinnerte ihn im Nachtdienst nichts daran, dass er sich im Krieg befand. Ein Gefühl aufkommender Langeweile verspürte er dabei trotz allem so gut wie nie. Die Zeit wurde genutzt um seinen Eltern Briefe, im schimmern einer Öllampe, zu schreiben. Oder um in einiger Entfernung vorbeiziehende Rehe zu beobachten. Das erinnerte ihn immer an zu Hause. Er wuchs auf einem Bauernhof in der Nähe von Kiel auf und hatte seit Kindesalter am Abend, oder am Morgen in aller Frühe, vorbeiziehenden Wildschweine oder Rehe beobachtet. So beschlich ihn regelmäßig ein Gefühl von Heimweh, welches er sich als zusätzliche Motivation, gesund nach Hause zu kommen, bewahrte. Die Sehnsucht nach der Ferne sollte ihn im Kampfe beflügeln, das schmerzliche Heimweh im Kampf ums Überleben daran erinnern, wofür er in den Krieg zog.

So sagte man es ihm in der Ausbildung und so hatte er es verinnerlicht.

Lutz war mit ihm eingeteilt. Lutz war eher das genaue Gegenteil von ihm. Ein Soldat alter Schule. Personifizierte preußische Tugend, in Kombination mit einem, in den falschen Situationen, losen Mundwerk. Über vierzig Jahre alt und beim Ausgehen immer dort zu finden wo es Ärger gab. Das kurze Haar wies an einigen Stellen bereits einen leichten Graustich auf. Einige Falten und vereinzelte Narben zeugten davon, dass er bereits einiges an Erfahrung auf dem Buckel hatte. Das Nasenbein wurde wohl schon mehrmals gebrochen, die grauen Augen hatten jedoch eine faszinierende Tiefe und vermittelten Piet ein Gefühl von Weisheit und Vertrauen. Die Uniform saß bei ihm immer besonders adrett. Jeden Tag reinigte er gründlich seine Stiefel, seine Waffen und legte sehr viel Wert auf eine reinliche Uniform. Die Gesichtsbehaarung wurde täglich entfernt. Er verstand sich als Repräsentant der deutschen Besatzung. Als Vorbild für alle Franzosen. Vielleicht sogar als Vorbild für die gesamte Menschheit. Eigentlich der perfekte Meckeroffizier. Aber so ein Kleingeist war Lutz dann doch nicht. Ein wenig knurrig war er, nüchtern eher wortkarg. Aber wenn er etwas zu sagen hatte, dann hatte es Hand und Fuß und man konnte sich darauf verlassen. Über sein Privatleben sprach er bisher nie. Er trug einen Ehering, also wusste man zumindest, dass er verheiratet war. An wie vielen Gefechten er beteiligt war wusste auch niemand so richtig. Der Blick, mit dem er seine Umgebung beobachtete, deutete jedoch darauf hin, dass es einige gewesen sein mussten. In seinem Zug verstand sich niemand so recht mit ihm und dennoch respektierte ihn jeder. Er war bereits lange vor dem Einmarsch in Polen in der Armee und das dienstälteste Mitglied seines Zuges. Den Einmarsch in Polen machte er mit und wurde, nachdem seine Einheit aufgelöst wurde, dieser zugeteilt. Er war nicht der beste Schütze, aber mit einem besonderen Gespür dafür, wo die nächsten Kugeln einschlugen.

Er roch den Ärger und was noch viel wichtiger war: die seltenen aber nervigen Visiten von Vorgesetzten. Im Stile ordentlicher Kneipenschlägereien liebte er Ärger, auf dem Schlachtfeld sorgte er stets dafür, dass seine Schäfchen heile blieben.

So erzählten dies immer die Soldaten, die Lutz schon etwas länger begleiteten. Er hatte eine Art Legendenstatus in seinem Zug erlangt. Was aber auch daran liegen könnte, dass er einer von wenigen Soldaten vor Ort mit echter Kampferfahrung war. Piet nahm sich immer vor, im Ernstfall in der Nähe von Lutz zu bleiben. Insgeheim betrachtete er ihn als seinen Schutzengel. Wenn so viele Soldaten nur positiv über ihn redeten musste schließlich etwas Wahres dran sein. Lutz stand bereits genervt an der Tür seiner Baracke.

