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Dieses Buch enthält folgende Krimis: (699) Alfred Bekker: Die Sache mit Caroline Alfred Bekker: Böse Kollegen Alfred Bekker: Die Sache mit Valentina Alfred Bekker: Der alte Mann Alfred Bekker: Berliner Indianerküche Alfred Bekker: Burmester jagt ein Phantom Alfred Bekker: Burmeister und der Mörder in Uniform Alfred Bekker: Burmester und die unbekannte Tote Alfred Bekker: Burmester und der Fenstersturz Alfred Bekker: Der finale Absturz Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Krimis, Fantasy-Romanen, Science Fiction und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er auch an zahlreichen Spannungsserien mit wie z. B. Jerry Cotton, Ren Dhark, John Sinclair, Kommissar X, Jessica Bannister, Bad Earth und andere mehr.
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Seitenzahl: 590
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10 Krimis für Kenner August 2022
Copyright
Die Sache mit Caroline
Böse Kollegen
Die Sache mit Valentina
Der alte Mann
Berliner Indianerküche
Burmester jagt ein Phantom: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 1
Burmester und der Mörder in Uniform: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 2
Burmester und die unbekannte Tote: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 3
Burmester und der Fenstersturz: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 4
Der finale Absturz
Dieses Buch enthält folgende Krimis:
Alfred Bekker: Die Sache mit Caroline
Alfred Bekker: Böse Kollegen
Alfred Bekker: Die Sache mit Valentina
Alfred Bekker: Der alte Mann
Alfred Bekker: Berliner Indianerküche
Alfred Bekker: Burmester jagt ein Phantom
Alfred Bekker: Burmeister und der Mörder in Uniform
Alfred Bekker: Burmester und die unbekannte Tote
Alfred Bekker: Burmester und der Fenstersturz
Alfred Bekker: Der finale Absturz
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Krimis, Fantasy-Romanen, Science Fiction und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er auch an zahlreichen Spannungsserien mit wie z. B. Jerry Cotton, Ren Dhark, John Sinclair, Kommissar X, Jessica Bannister, Bad Earth und andere mehr.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Ich lernte Caroline auf einer Party kennen, zu der ich mir mit einem gefälschten Ausweis und einer gefälschten Einladung Zugang verschafft hatte.
Sie sprach eine ganze Weile nur von sich selbst und ich hörte ihr zu. Manchmal sagte ich: “Ah, ja!” Oder “So, so” oder auch ein interessiertes: “Okay…”
Anscheinend kam das gut an.
Irgendwann fragte sie mich dann: “Und was machen Sie so?”
Das war der Moment, den ich gerne vermieden hätte.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass ihre Eitelkeit noch ein bisschen ausgeprägter wäre und ich noch den halben Abend nichts weiter als “Ah, ja!” zu sagen brauchte.
Aber anscheinend war sie doch neugierig.
“Sicherheitsbranche”, sagte ich.
“Ah, ja”, sagte sie jetzt.
Ich konnte mir das Grinsen kaum verkneifen.
“Ja”, sagte ich.
“Und etwas genauer?”
“Ich darf nicht drüber reden.”
“Aber vielleicht doch so…. eher allgemein?”
“Das war schon sehr speziell - für meine Verhältnisse.”
“Ein Mann mit Geheimnissen. Das gefällt mir.”
“Sieh an!”
Ich glaube, sie hatte es sich vielleicht ein bisschen zuviel bei dem Sekt bedient, der hier überall herumstand. Irgendwie wirkte sie auf mich wie eine Frau, die normalerweise alles und jeden und vor allem sich selbst zu kontrollieren versuchte, das aber jetzt im Moment gerade nicht mehr so besonders hinbekam.
Mir sollte es nur recht sein.
“Komisch, eigentlich laufen hier immer dieselben Leute bei denselben Parties herum”, sagte sie.
Ich hob die Augenbrauen.
“Ja, und?”
“Sie habe ich hier bislang nie gesehen.”
“Ich komme nicht viel zum Feiern.”
“Immer richtig busy, was?”
“Von nichts kommt nichts.”
“So kann man es auch ausdrücken.”
“Man muss sehen, dass man den Anschluss hält.”
“Sicher.”
“Und noch besser ist, wenn man allen anderen ein Stück voraus sind.”
Sie sah mich an.
Ihre Augen waren blau.
Blau wie das Meer.
Oder der Himmel.
Auf jeden Fall blau.
“Ist nicht ganz einfach, oder?”
“Was?”
“Das Voraus-sein.”
“Das nennt man Anticipation.”
“Muss man alle Dinge auf Englisch sagen.”
“Nein, aber es klingt professioneller”, lachte ich. “Und es wird einem schneller abgekauft. Selbst wenn noch so hohles Gelaber ist.”
“Ja, das ist leider wahr…”
Ich zuckte mit den Schultern. “Es gibt allerdings keinen Grund, das Spiel nicht mitzuspielen, wenn man begriffen hat, wie es läuft.”
“Auch wieder wahr.”
“Ich sehe das so.”
“Finden Sie es nicht auch furchtbar langweilig hier?”
Ihr Blick war abwartend. Lauernd. Sie war plötzlich sehr aufmerksam.
“Es geht so”, sagte ich.
“Was halten Sie von unverbindlichem Sex?”
“Sie sind sehr direkt.”
“Ist irgendetwas nicht in Ordnung daran, direkt zu sein?”
“Nein, daran ist alles vollkommen in Ordnung.”
“Es beruhigt mich, dass Sie das auch so sehen wie ich.”
Ich sah auf Ihre Brüste.
“Sie haben schöne Titten”, sagte ich.
“Sie sind aber auch direkt.”
“Das bin ich.”
“Dann sind wir uns also einig?”
“Insofern - ja.”
Sie lächelte. Und sie nahm eine Pose ein, bei der die Silhouette ihrer Kurven gut zur Geltung kam. Man musste ihr wirklich eins lassen: Das hatte sie sehr gut drauf. Sie sagte: “Ich finde es süß.”
“Was finden Sie süß?”
“Dass Sie mich noch siezen, wenn Sie mir sagen, dass ich schöne Titten hätte.”
“Ach, ja?”
“Das hat Stil.”
“Wenn Sie meinen.”
“Und es spricht für eine gewisse Galanterie.”
“Nun…”
“Ich bin ja auch durchaus direkt, wie Sie ja schon gemerkt haben.”
“Allerdings!”
“Aber ich bin keineswegs vulgär. Und das schätze ich auch bei anderen nicht.”
“Dann kann ich ja von Glück sagen, dass ich durch Ihr strenges Auswahlraster hindurch gekommen bin!”
Ihr Lächeln wurde breit.
Sehr breit.
“Und was für ein Glück Sie haben! Das wird Ihnen noch aufgehen…”
“Beim Vögeln.”
“Genau.”
“Wie geht es jetzt weiter?”
“Ich suche irgendwo einen Platz, wo ich mein halb leeres Sektglas hinstellen kann und dann verschwinden wir. Geschäftlich wichtige Kontakte mache ich heute sowieso nicht mehr. Und wenn… Dann sollte ich wohl ohnehin besser jedes Treffen mit jemandem vermeiden, der wichtig ist.”
“Weil Sie schon zu viel Sekt getrunken haben.”
“Genau.”
“Dann verschwinden wir doch”, sagte ich.
“Ich heiße übrigens Caroline”, sagte sie.
Aber das wusste ich längst.
*
Wir nahmen ein Taxi. Sie bewohnte ein nobles Penthouse mit fantastischer Aussicht. Die Stadt wirkte wie ein Lichtermeer. Wie eine Galaxie, in der sich raumschiffartige Gebilde bewegten. In Wahrheit waren es nur Autos, Flugzeuge und die S-Bahn. Aber man muss sich nicht jede Fantasie durch die Wahrheit zerstören lassen. Man kann sie manchmal auch einfach genießen.
Wir waren kaum in ihrer Wohnung, als ihr fast wie beiläufig das Kleid von den Schultern rutschte. Sie trug nichts darunter.
Nackt, wie sie war, drehte sie sie sich zu mir um. “Was ist? Plötzlich schüchtern?”
“Nein”, sagte ich.
“Aber irgendetwas ist.”
“Nein.”
“Na, dann ist es ja gut.”
“Ja.”
“Manchmal muss man einfach alles, was mit dem Job zu tun hat, aus dem Kopf kriegen.”
Ich nickte. “Ja, das muss man”, stimmte ich ihr zu.
*
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach dieser Nacht als erster aufzuwachen. Eigentlich wäre es sogar verdammt wichtig gewesen, dass ich als erster aufwachte. Aber manchmal klappen die Dinge eben nicht ganz so, wie sie sollen.
Sie war vor mir wach und stand nackt neben dem Stuhl, auf dem ich meine Sachen abgelegt hatte. Das Licht der Morgensonne fiel durch die Fensterfront und zauberte Schattenmuster auf ihre vollen Brüste.
Unglücklicherweise fingerte sie an meiner Jacke herum und hatte wenig später die Pistole in der Hand, die ich bei mir trug.
“Ich sagte doch, ich bin in der Sicherheitsbranche”, erklärte ich.
“Die Waffe ist echt?”
“Sicher.”
“Du bist ein Leibwächter?”
“Sowas Ähnliches.”
“Ich könnte jemanden brauchen, der mir Leute vom Leib hält, mit denen ich nichts zu tun haben will. Fällt das in dein Gebiet?”
“Unter Umständen ja.”
“Was machst du genau?”
“Ich bin dagegen, Berufliches und Privates zu vermischen.”
“Ach komm, das ist doch Blödsinn.”
Ich war aufgestanden, hatte mir meine Hose übergezogen und trat ihr nun entgegen.
Sie ließ sich die Waffe aus der Hand nehmen.
Zum Glück.
“Ich habe ein paar Schwierigkeiten”, sagte sie. “Mit unangenehmen Leuten. Und ich würde viel Geld dafür bezahlen, wenn das jemand für mich regelt.”
“Schön für dich. Dann wird sich jemand finden, der das für dich macht.”
“Und was ist mit dir?”
Ihre Haltung wirkte provozierend. Sie hatte den Arm in die Hüfte gestemmt. Ich gönnte mir noch einen Blick auf ihre Brüste, die noch in Bewegung waren und leicht zitterten.
“Für mich ist das nichts”, sagte ich.
