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Stalking kann jeden treffen, zu jeder Zeit und überall. Es geht weit über ein aufdringliches Beobachten hinaus und es ist definitiv kein romantisches Kavaliersdelikt. Es gibt keinen Schutz! Man kann es nicht beeinflussen, ob beim Einkauf zufällig ein Psychopath neben einem steht, den man nie wieder loswird. Laut Polizei sind es doch "bloß harmlose Geschehnisse", die einem in den Wahnsinn treiben. Doch steht er nicht da im Schatten der Tanne, in meinem Garten, um in meine Fenster zu starren, mich zu fotografieren und zu beobachten? Sieht er mir unbemerkt wieder zu, wenn am PC arbeite oder Kleider wechsle? Zu oft musste ich erfahren: Nur weil ich ihn nicht sehe, heißt es nicht, dass er nicht da ist. Dieses Buch ist eine wahre Geschichte mit Gänsehautfaktor und Ratgeber in einem. Rat aus erster Hand, denn ich habe all dieses Martyrium selbst durchlebt. Ich berichte, wie sich aus einer belanglosen, zufälligen Begegnung schleichend unbemerkt ein gewalttätiger Stalker entpuppte und wie aus Pralinen, plötzlich tote Tiere wurden, aus Liebesbekundungen plötzlich Drohungen. Im Strudel der Gewaltspirale mündete mein Stalking-Alptraum im versuchten Mord mit schwerer Körperverletzung. Solange sah die Justiz einfach weg. Ich zeige auf, wie sich Schutzlosigkeit durch Amtswillkür und Korruption anfühlt. Aber ich möchte auch darüber berichten, wie mir neuer Lebensmut half, zurück ins Leben zu kommen. Im Printbuch finden sich 71 Originalbilder (SchwarzWeiß-Ausgabe enthält diese Bilder in Schwarz-Weiß)
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Seitenzahl: 522
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10 Jahre Stalking
–
Nur weil Du ihn nicht siehst,
heißt es nicht,
dass er nicht da ist!
Eine wahre Geschichte über ein reales Martyrium durch ein über zehn Jahre andauerndes Stalking.
Von Ramona Wegemann
Stalking kann jeden treffen, - zu jeder Zeit und überall. Stalking geschieht auch nicht so weit weg, wie viele meinen. Es geschieht jeden Tag und es gibt keinen wirklichen Schutz. Man muss weder besonders gutaussehend noch berühmt sein, um plötzlich gestalkt zu werden. Es ist auch nicht immer der Ex-partner, der einem das Leben nach der Trennung zur Hölle macht. Man kann es schlichtweg nicht beeinflussen, ob man beim Einkauf zufällig einem Psychopathen über den Weg läuft, den man für den Rest seiner Zeit nicht mehr los wird. Stalking ist viel mehr als nur lästig. Es ist wahnhaft, boshaft, aggressiv, beängstigend und eine Form von Gewalt, da Stalking die Psyche regelrecht terrorisiert. Zudem bleibt es leider häufig nicht bei psychischen Angriffen.
Mit diesem Buch möchte ich Ihnen, meinen Leserinnen und Lesern, einen Einblick in die gruseligen und unerträglichen Situationen geben, die ich als Stalkingopfer erleiden musste. Ich möchte Sie spüren lassen, wie es sich anfühlt, hilflos ausgeliefert zu sein, wie das dauerhafte Stalking allmählich psychische und letztlich auch physische Spuren hinterlässt. Ich möchte verdeutlichen, dass Stalking weit über ein aufdringliches Beobachten hinausgeht und entgegen vieler Meinungen kein romantisches Kavaliersdelikt ist, denn es hat definitiv nichts mit Liebe zu tun! Es ist ein krankhaft-egoistisches „Ich-Denken“ des Täters, ein hasserfüllter Besitzanspruch, der im Strudel der Gewaltspirale nicht selten in körperliche Gewalt bis hin zum Mord ausufert. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann haben meiner Meinung nach die Justiz und auch die Gesellschaft viel zu lange weggesehen.
Stalking ist die Straftat, vor der die Justiz am meisten die Augen verschließt. Somit werden die Opfer nicht nur hilflos im Stich gelassen, sondern dem Stalker nahezu ausliefert. Daher möchte ich an die Justiz appellieren, endlich aufzuwachen, denn mein Schicksal ist in Deutschland kein Einzelfall.
Mein Buch soll veranschaulichen, wie sich Stalking auf die Gesundheit eines Menschen auswirkt und das Leben für immer verändert, von der eigenen Lebenseinstellung und -ansicht, dem Körper, dem Lebensumfeld bis hin zur Lebenssituation. Vieles, was vorher wichtig erschien, wird plötzlich trivial. Stalking manipuliert auch die eigenen Verhaltensweisen: Oft verändert sich sogar der Wohnort und nicht selten verlieren die Opfer sogar ihre Arbeit. Nicht selten werden sie komplett ihrem Leben entrissen und dabei völlig ruiniert. Hier wird auch deutlich, welchen volkswirtschaftlichen Schaden Stalking verursachen kann.
Das Leiden der Opfer wird häufig ignoriert, während den Tätern scheinbar die „Köpfchen gestreichelt werden". Es ist daher keine Seltenheit, dass Stalkingopfer ihrem Leben selbst ein Ende setzen, weil niemand bereit war, rechtzeitig einzugreifen!
So etwas darf einfach nicht passieren!
Mit meinem Buch möchte ich vor allem Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass sich Kämpfen immer lohnt. Ich möchte Mut machen, niemals aufzugeben, ganz gleich, wie aussichtslos die Situation an manchen Tagen zu sein scheint. Kein Opfer sollte sich das Leben nehmen lassen oder es sich sogar selbst nehmen, weil es scheinbar keinen anderen Ausweg mehr gibt! Auch ich war den Suizidgedanken in purer Verzweiflung verfallen und weiß daher genau, welche Verzweiflung nötig ist, um überhaupt erst auf solche Gedanken zu kommen. Aber genau wegen dieser eigenen Erfahrung weiß ich auch, dass sich Kämpfen lohnt und es Wege aus der Situation gibt. Glaubt mir einfach und lest dieses Buch.
Darum möchte ich mit meinem Buch nicht nur Mut machen, sondern auch zeigen, wie es gelingen kann, trotz schwerster Schicksalsschläge seinen Weg zu gehen, umzudenken und selbst aus allem Übel etwas Positives zu ziehen, um erfolgreich und glücklich zu werden und zu bleiben. Trotz Stalker!
In einigen Passagen gehe ich bewusst ausführlich auf die Gerichtsverhandlungen ein, wenngleich ich damit Gefahr laufe, dass diese Stellen etwas trocken oder langweilig erscheinen. Ich hoffe jedoch, Betroffenen damit zu helfen, die Furcht vor einem bevorstehenden Prozess zu verringern, indem man bereits eine Ahnung davon hat, was einen erwarten oder wie ein Prozess verlaufen könnte. Jemand, der noch nie vor Gericht stand und einen solchen Prozess durchmachen muss, weiß meine Ausführungen sicherlich zu schätzen. Außerdem waren die Ängste und die nervliche Belastung dieser ständigen Prozesstage für uns dermaßen unerträglich, dass ich sie hier einfach aufgreifen muss. Zudem sind die Prozesse ein wichtiger Bestandteil in der Gewaltspirale des Stalkers. Hier geht das Hochschaukeln Hand in Hand mit der Ignoranz der Gerichte. Darum bilden diese Abschnitte einen wichtigen Bestandteil meiner Geschichte, weil sich in den Prozessen wichtige Zusammenhänge auftaten.
Im Anhang des Buches gehe ich darum auch nochmal ausführlich auf meine Erfahrungen ein und zeige anhand meiner Situation, welche sinnvollen Maßnahmen es im Falle von Stalking gibt und wie man diese umsetzt. Mein Wissen basiert nicht auf theoretischem Lesestoff, sondern ich gebe Tipps und Ratschläge von mir als Opfer, weil ich dieses Martyrium selbst durchleben musste und aus eigener Erfahrung sprechen kann. Bei einigen sogenannten „Opferberatungen“ drängte sich mir häufig die Frage auf, ob diese Leute überhaupt auch nur im Entferntesten wissen, wovon sie sprechen oder ob sie mit ihren katalogisierten Einheitsratschlägen überhaupt eine Hilfe sind. Manche Berater schienen mir mit der Situation tatsächlich überfordert und ahnungslos zu sein, obschon die Situation längst über den Kipppunkt hinaus geraten war. Wo aber liegt dieser Kipppunkt? Der Kipppunkt ist der Punkt, an dem einfache Ratschläge nicht mehr greifen und das Stalking längst in den Strudel der Gewaltspirale geraten ist. Nun ist entschiedenes und rasches Handeln nötig! Eine richtige Analyse und das Erkennen von Stalking ist daher überaus wichtig. Um das Stalking zeitnah zu beenden, möchte ich Lösungsansätze aufzeigen, damit Opfer nicht so lange unter dieser Straftat leiden müssen, wie ich es musste.