„Ey Kleener, wollen wir?“ Wie bereits erwähnt war er kein Mann großer Worte, aber besessen von Pünktlichkeit. Ein kurzes Nicken als Antwort und schon schritten sie schweigend zum Tor. Wie üblich hatte die abzulösende Schicht bereits Tee aufgesetzt. Es war recht kalt und so war es naheliegend sich direkt mit einer Tasse Tee aufzuwärmen. Einer der Vorzüge eines Einsatzes in Frankreich war die recht anständige Versorgungslage. Berichte aus anderen Truppenteilen ließen darauf schließen, dass es nicht jedem so gut erging. Oft waren die Nachschubwege sehr lang. In Frankreich konnte man auf die Ressourcen eines nahezu unzerstörten Landes zurückgreifen. Auch die Bevölkerung hatte sich damit abgefunden, dass die deutsche Armee durchaus versorgt werden musste und sabotierte die Nachschubversorgung zumindest nicht spürbar. Vor allem war es für Piet ein extremer Vorteil, dass hier niemand in Zelten schlafen musste, es gab anständige Baracken, ordentliche Feldbetten und keinen Schlamm durch den sie kriechen mussten. Er war schon als Kind kein sonderlich großer Freund vom Zelten, obwohl er einen ausgeprägten Hang zur Natur hatte. Dies stellte einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil dar, wenn die heimische Armee fast keinen Widerstand leistete und auch beim Rückzug nichts zerstörte. Karl und Willi, die vor ihnen Dienst am Tor hatten, blieben noch auf ein kurzes Gespräch. Es war den ganzen Tag über ruhig. Wie so ziemlich jeden Tag zuvor. Bei ihrer Unterbringung handelte sich um ein Gelände auf dem, vor dem ersten Weltkrieg, Körbe hergestellt wurden. Seitdem lag das Gelände wohl brach. Bei ihrem Einzug musste sie erst einmal den Staub und Müll vieler ungenutzter Jahre herauskehren, bevor es nutzbar wurde. Auch in Frankreich schien der große Krieg, in einigen Regionen, wirtschaftlich schlechte Zeiten hinterlassen zu haben. Etwa zwei Meter hohe Ziegelmauern umgaben das Fabrikgelände. Nach dem Besetzen des Geländes wurden etwa zwanzig Baracken auf die, üppig dimensionierte, freie Fläche im Innenhof gezimmert. In der ehemaligen Fabrikhalle wurde Munition gelagert, dort waren außerdem die Unterkünfte für die Offiziere eingerichtet. Die Fabrik diente als Verteilzentrum für Nachschub, vor allem an die verschiedenen Stützpunkte um Paris, die nicht über Schienen erreichbar waren. Der Fuhrpark seiner Truppe war auf einem Gelände auf der anderen Straßenseite untergebracht. Dafür war sein Zug nicht verantwortlich. Die Maschinisten waren sehr eigen. Beide Seiten pflegten eine gesunde Antipathie. Man unterstütze sich, wenn es sein musste und ansonsten ging jeder seiner Wege. Ein gemeinsames Fußballspiel, welches beide Truppenteile zusammenführen sollte endete in einer wüsten Schlägerei. Im Nachhinein betrachtet war dies nicht unbedingt die Sternstunde der, für Piet doch so glanzvollen, Wehrmacht. In diesem Ort waren etwa 200 Mann stationiert, der Rest seiner Division war in Paris oder auf umliegende Ortschaften verteilt. Auf dem Flachdach der Fabrikhalle gingen noch zwei Kameraden Streife, die Mauer wurde durch einen Stacheldrahtzaun mit Glocken ergänzt, damit niemand unbemerkt rüber steigen konnte. Einmal wurde dies bereits versucht. Ein sechzehnjähriger Junge wurde dabei erwischt. Er sagte, er wolle Zigaretten klauen. Angeblich konnte er sich selbst keine leisten.

Sein Kommandant beließ es dabei den jungen Franzosen ein paar Kisten schleppen zu lassen, bis dieser sich vor Erschöpfung übergab und jagte ihn anschließend, mit einem saftigen Tritt in den Hintern, vom Hof. Bei der Übergabe an andere Stellen, wäre es wohl nicht so glimpflich für ihn ausgegangen. Die Gerüchte wie Gestapo und Waffen-SS mit Gefangenen umgingen machte immer wieder die Runde. Belege dafür hatte er bisher nie gesehen und so tat Piet diese als Märchen, mit einem kleinen Kern Wahrheit ab.

Vielmehr wurde von deutscher Seite an diesem behelfsmäßigen Lager nicht getan. Es gab einen provisorischen Turm mit Suchscheinwerfern. Ein paar richtige Türme waren schon angedacht, aber bisher gab es keine Befehle eben solche zu errichten. Die notwendigen Baumaterialien lagen bereits seit Wochen herum und wurden eher als Unterlage beim Kartenspielen verwendet. Es kümmerte sich allerdings niemand darum, solange sie nicht im Weg lagen, würde wohl niemand auf die Idee kommen diese auch für ihren eigentlichen Zweck zu nutzen. Mit drei Etagen hatten sie sowieso das höchste Gebäude im näheren Umfeld und konnten alles gut überblicken.

Mittlerweile verschwand das letzte Stück Sonne endgültig hinter dem Horizont und es wurde noch dunkler. Und damit auch bedeutend kälter. Der Tee war in der Zwischenzeit aufgebraucht und Karl sowie Willi wahrscheinlich bereits im Reich der Träume. Noch erfüllte ihn die wohlige Wärme des Tees, Piet war sich allerdings sicher, dass diese innere Wärme sehr bald durch die äußere Kälte überdeckt werden würde. Lutz ging rauchend vor dem Tor auf und ab. Das Kältegefühl von Lutz schien anders ausgeprägt zu sein, ihm schien es nichts auszumachen. Oder er ließ es sich nicht anmerken. Er selbst saß auf einem klapprigen Holzstuhl und lauschte den Geräuschen aus dem Innern der alten Fabrik. In der oberen Etage, des dreistöckigen Gebäudes, war die Funkzentrale untergebracht.