“Schade.”
"Ist aber so."
“Ich bin wirklich in Schwierigkeiten.”
“Ich weiß.”
Ich langte in die Jackentasche und bekam den Schalldämpfer zu fassen. Dann schraubte ich ihn auch.
Sie sah mich an.
Ich feuerte zweimal kurz hintereinander. Ob sie begriff, was ihr geschah, weiß ich nicht. Allenfalls im allerletzten Moment wurde ihr klar, dass die Leute, mit denen sie Schwierigkeiten hatte, mir den Auftrag gegeben hatten, sie zu beseitigen.
Irgend wer stört immer irgendwen.
Was genau der Grund war, interessierte mich nicht.
Nur eins zählte für mich an allererster Stelle: Die Loyalität zum Auftraggeber.
Ich steckte die Waffe wieder ein, zog mich zu Ende an und sammelte sehr sorgfältig alle meine Sachen zusammen. Allzu vorsichtig brauchte ich nicht sein. Meine DNA war nirgends gespeichert. Meine Fingerabdrücke auch nicht.
Immer mit der Ruhe, dachte ich, als ich fertig war. Ich sah nochmal zurück auf die Tote auf dem Boden.
Erledigt, dachte ich.
Irgendwann wird jeder von uns die Augen schließen.
Für immer.
Und in manchen Fällen nimmt einem das jemand anderes ab.
Aber wenn jemand keines natürlichen Todes stirbt, sondern ermordet wird, kann es sein, dass der Täter den starren Blick seines Opfers nicht erträgt oder ihn sich aus irgendeinem anderen Grund ersparen will.
Den glasigen Blick eines Toten.
Ich kann das gut verstehen.
Und derjenige, dem wir schließlich den Namen >der Augenschließer< gaben, schien genauso zu empfinden.
*
Mein Name ist Harry Kubinke. Ich bin Kriminalhauptkommissar in Berlin. Unsere Abteilung kämpft gegen das organisierte Verbrechen. In unserem Job ist man darauf angewiesen, dass man sich auf seine Kollegen verlassen kann. Auf meinen Partner Rudi Meier zum Beispiel. Oder auf Stefan Carnavaro und Oliver ‘Ollie’ Medina, mit denen wir schon zusammen so manchen schwierigen Fall gelöst hatten.
Oder unseren Chef, Herrn Kriminaldirektor Hoch, der morgens der Erste und abends der Letzte im Büro war.
Aber so nahe einem diese Gefährten im täglichen Kampf gegen das Verbrechen auch menschlich sein mögen - so wenig weiß man letztlich über sie.
Über das, was ihr wahres Ich, ihre Persönlichkeit ausmacht.
Jeder von uns hat seine Geheimnisse.
Und manchmal ist es vielleicht sogar besser, nicht alle Geheimnisse der anderen zu kennen.
“Ich bin ein Fanatiker der Gerechtigkeit”, sagte mir Kollege Stefan Carnavaro irgendwann einmal.
“Sind wir das nicht alle?”, meinte ich.
“Sonst hätten wir doch kaum diesen Beruf gewählt”, gab Rudi seinen Senf dazu. “Etwas Fanatismus muss man da schon mitbringen, bei dieser Kombination aus mäßiger Bezahlung und hoher Gefahr für Leib und Leben.”
Manchmal ist es vielleicht wirklich besser, nicht alles über seine Kollegen zu wissen.
Aber man denkt sich schon seinen Teil.
*
Ein Schlafzimmer.
Ein Mann in einem Bett, der sterben soll.
Und ein anderer, der den Auftrag hat, diesen Mann umzubringen.
Der Killer kommt herein.
Es herrscht Halbdunkel.
Das Mondlicht scheint durch das Fenster. Sein Licht ist leichenfahl.
Die Farbe des Todes.
Der Mann im Bett hat gemerkt, was sich da anbahnt. Er greift zu der Waffe auf seinem Nachttisch.
Blitzschnell.
Und doch nicht schnell genug.
Aber der Killer lässt ihm keine Chance, diese Waffe auch einzusetzen.
Ein Schuss aus der Schalldämpfer-Pistole in seiner Hand streckt das Opfer aufs Bett - so liegt der Mann jetzt da, bereit für die Art von ewigem Schlaf, die niemals endet.
Der Killer macht das Licht an.
Ein sauberer Schuss, denkt er.
Für ihn ist dieser Auftrag nichts Besonderes.
Eine Sache wie viele andere auch.
Schwierig wird es, wenn man emotional beteiligt ist.
Aber das ist er in diesem Fall nicht. Dieser Killer weiß nichts über das Opfer. Und das ist auch besser so. Sein Auftraggeber wird schon einen wichtigen Grund dafür haben, dass dieser Typ aus dem Verkehr gezogen werden muss.
Die Augen des Toten sind weit aufgerissen.
Das pure Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Namenloser Schrecken.
Ein Blick, der wie gefroren aussieht.
Das sollte so nicht bleiben, findet der Killer.
Ein bisschen Frieden, das hat jeder verdient. Das gilt vor allem für die Toten, denn die können niemandem mehr Schaden.
Also tut der Killer das, was er immer tut, wenn er einen Job erledigt hat.
Er schließt dem Toten die Augen.
Richtig friedlich sieht der jetzt aus.
Und wäre da nicht die furchtbare Schusswunde in Herzhöhe, so könnte man ihn sogar für einen Mann halten, der einfach nur schläft.
So ist es richtig, denkt der Killer.
Bevor der Killer dann den Raum verlässt, macht er auch noch das Licht aus.
Er kann nicht anders.
Er ist nunmal ein biederer Typ und Ordnung ist ihm sehr wichtig.
Allerdings…
Es gibt noch eine Vorgeschichte zu dieser tödlichen Episode. Und es gibt etwas, was kurz danach geschehen wird.
Aber immer der Reihe nach…
Obwohl es eigentlich kaum eine Rolle spielt, in welcher Reihenfolge man diese Ereignisse erzählt. Es läuft immer so ziemlich auf dasselbe hinaus!
*
“Hör zu”, sagte der Libanese.
Und Kriminalhauptkommissar Oliver ‘Ollie’ Medina hörte zu.
Sie saßen in einer Oben-ohne-Bar, irgendwo in Berlin. Aber Ollie hatte keine Augen für die nackten Brüste der Frauen. Er hatte nur ein Ohr für den Libanesen, denn er wusste, dass es jetzt um sein Leben ging. Und um das Leben der Menschen, die er liebte. Ihm stand das Wasser bis zum Hals. Und der Libanese wusste das. Ollie war niemand, der normalerweise sensibel auf Druck reagierte. Aber in dieser verzweifelten Situation schon. Und auch das wusste der Libanese.
Der Libanese war Chef eines großen Clans. Er wusste, wie man Menschen führte. Wie man sie lenkte. Wie man sie dazu bekam, das zu tun, was er wollte. Er war ein Meister darin. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht ein erfolgreicher Politiker geworden. Aber das hatten die Umstände nicht vorgesehen. So war er etwas anderes geworden. Jemand, der AUCH Macht hatte.
Fast wie ein Politiker.
Fast...
“Die Sache ist ganz einfach”, sagte der Libanese. Eine der barbusigen Bedienungen stellte ihm seinen Mokka hin. Ihre großen Brüste bewegten sich dabei.
“Wirklich keinen Champagner?”, fragte die Frau.
“Nein”, sagte der Libanese.
“Dann wirst du lockerer!”
“Bin locker genug”, sagte der Libanese. “Bin der lockerste Mensch von der Welt.”
Sie lachte. Ihre Brüste wackelten dabei.
“Selbst ohne Champagner bin ich locker”, sagte der Libanese und sie tat ihm den Gefallen und lachte noch einmal, so dass sich ihre Brüste erneut bewegten.
Er sah ihr kurz nach, als sie ging.
Der Libanese nahm einen Schluck.
Ollie wusste, dass der Libanese grundsätzlich keinen Alkohol trank. Nicht etwa deshalb, weil er ein guter Muslim war, sondern weil er es hasste, wenn ihm die Kontrolle entglitt. Und das in jeder Situation. Er war der Anführer. Der Chef. Immer und überall.
Aber das ging nur, solange man klar und nüchtern war.
“Also pass auf, das läuft so”, sagte der Libanese. “Du bringst ab und zu mal ein paar Leute für mich um. Es geht um niemanden, bei dem du Gewissensbisse haben müsstest. Das sind alles Leute, bei denen selbst ein so rechtschaffener Polizist wie du sagen würde: Die haben es verdient.”
“Ach, wirklich?”, sagte Ollie.
“Ja.”
“Ich weiß nicht…”
“Ich verstehe, dass du zögerst.”
“Wirklich?”
“Aber im Endeffekt….”
“Ja?”
“...wirst du tun, was ich dir sage.”
“Klingt etwas eingebildet.”
“Die Sicherheit der Erfahrung. Mehr nicht.”
“Man kann es nennen, wie man will.”
“Mach dir einfach folgendes klar: Es geht wirklich nur um Leute, die den Tod verdient haben.”
“Klar…”
“Schweinehunde also.”
“Sicher.”
Der Libanese lächelte verhalten. “Mal abgesehen davon, dass du wahrscheinlich insgeheim denkst, dass ich das auch verdient hätte: Dass es Schweinehunde sind, macht die Sache etwas leichter. Ich persönlich war auch schon gezwungen, nette Menschen umzubringen. Kann die Situation ja mal erfordern. Aber sowas mache ich immer selbst. Das würde ich nie von jemand anderem verlangen.”
“Du bist anscheinend richtig rücksichtsvoll”, sagte Ollie.
“Hab ein weiches Herz.”
“Sicher.”
“Wie gesagt, ich würde nie von jemand anderem verlangen, einen netten Menschen umzubringen. Sowas macht man als Anführer selbst. Aus Prinzip.”
“Und die Morde an den Arschlöchern delegierst du.”
“So ist es.”
“Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mich darauf einlasse!”
“Hör mich erst zu Ende an, Ollie. Ich darf dich doch so nennen, oder?”
“Von mir aus.”
“Ich bin dein Freund, Ollie.”
“Nun…”
“Was?”
“Wir wollen mal nicht übertreiben!”, sagte Ollie.
“Du findest, ich übertreibe?”
“Ein bisschen!”
“Ich meine es gut mit dir.”
“So?”