Stalking bedeutet so viel wie Jagen oder Nachstellen. Einen Menschen gegen seinen Willen zu behelligen, ihm nachzustellen und psychisch unter Druck zu setzen, ist eine Form von psychischer Gewalt. Nicht selten kommen andere Straftaten wie Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder gar körperliche Gewalt hinzu. Vielleicht kennt jemand von Ihnen das unheimliche Gefühl, verfolgt oder beobachtet zu werden, und sei es auch nur aufgrund eines gruseligen Films? Stalking bedeutet für die Opfer unbeschreibliches Leid und ständig andauernde Angst. Dieser Zustand kann sogar krank machen und das ganze Leben beeinträchtigen. In Deutschland ist Stalking seit 2007 strafbar. Im Strafgesetzbuch (StGB) wird Stalking unter dem §238 juristisch beschrieben: Wer einem anderen nachstellt und dadurch dessen Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, dem drohen eine Geldstrafe oder bis zu drei Jahre Gefängnis. Doch genau hier ist das Problem: Wer entscheidet, ob die Lebensgestaltung des Opfers „schwerwiegend“ beeinträchtigt ist oder nicht? Es scheint willkürlich, ob die Person, die über den Grad der Schwere zu entscheiden hat, die Gefühlswelt und den Lebensstil des Opfers nachvollziehen kann. Während manche Menschen der Meinung sind, dass man erst seinen Wohnort, die Telefonnummer und die Arbeitsstelle ändern muss, bevor das eigene Leben schwerwiegend beeinträchtigt ist, so kann es für das Opfer schon unzumutbar sein, die Telefonnummer als soziale Verbindung zum Umfeld erneuern, das Zuhause aufgeben oder gar den Arbeitsplatz verlieren zu müssen. Ist man selbstständig tätig, dann landet man meist im völligen Ruin. Wie kann also jemand, der nicht in der Haut des Opfers steckt, darüber entscheiden, welche Kriterien die Lebensgestaltung „schwerwiegend“ beeinträchtigen? Muss das Opfer erst unzumutbare Hindernisse und Lebenseinschränkungen ertragen, bevor die Justiz überhaupt bereit ist, etwas zu unternehmen? Mittlerweile wurde dieser Paragraph geändert. Nun heißt es, dass die Taten nur noch ausreichen müssen, um eine Beeinträchtigung herbeizuführen. Doch ist es dadurch weniger willkürlich geworden? In der Realität dauert es lange, bis einem tatsächlich geholfen wird. Es ist nicht nur ein mühsamer Kampf gegen den Täter, sondern vor allem ein mühseliger Kampf gegen die schwergängige Justiz. Die Opfer werden leider häufig nicht ernst genommen, dafür aber oft belächelt, meist sogar unverrichteter Dinge fortgeschickt, wenn sie Hilfe bei der Polizei suchen. Ca. 80% der Opfer sind Frauen, doch Stalking kann Menschen jeden Geschlechts, jeder Altersgruppe, jeder Gesinnung und jeder Gesellschaftsschicht treffen. Ist ein Mann von Stalking betroffen, muss er sich zudem noch hämischen Sprüchen stellen: „Nimm sie doch, sie will es doch auch. Ist doch klasse, die ist willig. Ist doch super, wenn dir die Frauen hinterherlaufen…“ Doch aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass manche Sprüche von Frauen nicht sinnvoller oder feinfühliger ausfallen: „Ach, was beschwerst du dich denn? Was würde ich mich freuen, wenn ein Mann mal SO für mich schwärmen würde!“. Gerne hätte ich dieser Dame sofort meinen Stalker „vermacht“, wenn sie ihn sich doch so sehr wünscht. Auch diese Sprüche zeigen mir immer wieder deutlich, dass vielen Menschen nicht ansatzweise bewusst ist, was Stalking tatsächlich bedeutet.
Laut einer Statistik der Polizei aus dem Jahr 2018 sinkt die Zahl der in Deutschland angezeigten Stalking-Fälle seit 2008 angeblich. Waren es im Jahr 2008 noch über 29.273 Fälle, die zur Anzeige gebracht wurden, so sank ihre Zahl bis 2018 auf 18.960 Fälle. Laut einer Veröffentlichung des Bundeskriminalamtes hingegen wurden im Jahr 2008 31.549 Fälle erfasst. Diese unterschiedlichen Statistiken zeigen mir, dass selbst die Polizei keine genauen Angaben zu kennen scheint. Doch ganz gleich, welcher Statistik man nun Glauben schenken möchte, spiegeln diese Zahlen immer noch nicht die „tatsächlichen“ Fälle, also die Dunkelziffer, wider. In diesen Statistiken wurden lediglich die „aufgenommenen“ Fälle erhoben. Doch wie viele Fälle von der Polizei erst gar nicht zur Anzeige gebracht wurden, selbst wenn die Opfer dies versuchten, wird in keiner polizeilichen Statistik erfasst. Wie viele Opfer, mich eingeschlossen, die eine Anzeige bei der Polizei machen möchten, werden nicht ernst genommen und fortgeschickt? Diese Dunkelziffer dürfte gar nicht existieren, doch es gibt sie! Experten schätzen die Zahl der Opfer dreimal so hoch ein. Dies würde bedeuten, dass es schätzungsweise zwischen 60.000 und 90.000 Stalking-Fälle pro Jahr gäbe. Trotz entsprechender Gesetzte wird nur 1% der erfassten Fälle strafrechtlich verfolgt und schließlich verurteilt. 99% der Täter kommen immer noch ungestraft davon, weil die Beweislage so schwierig ist und die Opfer immer noch zu viel Gegenwehr seitens der Justiz erfahren müssen. Die Opfer werden im Stich gelassen, belächelt, ja sogar verspottet. Sie werden sich selbst und vor allem dem Stalker überlassen. Viele haben schlichtweg keine Kraft und auch keinen Mut mehr, sich jemandem anzuvertrauen. Sie zweifeln an sich, hinterfragen ihre eigene Wahrnehmung und stellen sich selbst in Frage, anstatt für ihr Recht zu kämpfen und es einzufordern.
Nun möchte ich zunächst darüber berichten, wie es mir in meinem Fall erging, um anschließend auf ausführliche Informationen zum Thema Stalking mit entsprechenden Beispielen einzugehen.
Heute weiß ich nicht mehr, wie oft ich nach den ersten Worten für dieses Buch rang, wie lange ich den Auftakt dafür vor mir herschob, wie oft ich mich dabei ertappte, zunächst Zeile für Zeile zu schreiben, nur um diese einen Tag später wieder zu verwerfen. Ich weiß, dass ich mich lange davor drückte, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen, mir die Geschehnisse der letzten zehn Jahre, welche mein Leben unkontrollierbar beeinflusst und geprägt haben, noch einmal vor Augen zu führen. Zu oft schwor ich mir, dass ich darüber „später mal“ ein Buch schreiben werde. Doch wie oft sagt man sich, „das mache ich mal“, tut es dann aber doch nicht? Mir fehlte einfach der Mut, in jeder Hinsicht. Wird es überhaupt jemanden interessieren, was mir widerfahren ist? Zu lange hatte sich niemand dafür interessiert, meine Hilferufe gehört oder mir zuhören wollen. Genau das machte es mir so schwer, den Anfang für dieses Buch zu finden: die Angst, dass es niemanden interessiert und die Angst, sich alles nochmal vor Augen zu führen. Diese Angst war auch nicht ganz unbegründet, denn verarbeitet hatte ich von dem Erlebten bislang kaum etwas. Es blieb ja auch nie wirklich Zeit dazu. Während des Schreibens brauchte ich oft Pausen. Wenn die Situationen durch meinen Kopf über die Finger in die Tastatur flossen, holte mich auch das Gefühl von damals wieder ein. Ich saß oft mit kaltem Schweiß unter den Armen und am Rücken auf dem Stuhl, begann zu zittern, zu frieren und bekam Bauch- und Kopfschmerzen. Wie froh war ich, dass ich, anders als damals, nun aus diesen Situationen ausbrechen konnte, wenn es unerträglich wurde. Während des Schreibens regelten oft meine Hunde für mich die Pausenintervalle, holten mich ins Hier und Jetzt zurück und forderten meine ganze Aufmerksamkeit. Ein Spaziergang an der frischen Luft brachte einen klaren Kopf und Luft in die beklemmten Lungen. Meinen Hunden habe ich viel zu verdanken, wäre ich ohne sie längst nicht mehr da, um diese Zeilen überhaupt schreiben zu können. Nun mussten nur noch die Ausreden aufhören, das Buch noch nicht in Angriff zu nehmen. Es war an der Zeit, zu beginnen, um loszulassen, zu verarbeiten, die wichtigen Informationen mit anderen zu teilen. Denn entgegen meiner Befürchtungen gibt es durchaus Menschen, die sich für das Geschehene interessieren. Betroffenen kann ich mit meinen Zeilen vielleicht sogar Mut und Kraft geben und somit helfen. Den richtigen Zeitpunkt zu suchen oder ein Projekt immer wieder auf später zu verschieben, ist nur eine Ausrede der Angst. Der richtige Zeitpunkt ist genau jetzt! Jetzt sollten wir das tun, was wir uns vorgenommen haben, denn was nach dem Jetzt kommt, können wir nicht vorhersehen. Wir können nicht wissen, ob es ein Später überhaupt geben wird. So sitze ich nun endlich an meinem Buch und fülle die ersten Zeilen. Dass mir die literarische Gewandtheit fehlt, möge man mir dabei bitte nachsehen. Es ist mein erstes Buch und kein Roman. Es geht um ein tatsächliches Verbrechen, welches in meinem Leben genau so stattfand. Ich gebe hier tiefe Einblicke in mein privates Leben, meine Gefühle, Ängste und in mein tiefstes Innerstes mitsamt der Verzweiflung und den Einschränkungen, die mir in diesem unerträglichen Leid aufgebürdet wurden.
Mein Buch ist ein Buch über Stalking. Was bedeutet Stalking, wie verändert es das eigene Leben und was richtet es mit der Gesundheit eines Menschen an? Stalking verändert die eigene Lebenseinstellung, die körperliche Verfassung, das Lebensumfeld und die Lebensansichten. Es wirkt sich auf die eigenen Verhaltensweisen, den Wohnort und die Arbeitsstelle aus. Stalking bedeutet Verluste in alle Richtungen, Verluste für das Opfer. Doch muss das so sein und so bleiben? Meine Antwort darauf lautet „Nein“. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass es an einem selbst liegt: Bleibt man das Opfer oder nutzt man alles Übel, um die Situation ins Gegenteil zu kehren? Wenn nur genügend Steine in den Weg gelegt werden, ergibt sich daraus bereits ein neuer Weg. Oder man baut aus diesen Steinen etwas Schönes am Rande. Kämpfen ist ein guter erster Schritt in die richtige Richtung. Wirf den Stein doch einfach zurück! So, wie man im Judo die Kraft des Gegners ausnutzt, um ihn zu Fall zu bringen, kann man auch sein Leben danach ausrichten, nicht in der Opferrolle unterzugehen.