Am Funk war für die Uhrzeit relativ viel los. Das Fenster der Funkzentrale im Innern der Fabrik war offen, so konnte er das rege Treiben etwas mitverfolgen. Es gab ein paar Überfälle auf deutsche Posten durch französische Widerstandskämpfer. Diese fanden aber alle etwa zweihundert Kilometer weit entfernt statt. Seit einigen Monaten häuften sich diese Überfälle. Vor allem in dichter besiedelten Gebieten. Da es aber immer bei kleinen Nadelstichen blieb, ging man davon aus, dass der französische Widerstand nicht in der Lage war kontrollierte Aktionen zu starten. Außerdem beteuerten ja alle möglichen Abteilungen der Sicherheitsbehörden und des Militärs, dass sie sich mit dem Widerstand befassen würden und ihn bald im Keime erstickt hätten. Vielleicht handelte es sich auch nur um kleine Schwarzhändler, die ihre Bestände aufstocken wollten. So sah sich letztendlich niemand in ihrem Lager dazu veranlasst die Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen oder sie auch nur kritisch zu betrachten. Es lief seit Wochen gut, warum sollte sich daran etwas ändern? In dem verschlafenen Nest Isles les Villenoy würde schon nichts passieren. Knapp 800 Menschen lebten hier. Die meisten davon ertrugen die deutschen Truppen stillschweigend. Begeistert waren sie nicht, sie sahen aber ein, dass es nichts bringt sich gegen die Besatzung aufzulehnen. Zumindest nichts außer einer Menge Ärger. Der Ort gefiel Piet sehr gut. Eine alte Kirche, Saint-Maurice, aus dem fünfzehnten Jahrhundert bildete den Ortskern, rund herum reihten sich viele sehr alte Wohnhäuser. Ein paar kleine Höfe gab es in einigen hundert Metern Entfernung.  Er hatte sich immer vorgenommen einmal Saint-Maurice von innen anzusehen. Aber bislang war es ihm nicht möglich. Morgens erfüllte der Geruch von frisch gebackenem Brot regelmäßig ihr Lager. Der örtliche Bäcker hatte sich wohl am besten mit der Besatzung arrangiert und lieferte regelmäßig etwas Brot, wofür er hin und wieder etwas Material aus dem Bestand der deutschen Besatzer erhielt.

Die kleinen Häuser waren gepflegt und erinnerten ihn teilweise an zu Hause. Der Ort lag am Flüsschen Marne und wurde als Stützpunkt gewählt um neben der Verteilung von Munition auch eine der wichtigsten Nachschubrouten nach Paris abzusichern und die Fahrzeuge in Bewegung zu halten. Gerüchten zu Folge sollte ganz in der Nähe noch ein Flugplatz für Jagdmaschinen der Luftwaffe entstehen, die zum Teil ebenfalls aus diesem Ort versorgt werden sollten. Aber dazu hatte Piet noch nichts Handfestes gehört.

Die paar Brocken Französisch, die er sprach, halfen ihm bei gelegentlichen Streifengängen durch den Ort weiter. Diese waren allerdings so selten, dass er seine Kenntnisse kaum verbessern konnte. Man redete auch nicht gerne mit den Deutschen. In Paris sah dies meistens anders aus, dort sprachen allerdings viele Franzosen deutsch. Lutz kam wieder zurück in das kleine Wachhäuschen. „Das wird bald ungemütlich.“ murmelte er und trank einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Piet hoffte sehr, dass Lutz nur das schlechter werdende Wetter meinte. Da lag er doch sonst so gut wie immer daneben. Bei allem anderen leider nie.

