Krimi von Thomas West & Chris Heller
Der Umfang dieses Buchs entspricht 119
Taschenbuchseiten.
Ein muslimischer Geistlicher spricht eine Fatwa, ein
Todesurteil, über drei Personen in Hamburg aus, und zwei Leute
machen sich auf den Weg, diese Urteile zu vollstrecken.
Die Polizisten des Bundeskriminalamts Jörgensen und sein
Kollege Müller stellen schnell fest, dass es bereits einen gut
organisierten Stützpunkt gibt, der Sprengstoff, Waffen und
Hilfsmittel zur Verfügung stellt. Ein Wettlauf mit der Zeit
beginnt, denn das erste Todesurteil ist bereits vollstreckt.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© Serienidee “Kommissar Jörgensen”: Alfred Bekker
Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
1
Hamburg 1999…
„Moin, Mustafa“, sagten Roy und ich fast im selben Moment zu
dem Fischbudenmann.
„Moin!“, kam es von Mustafa zurück.
Die Fischbude stand an der Außenalster. Man hatte einen tollen
Blick und der Wind blies einem um die Ohren. Roy und ich waren den
ganzen Tag mit aufwändigen Observationen beschäftigt gewesen. Zum
Essen waren wir nicht gekommen. Entsprechend knurrte uns jetzt der
Magen.
Und die beste Bude für Fischbrötchen besaß derzeit eben
Mustafa.
Darum waren wir in letzter Zeit immer mal wieder bei ihm
aufgetaucht.
„Wie letztes Mal?“, fragte Mustafa,.
„Wie letztes Mal“, bestätigte ich. Und Roy folgte einen
Sekundenbruchteil später, sodass unsere gemeinsame Antwort einen
etwas unharmonischen Chor ergab.
Aber wir sind nicht im Männergesangverein, sondern bei der
Polizei.
Und da geht es um andere Qualitäten.
Mein Name ist übrigens Uwe Jörgensen. Ich bin
Kriminalhauptkommissar. Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller bin
ich Teil der sogenannten ‘Kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppe
des Bundes’. Wir sind in Hamburg angesiedelt und beschäftigen uns
vor allem mit organisierter Kriminalität, Serientätern und
Terrorimus. Ein krimineller Dreiklang sozusagen. Alle drei Bereiche
haben nämlich eines gemeinsam. Man braucht besondere Ressourcen,
besondere Methoden und einen besonderen Ermittlungsaufwand, um
solche Fälle lösen zu können.
Mustafa machte uns unsere Fischbrötchen fertig.
„Guten Appetit!“, meinte er.
„Danke.“
Viel Spaß hatten wir an diesem Tag nicht an unseren
Fischbrötchen. Das lag aber nicht an Mustafa.
Und auch nicht an den Brötchen oder am Fisch oder meinetwegen
an dem Wind, der jetzt ziemlich frisch wurde und das Wasser der
Außenalster zu kräuseln begann.
Ein Wagen fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die
Fischbude zu, drehte dann seitwärts. Die Bremsen quietschen. Die
Seitenscheibe hinten wurde heruntergelassen. Etwas schaute daraus
hervor.
Es war der Lauf einer Waffe.
Vermutlich eine Maschinenpistole.
Jemand brüllte: „Allah-u-Akbar!“ und dann knatterten die
Geschosse los. Ich konnte nur noch das Fischbrötchen einfach
fallenlassen und mich zu Boden werfen. Roy ging es genauso.
Aber der Fischbudenmann hatte weniger Glück.
Schon die erste Salve der Geschosse erfasste ihn voll.
Er schien gar nicht fassen zu können, was da geschah.
Sein Körper zuckte.
Mustafa wurde regelrecht an die Rückwand seiner Bude
getackert.
Die Geschosse gingen einfach durch ihn und die Außenwand
hindurch und landeten irgendwo im Wasser der Außenalster.
Ich griff zu meiner Dienstwaffe, brachte sie in Anschlag und
feuerte zurück.
Mein Kollege Roy Müller ebenso.
Aus dem Wagen wurden wir mit einem Kugelhagel
eingedeckt.
Der Fahrer versuchte einen Kavalierstart hinzulegen. Die
Reifen drehten durch. Aber dann hatte ihn eine unserer Kugeln
getroffen.