Meine Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Dieses Buch soll die Grausamkeit des Stalkings ungeschönt aufzeigen, aber auch Rat und Wissen vermitteln, was man tun kann und muss, um sich zu wehren. Es soll zeigen, dass etwas gewaltig schief läuft in Deutschland. Aus diesem Grund ist dieses Buch wahre Geschichte, Ratgeber und Krimi mit Gänsehautfaktor in einem.
Es wird Zeit, dass die Öffentlichkeit und insbesondere auch die Justiz aufgerüttelt werden. Stalking ist kein romantisches Kavaliersdelikt. Es ist ein Raub an der eigenen Privatsphäre, der Freiheit und Selbstbestimmtheit sowie der Gesundheit und den eigenen Lebensweisen.
Ich werde darüber schreiben, wie sich aus einer belanglosen, zufälligen Begegnung scheinbar unbemerkt ein gewalttätiger Stalker entpuppte, wie der Alptraum Stalking im Strudel der Gewaltspirale im versuchten Mord mit schwerer Körperverletzung endete und wie sich Schutzlosigkeit durch Amtswillkür und Korruption anfühlt. Aber ich möchte auch darüber schreiben, wie mir neuer Lebensmut half, dem Stalking zu entkommen.
Wieso kann Stalking überhaupt solche Macht über uns gewinnen? Was ich in meinem Leben bereits lernen konnte, ist, dass Menschen gerne dazu neigen, in einer Graustufe zu leben. Manche sehen alles schwarz, das sind die Pessimisten. Manche sehen alles weiß, das sind die unverbesserlichen Optimisten. Die meisten Menschen leben jedoch in einer Graustufe. Diese Leute leben nicht, sie existieren. Alles gleitet einfach so dahin; eine Schnellstraße des Lebens, ohne Rastplätze, mit dem Blick ständig auf eine ungreifbare Zukunft gerichtet. Jeder möchte alt werden, ohne jemals alt zu sein. Wenn aber niemand alt sein möchte, warum wird dann so viel Zeit im Hier und Jetzt verschwendet? Wir haben nur das Jetzt! Ob wir morgen oder gar die nächste Stunde erleben, das können wir nicht wissen. Diese Worte leuchten jedem ein, und wahrscheinlich möchte fast jeder diesen Zeilen und Gedanken mit einem Kopfnicken zustimmen. Aber zwischen Verstehen und Verinnerlichen besteht ein großer Unterschied. Kaum wurde zustimmend genickt, geht meist alles genauso weiter wie zuvor: hektisch. Nun betrachten wir das Leben der Pessimisten, die alles nur negativ sehen, die nur bemängeln was ihnen fehlt oder was sie verpasst haben. Für sie läuft alles schief, alles ist schlecht. Und wenn sie so gar nichts zum Nörgeln mehr finden, dann wird über den Tellerrand hinaus geblickt und nach Fehlern im Leben anderer gesucht, um von den eigenen Problemen abzulenken. Das Leben der Positivdenker verläuft anders: Alles erscheint verträumt, sie springen ohne Sorgen von einer Lebenssituation in die nächste, ohne auch nur an Morgen zu denken. Da ist das Glas nie halb leer, sondern immer irgendwie fast voll. Aus der Traditionellen Chinesischen Medizin kennt man das Yin und Yang, die Gegensätze, die sich gegenseitig perfekt vervollständigen. Himmel und Erde, das Eine kann nur in perfekter Balance mit dem Anderen existieren. So steckt in allem Übel auch immer etwas Gutes! Doch wenn das Gleichgewicht durch fremde Einflüsse plötzlich gestört wird, dann ist es manchmal schwer bis unmöglich, seine innere Mitte jemals wiederfinden zu können.
Meine innere Mitte und meine Weltanschauung gerieten durch das Stalking völlig aus dem Gleichgewicht, und es dauerte viele Jahre, um diesem Wahnsinn einen Sinn zu geben, um meinen Frieden damit schließen zu können. Diese Erfahrungen möchte ich nun teilen, damit andere nicht die gleichen Fehler machen wie ich, damit andere vielleicht schneller verstehen, sich besser wehren können und hoffentlich rascher in ein normales Leben zurückfinden. Oder einfach nur, um anderen, die sich in dieser Situation befinden, besser zur Seite stehen zu können.
Schon lange beschäftige ich mich mit dem Gedanken, meine Erlebnisse aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Anfangs war es ein Gefühl von Rache, dass ich die Dinge, die mir so ungerecht vorkamen, öffentlich an den Pranger stellen wollte. Doch würde es das Geschehene ändern können? Würde es irgendetwas an dem durchlebten Unrecht ungeschehen machen? Nein. Die Vergangenheit kann man nicht ändern, so viel ist sicher, aber man könnte vielleicht einen Denkanstoß bieten, damit anderen geholfen werden kann. So lange hatte ich es vor mir hergeschoben. Immer wieder sagte ich mir: „Wenn das alles vorbei ist und ich endlich zur Ruhe gekommen bin, dann schreibe ich ein Buch darüber.“ Doch das war eigentlich nur Augenwischerei. Wer kennt sie nicht, die berühmten aufschiebenden Worte „wenn…, dann…“? Doch wann ist die Zeit für dieses „Dann“ gekommen? Wenn man tatsächlich alles hinter sich gelassen hat? Wenn die Sache hoffentlich irgendwann einmal vorbei ist? Wenn dieses einschneidende Erlebnis das ganze Leben verändert hat und die Folgen niemals wiedergutzumachen sind, kann es denn dann wirklich jemals vorbei sein? Es gibt keinen guten oder schlechten Zeitpunkt, um etwas Geplantes in die Tat umzusetzen. Es gibt nur irgendwann einmal ein: „Nun ist es zu spät.“
Das Stalking wurde leider immer noch nicht vollständig beendet. Ich beginne also dieses Buch, obwohl das vorgenommene „Dann“ noch nicht vollständig eingetreten ist. Vielleicht, weil ich insgeheim ahne, dass es noch sehr lange dauern kann und vielleicht sogar niemals beendet sein wird, wenn man den Prognosen der Fachleute Glauben schenkt. Doch dazu später mehr. Wie kam es dazu, dass ich ausgerechnet jetzt zu schreiben beginne? Anstoß war ein Bericht über Stalking im Fernsehen, für den man mich kontaktierte und fragte, ob ich bereit wäre, über meinen Fall öffentlich zu sprechen, um auf diese Problematik hinzuweisen. Für die Dreharbeiten suchte das Filmteam gemeinsam mit mir einen Originalschauplatz meines Stalking-Martyriums auf. Obwohl wir noch einige hundert Meter vom eigentlichen Schauplatz entfernt standen und dieser nur in der Ferne zu sehen war, zeigte mir dieser Besuch plötzlich ganz deutlich, wie fest mich das Erlebte immer noch im Griff hatte. Nie hätte ich damit gerechnet, dass mich dieser Besuch so emotional treffen würde. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre vergangen waren, brach ich in Tränen aus und fand mich in einem völligen Gefühlschaos wieder. Mein ganzer Körper zitterte und ich stotterte plötzlich. Mir wurde klar, dass ich bisher nur verdrängt, aber nichts verarbeitet hatte. Das war für mich der Auslöser. Der Zeitpunkt, mich meinen Ängsten zu stellen und mit der Aufarbeitung zu beginnen, um vielleicht irgendwann einmal abschließen zu können. Abzuschließen, nicht zu verdrängen.
Wenn man vor irgendetwas eine unbeschreibliche Angst hat, so nennt man das eine Phobie. Eine Phobie, also eine schreckliche, lebensbeherrschende Angst, kann man nur verarbeiten, indem man sich ihr stellt und an ihr arbeitet. Doch wie stellt man sich nun den Ängsten des Stalkings? Sucht man den Kontakt zum Stalker, um die Angst vor ihm zu verlieren? Wohl kaum. Dies ist weder empfehlenswert, um dem Stalking zu entkommen, noch sinnvoll, wenn der Stalker zu Gewalt neigt. Die regelmäßigen Begegnungen vor Gericht sind bereits qualvoll genug und können nicht als Angstkonfrontation gewertet werden. Bei Stalking kann man sich mit seiner Angst nicht wirklich auseinandersetzten, man kann sich ihr nicht stellen oder sich desensibilisieren. Dann merkte ich, dass es eine Art der Selbsthilfe sein kann, wenn man sich die schrecklichen Erlebnisse einfach von der Seele redet oder in diesem Fall von der Seele schreibt. So konnte ich das Erlebte in Ruhe verarbeiten, mich mit dem Geschehenen auseinandersetzen und mich auf diese Weise der eigenen Angst stellen. Wenn der Bekanntenkreis diesem Thema überdrüssig geworden ist oder man niemanden damit belasten möchte, wenn sich scheinbar niemand in die tatsächliche Gewalt hineinversetzen kann und stattdessen lieber versucht, alles herunterzuspielen, dann ist Schreiben oft hilfreich. Papier unterbricht nicht, es spielt die Situationen nicht herunter oder witzelt hämisch darüber. Man kann sich einfach alles von der Seele schreiben. Es ist wenig hilfreich, alles stillschweigend in sich hineinzufressen, um niemanden damit zu belasten. Wenn niemand zuhören will, dann ist Papier ein guter Zuhörer. Als ich nun allein mit all der grausamen Gefühlswelt im Magen im stillen Kämmerlein saß und über Möglichkeiten grübelte, wie ich diesem Alptraum endlich entkommen könnte, so kam mir immer wieder der Gedanke, dass ich über all dies berichten muss, es in die Welt hinausschreien oder auch darüber schreiben will. Jetzt ist es soweit, und ich fülle einfach meine ersten Zeilen.