Er sollte ausnahmsweise Recht behalten, es wurde ungemütlich. Ein Hagelschauer zog über das Lager und die paar Soldaten, die noch draußen vor den Baracken waren, rannten schnell wieder ins Innere. Für Piet, der raues Wetter aus seiner Heimat gewohnt war, stellte ein wenig Hagel kein Grund zu motzen dar, vor allem da er immer noch trocken im kleinen Wachhäuschen saß. Dennoch dachte er sich, dass Griechenland vielleicht gar keine schlechte Idee sei. Zumindest klimatisch. Der Hagel wich irgendwann starkem Regen und es bildeten sich große Pfützen auf und vor dem Gelände. Die Sicht war bescheiden und so wurde die monotone Schicht nur noch langweiliger. Tiere würde er so nicht beobachten können. So stellte sich dieser späte Abend als regelrecht einschläfernd heraus, er verspürte heute nicht das Bedürfnis an seine Familie zu schreiben. Am liebsten würde er sich in sein Bett legen und schlafen bis das Wetter sich besserte. So kam es, dass er tatsächlich mehrmals kurz davor stand einzuschlafen. Immer wenn er kurz vor dem Einschlafen war, verpasste Lutz ihm einen Schlag in die Seite, was Lutz sichtlich Spaß bereitete. Morgen würde er an dieser Stelle dicke Blauen vorfinden, da war Piet sich absolut sicher. Aber solange die blauen Flecken und ein paar Schwielen an den Händen die einzigen Spuren des Krieges blieben, war das für ihn zu ertragen. Er schreckte erneut schlagartig aus dem einsetzenden Halbschlaf hoch. Mittlerweile war es finsterste Nacht. Diesmal nicht durch einen Schlag in die Rippen. Es waren Stiefelschritte zu vernehmen. Schwere Stiefel, wie sie nur Soldaten trugen. Platsch. Jemand war in die große Pfütze getreten, die sich links neben dem Tor des Lagers gebildet hatte. Ein kurzer Fluch. Beruhigender Weise in perfektem Deutsch. Piet glaubte einen sächsischen Akzent heraushören zu können. Lutz entsicherte trotzdem seine Waffe und richtete sich auf. „HALT! Wer ist da? Stop! Qui est là?“, brüllte er in die Nacht. Piet entsicherte ebenfalls seine Waffe und sicherte Lutz ab. Seit wann konnte der alte Grummel denn französisch? Die Suchscheinwerfer vom Flachdach des Fabrikgebäudes schwenkten auf den Eingang. „Beruhig dich Kamerad und pack die Waffe wieder weg.“ Fuhr ihn ein aus der Dunkelheit tretender Offizier, mit schwach ausgeprägtem sächsischem Dialekt, an welcher direkt Papiere an den Zaun des Zugangstores drückte. „Wir waren mit dem LKW auf dem Weg nach Saarbrücken und wurden ein paar Kilometer weiter überfallen. Josef und ich sind unversehrt, den Kalle hat‘s aber zerrissen. Der liegt noch im Wagen.“ Lutz traute dem Braten immer noch nicht und hatte seine Waffe noch nicht gesenkt. Piet funkte zwischenzeitlich einen Offizier über das Feldtelefon heran. Lutz öffnete das Tor einen Spalt und ließ sich die Papiere reichen. Der angefunkte Offizier kam nicht alleine, im Schlepptau vier weitere Männer. Sie begleiteten, den immer noch namenlosen Offizier, und Josef schnell ins Trockene, nachdem auch sie sich die, mittlerweile aufgeweichten, Papiere angesehen hatten. „Das wird gleich noch richtig scheiße.“ grummelte Lutz vor sich hin, während er die Waffe wieder sicherte und die nächste Kippe ansteckte. Das Streichholz schnippte er genervt vor das Lagertor, welches er im Anschluss lautstark zuschlug. Ihm war wohl schon bewusst, dass man recht schnell einen Suchtrupp losschicken würde, wenn sich die Geschichte als die Wahrheit entpuppte. Bei diesem bescheidenen Wetter, in Kombination mit der Dunkelheit, war das kein Spaß. Wenn die Geschichte dann noch der Wahrheit entsprechen sollte, war es vorbei mit der friedlichen Idylle. Dann wäre hier sicherlich bald die Hölle los und jede Menge übermotivierter Abwehrleute würden ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angingen. Die drohende Gefahr weckte darüber hinaus wenig Interesse daran das, aktuell sichere, Lager zu verlassen. „Wenn der Knirps da recht hatte, wimmelt es hier bald von schwarzen Spinnern, dann is‘ hier Schluss mit lustig. Die Mädels werden dann auch nicht mehr so nett zu dir sein -  Piet. Am Ende können wir froh sein über jeden der uns nur anspuckt und nicht auf uns ballert.“

Wieder so ein Moment, in dem man sich wünschte er hätte Unrecht. Langsam aber sicher häuften sich diese Momente. Piet verkroch sich schnell wieder in das warme Wachhäuschen. Wenn die seinen Zug gleich wirklich in die Kälte schicken sollten, dann wollte er sich wenigstens etwas aufwärmen. Lutz setzte eine neue Kanne Tee auf und steckte sich die nächste Zigarette an. Piets Gesicht schien von Sorgen schwer gezeichnet zu sein. Denn Lutz legte, für ihn sehr ungewohnt, direkt nach: „Weiß‘ du Kleiner, wir könnten jetzt schön zu Hause in unserm Bettchen liegen und das Leben genießen. Aber dann hasse am nächsten Morgen wieder datt Genöle von deine‘ Alte. Da frier ich mir lieber hier bei den Franzosen den Arsch ab und mach‘ noch watt vernünftiges. Kannste sehen wie de willst, wo anders kann‘s auch kacke sein, also mach dir nich‘ ins Hemd und wärm dich auf. Und wenn es dich beruhigt, schreib noch mal Heim. Aber erfrieren wirste heute Abend nich‘. Naja und Kugeln werden uns schon nicht umme Ohren sausen. Die Franzmänner die datt zu verantworten haben, sind eh schon stiften gegangen, wie die datt immer tun.“