“Ganz bestimmt.”
“Wenn du das sagst…”
“Also, Ollie, du schaltest ab und zu ein paar miese Schweinehunde für mich aus. Vorteil für mich: Die sind weg. Vorteil für dich: Du brauchst dich später nicht dienstlich um diese Leute zu kümmern und kannst dich um die wirklich schwierigen Fälle besser kümmern.”
“Das ist ja rührend, wie du dich um die Einhaltung der Gesetze sorgst.”
“Wir machen eigentlich einen recht ähnlichen Job, Ollie. Du für den Staat, ich als Chef und Friedensrichter.”
“Das ist nicht offiziell.”
“Wie?”
“Dass du Friedensrichter oder sowas bist.”
“Walla… Bist du pingelig!”
“Ist aber so, wie ich sage!”
“Du bist so pingelig wie ein richtiger Kartoffeldeutscher! Aber stört mich nicht. Ich mag das. Manche Dinge muss man nämlich genau nehmen.”
“Hm.”
“Aber nur manche!”
“Ganz schön selbstherrlich.”
“Scheiß drauf!”
“Ah, ja…”
“So bin ich nunmal, Ollie.
“Nichts für ungut.”
“Aber zurück zu unserem Deal.”
“Es gibt keinen Deal.”
“Doch, den gibt es. Weil ich es will. Und weil du gar keine andere Wahl hast, Ollie. Deshalb. Ich meine, was mit deiner Frau passiert ist, tut mir Leid…”
“Lass sie aus dem Spiel!”
“Irgend ein Irrer hat sie über den Haufen gefahren und jetzt liegt sie in der Charité im Koma und Allah weiß, ob sie je wieder aufwacht. Walla!” Er machte eine wegwerfende Handbewegung. “Tut mir Leid, dass ich Allah erwähnte… Sie war ja eine ungläubige Deutsche. So wie deine Mutter.”
“Ich sagte: Lass sie aus dem Spiel.”
“Du willst doch, dass es ihr gut geht - unter den gegebenen Umständen. Deiner Frau und deinem autistischen Sohn, der mit seinen zwölf Jahren vielleicht irgendwelche Planetenbahnen berechnen kann und Formeln löst, von denen ich noch nicht einmal weiß, was die bedeuten - der aber niemals in der Lage sein wird, auf eine normale Schule zu gehen, geschweige denn zu arbeiteten und für sich selbst zu sorgen.”
“Das werden wir sehen!”
“Fang nicht an, dich selbst zu belügen, Ollie.”
“Das tue ich nicht!”
“Doch, das tust du. Und das weißt du auch.”
“Unsinn.”
“Dein Sohn soll doch die Beste Förderung bekommen, die möglich ist, oder? Ich weiß, wie teuer die Einrichtung ist, in der er zurzeit untergebracht ist. Und ich weiß auch, dass du das mit deinem Gehalt kaum stemmen kannst…”
“Woher weißt du das?”
“Deinen Kontostand?”
“Das mit den Planetenbahnen!”
Der Libanese nahm einen Schluck von seinem Mokka. “Das weiß ich, weil ich Kontakt zum Pflegepersonal habe”, sagte er. “Das bedeutet…”
“Dass er nur in Sicherheit ist, wenn ich tue, was du sagst!”
“Du kommst aus dem Wedding, Ollie. Genau wie ich.”
“Komm schon, keine Verbrüderung!”
“Dein Nachname ist Medina - wie eine unserer heiligen Städte des Islam…”
“Komplizierte Familienverhältnisse”, sagte Ollie. “Wüsste nicht, was dich das angeht!”
“Dein Vater kam aus einer guten Familie, Ollie.”
“Er ist tot.”
“Ich weiß. Viel zu früh. Hat ungesund gelebt.”
“Hör auf!”
“Er hatte zu viele Feinde. Dann bekommt man eine Bleivergiftung im Herzen.”
“Hör auf!”
“Durch eine Kugel.”
“Was weißt du schon!”
“Deine Mutter war eine ungläubige Deutsche, aber - walla! - wo die Liebe eben hinfällt. Doch du weißt, dass sie eine Schlampe war! Du weißt es am Besten, denn du hast darunter sehr gelitten.”
Ollies Gesicht veränderte sich. Seine Augen wurden schmal. Er fühlte den Puls bis zum Hals schlagen. “Was würdest du tun, wenn ich so über deine Mutter reden würde?”
“Ich würde dich umbringen.”
“Ach, so?”
“Selbst wenn du Recht hättest, würde ich dich umbringen, Ollie. Aber siehst du, dass ist der Unterschied zwischen uns beiden: Ich darf so über deine Mutter reden, aber du nicht über meine. Es gibt Unterschiede in der Welt, Ollie. Und das ist einer davon.”
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich.
Und plötzlich wurde es Ollie klar, was hier ablief.
Er will mir zeigen, dass er alles tun kann!, erkannte Ollie. Buchstäblich alles. Und er will mir zeigen, dass ich vollkommen in seiner Hand bin.
“Tu, was ich sage, Ollie. Dann wird alles gut. Dann wird dein Sohn die beste Förderung bekommen. Und ihm wird nichts geschehen, was sonst sehr schnell passieren könnte… Dasselbe gilt für deine Frau…”
“Das hast du dir fein überlegt!”
“Deine Frau ist nur noch eine Pflanze. Aber eine Pflanze, an der du hängst, wie ich weiß.” Er schnippste mit dem Finger. “Wenn ich so mache, stellt jemand die Maschinen ab, an denen sie angeschlossen ist! Einfach so…” Er schnippste noch einmal. “Wie Thanos in AVANGERS: INFINITY WAR. Guter Film. Hast du gesehen?”
“Scheiß drauf!”, murmelte Ollie.
“Du sollst die Aufträge nicht für umme durchführen”, sagte der Libanese. “Natürlich kriegst du ordentlich Asche auf dein Konto. Ich richte dir ein Konto auf Malta ein. Oder auf den Cayman Islands. Ganz wie du willst. Dahin fließt dann das Geld.” Er trank seinen Mokka aus. “Auf eine gute Zusammenarbeit. Über viele Jahre, Ollie. Du gehörst jetzt zur Familie, verstehst du?”
“Ich habe nicht ja gesagt!”
“Du kannst nicht nein sagen. Das genügt mir!”
“Hör mal….”
“Dein vollständiger Name lautet Oliver Muhammad Medina, nicht wahr?”
“Woher…?”
“Ich weiß alles, Ollie. Und wenn ich alles sage, dann meine ich alles. Und jetzt gehst du nach Hause, träumst ein bisschen von den Frauen mit den schönen Titten und überlegst dir die Sache. Ich bin mir sicher, dass wir ein Team werden.” Er ließ den Blick schweifen. “Mittwoch treffen wir uns wieder. Hier. Ich komme gerne hierher. Wegen den Frauen. Und weil ich hier garantiert keinen aus der Verwandtschaft treffe. Er lachte. “Alles gute Muslime. Die gehen hier nicht hin!”
“So?”
“Die Jungs würden fast so viel Ärger zu Hause mit ihren Müttern bekommen, als wenn sie die Schweineschinkenbrötchen, die sie sich am Bahnhof Zoo kaufen, mit nach Hause nähmen!”
“Wenn du wirklich sicher sein willst, dass dich niemand aus deiner Verwandtschaft mit mir sieht, dann sollten wir uns beim nächsten mal vielleicht besser in einem Schwulenlokal treffen!”, schlug Ollie vor.
Der Libanese hob die Augenbrauen. “Da wäre ich mir bei einigen nicht so sicher”, meinte er. “Wenn man sich anseeht, wie die sich stylen! Aber das sage ich nur dir! Du siehst, ich vertraue dir! Und du solltest mir vertrauen. Mir und meinem Schutz.”
Dann schnippste er noch einmal mit dem Finger.
Und Ollie wusste sehr gut, was das bedeuten sollte.
*
Der erste Typ, den Ollie für den Libanesen kaltmachen sollte, war tatsächlich niemand, um den es schade war, fand Ollie. Ein Russe. Einer, der mit kleinen Mädchen handelte. Ollie hatte natürlich Zugang zu den Dossiers, die das BKA über ihn angelegt hatte.
Ollie trat die Tür seiner Wohnung ein, drang ins Schlafzimmer vor. Weil er sichergehen wollte, nicht den Falschen zu erschießen, machte er zuerst Licht. Die Waffe mit dem Schalldämpfer richtete er auf den Körper im Bett.
Zuerst dachte Ollie, dass der Kerl schlief.
Aber nur eine Sekunde lang.
Bis er die Schusswunde in Herzhöhe sah.
Den hat schon jemand umgebracht!, erkannte Ollie.
Der Tote hatte noch zu der Waffe auf seinem Nachttisch greifen können. Die hielt er noch immer in der Rechten. Zum Schuss war er wohl nicht mehr gekommen.
Und doch hat er die Augen geschlossen!, ging es Ollie durch den Kopf. Das kann nicht sein! Es sei denn…
Der Täter musste dem Kerl die Augen geschlossen haben.
Warum auch immer.
Vielleicht war es sein Markenzeichen, das bei seinen Opfern zu tun. Oder es gab einen anderen, sentimentaleren Grund dafür, dass er das getan hatte.
Ollie ließ den Lauf seiner Waffe sinken.
“Scheiße”, murmelte er.
*
“Du hast die Sache erledigt?”, fragte der Libanese, als sie sich das nächste Mal trafen.
“Ja.”
“Gut.”
“Vielmehr: Ich wollte die Sache erledigen.”
“Soll das jetzt eine Ausrede sein?”
“Nein.”
“Davon abgesehen hat sich längst herumgesprochen, dass der Scheißkerl wirklich tot ist!”
“Nur war er schon tot, als ich ihn umbringen wollte. Ich war in seinem Schlafzimmer. Er lag auf dem Bett und hatte eine Kugel in der Brust. Aber nicht von mir!”
Der Libanese sah ihn lange an. “Das war ein Test, Ollie.”
“Ein Test?”
“Ich wollte wissen, ob du mir die Wahrheit sagst.”
Ollie schluckte. “Und wer hat den Russen getötet?”
Der Libanese zuckte mit den Schultern. “Was weiß ich? Der hatte viele Feinde. Aber dir kann ich anscheinend vertrauen. Das ist für mich das Entscheidende.”