„Das ist ja wie im Film, nur schlimmer.“ Diesen Satz höre ich häufig von Mitfühlenden, die kaum glauben können, dass so etwas in Deutschland, einem angeblich so zivilisierten, sozialen und fortschrittlichen Land, tatsächlich möglich sein kann. Das Rechtsbild ist erschüttert und obendrein auch der Glaube an die Rechtsordnung und den Schutz durch den Staat. Das kann doch alles nicht wahr sein, müsste man meinen. Doch leider habe ich am eigenen Leib erfahren, dass in Deutschland der Täter mehr Schutz und Zuwendung erhält als die Opfer. Dieser Umstand lässt Wut und Trauer vermuten: Wut über das Ausgeliefertsein gegenüber dem Täter und Trauer über die Hoffnungslosigkeit. Doch genau daraus schöpfe ich plötzlich eine ungeahnte Kraft, Kampfgeist und Selbstbewusstsein. Ich weiß, dass es unzähligen anderen Opfern ebenso ergeht wie mir. Viele von ihnen sind letztlich derart am Boden zerstört, dass Selbstmordgedanken den Tag beherrschen. Der Tod scheint an düsteren Tagen der einzige Ausweg aus diesem grausamen Stalking zu sein. In den Tod kann und wird mir der Stalker nicht folgen, wenn er mich auch sonst überall findet und ich keinen Frieden mehr vor diesem Unmenschen finde. Dann erscheint der Tod wie eine verlockende Befreiung. Wie verzweifelt man aufgrund des Psychoterrors denken und handeln kann, wird in diesem Buch deutlich. Die Zahlen hierzu erschrecken mich. Hier muss sich dringend etwas ändern! Das Leben ist kostbar, und niemand sollte es sich von einem Stalker entreißen oder sich selbst dazu hinreißen lassen, es zu beenden. Meine Zeilen werden Gefühle wie Fassungslosigkeit, Wut, Angst, Verzweiflung und sogar Hass widerspiegeln. Doch ich möchte auch Mut und Kraft für eine neue Sichtweise und einen Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt mitgeben. Ob es ein Happy End gibt? Das bleibt offen. Was überhaupt bedeutet „happy“ in diesem Zusammenhang? Wie kann Stalking jemals „happy“ enden?
Mein Buch ist kein Roman, keine Gruselgeschichte und kein Thriller, sondern die Erzählung einer unfassbaren, aber wahren Geschichte, die meiner Meinung nach eine Beschämung für unser deutsches Rechtssystem ist.
Nie vergesse ich dieses unglaubliche Gefühl, als wir staunend über den Gartenzaun gebeugt dieses wunderschöne, kleine Häuschen betrachteten. Wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Freizeitpark besucht, so aufgeregt breitete sich das Kribbeln im Bauch aus. Es war das erste Haus, welches uns beiden, meinem Freund Frederik und mir, auf Anhieb gefiel. Bei den anderen Häusern hatten wir eifrig über Vor- und Nachteile diskutiert und die Umgebung abgewogen. Bei diesem Haus war einfach alles anders. Es fiel uns schon im Vorbeifahren positiv auf; ein kleines, verstecktes Häuschen etwas abseits der Straße. „Guck mal, sowas wäre es doch!“ Wir verdrehten uns förmlich den Hals nach diesem süßen Häuschen und lachten dabei, weil es so unrealistisch und unerreichbar schien. Solch ein Haus, das war uns klar, können wir leider nicht bekommen. „Jetzt schauen wir erstmal nach dem Haus, das wir eigentlich besichtigen wollen. Vielleicht ist das ja auch ganz hübsch, es muss ja hier gleich kommen“, sagte mein Frederik. Wir fuhren die Straße auf und ab, konnten die gesuchte Adresse aber nicht finden. Was wir nicht wussten: Die Straße war vor kurzem umbenannt worden, und somit hatten sich auch die Hausnummern geändert. Als wir nun das dritte Mal an unserem Märchenhaus vorbeifuhren, bemerkten wir, dass dieses Traumhäuschen genau an der gesuchten Adresse lag und weit und breit kein weiteres Haus zu finden war. Wir fuhren von der Straße ab und in eine kleine Einfahrt zum Haus hinunter. Direkt vor dem Grundstückstor stellten wir das Auto ab und stiegen aus. Ringsum war kein weiteres Haus zu sehen. Es war umgeben von einem kleinen Kiefernwald sowie Wiesen und Feldern. Der Sommer kündigte sich langsam an, alles war grün und die Sonne angenehm warm an diesem Tag. Das Grundstückstor war ein altes, in weißer Farbe angestrichenes, quadratisches Gittertor mit quadratischem Gittergeflecht. An der Seite hing ein deutlich in die Jahre gekommener weißer Briefkasten ohne Namensschild. Es sah trotz oder gerade wegen dieser Altersspuren sehr romantisch und interessant aus. Gut sechs Meter vor dem Tor standen fünf bis sechs alte, in einer Reihe parallel zum Zaun gepflanzte Weidenbäume. Zwischen dieser Baumreihe und dem Gittertor standen wir nun und guckten uns erstmal wortlos um. „Ist es das wirklich?“ Ich traute mich kaum, diese Frage laut auszusprechen, weil ich Angst hatte, dass dieses Gefühl gleich zerplatzen könnte. Die Sonne leuchtete die Blätter der Bäume an und es schien, als wenn sich unzählige Lichter durch eine leichte Brise tanzend im Baum bewegten, um uns willkommen zu heißen. Keiner von uns sagte etwas, wir standen einfach nur da und waren überwältigt. Beim Blick über das Tor in den Garten hinein schaute man direkt auf die Kopfseite des hellgelben Hauses mit seinen roten Dachziegeln. Links und rechts neben dem kleinen Fußweg aus alten, quadratischen Gehwegplatten säumten kleine Büsche, Sträucher und ein Stück Rasenfläche die Zuwegung zum Haus. Links vor dem Haus waren noch ein Carport, welches zu einem Garagenhäuschen verlief, und eine ebenso in hellem Gelbton gehaltene Werkstatt. Wir wollten gern mehr sehen und liefen, soweit es die Vegetation rings um das Grundstück zuließ, um das eingezäunte Grundstück herum. Zwischen dem Haus und der 25 bis 30 Meter entfernten Straße lag eine kurz gehaltene Wiese über, die wir zumindest von der Straßenseite aus noch ein Stück weit entlang gehen konnten. Endlich entdeckten wir die gesuchte Hausnummer. Es war tatsächlich die von uns gesuchte Adresse. Bis auf den Vorgarten an der Kopfseite des Grundstücks war das Grundstück größtenteils recht verwildert, aber dennoch waren wir diesem wunderschönen Haus längst verfallen. Wir spekulierten darüber, wie schrecklich es wohl von innen aussehe, wenn es von außen in unseren Augen einfach so perfekt war. Wir hatten uns bis dahin schon einige Häuser angesehen und unbeschreibliche Überraschungen erlebt. Bei einem Haus fiel ich beinahe gleich bis in den Keller hinein, weil direkt hinter der Eingangstür der Fußboden komplett fehlte und sich ein großes Loch auftat, welches den sofortigen, aber ungewollten Einstieg in den Keller ermöglichte. Dieses Bild hatte ich nun vor Augen und dachte, dass es bei diesem Häuschen noch viel schlimmer kommen würde, verglichen mit den bereits besichtigten Häusern. Wir platzten vor Neugier und riefen sofort den Makler an. Wir baten darum, das Haus nun auch von innen besichtigen zu dürfen und vereinbarten gleich zum nächsten Tag einen Termin mit ihm. Am liebsten hätten wir vor dem Haus campiert! Wir taten uns schwer damit, nun wieder nach Hause zu fahren und diesen Ort zu verlassen. Am nächsten Tag waren endlich die unzähligen Stunden des Wartens vorbei, und wir fuhren nun zielstrebig zum Termin. Schon beim ersten Schritt in den Garten überkam mich ein wohliges Gefühl. Alles erschien vertraut, aber zugleich unwirklich. Dieses Gefühl umhüllte mich, als hätte mir jemand an einem kühlen Tag eine warme und gut duftende Decke umgelegt. Ein wunderschönes, großes Grundstück mit vielen kleinen Schuppen und einer großzügigen Garage am Eingang. Es gab so vieles zu entdecken. So muss sich Alice im Wunderland gefühlt haben! Ging man um das Haus herum, tat sich wieder eine neue Welt auf, ein verwilderter Garten, ein eigenes kleines Stück Wald mit hohen, gut 80 oder 100 Jahre alten Kiefern, alle krumm und interessant schief gewachsen, gezeichnet von der Zeit. Linksseitig des Hauses war ein Küchenanbau angebaut worden. Durch diesen Anbau gelangte man auch in das Haus, sodass die Küche der erste Raum war, den man im Haus betrat. Vor diesem Anbau tat sich ein weiteres kleines, gepflegtes Gartenstück auf.
Die kurz gemähte Wiese war mit bunten Blumen und Sträuchern eingefasst. Linksseitig wurde dieser kleine Garten von einer hellgelb gestrichenen Mauer eingefasst. In der Mauer zeigte sich ein vergittertes Durchgangstürchen mit einem Rundbogen, durch welches man in einen separaten, jedoch wesentlich ungepflegteren Gartenteil gelangte. In diesem wilden Gartenteil befand sich ein kleiner Unterstand, recht niedrig, so dass man nicht aufrecht darin stehen konnte. Er war mit allerlei Unrat zugestellt worden. Vermutlich war dies einmal ein Unterstand für Holz. Gleich hinter dem Unterstand tauchte ein uralter, kleiner Feldbahnwagen auf. Völlig in die Jahre gekommen und mit vielen deutlichen Schadstellen, rief er quasi um Beachtung. Mit diesen Feldbahnen wurde vor über einhundert Jahren die Ernte von den Feldern direkt in die Städte transportiert. Ein solcher Waggon stand nun hier auf einem Betonsockel abgestellt, umringt von Unrat, Unkraut und Müll. Er war völlig eingewachsen und bereits am Verfallen. Ich war sofort in diesen alten Waggon verliebt, und wenngleich ich nicht umgehend eine Verwendung dafür im Kopf hatte, so war mir klar, dass dieser alte Wagen von uns nicht abgerissen wird, sofern wir das Grundstück bekommen würden. Doch das Interessanteste stand uns ja noch bevor, das Haus. Wir brannten nun darauf, endlich das Haus betreten zu können und bekamen zeitgleich auch immer mehr Angst davor. Wenn der Makler scheinbar taktisch vorging und uns erst das schöne Grundstück zeigt, muss es drinnen eine absolute Ruine sein. Das rote Satteldach des kleinen Siedlerhauses wirkte noch recht neu auf uns und wir schätzten, dass es nicht älter als 15 Jahre sein konnte. Die in der Fassade weiß umränderten Fenster leuchteten freundlich und einladend zwischen der hellgelben Fassade hervor.