Motivierter als vorher fühlte sich Piet nun nicht, auch wenn er zugeben musste, dass diese Ansprache überraschend kam. Er dachte an die letzten Wochen und überlegte ob Lutz in dieser Zeit insgesamt so viel mit ihm gesprochen hatte. Eher nicht. Karl und Willi kamen ans Tor gestapft. Wirklich zufrieden sahen sie nicht aus. Beide hatten ihren Karabiner bereits geschultert und trugen bereits ihren Helm. Bei Willi saß dieser schief auf dem Kopf, was Lutz zu einem Grummeln und genervtem Blick veranlasste. Das Regenwasser lief am Helm hinunter und tropfte den beiden direkt ins Gesicht. „Wegen diesen scheiß Franzosen bekommen wir unsern wohlverdienten Schönheitsschlaf nicht.“ , motzte Karl als Begrüßung. Ja, Karl drückte sich ebenfalls gerne äußerst diplomatisch aus. In den nächsten Minuten sammelten sich immer mehr Soldaten am Wachhaus. Der Offizier, der vor etwa einer halben Stunde eintraf, war auch mit dabei. Karsten, der direkte Zugführer, trat ans Wachhaus. „Piet und Lutz, sofort Marschgepäck holen. Voll aufmunitionieren. Die Frühschicht übernimmt für euch.“ Also ging es wirklich raus um den LKW zu suchen. Was war da überhaupt drin? Muss ja irgendwas Wichtiges sein, sonst hätte man andere Einheiten geholt, diese hätten zwar länger gebraucht, waren aber erfahrener. Seine Truppe wurde nie zu Kampfhandlungen oder Suchaktionen herangezogen und war formell für nichts Anderes als für die reibungslose Versorgung mit Nachschub und dessen Bewachung verantwortlich. Den meisten Anwesenden sah man ihre Verunsicherung und vor allem die fehlende Kampferfahrung an. Vielleicht auch die Müdigkeit und das mangelnde Interesse bei diesem Dreckswetter in die französische Pampa zu marschieren. Die Fahrzeuge des Zuges wurden nicht bereitgestellt. Diese stellten ein zu leichtes Ziel im Dunkeln dar und für die kurze Entfernung war der Einsatz Verschwendung. Piet fragte sich langsam, wenn das doch alles so nah geschah, warum hatte niemand Schüsse gehört? Bevor er sich in diesen Gedanken verlieren konnte marschierten sie auch schon los. Oftmals konnte man Schüsse über mehrere Kilometer hören. Zwischenzeitlich waren der Wind und der Hagel schon sehr laut, aber so laut, dass er Schüsse übertönte? Da waren sie wieder, die Gedanken, schneller als er dachte. Der namenlose Offizier gab die Richtung vor. Sie kamen nur sehr langsam voran. Teile des Feldweges waren völlig aufgeweicht und die Stiefel sanken tief in den Boden. Es war ein sehr anstrengender Marsch. In das Plätschern des Regens mischten sich deutsche Flüche und das angestrengte Schnauben der Soldaten, die sich irgendwie vorarbeiteten. Die Fußabdrücke füllten sich schnell mit Wasser und fielen dann in sich zusammen. Wer sich hier verlief, fand den Weg zurück wohl auch nicht wieder. Zumindest nicht vor Tagesanbruch. Mit einem Fahrzeug würden sie hier auch kaum durchkommen. Und wenn doch würden sie damit tatsächlich nicht schneller sein. Als sie am Ortsausgang das erste Feld überquert hatten stießen drei Sanitäter zum Zug. Diese kamen aus einem Lazarett vom anderen Ende des Ortes. Auch hier war wenig Begeisterung zu erkennen. Eigentlich sollten sie doch froh sein, aus dieser Richtung zu kommen. Ihre Straße war wenigstens gepflastert und drohte nicht ständig damit die Stiefel zu schlucken. Die Pflastersteine waren, wie bei alten Straßen üblich, unregelmäßig groß und nicht wirklich angenehm zu belaufen. Aber immer noch besser als ständig einzusinken. Der Regen nahm weiter zu, wenigstens ließ der Wind etwas nach. Dennoch war die Sicht gleich null. „Mir frieren die Eier ab.“ nuschelte Lutz und steckte sich die nächste Zigarette an. Piet fragte sich, wie viel Lutz eigentlich am Tag verrauchte. Gefühlt war das täglich eine Wochenration.„Schnauze halten! Noch etwa einen Kilometer bis zum Ziel, absolute Wach- und Schweigsamkeit!“, raunte der Offizier nun in den Zug. Lutz zog genervt eine Braue nach oben und blickte wieder auf den Boden. Er verspürte wenig Interesse daran in eine tiefe Pfütze zu stürzen. So würde er zum Gespött des gesamten Zuges werden. Das überließ er gerne anderen, vor allem den unerfahreneren Soldaten. Frischfleisch brauchte bei ihnen immer ein dickes Fell und war schnell dem Spott der ganzen Einheit ausgeliefert. Die Nervosität stieg mit jedem Meter, dem sie ihrem Ziel näherkamen. Piets Hand umklammerte den Mauser Karabiner mit jedem Schritt fester. Die Straße zum Nachbarort war teilweise weggespült. In der Ferne sah man die Silhouette eines auf der Seite liegenden Lastwagens. Das Führerhaus war halb weggerissen. Eine Konstruktion aus Baumstämmen steckte in diesem, die Stämme steckten hauptsächlich im Kühlergrill. Ein Stamm hatte die Frontscheibe, genau auf Höhe des Fahrers durchschlagen. Der Fahrer wurde direkt aufgespießt. Es schien so, als sei durch den Aufprall der Wagen komplett verzogen und mitsamt der Holzkonstruktion auf die Seite geworfen worden. Die anwesenden Sanitäter stellten noch einmal sicher, dass der Fahrer wirklich Tod war und nahmen die Erkennungsmarke an sich. Ein grausiger Anblick. Durch den Baumstamm wurde der Kopf vom Hals gerissen und lag deformiert im Fußraum. Das halbe Führerhaus war voller Blut und dem was vom Kopf übriggeblieben ist. Das schwache Licht der Lampen lies diesen Anblick nur noch schauderhafter erscheinen. Mit welcher Wucht musste der LKW nur bei diesem schlechten Wetter auf das Hindernis gestoßen sein? „Wir hatten im Dunkeln keine Chance, als wir das Hindernis gesehen haben, konnten wir nicht mehr Bremsen und dann hat es schon gerumst.