Ollie schwieg einige Augenblicke.
“Derjenige, der den Russen getötet hat, hat ihm die Augen geschlossen”, sagte er dann.
“Na, und?”
“Das ist ungewöhnlich.”
“Ist eine feine Geste”, sagte der Libanese schließlich.
“Findest du?”
“Ja.”
Dann trank er seinen Mokka auf.
*
“Ollie, wir müssen miteinander reden”, sagte Ollie Medinas Dienstpartner Stefan Carnavaro eines Tages zu ihm.
“Wir reden doch jeden Tag miteinander, Stefan!”
“Wir müssen über etwas Bestimmtes reden.”
“Bitte, schieß los.”
“Unter Dienstpartnern sollte es keine Geheimnisse geben.”
“Das ist fast wie in einer Ehe.”
“Nein, das ist sehr viel enger!”
“Wenn ich jetzt nicht mit Sicherheit wüsste, dass wir beide heterosexuell sind…”
“Komm, hör mit dem Scheiß, Ollie!”
Die beiden Männer sahen sich an.
Auf eine Weise, wie Ollie es bisher nicht von Stefan Carnavaro gekannt hatte.
Es war ein durchdringender, eisiger Blick.
“Ich weiß, was du für den Libanesen machst”, sagte er schließlich.
“Was… ich… ich...meine…”
“Hör auf zu stottern, Ollie! Ich weiß es einfach. Aber ich werde dich nicht melden. Wenn du Gangstern hilfst, andere Gangster auszuschalten, sehe ich weg. Und ich verstehe auch deine Beweggründe…”
“Stefan…”
“Ich lasse dich gewähren. Unter einer Bedingung.”
“Und die wäre?”
“Ich brauche ab und zu ein Alibi.”
“Für eine Freundin oder…”
“Darüber solltest du nicht weiter nachdenken, Ollie. Ich brauche einfach ab und zu ein Alibi, das ist alles. Ab und zu wirst du mein Diensthandy bei dir tragen, sodass man hinterher ein GPS-Profil erstellen kann und man sieht, dass ich bei dir gewesen bin.”
Ollie schluckte.
“Wir sind Partner, Stefan.”
Stefan Carnavaro nickte. “Sind wir.”
*
Irgendwann hatte Kriminalhauptkommissar Stefan Carnavaro mal zu den anderen Kollegen gesagt: “Ich bin ein Fanatiker der Gerechtigkeit.”
Dass er es genau nahm, wussten alle.
Aber niemand hätte es wohl für möglich gehalten, wie Ernst es ihm mit seiner Aussage war.
“Ich bin ein Fanatiker der Gerechtigkeit.”
Das Motto eines dunklen Ritters der Nacht.
*
Die Frau zuckte förmlich zusammen.
“Kriminalhauptkommissar Stefan Carnavaro, BKA. Hier ist mein Ausweis…”
“Sie haben mich vielleicht erschreckt!”
“Ein schlechtes Gewissen?”
“Wieso?”, fragte die Frau.
“Weil das Gebäude da vorne eine Schule ist.”
“Hören Sie…”
“...und weil Sie sich in der Vergangenheit an kleinen Jungs vergriffen haben. Sie sind deswegen zwar aus dem Schuldienst geflogen, aber die Strafe, die Sie bekommen haben, war lächerlich gering.”
“Was wollen Sie?”
“Die Richterin hatte sehr viel Verständnis für Sie. Bei mir dürfen Sie darauf nicht hoffen.”
“Verdammt, was wollen Sie von mir?”
“Verhindern, dass Sie so etwas noch einmal tun.”
“Ach!”
“Sie dürften nicht hier sein. Das wissen Sie!”
“Und wenn schon!”
“Aber anscheinend können Sie es einfach nicht lassen.”
Die Frau verzog spöttisch das Gesicht. “Und darum kümmert sich neuerdings das BKA? Wollen Sie mich verhaften?”
Stefan Carnavaro trat nahe an sie heran. “Nein”, sagte er dann. “Das wäre zu milde für Sie!” Der Schlag war unvermittelt und sehr hart. Er betäubte die Frau augenblicklich und ließ sie zu Boden gehen wie einen gefällten Baum. Stefan Carnavaro gab sich keine Mühe, ihren Sturz zu bremsen. Sie schlug mit dem Kopf voll auf das Pflaster.
*
Als sie erwachte, hatte sie höllische Kopfschmerzen.
“Ich hoffe, es geht Ihnen schlecht”, sagte Stefan.
“Wo… bin ich?”
Sie versuchte, sich zu bewegen und stellte fest, dass das nicht ging. Sie lag auf einem Tisch. Einer Werkbank, um genau zu sein. Mit Metallmanschetten war sie an Händen und Füßen fixiert.
Und sie war vollkommen nackt.
“Was… haben Sie vor?”
“Die Antwort habe ich Ihnen bereits gegeben. Ich werde verhindern, dass Sie das, was Sie getan haben, noch einmal tun.”
Sie schluckte.
“Sie haben gesagt, Sie seien Polizist….”
“Und Sie haben den Jungs gesagt, Sie seien ihre Lehrerin!”
“Lassen Sie mich sofort frei!”
Sie verrenkte den Kopf, um ihn sehen zu können. Das gelang ihr schließlich auch. Er hatte ein Glas mit einer einer Flüssigkeit in der Hand. Er trat an sie heran. Sie starrte auf das Glas. Ihre Augen weiteten sich. “Was ist das?”
“Es gibt ein Gegenmittel gegen Ihre Neigung.”
“Ein Gegenmittel?”
“Salzsäure.”
“Salzsäure?”
“Kriegt man in der Apotheke.”
“Aber…”
“Sie hatten früher als Kind keinen Chemiekasten, oder?”
“Was…”
“Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn ich Ihnen ein Glas mit Salzsäure zwischen die Beine gieße?”
“Sie… sind wahnsinnig!”
“Ich gehe fest davon aus, dass Sie dann zeitlebens geheilt sein werden. Möglicherweise werden Sie nie wieder schmerzfrei sitzen können, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Sie dann wohl nicht mehr rückfällig werden, finde ich das akzeptabel. Und auch mit einem künstlichen Blasenausgang, den Sie dann vermutlich brauchen werden, kann man leben.”
“Hören Sie, nein, das dürfen Sie… nicht!”
Er schüttete ihr die Flüssigkeit in den Schoß.
Sie schrie.
Sie schrie so laut, wie sie noch nie geschrien hatte.
Stefan sah ihr dabei in aller Seelenruhe zu. Sein Gesicht war regungslos.
Schließlich war sie völlig außer Atem.
Ihr Schreien verebbte.
“Schreien Sie ruhig. Es wird Sie hier draußen niemand hören”, sagte Stefan Carnavaro. “Allerdings gibt es für Ihr Geschrei keinerlei Grund.”
“Wie?”
“Es war nur Wasser.”
“Was haben Sie gesagt?”
“Es war nur ganz gewöhnliches Wasser.”
“Du Scheißkerl…”
“Sie haben sich übrigens vollgepissst.”
“So ein Arschloch!”
Er trat nahe an sie heran, beugte sich zu ihr herab. Seine Stimme klang dunkel und leise. “Das nächste mal kommen Sie nicht so billig davon”, sagte er. “Denn an eins sollten Sie immer denken: Wenn Sie sich das nächste Mal in die Nähe von kleinen Jungs wagen sollten, dann werde ich das wissen. Und dann gnade Ihnen Gott…”
Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe.
Ein Handy klingelte.
“Das ist Ihr Telefon. Es wird jetzt andauernd klingeln.”
“Was…”
“Ich habe Ihren Mann benachrichtigt. Er wird hier herkommen. Dann wird er das klingelnde Handy finden und ein paar Nachrichten, die nahelegen, dass Sie hier eine intime Verabredung hatten, die vielleicht etwas aus dem Ruder gelaufen ist…”
“Sie Teufel!”
“Ich habe nie verstanden, dass Ihr Mann bei Ihnen geblieben ist, nachdem Sie angeklagt wurden. Aber jetzt wird er ein paar so scheußliche Dinge auf Ihrem Handy sehen, dass er sich garantiert von Ihnen trennen wird.”
“Ich werde Sie anzeigen…”
”Ja, tun Sie das ruhig. Ich bin derzeit mit einem Kollegen zusammen im Einsatz, wofür es Beweise gibt. Für die haltlosen Beschuldigungen einer Kinderschänderin allerdings nicht.” Stefan Carnavaro lächelte kalt. “Ach ja, ob Ihr Mann Sie dann wirklich von Ihren Fesseln befreien wird, oder Sie einfach liegen lässt, überlasse ich ganz ihm und seiner liebenden Fürsorge.”
“Das werden Sie bereuen!”
“Nein - Sie werden bereuen! Hoffentlich! Falls nicht, wissen Sie, was geschehen wird.”
“Sie sind irre!”
“Ich bin so klar und besonnen, wie ich selten zuvor gewesen bin”,erwiderte Stefan.
Mit weiten Schritten verließ Stefan Carnavaro die stillgelegte Werkzeughalle auf der Industriebrache.
“Wenn ich Ihr Mann wäre, würde ich Sie hier einfach liegen lassen. Aber vielleicht hat er ja ein gutes Herz!”, sagte er noch.
“Schweinehund!”, rief sie.
Am Ausgang blieb er kurz stehen.
“So etwas nennt man Gerechtigkeit”, sagte Stefan Carnavaro. “Und ich bin ein Fanatiker der Gerechtigkeit.”
*
Monate später…
“Wie alt bist du?”
“Zwölf.”
“Du gehst jetzt nach Hause, Junge.”
“Was?”
“Ich bin von der Polizei.”
Stefan Carnavaro zeigte seinen Ausweis.
Die Frau stand wie angewurzelt da. Stefan Carnavaro wandte sich jetzt ihr zu. “Sie sind verhaftet…”
“Ich habe nichts…”
“Die Hände auf den Rücken. Wenn Sie Widerstand leisten, tue ich Ihnen gerne weh!”
Er stieß sie grob in seinen Wagen.
Ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Stefan Carnavaro hatte dazu keine Handschellen verwendet, sondern Kabelbinder. Und er hatte sie sehr stramm gezogen.
“Das tut weh”, sagte sie.
“Natürlich tut das weh”, sagte er. “Das soll es auch…”
“Damit kommen Sie diesmal nicht durch!”