Der Makler öffnete die Tür und zu unserem Erstaunen hatte das Haus einen Fußboden. Ich musste weder mit den Armen mein Gleichgewicht halten, um nicht in die Tiefe zu stürzen, noch war auf den ersten Blick überhaupt irgendwelches Grauen zu erkennen. Wir standen in einer fast 20m² großen Wohnküche, mit einer zwar in die Jahre gekommenen, aber sehr großzügigen altweißen Einbauküche mit Gasherd. Die großen Küchenfenster, welche sich immerhin über zwei komplette Seiten der Küche erstreckten, ließen die Küche noch größer wirken, als sie ohnehin schon war. Es war hell und freundlich, schlicht gesagt sehr einladend, und der Ausblick aus den übergroßen Küchenfenstern in den eigenen Garten war traumhaft. Man blickte in eine grüne Oase, die eigene Oase. Bei diesem Ausblick bräuchte man weder Gardinen noch sonst irgendwelchen Sichtschutz anbringen, denn die Küche war nur vom eigenen, privaten Grundstück umringt. Hier musste man keine fremden Blicke fürchten. Das war der erste Gedanke, als wir in dieser lichtdurchfluteten Küche standen.
Die Küche schien ein späterer Anbau an das alte Haus zu sein, denn von hier aus gelangte man nun in den Hauptteil des Wohnhauses, in den Flurbereich.
Als ich den Flur betrat, durchströmte mich ein Gefühl, als wenn ich mit dem Haus verbunden wäre. Ich fühlte mich sofort zuhause und liebte dieses Haus einfach, ohne die anderen Räume gesehen zu haben. So komisch es klingt, ich fühlte mich von diesem Haus ebenso geliebt und behütet. Der Makler zeigte uns geduldig das ganze Haus, vom Kartoffelkeller bis zur Dachspitze, erklärte uns die Heiztechnik und den kleinen, silbernen Schmuckkamin mit Glaseinsatz im Wohnzimmer. Er ließ uns im Anschluss nochmal alleine durch das Haus streifen, um alles in Ruhe auf uns wirken zu lassen. Und wie es wirkte! Frederik und ich standen nahezu fassungslos da und grübelten, wo der Haken an der Sache sein könnte. Plötzlich breitete sich die Sorge aus, dass das Angebot mit dem Preis im Exposé vielleicht nicht stimmen könnte, daher fragten wir nochmal nach. Als der Makler den Preis bestätigte, war uns völlig klar, dass wir alle übrigen Besichtigungstermine absagen würden. Wir gaben sofort unsere Kaufzusage. Erst danach erfuhren wir noch, dass die Wiese zwischen dem eingezäuntem Hausgrundstück und der Straße ebenfalls zum Haus gehört. Wir waren völlig erschlagen und konnten unser Glück kaum fassen. Von diesem Tag an fuhren wir täglich zum Häuschen, und auch wenn wir nicht hinein konnten, so besuchten wir es zumindest wenigstens am Gartenzaun. Dieses Ritual pflegten wir, bis endlich der langersehnte Notartermin und letztlich die Übergabe der Hausschlüssel vollzogen waren. Unser Herz schlug für dieses Haus und es fühlte sich so an, als hätte es nach uns gerufen.
Dass wir uns überhaupt dazu entschlossen hatten, gemeinsam ein Haus zu kaufen, war bereits ein Sprung ins kalte Wasser, waren wir doch erst seit ein paar Monaten ein Paar. Als ich Frederik nur fünf Monate zuvor kennenlernte, wusste ich sofort, dass dies der Mann fürs Leben sein könnte. Wir begegneten uns zufällig in einer Diskothek. Im Vorbeigehen griff plötzlich eine Hand nach mir und streifte meinen Arm. So etwas konnte ich noch nie gut leiden. Ich war dann meist etwas unfreundlich zu demjenigen, der seine Hand nach mir auszustrecken versuchte. Als ich einen wehrhaften Spruch machen wollte, grinste mich Frederik offen und erwartungsvoll an. Als „Berliner Mädel“ war ich es gewohnt, mich nicht von jedem ansprechen zu lassen. Meine Mutter war bereits der Verzweiflung nahe und meinte, es würde für sie mit Enkelkindern recht düster aussehen, wenn ich an meiner abweisenden Haltung nichts ändern würde. Ich solle doch mal versuchen, nett zu sein, vielleicht wäre ja irgendwann der Richtige dabei. Und als mich nun diese fröhliche „Grinsebacke“ in der Disko so herzlich anstrahlte und so ungezwungen fragte „Hey! Hallo, wo willst du denn gerade hin“, war ich bereits drauf und dran, mit einem flapsigen Spruch zu kontern. Doch als ich Luft holte, hörte ich plötzlich diese innere Stimme: „Ramona! Sei nett! Der ist es!“ Also schluckte ich meinen Spruch herunter und war „einfach mal nett". Nur zwei Wochen später zog Frederik aus seiner Berliner Citywohnung zu mir in meine kleine Zweiraumwohnung mit Garten am Berliner Stadtrand. Meine beiden kleinen Hunde und auch meine anspruchsvolle Katze mochten Frederik auf Anhieb, und so wurde er quasi über Nacht zum Mann in meinem Leben. Dass wir in eine gemeinsame Zukunft steuern wollen, war uns beiden vom ersten Augenblick an klar, aber ebenso war es uns bewusst, dass wir dafür ein gemütliches Heim benötigen, welches wir uns gemeinsam aufbauen sollten. So suchten wir nach einer passenden Bleibe für unseren gemeinsamen Neubeginn. Auf einen Garten wollte ich auf keinen Fall mehr verzichten, allein der Hunde wegen. Die Mieten für solche Wohnungen mit Gartenteil im Berliner Raum waren jedoch derart hoch, dass ein Hauskauf sinnvoller erschien. Von nun an suchten wir also ein passendes, kleines Häuschen für uns.
Nahezu täglich besichtigten wir Häuser im näheren Umfeld. Ein Exposé fiel uns bei der Suche im Internet immer wieder auf. Obwohl es kaum Bilder des kleinen Häuschens gab, war es wie Liebe auf den ersten Blick. Aufgrund des weiten Arbeitsweges für Frederik wurde die Besichtigung jedoch immer wieder verworfen, und wir konzentrierten uns auf andere Objekte in der näheren Umgebung. Jedes Haus war auf seine Art schön, aber entweder gefiel es Frederik gut, aber mir nicht oder es gefiel mir gut und dafür Frederik nicht. Ein Haus gefiel sogar den Hunden nicht. Das zeigte uns unsere kleine Hündin deutlich, als sie sich im Haus ihres Frühstücks aus dem Hals heraus entledigte. Danach beschlossen wir, keinen Hund mehr zu den Besichtigungen mitzunehmen. Zuhause angekommen, setzte sich Frederik gleich wieder an den Computer, um nach weiteren Häusern zu suchen. Erneut wurde uns dieses eine Häuschen angezeigt! Es war wie verhext. Wir schmachteten gemeinsam den Bildschirm an und seufzten, weil die Wegstrecke vom Arbeitsplatz einfach zu weit entfernt war. Dann fiel mir ein, dass man über den Routenplaner verschiedene Strecken eingeben kann. Frederik hatte immer die schnellste Route (mit Autobahnanteil) eingegeben. „Vielleicht geben wir einfach mal die kürzeste Verbindung ein?“. Gesagt, getan. Die schnellste Wegstrecke führte über die Autobahn und war nur um drei Minuten schneller, als die kürzeste Wegstrecke, welche über Land führte. So wurden plötzlich aus knapp 60 Kilometer Fahrstrecke nur noch 25 Kilometer. Wir waren vor Freude ganz kribbelig, weil das Haus nun doch infrage kam. Wir fuhren sogleich los, um uns zunächst das Objekt von außen anzusehen und die Umgebung zu erkunden.
Es sollte der Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt werden.
Wir fühlten uns auf Anhieb dort wohl, und noch am Tag der Schlüsselübergabe zogen wir ein. Wir bauten das Bett daheim ab und nahmen die Hundekörbe und das Katzenklo mit, packten alles Nötige ein und schliefen von dem Tag an kein einziges Mal mehr in unseren Wohnungen. Die erste Nacht schliefen wir noch auf den Matratzen auf dem Boden im Wohnzimmer, da wir in der Hektik die Lattenroste unseres Bettes vergessen hatten. Da lagen wir nun auf den Matratzen auf dem Boden, die Hunde freuten sich, die Katze freute sich und wir staunten darüber, wie ruhig es hier war. Und dunkel. Als Berliner ist man das überhaupt nicht gewohnt. Es war ein fast befremdlich anmutender Sternenhimmel, den wir zu sehen bekamen. So viele Sterne, die im Lichtersmog einer Großstadt nicht zu sehen sind, tauchten nun über unserem neuen Häuschen auf. Die Geräusche der Stadt und die Lichtquellen vermissten wir überhaupt nicht. Wir waren auch eigentlich viel zu müde und erschöpft, um überhaupt etwas zu vermissen. Selbst das Lattenrost nicht. Es fühlte sich einfach alles richtig an und wir schmiedeten noch im Halbschlaf Pläne, was wir am nächsten Morgen alles in Angriff nehmen würden. Der Garten, das Haus, alles brauchte einen neuen Anstrich. Renovierung, Entrümplung und Gartenpflege, da lag so viel Arbeit vor uns.
Um Geld zu sparen, hatten wir bereits unsere Wohnungen gekündigt. Wir entschieden uns, im Haus ein Zimmer nach dem anderen herzurichten. Sicherlich eine nervenaufreibende Situation, welche unsere frische Beziehung auf den Prüfstand stellte. Doch gerade dank all dieser Aufgaben und Hürden fanden wir immer mehr zueinander. Nachdem wir im Haus alles in einen gut bewohnbaren Zustand gebracht hatten, kümmerten wir uns um den Garten. So kam das Projekt Feldbahnwagen auf den Plan. Nachdem wir den Teil des Gartens freigelegt, viel Schutt und Müll entsorgt und den Feldbahnwagen vom Müll und Gestrüpp befreit hatten, überlegten wir, was man damit anfangen könnte. Der Wagen stand bereits im Verfall auf seinem Betonsockel und sah so traurig aus, dass wir es nicht übers Herz brachten, diesen Wagen, der so viel älter war als wir selbst, einfach abzureißen.