“, erklärte Josef, als ob er die Gedanken lesen konnte. Sein Offizier kletterte schon auf der Ladefläche herum und suchte hastig nach etwas. Der Lichtkegel seiner Lampe flog wild hin und her. Ein paar Kisten befanden sich noch auf dem, was von der Ladefläche übriggeblieben ist. Auf den ersten Blick sah der LKW noch vollständig beladen aus. Jedoch deutete die Reaktion des Offiziers darauf hin, dass dem nicht so war. Er wurde immer hektischer bei seiner Suche und wurde nicht fündig und fluchte laut, was Karsten zu einem laut geflüsterten „Schnauze!“ veranlasste. Den kurzen Wutausbruch musste man bis in den Ort gehört haben. Der Regen lies etwas nach und das Plätschern des Regens überdeckte nun nicht mehr den sanften Wind in den Bäumen. Die Atmosphäre war beängstigend und die Sinne spielten einem so manchen Streich. Piet ging immer wieder davon aus Bewegungen und Stimmen wahrzunehmen. Jedoch war dort nie etwas zu entdecken. Sie suchten gemeinsam den Boden und den Straßengraben ab. Wonach wussten sie immer noch nicht. Wenn sie etwas finden sollten, würden sie schon wissen wonach sie suchten. Mit dem wenigen Licht, welches ihre Lampen spendeten, gestaltete sich die Suche jedoch äußerst schwierig. Darüber hinaus gewöhnten sich die Augen an das Licht der Lampen und immer wenn sie versuchten die Ursache für ein Geräusch ausfindig zu machen dauerte es ein paar Sekunden bis sich die Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnten. Der Offizier wurde immer nervöser. Irgendetwas musste verdammt wichtig sein. Lutz deutete auf das offene Feld in die Ferne und richtete sein Gewehr auf die Stelle. „Da bewegt sich etwas.“ Hektisch wurden die Waffen entsichert, Lutz und Piet sicherten in Richtung des Feldes ab. Noch konnte Piet nicht erkennen was Lutz ausgemacht hatte. Der Rest suchte weiter. Wonach auch immer. Nun nahm Piet die Bewegung auch wahr. Kalter Schweiß lief ihm in den Nacken. Die Haare auf dem Arm stellten sich auf. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Der Blick wurde fokussierter und wie im Training beruhigte sich der Herzschlag und die Atmung - um eine ruhige Hand an der Waffe zu haben. Er wollte niemanden erschießen, aber so enden wie der LKW-Fahrer wollte er auf keinen Fall. Wie hieß der noch gleich? Knack. Irgendwas auf dem Feld wurde gerade ungeschickt plattgetreten. So konnte man sich nicht anschleichen. Die Finger verkrampften am Gewehr und bewegten sich langsam am Abzug. Gleich habe ich dich, dachte er sich kurz und erschrak innerlich, als ihm bewusst wurde, was dieser Gedanke eigentlich bedeutete. Den Gedanken unterdrückte er schnell, jetzt auf keinen Fall zögern, wenn das Ziel im Fokus war… Er konnte noch nicht erkennen was er dort eigentlich anvisierte. In dem Moment drückte Lutz den Karabiner von Piet runter. „Dir gefällt wohl unsere Verpflegung nicht und willst ein Reh abknallen, was?“ Im selben Moment erkannte er es auch. Ob dem Reh bewusst war, wie knapp es eigentlich war? Wohl eher nicht. So schnell wie es in Sichtweite war, so schnell sprang es auch wieder, erschrocken durch Piets hastige Bewegung, davon. „Wäre ein angemessenes Frühstück, als Entschädigung für unseren kleinen Abenteuerausflug, gewesen.“, lachte Lutz und warf sich sein Gewehr wieder über die Schulter. Piet hielt seinen Karabiner fest umklammert und schussbereit. Wenig später zitierte Karsten Piet heran. „Du begibst dich sofort zurück, keine Umwege, kein zögern. So schnell es geht und meldest was hier passiert ist und wo es passiert ist. Nimm Lutz mit. Passt auf euch auf. Sollte es zu Kampfhandlungen kommen, ist das oberste Ziel die Meldung weiter zu tragen. Kein Bekämpfen des Feindes, nur zurück ins Lager! Wenn wir Schüsse hören sollten, rücken wir mit ein paar Mann in Richtung der Schüsse vor. Für euch bleibt die unumkehrbare Anweisung: die Meldung muss sofort nach Paris. Los, los!“ Die Aufregung verstand er immer noch nicht. Seine Beine hatten den Befehl aber schon umgesetzt und so hetzten sie gemeinsam zurück in Richtung Lager. Sie kamen nur schwer voran, der Boden war nach wie vor sehr rutschig und matschig. Der beschwerliche Weg war ihm dennoch deutlich lieber als in der Dunkelheit ins Nichts zu starren und dabei zu hoffen, dass nicht irgendwo ein Franzose saß und auf sie anlegte. Was sollte er eigentlich melden? Ein LKW wurde überfallen. Das verstand er ja, aber was war drin? Wer war drin? Von welcher Einheit war der LKW? So hetzte er mit Lutz zurück in die alte Korbfabrik. Der Weg zurück ging deutlich zügiger als der hinweg. Zumindest kam es ihm so vor. Sie waren allerdings auch weniger darauf bedacht nicht zum Gespött der Kameraden zu werden. Kaum angekommen erstatteten sie bereits Meldung. Auch die Funker schauten ihn zunächst ratlos an, meldeten aber die paar Brocken an Informationen an das Hauptquartier in Paris. Ein paar Sekunden später, wurden diese kreidebleich, als die Antwort eintraf.