Der schießwütige Kerl auf dem Rücksitz ließ die Waffe immer
noch in einem fort losknattern. Dreißig Schuss pro Sekunde und
Feuerstoß.
Dann traf ich ihn.
Augenblicke später war Ruhe.
Tödliche Ruhe.
Roy hatte schon das Handy am Ohr, um Verstärkung zu
rufen.
In geduckter Haltung bewegte ich mich auf den Wagen zu. Der
Motor lief noch. Beide Insassen waren nicht mehr am Leben.
Aber zumindest ging auch keine Gefahr mehr von ihnen aus.
Wenig später war auch Roy bei mir.
„Mustafa hat es erwischt“, sagte er. „Er ist tot.“
„Verdammt.“
„Kennst du einen von den Typen, Uwe?“
„Nein. Aber ich kann mir auch nicht alle Gesichter
merken.“
„Was meinst du: Hatten die es auf uns abgesehen? Oder auf
Mustafa?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Was sollte denn jemand gegen
Fischbrötchen haben?“
„Es gibt militante Vegetarier, die was gegen Fleischesser
haben!“
„Der Kerl mit der MPi hat Allah-u-Akbar gerufen.“
„Ein Islamist?“
„Vielleicht. Vielleicht auch jemand, der diesen Anschein
erwecken wollte.“
*
Am nächsten Morgen saßen wir im Besprechungszimmer von
Kriminaldirektor Bock, dem Chef der ‘Kriminalpolizeilichen
Ermittlungsgruppe des Bundes’.
„Die beiden Täter sind Lutz Dierkes und Gregor Moltotwitsch“,
sagte Herr Bock. „Allerdings haben sie sich andere Namen gegeben
und sind unter diesen auch aufgetreten: Islam Djihad und Mohammed
Abdulrahman. Sie sind Konvertiten und vor anderthalb Jahren einer
radikalen islamistischen Moscheegemeinde beigetreten, in deren
Dunstkreis Kämpfer für den Dschihad gegen den Westen geworben
wurden.“
„Ich gebe ja zu, dass ich ab und zu mal Schweinefleisch esse
und nicht unbedingt ein Leben führe, dass strenge Muslime als
hallal bezeichnen würden“, meinte ich. „Trotzdem…“
„Sie sind ein Ungläubiger. Ihnen verzeiht man das“, sagte Herr
Bock. „Aber diesem Mustafa, der die Fischbude betrieben hat
nicht.“
„Ich wusste nicht, dass Fischbrötchen im Islam verboten sind“,
meinte Roy.
„Sind sie auch nicht - nach allem, was ich darüber weiß“,
meinte Herr Bock. „Das Problem war ein anderes: Dieser Mustafa ist
vor kurzem zum Christentum übergetreten. Und das ist in den Augen
dieser Fanatiker etwas, was den Tod verdient.“
Da die beiden Attentäter selber tot waren, war zumindest
dieser Fall erstmal ausermittelt.
„Ich fürchte, wir werden von solchen Fanatikern noch öfter
hören“, sagte Herr Bock.
Und er sollte leider recht behalten.
2
Vor der Abendkasse standen die Leute Schlange. Und im
Theaterfoyer standen sie sich auf den Füßen. Genauso hatte Sami es
sich vorgestellt. Er wühlte sich aus dem Eingangsbereich. Bevor er
die Warteschlange an der Kasse erreichte, hatte er schon zwei
Brieftaschen erbeutet.
Sami hatte keine Ahnung von Theater. Schon gar nicht von dem
modernen Zeug, was hier im ImprovTheater in Altona abgezogen wurde.
Aber er hatte sich gedacht, ein Skandalstück, das seit einer Woche
hohe Wellen in der Hamburger Presse schlug, müsste eigentlich eine
Menge Leute auf die Beine bringen. Volltreffer. Ein Gedränge wie in
einer Sardellendose. Paradiesisch für einen Taschendieb.
Er rempelte eine rotblonde Frau. „Oh, Verzeihung, die Dame!“
Sie funkelte ihn zornig an. Mit einem gequälten Lächeln besänftigte
er die Lady. „Wahnsinnsgeschiebe hier …“ Sie winkte ab.