Zum Glück teilen Frederik und ich die gleichen Interessen, und wir lieben es, alte Dinge zu erhalten. Jetzt, da wir auf einem solch großen Grundstück auf dem Land leben, wäre es da nicht naheliegend, sich ein paar Hühner anzuschaffen? Eigene Eier von unseren Hühnern; das war für uns Berlinstädter eine witzige, völlig romantische Vorstellung. Hier würde sich niemand an diesen Tieren stören. Wir haben nun Platz und die Möglichkeit, also warum nicht? Der Feldbahnwagen sollte zu neuem Leben erweckt und mit neuem Leben gefüllt werden. Er sollte das neue Heim für eine kleine Hühnerschar werden. Wir hauchten dem alten Wagen neues Leben ein. Von Grund auf restauriert, erstrahlte der Feldbahnwagen nun in neuem Glanz. Er wurde ein richtiges Schmuckstück und ich glaube, die Hühner fühlten sich auch sehr wohl darin.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Hühner bei uns einzogen. Unsere Hühner bekamen alle einen Namen, und keines musste die Schlachtung fürchten. Selbst in hohem Alter bekam jedes unserer Hühner noch sein Rentenkorn, und auch, wenn sie irgendwann keine Eier mehr legten, so blieben sie bis zum letzten Tag glückliche Hühner.
Natürlich waren wir auf dem Land die Neuen, die Sonderlinge. Und was die Tierhaltung anging, auch die „Spinner“. Auf dem Land ist es nicht immer schön und romantisch. Die Einstellung zu Tieren ist an vielen Orten leider immer noch hinterwäldlerisch. Tiere haben keinen Stellenwert und die Wertschätzung für ein Tierleben ist nur bei wenigen Landleuten zu finden. Während einige Leute ihre Katzen ignorant jeder Verwahrlosung eine wilde Vermehrung gewähren, sind andere mit erschreckenden Maßnahmen dabei, die Vermehrung einzudämmen. Katzenbabys werden leider selbst heutzutage noch bevorzugt im Wassereimer ertränkt oder mit dem Stock totgeschlagen. Dieses veraltete Gedankengut wird leider immer noch von Generation zu Generation weitergegeben. Da muss man mal versuchen, Ruhe zu bewahren, wenn ein alter Bauer vor einem steht und meint, dass die Katze schon lernen würde, keine Jungen mehr zu zeugen, wenn man ihre Babys vor ihren Augen möglichst brutal erschlägt. Dies war die Überzeugung des Mannes, der bis dahin die Katzenbabys tötete und von Kastration so gar nichts hielt. Uns war völlig klar, dass wir diese Ansichten nicht über Nacht ändern konnten, aber wir versuchten, das Leid zu mildern. So sprachen wir mit vielen Bauern ab, dass wir die Babys aufnehmen und an neue Besitzer vermitteln könnten. Durch die Vermittlung der Kitten konnten wir etwas Geld sammeln und viele Katzen kastrieren lassen. Wenngleich einige Bauern unsere Idee nicht teilten, so hatten wir vielen Katzen das Leben gerettet und den Muttertieren eine Kastration ermöglicht. Denn auch das war keine Selbstverständlichkeit. Auf dem Land hält sich der Irrglaube, eine kastrierte Katze sei faul und würde keine Mäuse mehr fangen. So waren wir also die „Spinner“ mit den vielen Tieren. Fortan wurden uns verletzte und schwer kranke Tiere einfach über unseren Zaun geworfen. Die Tiere wurden teilweise wie Müll entsorgt. So auch ein kleiner, nur wenige Wochen alter Kater. Als Frederik am Abend noch einmal zur Mülltonne ging, war es bereits dunkel und alles lag verschneit, still und leise unter einer dicken, weißen Winterpracht. Auf dem Rückweg hörte Frederik ein leises Maunzen. Es war kaum zu hören und er konnte es nicht richtig lokalisieren. Frederik suchte alles ab, aber fand das Kätzchen nicht. Er lockte und rief immer wieder nach dem Kätzchen, doch es kam nicht, maunzte immer leiser. Frederik holte mich rasch dazu, damit ich ihm beim Suchen half. Wir liefen durch den Schnee und tasteten uns immer näher an das kleine Kätzchen heran. Dann fanden wir es: unter einer Schneedecke. Ein kleines, gestreiftes Kätzchen mit einer weißen Nase und weißen Pfoten. Es wurde von den Schneemassen nahezu vergraben, konnte sich kaum noch rühren und war halb erfroren. Die Hinterbeine konnte es nicht mehr bewegen. Mit den steif gefrorenen Vorderbeinen versuchte es sich mit aller Mühe aus dem Schnee zu befreien und hob den Kopf in unsere Richtung. Frederik griff gleich zu und zog das kleine Tier aus dem Schnee. Wir nahmen den Kater sofort unter die Jacke und eilten mit ihm ins Haus und wärmten ihn erstmal auf. Es war ein unbeschreibliches Glück, dass Frederik gerade noch rechtzeitig das schwache Maunzen gehört hatte. Wir pflegten ihn gesund, ließen ihn kastrieren und fanden ein schönes, neues Zuhause für den kleinen Kerl.
Natürlich blieb unsere Tierhaltung nicht nur bei Hühnern, Katzen und Hunden. Wir hatten ein großes Grundstück mit mehreren Tausend Quadratmetern. Also hatten wir nicht nur viel Platz, sondern auch viel Arbeit damit. Zwischen den alten Kiefern war es schwierig, dem Wildwuchs Einhalt zu bieten. Mit dem Rasenmäher kam man zwischen den Bäumen und dem unebenen Böden nicht richtig durch. Es dauerte daher nicht lange, bis uns die Idee kam, für die nur schwer zugänglichen Stellen im Garten kleine Schafe anzuschaffen, die sämtliche Gräser kurz halten sollten. Mit unserem Kombi fuhren wir von Berlin bis nach Fehmarn an die Küste hoch, um von einer Züchterin sechs Minischafe der alten deutschen Nutztierrasse Skudde zu adoptieren. Einen Pferdeanhänger hatten wir nicht und auch keine Anhängerkupplung am Auto, um einen Anhänger zu leihen. Da diese Schafe kaum größer als ein Hund sind, dachten wir uns, dass sie sicherlich auch in einem Kombi zu transportieren wären. Wir adoptierten eine schwarze Zippe mit zwei bunt gescheckten Lämmchen und einen wunderschönen, roten Bock mit geschwungenen Hörnern, die sich wie bei einem Widder rund um die Ohren zu drehen schienen. Zwei grau gescheckte, junge Schäfchen rundeten die Zahl von sechs gut auf. Und sie passten allesamt ins Auto. Wir klappten die Rücksitzbank um und kleideten die Ablagefläche gut aus. So fuhren wir, frisch gebackene und stolze Besitzer von sechs niedlichen Skudden, wieder zurück in Richtung Berliner Umland. Die anderen Autofahrer staunten sicherlich nicht schlecht, als sie während ihres Überholvorgangs in ein verwundertes Schafsgesicht blickten, welches ihnen beim Blöken die Zunge rausstreckte. Die Schafe zogen gleich neben den Hühnern in den nun dafür hergerichteten, ehemaligen Holzunterstand ein. Sie konnten den ganzen Tag zwischen Stall und Auslauf wählen und bekamen auf Zuteilung die große Wiese vor unserem Haus zum Grasen. Da alle unsere Tiere den Status eines Haustieres haben und auch dementsprechend von uns behandelt werden, dauerte es natürlich nicht lange, bis wir die Schafe gezähmt hatten und sie uns über das Grundstück hinweg überall hin folgten.
Die Arbeit als Tierpsychologin und Tierverhaltenstherapeutin war von Kindesbeinen an mein Traumberuf. Als ich im Alter von 11 Jahren das erste Mal von diesem Beruf hörte, war mir klar, dass ich genau das später einmal werden möchte. Schon damals begann ich, für dieses selbst zu finanzierende Studium mein Taschengeld zu sparen. Ob Autowaschen, Hunde ausführen, Babysitten oder Zeitung austragen, ich nahm nahezu alle Jugendarbeiten an und sparte eisern jede einzelne Münze. Auch in der Schule war ich von jenem Augenblick an sehr motiviert und wollte gute Noten schreiben. Nach Beendigung der Schulzeit suchte ich mir einen soliden Ausbildungsplatz und entschied mich für einen Kaufmännischen Beruf. Nachdem ich meine Lehre zur Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellten absolviert hatte, nahm ich das Studium in Angriff. Mein Leben war auf dieses Ziel ausgerichtet, und nach jahrelangem Fleiß erfüllte sich mein Traum endlich. Durch die stattliche Größe unseres Grundstückes hatte ich nun die Möglichkeit, meine eigene Hundeschule zu eröffnen. Parallel dazu bot ich auch Hausbesuche an, denn meine Schwerpunkte lagen nicht nur in der Hundeerziehung und -haltung, sondern auch bei anderen Haus- und Heimtieren wie Katzen und Pferden. Da ich auch staatlich geprüfte Papageienzüchterin bin, reichte mein Behandlungsspektrum vom Wellensittich bis zum Pferd.