Eilig wurden von den Funkern Anweisungen ausgegeben und ein Offizier herangerufen. Dieser brüllte hysterisch und mit knallrotem Kopf Befehle durch die Gegend. Sekunden später wurde der Alarm ausgelöst. Die Sirene heulte los. Wieder wurden Lutz und Piet rat- und achtlos stehen gelassen, während es um sie herum auf einmal sehr wuselig zuging. Offiziere rannten wild durcheinander, weitere Funkplätze wurden besetzt. Das gesamte Lager war auf einmal hell erleuchtet, ebenso das Lager des Fuhrparks. Aus der Ferne konnte man ebenfalls die Alarmsirenen des Lazarettes hören. „Nun sind wir wieder in diesem scheiß Krieg und raus aus unserem eigenen Paradies.“, fluchte Lutz und spuckte sich achtlos auf die matschigen Stiefel. Zusätzliche Posten wurden bemannt. Munitionskisten verteilt. Alle Fahrer wurden in die Fabrik gerufen. Nach und nach gingen vereinzelte Lichter im Ort an. Der zweite und dritte Zug wurde komplett versammelt und machte sich bereit zum Ausrücken. „Wir rutschen hier ganz schön in die Scheiße, Kleiner.“, kommentierte Lutz - gewohnt diplomatisch. Der Zugführer vom zweiten Zug bat Lutz und Piet zur Seite. „Holt euch ‘nen Kaffee, kippt den schnell runter, schnappt euch so viel Munition und Verpflegung wie ihr tragen könnt und seid so schnell wie möglich bei den LKWs zum Ausrücken. Wir bringen euch zurück zum Rest der Jungs und dann sehen wir weiter.“ Es blieb weiterhin alles sehr kryptisch. „Gehen wir noch mal ordentlich kacken, wird ein langer Tag“ gab Lutz als Rat und bewegte sich in Richtung der Latrinen. Piet tat es ihm gleich. In all der Hektik bewahrte sich Lutz eine erstaunliche Ruhe. Pünktlich zur Abfahrt rannten sie zu den bereitstehenden Fahrzeugen und schlossen sich dem zweiten Zug an. Die Sonne ging mittlerweile in der Ferne auf. Es wurde eifrig Platz im Fuhrpark geschaffen. Einige Fahrzeuge wurden direkt neben dem Fabrikgelände geparkt, andere bewegten sich in Richtung eines freien Feldes am anderen Ende des kleinen Ortes. „Die Jungs in schwarz rücken ein.“, erwähnte ein Neuer aus dem zweiten Zug. Schon sehr merkwürdig. Mit der Waffen-SS hatten sie bisher gar keine Berührungspunkte. Wollten sie auch nicht. Zu oft erzählte man von der ausgiebigen Egopflege, zu übel die Gerüchte die man über sie hörte. Zu verbissen ihr blinder Gehorsam. Lutz versank im Plausch mit seinem Nebenmann. Die LKW-Kolonne, begleitet von zwei Schützenpanzern vom Typ Sonderkraftfahrzeug 251, begab sich über die besser ausgebauten Straßen zum Einsatzort. Der Weg war fast doppelt so lang, als der vorherige Fußweg, aber bedeutend schneller für die Fahrzeuge zu bewerkstelligen. Die wenigen Passanten auf der Straße schauten besorgt. Auch sie wussten, dass irgendetwas nicht stimmte. Den meisten war wohl bewusst, dass damit das relativ friedliche Miteinander gefährdet war. Einige wenige hatten diesen kleinen Schimmer Hoffnung in den Augen, dass die Deutschen hier bald vertrieben würden.