Er setzte sich ans Steuer, startete den Wagen und fuhr los.
“Ich habe gehört, Ihr Mann hat sich inzwischen von Ihnen getrennt.”
“Ja”, murmelte sie. “Aber das wollten Sie ja auch…”
“Allerdings.”
“Ich habe kein Gefühl mehr in den Händen.
“Mit diesen Händen werden Sie ohnehin nichts tun können”, sagte Stefan Carnavaro. “Manche Menschen lernen, indem sie Schmerz oder Furcht erfahren und diese Erfahrungen in Zukunft zu vermeiden versuchen. Bei Ihnen scheint das nicht zu wirken…”
“Ich bin nicht angeschnallt.”
“Das sollte Ihre geringste Sorge sein.”
Seine Stimme hatte den Klang von klirrendem Eis.
Eine Weile sagte sie nichts.
Dann stellte sie plötzlich fest: “Sie fahren aus der Stadt raus.”
“Ja.”
“Ich dachte… Das Präsidium liegt nicht hier draußen…”
“Nein.”
“Was… haben Sie vor?”
“Dass wissen Sie doch.”
”Nein, das weiß ich nicht.”
“Ich habe es Ihnen gesagt.”
“Was?”
“Ich habe Ihnen gesagt, was ich tun werde: Verhindern, dass Sie rückfällig werden. Und das geschieht jetzt. Wenn Sie jetzt anfangen herumzuzappeln, werde ich Sie gerne betäuben. Sie wissen, dass das schmerzhaft wird. Geben Sie mir nur den kleinsten Anlass dazu, dann tue ich das.”
Sie zitterte.
Stefan nahm das mit Genugtuung zur Kenntnis.
Er bog ab. Erst in eine schmale Straße dann in einen Feldweg. Schließlich in einen noch schmaleren Feldweg. Er stoppte den Wagen so unvermittelt, dass sie nach vorne flog und mit Gesicht auf die Ablage über dem Handschuhfach aufschlag.
“Tut mir leid”, sagte er.
Sie konnte nicht erwidern. Ihr Mund war blutig.
Er stieg aus, zerrte sie aus dem Wagen. Dann zog er eine Waffe. In aller Seelenruhe schraubte er den Schalldämpfer auf und schoss.
*
“Stefan, ich wollt dich mal was fragen”, sagte Ollie Medina in einer der vielen Stunden, die sie zusammen im Dienstwagen verbrachten.
“Frag.”
“Da hat man so eine Frau gefunden. Erschossen. War eine Lehrerin, die sich an Schülern vergangen hat.”
“Ja, und?”
“Hast du was damit zu tun?”
“Wieso?”
“Weil ich zur mutmaßlichen Tatzeit allein unterwegs war. Mit deinem Handy in der Tasche.”
“Ist das unser Fall, Ollie?”
“Nein.”
“Warum informierst du dich dann über irgendwelche hypothetischen mutmaßlichen Tatzeitpunkte in einem Fall, der uns nichts angeht?”
Sie schwiegen eine Weile.
“Ich hole uns mal eine Döner”, sagte Ollie.
“Okay.”
“Bis gleich.”
“Ollie?”
“Ja?”
“Man muss nicht alles wissen.”
“Wenn du das sagst.”
“Ich sage das. Manche Informationen sind nur dazu geeignet, uns zu beunruhigen. Wir schlafen alle besser, wenn wir weniger wissen.”
“Ich habe jedenfalls Hunger”, sagte Ollie.
Es gab tatsächlich etwas, was Ollie noch mehr beunruhigte als die tote Frau.
Zum Beispiel der Killer, der seinen Opfern die Augen schloss…
Aber darüber musste er Stefan Carnavaro gegenüber schweigen.
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, hatte ich schon so eine Ahnung, dass was nicht stimmte.
Manchmal ist das so.
Da hat man das einfach im Gefühl.
Ein bulliger Typ stand in meinem Wohnzimmer und hielt mir eine Waffe ins Gesicht.
“Keine Bewegung”, sagte er.
Er hatte einen Akzent. Russisch, Ukrainisch oder einfach Brooklyn. Denn in Brooklyn gibt es inzwischen eine verdammt große Kolonie von Ukrainern und Russen.
Er nahm mir meine Waffe ab.
Mein Drehsessel drehte sich scheinbar von alleine herum.
Eine Frau in einem enganliegenden schwarzen Kleid saß darin. Die Beine waren übereinandergeschlagen. Die Brüste waren sehr groß und wahrscheinlich ziemlich kostspielig gewesen. Dafür sparte sich die Lady vermutlich für die nächsten Jahre den BH.
Ihr Haar war hochgesteckt. Und das Lächeln, dass jetzt um ihre vollen, etwas künstlich aufgeplusterten Lippen erschien, wirkte aus mehreren Gründen fies.
Einmal wirkte es einfach gehässig und falsch.
Aber das ist menschlich, wenn auch unangenehm.
Der zweite Grund, warum es fies wirkte, war der offenkundige Botox-Missbrauch. Wieso eine Frau in vergleichsweise jungen Jahren schon mit diesem Mist anfängt, kann ich ehrlich gesagt nicht verstehen. So fies wie ein gefrorenes Joker-Grinsen können die Falten einer Dreißigjährigen eigentlich kaum sein, so dass man so eine Behandlung in irgendeiner Weise ästhetisch rechtfertigen könnte.
Aber das ist natürlich Geschmacksache.
Manche Frauen fühlen sich so eben schöner.
Dass ihre Gesichter starre Masken werden, nehmen sie in Kauf.
Die Frau sagte: “Darf ich Sie Barry nennen, Barry Dvorkin?”
“Wie darf ich Sie denn nennen?”
“Sie wissen doch wer ich bin. Und falls nicht, können Sie in Ihren Datenbanken nachsehen. Ich bin sicher, dass Sie etwas über die schwarze Witwe von Brooklyn finden…”
“... die ihren verschwundenen Mann in der Führung des Ukrainer-Syndikats beerbt hat”, vollendete ich.
“Nennen Sie mich einfach Valentina.”
“Ich nenne Sie einfach Arschloch, solange der bullige Typ da vorne seine Waffe auf mich richtet.”
“Victor, bitte!” Valentina machte eine Handbewegung und der bullige Typ senkte seine Waffe.
“Was wollen Sie von mir, Valentina?”
“Sie sind ein Cop.”
“Kann man so sagen.”
“Special Agent Barry Dvorkin von FBI!”
“Ich sehe, Sie haben sich informiert.”
“Das Schicksal hat Sie ganz schön mitgenommen in letzter Zeit.”
“Ach, jetzt behaupten Sie aber nicht, dass Sie jetzt aus Mitgefühl darauf zu sprechen kommen.”
“Ihre Frau hatte einen Verkehrsunfall. Seitdem liegt sie in der St. Joseph’s Klinik im Koma.”
“Sie scheinen mich ja richtig ausspioniert zu haben, Valentina.”
“Ihr Sohn ist 14 und Autist. Er lebt in einer spezialisierten Einrichtung, die dafür sorgt, dass er sein tägliches Leben bewältigt und ein Mathematikstudium an einer Online-Universität aus dem Silicon Valley absolvieren kann. Vermutlich hat er einen Doktor-Titel-bevor er volljährig ist - aber er wäre nie in der Lage die U-Bahn zu benutzen, geschweige denn auf eine normale High School zu gehen.”
“Worauf wollen Sie hinaus?”
“Sie wissen, dass ich viele Leute kenne. Leute, die mir einen Gefallen schulden und und die wierum andere Leute kennen.”
“So etwas nennt man organisiertes Verbrechen.”
“So etwas nennt man ein Netzwerk.”
“Wie auch immer.”
“Es könnte sein, dass eine Putzfrau oder ein Therapeut in der behüteten Einrichtung zu diesem Netzwerk gehört, in der Ihr Sohn ist.”
“Ach!”
“Und es könnte auch sein, dass die Krankenschwester, die Ihrer Frau den Infusionsbeutel wechselt dazugehört.”
Meine Augen wurden schmal.
Langsam begriff ich, worauf das alles hinauslief.
“Sie wollen mir drohen.”
“Ich will Ihnen bloß klarmachen, wie Ihre Lage ist, Barry. Ich darf Sie doch so nennen, oder?”
“Wenn Sie meiner Frau oder meinem Sohn etwas tun, bringe ich Sie um, Valentina!”
“Aber Barry! So etwas aus ihrem Mund! da haben Sie sich anscheinend ein bisschen vergessen. Das ist doch gegen das Gesetz, habe ich mir sagen lassen.”
Sie grinste.
Sie grinste so schief und Botox-gefroren, dass Jack Nicholson als Joker dagegen wie ein freundlicher Zeitgenosse gewirkt hätte.
Dann fuhr sie fort: “Ich will, dass Sie für uns arbeiten, Barry. Dann kann ich dafür garantieren, dass weder Ihrer Frau noch Ihrem Sohn etwas passiert.”
“So habe Sie sich das also gedacht…”
“Ich weiß, was jetzt in Ihnen vorgeht, Barry. Sie sind wütend auf mich. Sie würden mir am liebsten an die Gurgel gehen. Sie verfluchen die Umstände, aber die sind nunmal so, wie sie sind: Sie können Ihre Frau nicht in Sicherheit bringen, weil sie nicht transportfähig ist. Und Sie können Ihren Sohn nicht einfach in einer anderen Einrichtung unterbringen, weil es ihn um Jahre zurückwerfen würde, wenn er plötzlich nicht mehr in seiner gewohnten Umgebung wäre. Es tut mir wirklich für Sie.”
“Sie können mich mal”, sagte ich.
Sie schlug die Beine übereinander.
Provozierend.
“Sie können mich mal, Valentina”, sagte sie. “Ich würde es gerne hören, wenn Sie mich Valentina nennen.”
“Vielleicht bleibe ich wirklich besser bei Mrs Arschloch. Aber mir fallen bestimmt noch ein paar nettere Bezeichnungen für so ein Stück Dreck ein!”
“Sie enttäuschen mich, Barry. Ich dachte, Sie wären ein Mann, der die Realitäten schnell anerkennt. Ich dachte, Sie wären trotz all Ihrer schwer erträglichen Rechtschaffenheit jemand, der sich vielleicht erstmal anhört, was er tun muss, damit all die schrecklichen Dinge, die Sie sich jetzt gerade in Ihrem Kopf ausmalen, gar nicht erst passieren.”