Eines Tages kam ein Havaneserzüchter zu mir, um meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er hatte einen kleinen, jungen Rüden, der sich auf Ausstellungen einfach nicht auf dem Richtertisch präsentieren wollte. Der kleine Hund war ein vielversprechender Nachzuchtrüde, doch aufgrund seiner Angst und Unsicherheit bekam er nie die für die Zucht nötigen Wertnoten. Als er meine Schäfchen im Garten grasen sah, fragte er mich plötzlich, ob ich nicht noch ein kleines Pony haben wollte. Er besaß ein kleines Pony, aber wusste nicht, wohin damit. Niemand würde es haben wollen. Als Minishetty sei es als Reitpony ungeeignet, und zwischen den kleinen Schafen würde das Pony doch gar nicht auffallen. Zunächst musste ich lachen, da dieser Gedanke so lustig erschien. Als ich aber merkte, dass er es wirklich ernst meinte, besprach ich diese Idee am Abend mit Frederik: „Wir können es uns ja mal anschauen…“ Und so kam es, dass bald ein kleines, bunt geschecktes Minipony mit dem klangvollen Namen Donatella zwischen den Schafen stand. Donatella wechselte grad ihr Fohlenfell und war völlig verfilzt. Der Halter war sichtlich mit der Haltung des Ponys überfordert. Es brauchte einige Tage, bis ich sie in mühsamer Kleinarbeit mit einer Nagelschere von den starken Verfilzungen befreit hatte.
Für mich war es schon immer wichtig, dass jedes Tier artgerecht und glücklich gehalten wird. Uns war von Anfang an klar, dass ein Pony nicht alleine zwischen Schafen gehalten werden sollte. Wir sahen uns also nach einem passenden zweiten Pony um, damit Donatella nicht alleine leben musste. Es dauerte zwar leider ein paar Wochen, aber dann fanden wir an der Nordseeküste eine Miniponyzüchterin. Kurz darauf zog der kleine Tim bei uns ein. Timmys Umzug zu uns war ebenso abenteuerlich wie der Umzug der Schafe, denn wir hatten nach wie vor keinen Pferdeanhänger. Donatella wurde uns von ihrem Besitzer gebracht, aber wie sollten wir den kleinen Tim zu uns holen? Wir überlegten, dass wir ihn ebenfalls mit dem Kombi abholen könnten, denn schließlich war das Pony nicht größer als ein Schäferhund und auch nicht größer als ein Schaf. Den Kombi verkleideten wir innen mit festen Brettern, bauten eine Art stabile Box in das Auto hinein und legten alles ordentlich mit rutschfesten, wasserfesten Matten aus. Wir polsterten alles noch mit Stroh und Heu. Was unser Kombi in seinem Leben schon alles transportiert hatte, könnte sicherlich ein eigenes, amüsantes Kapitel füllen.
Unser Alltag auf dem Hof wurde nach und nach teils zufällig gewollt, wie die Ponys, und teils zufällig ungewollt mit neuem Leben gefüllt. Unser vorheriges Stadtleben wandelte sich mit jedem Tier, das bei uns einzog. Unser Lebenswandel änderte auch unsere Sichtweisen und Prioritäten.
Selbst heute erinnere ich mich noch gut an den Anruf, als Frederik und ich gerade beim Einkauf waren. Der benachbarte Tierschutzverein, mit dem wir bereits öfter bezüglich der Kitten zusammenarbeiteten, war am Telefon. Die Mitarbeiterin war verzweifelt und meinte, wir wären ihre letzte Hoffnung. Ein kleines Rehkitz wurde gefunden und sie würden dringend eine Pflegestelle benötigen. Wir wussten noch gar nicht so recht, was da auf uns zukommen würde, doch wir sagten selbstverständlich sofort zu, das Kitz zu übernehmen. Wir ließen alles stehen und liegen und fuhren gleich zum vereinbarten Treffpunkt. Von nun an waren wir Eltern eines verlassenen Rehkitzes. Die passenden Informationen zur Aufzucht von Rehkitzen zu erhalten, stellten wir uns wirklich einfacher vor. Es war mühsam, im Internet etwas anderes als Rezepte für Rehbraten zu finden. Angebliche Ansprechpartner gaben lieber Auskunft über saftige Strafen und Belehrungen über Wilderei, als dass sie einen nützlichen Rat für uns hatten. So mussten wir uns alles Wissen und die Handhabung selbst aneignen, um diesem und anschließend noch zwei weiteren Kitzen in diesem Jahr, eine gute Pflegefamilie sein zu können. Uns war klar, dass es wie uns, auch tausend anderen Menschen jedes Jahr gehen muss, die mit einem wilden Findelkind konfrontiert und mit den daraus resultierenden Problemen allein gelassen werden. Diesen Umstand fanden wir mehr als bedauerlich. Aus dieser Not heraus entwickelten wir unsere Rehkitzrettung. Über eine Internetseite und eine Notrufnummer konnte man uns fortan kontaktieren, um Rat und Informationen zu erhalten, ohne böse Vorwürfe oder Drohungen befürchten zu müssen.
Ich bin der Ansicht, dass richtiges Handeln und richtiges Verhalten durch richtiges Wissen entsteht. Natürlich sterben immer noch viele Tiere aufgrund der „Das-habe-ich-nicht-gewusst-Krankheit“. Doch genau aus diesem Grund ist Aufklärung so wichtig. Viele Menschen sammeln ein scheinbar verlassenes Rehkitz oder auch ein Feldhäschen ein, weil sie glauben, dass die Mutter es verlassen hat. Der Nachwuchs von Reh und Hase wird jedoch in den ersten Wochen im hohen Gras versteckt und die kleinen müssen dort geduldig stundenlang auf die Rückkehr der Mutter warten. Sie wurden also nicht verlassen. Das wissen die meisten Leute aber leider nicht, woher auch. Natürlich ist es für die Mutter schrecklich, wenn der wilde Nachwuchs „entführt“ wird, weil die Menschen es in diesem Moment nicht besser wissen. Aber auch in solchen Fällen besteht die Möglichkeit, die Babys den Müttern zurückzubringen, wenn man den menschlichen Geruch durch Einreiben mit frischer Erde überdeckt. In 80% der Fälle ist dieses Vorgehen von Erfolg gekrönt. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Menschen aus einem Gefühl der Fürsorge und Tierliebe handeln und sich bemühen, Hilfe und Informationen zu erhalten. Ich rechne es jedem hoch an, wenn er sich kümmert, selbst wenn man dabei vielleicht zunächst etwas falsch macht. Unsere Tätigkeit habe ich immer auch dahingehend verstanden, dass unsere Hilfe am Tier auch eine Hilfe am Menschen ist, genau wie umgekehrt.
Plötzlich führten wir mit unseren Tieren ein Leben, das wir so nicht geplant hatten. Es entwickelte sich von selbst. Wenn uns jemand fünf Jahre vorher gesagt hätte, dass wir eine Tierrettungsorganisation gründen, ich meine tierpsychologische Hundeschule auf meinem privaten Grundstück führen und wir eine Zuflucht für verstoßene und verwaiste Tiere in Not aufbauen würden, so hätten wir sicherlich Angst vor all diesen Aufgaben bekommen. Doch tatsächlich wächst man mit seinen Aufgaben. All diese Tiere wollen jedoch nicht nur geliebt werden, sondern benötigen auch Futter. Die handelsüblichen Kleinpackungen an Heu und Stroh aus dem Zoofachhandel waren mit steigender Tieranzahl weder praktisch noch finanzierbar.
Eines Tages standen auf dem benachbarten Feld große Strohballen. Da ich nicht wusste, wer der Eigentümer dieses Feldes war, band ich kurzerhand einen großen Zettel an einen dieser Strohballen fest. Ich hinterließ eine Notiz, dass wir Interesse an dem Kauf eines Ballens hätten und uns über Kontakt sehr freuen würden. Es dauerte keinen Tag, da kam der Anruf des Verkäufers. Er wollte uns einen Ballen anliefern. Somit war das Geschäft besiegelt.
Am nächsten Tag lieferte uns der Hobbybauer wie vereinbart einen Rundballen Stroh für unsere Tiere. Frederik und ich empfingen ihn an unserem Gartentor. Er fuhr mit einem alten Golf II und einem kleinen, einachsigen Anhänger auf dem der Rundballen festgezurrt war, vor. Wie er diesen großen Ballen auf diesen kleinen PKW-Anhänger hinauf bekam, war mir irgendwie ein Rätsel, denn der Mann war nicht unbedingt ein athletisch oder groß gebauter Mann. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig, vielleicht Anfang fünfzig. Seinen runden, kahlen Kopf umringten noch einige wenige, kurz geschorene und bereits grau gewordene Stoppeln. Mit geschätzt vielleicht gerade mal 169cm Körpergröße war er nicht besonders groß und für sein Gewicht definitiv etwas zu klein geraten. Seine Kleidung erzählte von seiner Arbeit. Die Jeanshose sowie das T-Shirt wirkten etwas lumpig und beansprucht, seine Füße steckten in alten und recht ausgelatschten, ursprünglich mal weißen Turnschuhen. Seiner Statur wegen nahm ich an, dass er sicherlich rein körperlich nicht in der Lage war, einen solchen großen Rundballen selbst auf den kleinen Anhänger zu hieven oder diesen mittels Rampe auf den Anhänger zu rollen. Solch ein Ballen wiegt immerhin an die 200 Kilo. Aber als Bauer, wird er sicherlich nötige Gerätschaft dafür haben, verwarf ich meine Gedanken. Wie auch immer er den Ballen auf den Hänger brachte, ich war froh, dass wir nun ausreichend Stroh hatten und nicht mehr die kleinen Packungen für den nahezu zehnfachen Preis im Handel kaufen mussten. Wir unterhielten uns noch einen Moment lang mit dem Bauern, bevor er den Ballen vom Anhänger schubste. Es war ein kurzes und belangloses Gespräch über den Gartenzaun hinweg, bei dem sich herausstellte, dass er sogar hier aus der Gegend kam. Seine sprachliche Ausdrucksweise war bodenständig und von einem starken Brandenburger Dialekt geprägt. Er wirkte dadurch irgendwie lustig und sympathisch und „gerade heraus“. Wir freuten uns, dass wir Kontakt zu jemanden gefunden hatten, der hier aus der Gegend kam. Wenn man auf dem Land neu ist, ist es doch recht schwer, Anschluss zu finden. Im Gespräch bot er uns sogleich an, dass wir ihn bei seinem Kosenamen nennen könnten, den er seiner Aussage nach wohl schon seit Kindertagen hatte. Ich musste bei seinem Kosenamen etwas lachen, da ich diesen Ausdruck als Bezeichnung für eine Steinschleuder wiederum aus meinen Kindertagen kannte und sogleich etwas Schabernack damit in Verbindung brachte. Wir nennen ihn in diesem Buch abgewandelt einfach fortan Zwille. Nach einem kurzen Plausch verabschiedete sich Zwille und verschwand mit seinem braunen Golf und dem rappelnden Einachsanhänger. „Zwille.., damit hatten wir als Kinder kleine Kiesel auf Dosen geschossen“, witzelte Frederik, als wir den Strohballen lachend und schäkernd zu seinem Bestimmungsplatz rollten.