Die Fahrzeit war kurz, man bezog Stellung um das Fahrzeug und begutachtete bei zunehmendem Licht noch einmal den zerstörten LKW. Piet war bei diesem Anblick sehr dankbar dafür, dass er nicht in diesem Fahrzeug gesessen hatte. Der ominöse Offizier befand sich im regen Austausch mit Karsten. Sie schienen nicht unbedingt einer Meinung zu sein. Aus der anderen Fahrtrichtung kam bereits ein Krad mit Beiwagen in voller Fahrt angeschossen, der Fahrer sprach kurz mit einem Soldaten, welcher die Straße kontrollieren sollte und fuhr, ebenfalls in voller Fahrt, wieder in die entgegensetzte Richtung. So etwas hatte er auch noch nicht gesehen. „In dem LKW waren ein paar erbeutete Bilder aus einem Museum in Paris und irgendwelche Pläne. Die Bilder sind denen völlig egal. Die Pläne eine Katastrophe.“, flüsterte Lutz ihm zu. „Das wird hier richtig eklig, wenn wir die Dinger nicht irgendwo wiederfinden. Ich habe das in Polen schon gesehen. Viele Tote. Sehr viele Tote. Da spielte es auch keine Rolle, ob diese was dafür konnten…“ Der Gesichtsausdruck von Lutz änderte sich dabei schlagartig. Der Blick wirkte regelrecht leer, er musste schreckliche Dinge gesehen haben. Piet hakte es dennoch erst einmal unter der Kategorie: klassische Soldatengerüchte ab. Gleichzeitig fragte er sich, wer die Toten waren von denen Lutz sprach, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Was er nicht wusste, konnte ihn nicht bedrücken und ihm vor allem keine Probleme bereiten. Er war ein Verfechter von Gerechtigkeit und überzeugt davon, dass sie hier das Richtige taten. Also bemühte er sich, dass nichts dieses Bild in‘s Wanken brachte. Was den überfallenen LKW anging, so war es immer dasselbe. Jedes Mal, wenn irgendetwas anormal verlief, ging es in der Gerüchteküche um Kunst oder Pläne. Angeblich wurde auch schon einmal eine neuartige Panzerwaffe aus einem Zug bei Trier gestohlen. Bisher entpuppte sich jedoch jedes Gerücht als Blödsinn. Zuvor beteiligte sich Lutz allerdings auch noch nie an irgendwelchen Spekulationen. Die Gedanken wurden schlagartig unterbrochen. Karsten trat an den Zug heran. „Wir müssen hier alles absichern. Es kommen hohe Tiere aus Paris, um hier Untersuchungen vorzunehmen. Eine Gruppe von der SS wird sich im Ort umhören. Ich weiß auch nicht was erbeutet wurde, aber ich kann euch sagen, denen geht bis Berlin, wahrscheinlich sogar bis ins Führerhauptquartier, der Arsch auf Grundeis. Macht also keine Fehler, überseht nichts. Meldet alles was ungewöhnlich ist. Und haltet bloß die Schnauze, wenn die da sind. Was das Wichtigste ist: Passt auf euch und eure Nebenleute auf! Wir wollen alle wieder gesund nach Hause kommen.“ Es wurde ringförmig Stellung um den LKW bezogen, ein Soldat aus dem zweiten Zug kletterte in einem Baumwipfel. Der dritte Zug traf ein und begann das Feld in Richtung Ortschaft abzusuchen. Sie kamen schnell voran und entfernten sich zunehmend von den verbliebenen Soldaten. Der Regen hatte dafür gesorgt, dass mögliche Fußspuren nicht mehr zu sehen waren. Der Boden rund um die Angriffsstelle war einfach viel zu weich. Die Spuren die noch da waren, waren zu sehr mit denen der deutschen Soldaten vermischt. Aber jeder noch so perfekte Angriff musste Spuren hinterlassen, vor allem, wenn hastig geflüchtet wurde. So waren die meisten doch vorsichtig optimistisch irgendetwas zu finden. Vor allem wenn sie sich ein paar Meter vom Wrack entfernten. Der LKW war noch weiter in den matschigen Boden eingesunken und wies dadurch mehr Schräglage auf, als noch vor etwa einer Stunde. Piet fragte sich bei dem Anblick, wieso das Fahrzeug nicht über die ausgebaute Straße gefahren ist. Auch war ihm unklar, wie man auf der weichen Straße ein solches Tempo erreichte. Die Fahrzeuge, die sie hergebracht hatten, machten zwischenzeitlich kehrt und fuhren zurück in den Ort. Wenn wirklich etwas gestohlen wurde, waren die Diebe weg, weit weg. Nur wohin? Wie weit kamen sie bei diesem Wetter ohne Fahrzeuge? Auf den Straßen gab es genug Kontrollposten, da würden sie unmöglich vorbeikommen. So richtig weit konnten sie also doch noch nicht sein. Er hoffte, dass keine Hinweise im Ort gefunden wurden und irgendwelche Indizien nach Paris führten. Zu sehr lagen ihm die Menschen hier am Herzen. Auch wenn das wahrscheinlich auf wenig Gegenliebe stieß. Aus der Ferne war der Lärm von Fahrzeugmotoren zu vernehmen. Sie kamen näher. Zwei Kübelwagen fuhren auf die Unglücksstelle zu. Die Sonne war zwischenzeitlich aufgegangen und hatte sich durch die dichte Wolkendecke gekämpft. Es fielen nur noch einige Tropfen vom Himmel und der Regen schien nun endgültig aufzuhören. Man könnte mittlerweile fast von einem schönen Morgen sprechen. Die Müdigkeit steckte Piet tief in den Knochen und wirklich warm war es ebenfalls nicht. So fiel ihm das Genießen schwer. Ganz davon abgesehen, dass er reichlich nervös war. Er hatte wahrlich kein Interesse daran die Angreifer ausfindig zu machen und sich mit diesen im schlimmsten Falle noch ein Gefecht zu liefern. In dem Kübelwagen saßen Offiziere. Sie sprachen nicht mit den gewöhnlichen Soldaten, nur mit den Zugführern. Diese deuteten in Richtung Ortschaft und so schnell wie die Offiziere da waren, waren sie auch wieder verschwunden. Begleitet wurden sie von den beiden zurückgebliebenen Schützenpanzern. „Die gehen erstmal im Warmen Kaffee trinkenund kommen wieder wenn‘s wärmer ist und wir die gesamte Arbeit erledigt haben. Dann klopfen die sich gegenseitig auf die Schulter und reden sich ein, was für eine tolle Arbeit sie geleistet haben.“, ätzte Lutz.