“Ach, ja?”
“Sie sollen für mich arbeiten, Barry. Es geht um ein paar Gangs, die in letzter Zeit sehr schädlich für unsere Geschäfte waren.”
“Was Sie nicht sagen.”
“Ich will, dass ein paar Leute dauerhaft aus dem Spiel genommen werden. Es sind Leute, die es verdient haben. Abschaum. Tätowierte Killer!”
“Sie sprechen von den Mara-Gangs?”
“Ich will, dass sie zerschlagen werden. Und soweit ich weiß, arbeiten Sie sowieso daran. Also machen Sie Ihren Job!”
“Okay.”
“Sagen Sie Okay, Valentina.”
Ich zögerte.
“Okay, Valentina.”
Sie erhob sich und trat nahe an mich heran. “Es geht doch!” Sie schnippste mit den Fingern. Der bullige Typ griff in die Tasche und holte ein Smartphone hervor. Das gab er Valentina. Und Valentina gab es mir.
“Was soll das?”
“Über das Ding bleiben wir in Kontakt. Benutzen Sie zu Ihrerer eigenen Sicherheit nur dieses Gerät. Und dann gibt es da noch ein paar zusätzliche Informationen für Sie… Hören Sie mir genau zu, denn ich werde nichts wiederholen.”
Ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb.
“Ich höre Ihnen zu”, sagte ich.
“Ich höre Ihnen zu, Valentina!”, korrigierte sie mich.
“Ich höre Ihnen zu, Valentina.”
“Es wird noch was mit uns, Barry. Da bin ich mir ganz sicher. Ach, grüßen Sie übrigens Ihren Kollegen von mir - Mr Jaden Hecker.”
“Den kennen Sie auch?”
“War eine Bordellrazzia vor einigen Jahren. Damals war ich noch nicht die schwarze Witwe von Brooklyn.”
“So?”
“Damals war ich noch nichtmal eine Ehefrau. Ich wurde damals wegen Prostitution angeklagt und mein späterer Ehemann hat meinen Anwalt bezahlt. Wer weiß, ich hätte ihn sonst vielleicht nie kennengelernt. In gewisser Weise bin ich Ihrem Kollegen also zu Dank verpflichtet. Aber vielleicht sprechen Sie Ihn besser nicht darauf an.”
“Warum nicht?”
“Er wird sich kaum an mich erinnern.”
Wenn sie damals noch kleine Brüste und kein durch Botox entstelltes Gesicht gehabt hatte, mochte das sogar zutreffen.
Sie fuhr fort: “Abgesehen davon, wäre es ihm vielleicht peinlich.”
“Wieso?”
“Weil er keine Hose anhatte, als die Razzia begann. Er war nämlich nicht dienstlich dort.”
Ich atmete tief durch.
Das war eine Botschaft aus der Rubrik ‘Dinge, die ich über Kollegen nie wissen wollte’.
*
Ich besuche meinen Sohn regelmäßig und so oft es meine Zeit zulässt. Diesmal zeigte er mir etwas, das er gefunden hatte.
Es war ein Buch.
Eine Sammlung mit mathematischen Formeln, wie ich sah.
Dafür interessiert er sich besonders.
Das Buch war schon älter.
Es sah aus, als hätte es jemand aus einer Bibliothek entliehen und nicht zurückgegeben.
“Schau mal!”
Ich schlug es auf.
>Herzliche Grüße… von Valentina!<, stand da.
Es war wie ein Schlag vor den Kopf. Das konnte kein Zufall sein. Das war eine Drohung.
“Woher hast du das?”
“Gefunden.”
“Wo… gefunden!”
“Es lag auf dem Nachttisch. Es lag einfach da. Ich weiß nicht wieso. Es lag einfach da. Ich kann schon die Hälfte auswendig.”
“Wann lag es da?”
“Heute Morgen, als ich aufgewacht bin. Toll, nicht?”
Ich atmete tief durch.
“Ja, eine tolle Sammlung”, sagte ich.
*
Meine Frau liegt im Koma. Ob sie je wieder aufwacht, weiß ich nicht. Ob sie überhaupt schläft, weiß ich nicht. Es kann durchaus sein, dass sie alles mitbekommt.
Also komme ich zu ihr, so oft es geht und spreche mit ihr.
Ich habe immer alles mit ihr besprochen.
Also habe ich einfach nicht damit aufgehört.
Ich könnte sagen, dass ich es ihretwegen tue. Denn wenn man sich vorstellt, in einem Bett zu liegen, sich nicht bewegen zu können und alles mitzubekommen und dann niemand einen zur Kenntnis nimmt, niemand mit einem spricht, das muss schrecklich sein.
Aber die Wahrheit ist, ich tue es nicht nur ihretwegen.
Ich tue es auch meinetwegen.
Denn ich brauche das. Dieses Gegenüber, dem ich alles sagen, alles erzählen kann.
Wenn ich einen schwierigen Fall habe.
Wenn irgendwas nicht so läuft, wie es sollte.
Es ist die ganz große Liebe.
Immer noch.
Ich sage: “Ich denke oft daran, wie wir uns kennengelernt haben. Damals. Wir waren sechzehn und in der High School. Es war im Französisch-Unterricht. Ich saß in der Reihe vor dir - neben einem anderen Mädchen, mit dem ich lange und sehr gut befreundet gewesen bin. Ich drehte mich zu dir um. Unsere Blicke trafen sich. Ich weiß noch, wie du mich angesehen hast. Das war war wie eine Naturgewalt. Die Lehrerin musste mich ermahnen, jetzt aufzupassen. Ich glaube, sowas nennt man ein klassisches Teenager-Drama. Diese Faszination hat nie nachgelassen.”
Ich stelle mir vor, dass sie antwortet.
Wenn ich bei ihr sitze, höre ich sie reden.
So, wie sie es immer getan hat.
Ich höre ihre samtene Stimme und, die mich vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hat.
Und dann zucke ich zusammen, denn ich sehe einen Schatten, links von mir.
Ich greife zur Dienstwaffe, reiße sie raus.
“Keine Bewegung! FBI!”, rufe ich.
Der Mann hat einen dunklen Bart.
Er starrt mich mit großen Augen an.
Seine Bewegung ist erstarrt.
Er wirkt wie schockgefroren.
Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass er die Kleidung der Krankenpfleger trägt.
Aber das muss nichts heißen.
“Ich bin die Nachtschicht”, sagt er, etwas verstört. “Mister Dorkin, Sie waren offenbar so vertieft in Ihr...Gespräch, dass Sie nicht gemerkt haben, wie ich hereinkam.”
Jetzt erkenne ich ihn wieder.
Wir sind uns tatsächlich schon öfter begegnet. Kann trotzdem sein, dass er einer von Valentinas Bluthunden ist. Jeder könnte das sein.
Und jeder könnte das werden. Für ein paar Dollar oder für einen Koffer voll davon. Für Valentina spielt das keine Rolle. Sie weiß, dass jeder käuflich ist. Sie war schließlich mal eine Hure. Wer sollte das besser wissen als sie?
Ich senke die Waffe.
“Entschuldigen Sie”, sage ich.
“Ich habe einen ganz schönen Schreck bekommen, Mister Dvorkin.”
“Es tut mir wirklich sehr Leid.”
“Schon gut.”
“Ich war vielleicht einfach etwas… überreizt.”
“Ja, vielleicht…”
Ich stecke die Waffe zurück ins Holster.
Für einen Moment denke ich darüber nach, dass dieser Krankenpfleger einen Teil dessen mitbekommen hat, was ich gesagt habe.
Einen Teil des Gesprächs mit meiner Frau, das, wie leider zugeben muss, für einen unabhängigen Betrachter wohl etwas einseitig wirken muss.
Aber das alles war mir ein paar Augenblicke später bereits ziemlich egal.
*
Als ich die Klinik verließ, bekam ich eine Nachricht auf das Smartphone, dass Valentina mir gegeben hatte.
>Ich bin in Gedanken immer bei Ihnen, Barry. Immer. Und ich weiß, was Sie tun.<
Dieses Miststück, dachte ich. Dieses verdammte Miststück!
Was mich am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass sie mich vollkommen in der Hand hatte.
Wer jemanden liebt, ist verwundbar.
So einfach ist das.
Und es gibt Schweinehunde, die das auszunutzen wissen.
Ich bin ziemlich furchtlos veranlagt.
Eigentlich zumindest.
Und ich kann eigentlich auch nicht sagen, dass ich das Risiko scheuen würde.
Aber wenn es um die Familie geht, ist das etwas anderes.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich aus dieser Klemme wieder herauskommen sollte.
Im Moment hatte ich nur eine Wahl.
Ich musste tun, was man mir sagte.
Bedingungslos.
Und obwohl es allem widersprach, woran ich glaubte und wofür ich einzustehen bereit war.
*
Es war spät. Aber ich fuhr noch zu meiner Frau.
Ich wollte einfach sehen, dass alles in Ordnung war, obwohl das in diesem Zusammenhang vielleicht etwas eigenartig klingt.
Und ich brauchte jemanden zum Reden.
Jaden Hecker ist ein netter Kerl.
Aber man kann nicht alles mit Kollegen teilen.
Und von der Sache, die mich beschäftigte, konnte ich ihm sowieso nichts erzählen.
Daran änderte die Tatsache, dass Valentina ihn vor langer Zeit mal ohne Hose gesehen hatte (oder das zumindest behauptete) auch nichts.
“Glaubst du ich tue das Richtige?”, fragte ich sie.
Und ich stellte mir vor, wie sie antwortete.
“Du tust immer das Richtige, Barry. Egal, wie du dich entscheidest, egal wie die Umstände sind.”
“Schön wär’s.”
“Du warst immer mein Held, Barry. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du etwas Falsches tun könntest.”
“Vielleicht bin ich gerade schon dabei, etwas Falsches zu tun”, sagte ich.
“Barry…”
“Schlaf gut. Ich bin bald wieder bei dir…”
*
Als ich draußen war, bekam ich eine Nachricht von Valentina.
Sie bestand nur aus einem einzigen Wort.
Allerdings mit drei Ausrufungszeichen.
>Rührend!!!<
*
Tage später saß ich zusammen mit Valentina in einem Restaurant in New Rochelle.