Von diesem Tag an bemerkte ich den alten Golf immer öfter. War ich vielleicht unbemerkt sensibel dafür, weil ich den Fahrer ja nun kannte? War mir das Auto vorher einfach nur nicht aufgefallen? Es schien merkwürdig, dass jetzt, wo das Feld doch abgeerntet war, Zwille so viel am Feld zu sehen war, wo wir bis dahin nie jemanden bemerkten. Doch mit den üblichen Tätigkeiten eines Landwirtes kannten wir uns bis dahin nicht richtig aus und waren uns sicher, es würde alles seine Gründe haben und uns zudem auch nichts angehen. Scheinbar zufällig fuhr Zwille fast täglich die Straße vor unserem Haus mehrfach auf und ab. Wenn ich genauer darauf achtete und hinüber sah, sah ich, wie er zu mir schaute und freundlich grüßte. Selbstverständlich grüßte ich zurück, das gehört sich schließlich so. Doch plötzlich wendete der Wagen ohne jegliche Verzögerung und kam zügig zu mir herangefahren. Egal wo ich mich auf unserem Grundstück auch befand, Zwille stellte sein Auto unmittelbar auf der Straße oder direkt vor unserer Einfahrt ab. Er stieg flott aus dem Auto aus und kam zu mir. Es verblüffte mich, aber ich dachte mir, „das wird hier auf dem Land halt wohl so sein“, dass man sich einfach für einen Plausch die Zeit nimmt und „breit macht“. Er verwickelte mich in unverfängliche Gespräche, fragte höflich nach, ob wir mit dem Stroh zufrieden seien und begann unaufgefordert über belanglose Dinge zu sprechen. Er erzählte viel über das Dorf, die Bewohner, dass früher auf den Feldern noch Wirtschaft mit Flugzeugen getätigt wurde und dass seine Mutter noch im Dorf wohne. Er selbst wohnte immerhin gut 25 Kilometer entfernt, also quasi drei Dörfer weiter, würde aber immer wieder seine Mutter im Dorf besuchen. Zwischen den Zeilen der belanglos wirkenden Gespräche sagte er plötzlich so ganz nebenbei, dass ich mich nicht erschrecken solle, wenn er morgen mit dem Traktor käme, um die Wiese vor unserem Haus zu scheiben. Das bedeutete, er würde sie umgraben. Er würde dort einen Acker vorbereiten. Auf meiner Stirn runzelten sich Falten. Ich konnte kaum glauben, was er da sagte. Wie? Die Wiese vor unserem Haus? Das ist unsere Wiese, die soll bitte Wiese bleiben, die könne er doch nicht einfach umgraben! Er zückte rasch einen Straßen-Atlas-Plan hervor, eine veraltete Straßenkarte, die fast keinen Zusammenhang mehr an den zerfledderten Blättern fand. Er wollte mir völlig überzeugt weismachen, dass ihm das Stück Land vor unserem Haus gehören würde und deutete mit den Fingern ständig auf die verschmutzte Straßenkarte. Ich war über die Art und Weise ein wenig amüsiert, aber auch etwas empört über seine freche Idee, blieb aber freundlich und verteidigte meinen Standpunkt, dass wir diese besagte Fläche mit dem Haus zusammen gekauft hatten und alles notariell festgeschrieben war. Es müsse sich also um einen Irrtum handeln, wenn er meinte, es sei seine Fläche. Ich sagte ihm, dass wir das auch notariell belegen können, wenn er das möchte. Wir hätten sogar eine Katasterkarte, denn der Straßenplan könne ja nur wenig über Eigentumsverhältnisse aussagen. Er winkte plötzlich ab und lenkte ein. Vielleicht wäre das doch ein Irrtum. Er würde das nochmal prüfen, bevor er die Fläche umgräbt. Ich war wirklich sprachlos über diesen Auftritt und zwischen amüsiert und verunsichert hin und her gerissen. Er würde es nochmal prüfen, bevor er die Wiese umgräbt? Er war immer noch nicht davon abgerückt, die Wiese umgraben zu wollen? Wir zogen dann recht bald einen Zaun um die besagte Fläche, die zwischen dem Haus und der Straße lag. Die Fläche misst immerhin knapp 2.500 qm und sollte als Weide für unsere Tiere dienen und nicht zum kostenlosen Acker für Zwille werden.
Solche Ausflüge in die Kopfwelt von Zwille blieben mir, in immer kürzeren Abständen, auch weiterhin nicht erspart. Komisches Landvolk, hätte man oft denken können, aber ich wurde höflich erzogen, und einfach auf ein Gespräch nicht zu reagieren, nicht zuzuhören, das wäre ja unangebracht, oder? So benahm ich mich halt auch wohlerzogen und lauschte den phantasievollen Geschichten von Zwille, auch wenn ich eigentlich Besseres zu tun gehabt hätte. Er berichtete davon, dass er Frührentner sei, weil er einen Herzinfarkt auf dem Feld gehabt hätte. Ihm waren einige Stands und Bypässe gelegt worden. So erschreckend sich sein Schicksal auch anhörte, legte sich sogleich ein grauseliges Gefühl in meinem Bauch nieder, was nichts mit Mitleid zu tun hatte. Rentner? Oh Schreck! Viel Zeit! In meinem Kopf pochte es gleich hämmernd, oh nein, bitte nicht. Egal, ich bin ein taffes „Berliner Girly“ und würde mit meiner Lebenserfahrung an seltsamen Gestalten auch dieser Gestalt schon gekonnt und höflich auszuweichen wissen, wenn es doch zu nervig würde. Das dachte ich mir so. Doch auf dem Land ist es halt anders. Zwille kam nun täglich und war mit seiner einfachen Art auch immer irgendwie sympathisch, zwar etwas nervig und aufdringlich, aber doch irgendwie auch nett. Frederik und ich fragten uns immer wieder, warum er so nett zu uns sei und dachten beschwichtigend, das ist wohl hier auf dem Land einfach so. Zwille brachte uns häufig frisches Obst oder Gemüse aus seinem Garten mit. Er erklärte, er habe viel zu viel angebaut und seine Frau könne das ganze Zeug nicht mehr sehen. Wenn ich nicht zu Hause war, hing er es irgendwann sogar körbeweise an den Zaun oder stellte es vor die Tür. Wenn ich beiläufig in den zahlreichen Gesprächen erwähnte, dass ich Himbeeren besonders gerne mag, hingen am nächsten Tag Himbeeren am Zaun und sogar einige Himbeerpflanzen für den Garten dazu. Wenn Frederik am Sonntag eine Bohrmaschine brauchte, so brachte Zwille uns diese noch am gleichen Tag vorbei und zeigte sich immer hilfsbereit. Wir waren überwältigt und fühlten uns schon schlecht, weil wir seine nette Art so oft hinterfragten und so viel Hilfsbereitschaft nicht kannten.
Nach und nach lernten wir dann auch den einen oder anderen Nachbarn im Dorf über den Gartenzaun hinweg kennen. So kam eines Tages ein Hinzugezogener, wie wir es waren, mit seiner Ponykutsche, die von zwei schwarzbraunen Ponys gezogen wurde, vorbeigefahren, und wir kamen über unsere Tiere mit ihm ins Gespräch. Über den neuen Kontakt freuten wir uns natürlich, war dieser Kontakt doch anders als der mit Zwille. Mit diesem Nachbarn kamen durchaus interessantere Gespräche zustande, hatte man doch immerhin durch die Tiere ein gemeinsames Thema. Zwille konnte mit Tieren nicht so gut und ich hatte bei ihm wenig zu erzählen. Es folgten wechselseitige Einladungen zu gemeinsamen Grillabenden. Der Kutscher war ehemals ein Lehrer, der aufgrund von Rückenproblemen nun in Frühpension lebte. Dass er mit seinen Rückenproblemen allerdings mit der Kutsche über die holprigen Felder hetzte wunderte mich schon, wie das ging. Er kaufte sich im Dorf ein altes Haus, in dem er mit seiner Frau lebte, und erfüllte sich so seinen Traum von zwei Kutschponys am Haus. Frühpension? Wo sind wir hier hingezogen? Sind hier alle in vorzeitiger Rente unterwegs? Es stellte sich heraus, dass auch der Kutscher Zwille kannte. Dies war unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Zwilles Mutter gleich zwei Häuser weiter neben dem Kutscher wohnte. Es war spät am Abend und vielleicht war schon ein Bier mehr oder weniger dabei, als der Kutscher etwas angepiekst meinte, dass wir uns bloß von Zwille fernhalten sollten. „Der ist nicht ganz sauber“, meinte er. „Passt bei dem bloß auf, der ist nicht ganz normal!“ Der Kutscher berichtete von einem Vorfall, bei dem Zwille wohl über den Zaun des Kutschers gestiegen sei und ungefragt eine Leiter vom Kutscher „geborgt“ habe.
Wir lachten über die Geschichte der „geborgten“ Leiter und wussten nicht ganz einzuordnen, ob es am Bierchen lag oder nicht. Es war ein heiterer Abend, doch diese Geschichte von Zwille begleitete uns ungewollt mit nach Hause. Den mahnenden Rat hatten wir noch lange im Ohr. „Lasst euch nicht mit dem ein!“ Doch was tun, wenn Zwille immer wieder zu uns kommt? Zudem ist Zwille zu uns doch immer nur nett. Vielleicht war es einfach ein Streit zwischen zwei alten, gelangweilten Frührentnern, die einfach zu viel Zeit hatten und zu unterschiedliche Lebensweisen? Uns war jedenfalls klar, dass da zwei unterschiedliche Welten aufeinander prallten.