Wir hatten das Restaurant für uns alleine.
Es gab keine anderen Gäste.
Valentina konnte sich das leisten.
Luxus, der durch den Handel mit Drogen bezahlt war. Und ich hatte fleißig dabei mitgeholfen, für die ‘schwarze Witwe aus Brooklyn’ die Konkurrenz aus dem weg zu räumen, sodass ihre Geschäfte jetzt noch besser laufen konnten.
Der bullige Typ namens Victor tastete mich am Oberkörper ab und nahm mir die Dienstwaffe weg, als ich das Restaurant betrat.
“Bin kitzelig”, sagte ich.
“Sorry”, sagte Victor.
“Kommt dir das nicht schwul vor, Victor?”
“Du denkst, dass alle Ukrainer und Russen Schwule nicht mögen.”
“Ist das nicht so?”
“Du denkst, dass wir homophobe Arschlöcher sind.”
“Genau.”
“Das ist ein fieses Vorurteil.”
“Kann sein.”
“Und wir sind hier in New York. Nicht in Kiew. Und auch nicht in Kentucky oder Arizona.”
“Na, wenn du das sagst, mein Süßer!”
“Ich würde dir jetzt gerne eine reinhauen!”
“Ich glaube, deine Herrin hätte was dagegen.”
“Glaube ich auch, aber vielleicht hole ich das noch nach.”
“Vielleicht…”
Dieser Dialog führte im Ergebnis dazu, dass Victor mich nicht besonders gründlich durchsuchte.
Nur unter den Achseln.
Das war alles.
Valentina erwartete mich am Tisch.
Ich setzte mich.
“Ich hoffe, Ihrem Sohn geht es den Umständen entsprechend gut”, sagte sie.
“Er hat ja auch nichts zu befürchten - außer durch Sie und Ihre Leute”, sagte ich.
“Ich habe gehört, er hat jetzt eine neue Formelsammlung…”
“Er ist bereits dabei, sie auswendig zu lernen.”
“Es tut mir Leid, dass sich der Zustand Ihrer Frau bislang nicht verbessert hat, Barry.”
“Das tut Ihnen nicht Leid. Weil Sie denken, dass Sie mich auf diese Weise weiter erpressen können.”
“Eigentlich habe ich Sie hierher gebeten, um Ihnen zu Ihrer guten Arbeit zu gratulieren… Die Mara-Gangster werden lange brauchen, um sich von dem Schlag zu erholen, den Sie Ihnen versetzt haben.”
Der Kellner kam und servierte.
Valentina sagte: “Lassen Sie uns jetzt bitte allein. Und stören Sie uns nicht. Unter keinen Umständen.”
“Jawohl”, sagte der Kellner und verschwand.
Der bullige Leibwächter namens Victor stand etwas abseits und beobachtete uns.
“Er ist nicht eingeladen?”, fragte ich.
“Er ist kräftig genug”, sagte Valentina.
“Wie stellen Sie sich vor, soll es jetzt weitergehen, Valentina?”
“Sie werden für mich weiterarbeiten, Barry.”
“Was macht Sie sicher, dass ich Sie nicht verrate?”
“Ich habe einen hohen Betrag von einem Schweizer Nummernkonto auf Ihr Konto überweisen lassen. Eine Anerkennung, Barry.”
“Für gute Arbeit.”
“Genau, Barry.”
“Aber das ist auch eine Drohung.”
“Das ist hart ausgedrückt, Barry.”
“Falls man Sie aus irgendeinem Grund in Haft nähme oder Ihnen das Wasser bis zum Hals stünde, würden Sie einfach offenbaren, dass Sie hinter diesem Nummernkonto stehen, Valentina.”
“Es klingt sexy, wenn Sie meinen Namen sagen, Barry. Ich mag das. Und Sie haben eine angenehme Stimme.”
“Danke, Valentina.”
“Wissen Sie, dass eine Frau wie ich manchmal… sehr einsam sein kann?”
“Ich nehme das mal als ein freundliches Angebot für unverbindlichen Sex, Valentina.”
“Nehmen Sie das, wie immer Sie es mögen, Barry!”
Ich sah ihr geradewegs in die Augen.
Ihr Gesicht blieb regungslos.
Botox-betäubt.
Erinnerte an eine Gesichtslähmung infolge eines Schlaganfalls.
Ich sagte: “Danke für das freundliche Angebot - aber ich möchte ungern so enden wie Ihr Mann.”
“Enden? Mein Mann musste aufgrund juristischer Fallstricke, die man ihm gelegt hat, das Land verlassen…”
“In Brooklyn erzählt man eine andere Version der Geschichte, Valentina!”
“Jetzt wollen Sie doch nicht behaupten, dass mein Mann mit den Füßen in Beton auf dem Grund des Hudson liegt!”
“So ungefähr habe ich mir das vorgestellt…”
Sie lächelte auf ihre unnachahmlich fiese Art.
“Glück für mich, dass Sie den Grund des Hudson nicht deswegen absuchen werden, nicht wahr, Barry?”
“Nein, ich habe mir etwas anderes überlegt, Valentina.”
“Was denn?”
“Wenn Sie sich vorbeugen, kann ich leiser sprechen und es Ihnen sagen, Valentina…”
“Geben Sie es zu: Sie wollen nur besser in meinen Ausschnitt sehen können, Barry.”
In Wahrheit wollte ich nur, dass sie ihre Beine spreizte. Das muss man nämlich, wenn man am Tisch sitzt und sich vorbeugt.
Sie sagte: “Ich habe nichts dagegen, Barry!”
Man konnte tatsächlich ziemlich gut in ihren Ausschnitt sehen.
Ich hatte meine Zweitwaffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer aus dem Hosenbein geholt. Dort hatte ich ein Spezialholster. Victor hatte mich ja nur oben abgetastet.
Ich schoss unter dem Tisch.
Zweimal kurz hintereinander.
Die Kugeln trafen Valentina genau zwischen die Beine. Und weil die gespreizt waren, lief ich auch nicht Gefahr, dass die Kugeln durch das Knie aufgehalten wurden.
Die Wucht der Schüsse ließ sie mitsamt ihrem Stuhl nach hinten kippen.
Ich riss die Waffe blitzschnell unter dem Tisch hervor und richtete sie auf den bulligen Victor. Dessen Hand steckte gerade unter dem Jackett.
Er wollte seine eigene Waffe herausreißen, das war klar.
Aber jetzt erstarrte er mitten in der Bewegung.
“Lass stecken, Victor”, sagte ich. “Das ist sie nicht wert!”
Er nahm vorsichtig die Hand aus der Jacke.
Und er begann zu schwitzen.
“Du hast nichts zu befürchten, Victor.”
Ich erhob mich, umrundete den Tisch und ließ dabei die Waffe die ganze Zeit auf Victor zeigen.
Dann sah ich auf Valentina herab.
Sie hatte ein faustgroßes Loch im Unterleib.
Sinnlos, die Hände darauf zu pressen.
Das Blut sickerte ihr in Strömen durch die Finger.
Sie lebte noch.
Ein bisschen zumindest.
Jedem anderen hätte ich jetzt vielleicht eine Kugel in den Kopf gejagt, um es zu beenden. Aber ihr nicht. Sie hatte versucht, sich an meiner Familie zu vergreifen. An einer Frau, die im Koma lag. Und an einem Jungen, der vielleicht eine Sammlung von Formeln an einem halben Tag auswendig lernen konnte, aber ansonsten vollkommen hilflos war.
Ich sah ihr ein paar Augenblicke beim Sterben zu.
Dann wandte ich mich an Victor.
“Manchmal haben Frauen, die bluten, grundlos schlechte Laune”, sagte ich. “Aber Valentina hat wirklich Grund dazu. Ich schätze nämlich, dass sie noch etwa zehn Minuten zu leben hat. Und in diesen zehn Minuten kann sie vielleicht etwas über ihr Leben nachdenken, bevor sie vor in die Hölle geht.”
Victor begann zu stammeln und noch mehr zu schwitzen. “Ich meine, ich...vielleicht…”
“Ich verstehe dein Problem, Victor. Aber das lässt sich lösen.”
“Wie…?”
“Du räumst hier alles weg und lässt Valentina verschwinden. Wohin ist mir egal. Vielleicht dorthin, wo ihr Mann zurzeit ist. Aber das überlasse ich ganz deinem Feingefühl, Victor…”
“Hören Sie…”
“Nein, du hörst mir zu, Victor. Ich verstehe, dass es für dich ein Problem bedeutet, wenn rauskommt, dass du deine Herrin nicht bewachen konntest. Du lässt sie einfach genauso ins Ausland reisen, wie ihren Mann.”
Er schien zu begreifen.
“Und sie kommt dann nicht wieder.”
“Genau.”
“Hm.”
“Und danach, arbeitest du für mich. Ich brauche einen Informanten in Brooklyn. Innerhalb gewisser Grenzen halte ich die Hand über dich.”
“Okay”, sagte er.
Er schwitzte wie ein Schwein.
Genau genommen war er auch ein Schwein.
Ein letzter Blick galt Valentina.
Mit meiner Einschätzung ihrer verbleibenden Lebenserwartung war ich wohl etwas zu optimistisch gewesen. Ihre Augen waren starr geworden.
Der alte Mann war hager und gut durchtrainiert. Sein wahres Alter war schwer zu schätzen. Eigentlich unmöglich.
Sein Blick wirkte durchdringend.
Wie der Blick eines Mannes, der alles erkennt, alles erfasst und den man nicht täuschen kann.
Wie ein Schatten war er aus der Dunkelheit aufgetaucht.
“Du warst das mit der alten Frau”, sagte er mit einer dunklen Stimme.
Die Teenagerin stutzte. Ihre Freundin machte eine Blase mit dem Kaugummi, auf dem sie herumkaute.
“Ey Alter, ich schlitz dich auf!”, sagte die Teenagerin jetzt, nachdem sie den ersten Schrecken verdaut hatte. Sie hatte plötzlich ein Springmesser in der Hand. “Red nicht so einen Scheiß oder schlitz dich auf stech dich ab wie eine Sau!”, setzte sie noch hinzu.
“Ich weiß, dass du der alten Frau eins über den Schädel gezogen hast”, sagte der alte Mann furchtlos. “Und jetzt liegt sie im Koma.”
“Ey, Scheiße, Mann…”
“Und das alle nur, weil sie dir ihr Portemonnaie nicht geben wollte.”
“Hau ab, du Wichser!”
“Wegen dieser Sache bin ich hier”, sagte der alte Mann.
“Was willst du, Wichser?”
Der alte Mann blieb vollkommen ruhig. “Für Gerechtigkeit sorgen.”
“Bist du ein Bulle oder was?”
“Ich bin im Auftrag der Tochter dieser alten Dame hier, die jetzt im Koma liegt. Die will auch Gerechtigkeit.”
“Ach, ja?”
“Ich finde, dass du bestraft werden solltest.”
“Man kann mich nicht bestrafen! Weil ich nämlich noch zu jung bin, du Arsch!”
“Da hast du Recht. Und da dich das Gesetz anscheinend nicht angemessen bestrafen würde, muss das wohl jemand anderes erledigen.”
Sie sah aus, als würde sie nicht hundertprozentig begreifen, was der alte Mann damit gemeint hatte.
Aber sie begriff eins: Dass er es ernst meinte.
“Willst du mir drohen?”
“Nein, das ist keine Drohung. Das ist eine Ankündigung”, sagte der alte Mann.
Sie verzog das Gesicht.
“Wenn ich meinem Bruder sage, dass er dich in die Mangel nehmen soll, dann macht der das!”
“Dein Bruder ist bei dieser Rocker-Gang, ich weiß.”
“Dann weißt du ja auch, dass die Ernst machen!”
“Ja, das weiß ich.”
“Wenn der mit dir fertig ist, liegst du auch im Koma, Alter!”
“Und was ist mit dir?”, fragte der alte Mann.
Sie stutzte. Schien einen Moment verwirrt zu sein.
“Häh?”
“Ich fragte: Was ist mit dir, wenn dein Bruder mit dir fertig ist?”
“Ey, hast du Scheiße im Gehirn?”
“Dein Bruder und seine Freunde machen viele schlimme Dinge. Aber alten Frauen Flaschen über den Schädel zu ziehen, gehört definitiv nicht dazu. Das verstößt nämlich gegen ihren Ehrenkodex. Was glaubst du, was er mit dir macht, wenn er davon erfährt, was du getan hast?”
Sie wurde blass.
“Du Arsch…”
“Sag du es mir, was er mit dir machen würde. Du kennst ihn besser als ich.”
“Wenn du die Fresse aufmachst, dann stech ich dich ab!”, kreischte sie.
Ihre Freundin sagte: “Komm wir hauen ab.”
Aber die Teenagerin mit dem Messer wollte davon nichts hören. Sie stürzte sich auf den alten Mann, stieß mit dem Messer zu.
Aber der alte Mann wich geschickt aus.
Der Messerstoß ging ins Leere. Mit einer elegeanten, fast beiläufigen Bewegung, die an die fließenden Bewegungsabläufe des Tai Chi erinnerte, packte er kurz ihren Arm. Ganz beiläufig sah das aus. Und mit dieser eleganten Beiläufigkeit lenkte er die Kraft ihres Klingenstoßes gegen die Angreiferin selbst.
Im nächsten Moment steckte ihr die Klinge im Unterleib.
Die Teenagerin brach zusammen.
Sie stöhnte auf wie ein Tier. Ihre Hände versuchten die Blutung aufzuhalten. Aber das war aussichtslos.
“Scheiße!”, rief sie.
Die zweite Teenagerin stand mit offenem Mund da. Wie erstarrt.
Der alte Mann sagte: “Was ist mit dir?”
“Ich war nicht dabei! Wirklich nicht!”
“Ich weiß. Bei der alten Frau warst du nicht dabei. Aber bei anderen Sachen schon.”
“Scheiße, Sie müssen ihr … helfen!”, stammelte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Komplizin, die sich am Boden wandt.
“Nein, muss ich nicht”, sagte der alte Mann. “Aber wenn du mich jetzt auch angreifen willst: Nur zu! Ich töte dich gerne in Notwehr!”
Der alte Mann machte einen Schritt auf sie zu.
Jetzt löste sich ihre Erstarrung. Sie rannte davon. Hetzte, drehte sich kurz nochmal um und war dann verschwunden.
Der alte Mann drehte sich zu der am Boden Liegenden um.
“Noch fünf Minuten. Dann bist du tot”, sagte er. “Vielleicht auch zehn. Länger nicht. Ich nehme an, dass eine Schlagader aufgerissen ist.”
“Ich…”
Er beugte sich über sie. Mit schnellen Bewegungen durchsuchte er ihre Kleider. Das war jemand, der gelernt hatte, wie man so etwas machte.
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, denn ihre Hände versuchten noch immer, die Blutung aufzuhalten.
Schließlich fand er ihr Smartphone.
Er machte ein Foto von ihr.
“Für deine Profile in diversen sozialen Netzwerken. Deine Freunde sollen dich so sehen wie du jetzt bist.”
“Schwein!”, stieß sie hervor.
Er sah kalt auf sie herab.
“Du wolltest mich abstechen wie eine Sau. Jetzt bist du die abgestochene Sau.”
Der alte Mann war sich nicht sicher, ob sie seine letzten Worte überhaupt noch mitbekommen hatte. Ihre Augen waren nämlich starr und tot.
Sie hatte nicht so lange durchgehalten, wie er gedacht hatte.
“Möge der Richter, vor dem du jetzt stehst, dir ungnädig sein”, sagte der alte Mann halblaut.
*
Ein Bungalow in einem Neubaugebiet im Speckgürtel um die Hauptstadt. Der alte Mann stand vor der Tür und klingelte.
Eine Mittdreißigerin öffnete.
“Guten Tag”, sagte der alte Mann. “Ich wollte Ihnen nur sagen, dass die Angelegenheit erledigt ist.”
Die Mittdreißigerin schluckte.
“Ich wette, das Mädchen musste nicht annähernd so leiden wie meine Mutter.”
“Das trifft leider zu.”
“Meine Mutter wird jetzt ihre letzten Jahre wie eine Zimmerpflanze dahinvegetieren. Möglicherweise bekommt sie alles mit. Eingeschlossen im eigenen Körper. Eine Gefangene, für die es keine Bewährung und keine Hafterleichterung gibt.”
“Ich kann Sie sehr gut verstehen”, sagte der alte Mann. “Auch Ihren Zorn.”
“Meine Mutter hat lebenslänglich.”
“Ich weiß.”
“Und ich auch - in gewisser Weise.”
“Das Mädchen wird nie wieder jemanden etwas antun können.”
Sie schluckte.
“Das ist gut.”
Der alte Mann hob die Augenbrauen.
“Möchten Sie Einzelheiten wissen?”
Die Mittdreißigerin schluckte erneut. “Nein. Aber ich möcht Ihnen danken.”
“Ich tue nur, was getan werden muss. Und das, sonst niemand tut.”
“Ich war erst skeptisch.”
“Ich weiß.”
“Aber jetzt bin ich voller Bewunderung für Ihr Werk. Sie sorgen auf Ihre Weise für Gerechtigkeit.”
“Ein zu großes Wort”, sagte der alte Mann.
Die Mittdreißigerin nickte. “Ich möchte Ihnen etwas geben. Kommen Sie herein?”
“Aber nur kurz. Herr Butter, mein Partner, wartet im Wagen auf mich.”
“Sie arbeiten schon an einem neuen Fall?”
“Ja.”
“Sie scheinen rastlos zu sein.”
“Das bin ich.”
“Kommen Sie herein. Bitte!”
Der alte Mann folgte ihr. Die Mittdreißigerin führte ihn in ein großes Wohnzimmer. “Einen Augenblick”, sagte sie und verschwand im Nebenraum. Als sie zurückkehrte hatte sie einen Briefumschlag in der Hand. Sie reichte ihn dem alten Mann.
“Das ist für Sie”, sagte sie.
“Ich sagte Ihnen doch ganz zu Anfang, dass ich nichts nehmen werde.”
“Ich möchte aber, dass Sie es nehmen.
“Ich suche mir meine Mandanten aus”, sagte der alte Mann. “Man kann mich nicht beauftragen, ich beauftrage mich selbst.”
“Ja, das sagten Sie bei unserem ersten Treffen. Ich erinnere mich.”
“Wie könnte ich das, wenn ich etwas von ihnen nehmen würde?”
“Bitte.”
“Ich bin finanziell unabhängig.”
“Ich danke Ihnen.”
“Leben Sie wohl. Wir wir werden uns nicht wiedersehen.”
“Eine Frage noch…”
Er sah sie ruhig an. “Ich kann nicht versprechen, dass ich sie Ihnen beantworte”, sagte er.
“Warum tun Sie das?”
“Auf wiedersehen.”
“Hat es einen persönlichen Grund?”
“Alles, was wir tun, hat letztlich einen persönlichen Grund”, sagte er ausweichend. “Oder habe ich da Unrecht?”
“Nein.”
Ein mildes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. “Sehen Sie!”
“Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet.”
“Ich weiß.”
“Was ich nur wissen wollte: Hat es damit zu tun, dass es vielleicht in Ihrem persönlichen Umfeld ein nicht gesühntes Verbrechen gab?”
Der alte Mann zögerte. “Leben Sie wohl”, sagte er dann.
ENDE
Ich traf mich mit einer Informantin irgendwo im alten Westen Berlins, und zwar in einem Restaurant, dass den Namen Indianerküche trug.
Ich kannte das Lokal noch nicht.
Auch wenn man viel in der Stadt herumkommt, wie das bei mir zwangsläufig der Fall ist, kann man nicht alles kennen, oder?
Bei dem Namen Indianerküche dachte ich eher an so einen übriggebliebenen Sponti-Schuppen aus den Siebzigern oder Achtzigern. Ein Ort, wo sich die Geister von Punks, Hausbesetzern und David Bowie gute Nacht sagten.
Aber die Indianerküche war ein Haute Cuisine Tempel, spezialisiert auf indianische Küche. Was immer man darunter auch verstehen mochte.
Und die Preise waren jenseits aller Pommes- und Currywurstbuden in Regionen, die das Spesenkonto unserer Abteilung eigentlich nur zuließ, wenn man sich mit einem Top-Drogenhändler traf, um ihn umzudrehen oder irgendetwas in der Art.
Die Informantin schien austesten zu wollen, wie wichtig sie war.
Okay, geschenkt, dachte ich.