Sami steckte ihre Geldbörse ein und peilte sein nächstes Opfer
an. Der Schwarzhaarige mit der Hornbrille und dem weiten
Trenchcoat, nur ein paar Schritte weiter, sah nach Geld aus. Sami
drückte sich nah an ihn heran, strauchelte, als hätte ihn jemand
gestoßen, und ließ sein Zauberhändchen in die Außentasche des
Trenchcoats zucken. Er tastete etwas Hartes, Rundes, mit gerippter
Oberfläche. Und darunter einen leicht gewölbten, konischen Körper.
Kalt fühlte sich das Ding an. Und gefährlich.
Samis Hand zuckte zurück, als hätte sie versehentlich die
Lefzen eines Pitbulls berührt. „Tut mir leid – ‘ne Menge los hier
heut‘ Abend …“, stammelte er. Der Schweiß brach ihm aus.
„Kein Problem.“ Der Mann lächelte höflich. So höflich, wie man
in Altona normalerweise nicht lächelte, wenn man von einer
Menschenmenge eingezwängt war. Ein Ausländer. Sami registrierte
seinen bronzenen Teint, das tiefblaue Schwarz seiner Haare und die
orientalischen Gesichtszüge. Der Kerl hatte nichts gemerkt. Gott
sei Dank …
Samis Herz klopfte, während er sich durch das Gedränge zurück
zum Ausgang arbeitete. Seine Gedärme rumorten, sein Atem flog. Weg
hier, nur weg hier, möglichst schnell, möglichst weit …
Draußen, auf dem Bürgersteig der Haubachstraße fummelte er
eine zerknautschte Zigarettenschachtel aus der Tasche seines
Anzugs. „Ein Ei“, murmelte er. „Der Teufel soll mich holen, wenn
das kein Ei war!“
Sami hatte ein Jahr lang in der Armee gedient. Sie hatten ihn
zwar unehrenhaft entlassen, weil er die Kameraden beklaut hatte –
aber wie sich eine Handgranate anfühlte, das hatte er gelernt in
dem Jahr. Weiß Gott – das hatte er gelernt …
Nur flüchtig nahm der die vielen Leute wahr, die sich auf dem
Bürgersteig vor dem Theater versammelt hatten. „Wer dieses Theater
besucht, lästert den Herrn!“, brüllten einige. Sami sah ein
Transparent. „Gott lässt sich nicht spotten“, stand darauf.
Nichts, was Sami interessierte. „Wieso schleppt dieses
Arschloch ein Ei mit sich herum?“ Er hastete die Haubachstraße
herunter. „Was will dieses Arschloch mit einer Granate im
Theater?“
An der nächsten Kreuzung lief er in die Holstenstraße hinein.
Der Schock peitschte hundert Gedanken und Bilder durch sein
aufgescheuchtes Hirn. Du greifst in eine verdammte Manteltasche, du
glaubst, das Leder einer Brieftasche zu erwischen, oder ein
Feuerzeug, oder einen Schlüssel oder weiß der Teufel was …
Er starrte auf den dunklen Asphalt. Wenigstens sprach er nicht
mehr mit sich selbst. … und plötzlich hältst du ein Ei in der Hand
… Die Neonreklame einer Bar auf der anderen Straßenseite. … das
glaubt mir kein Mensch. Das glaub‘ ja ich mir kaum …
Sami überquerte die Straße und betrat die Bar. Schummriges
Licht, Rauchschwaden unter den tief gehängten, schwarzen
Lampenschirmen, Stimmengewirr, Jazzklänge. Er setzte sich auf einen
freien Barhocker und bestellte einen doppelten Bourbon.
Und wenn ich Idiot mich getäuscht hab?
Das Gefühl des kalten Materials schien ihm noch an den
Fingerbeeren zu kleben. Die gerippte Oberfläche des Granatmantels,
das glatte, gewölbte Bakelitgehäuse … „Verflucht – es war ein Ei,
der Teufel soll mich holen – es war ein Ei!“
Der Kellner stellte den Whisky vor ihm ab. Ein schlaksiger
Jungfuchs mit Rastalocken. Student vermutlich. „Wie geht‘s so?“ Er
grinste spöttisch. Ohne Samis Antwort abzuwarten, schaukelte er ans
andere Ende der Theke.
„Leck mich“, knurrte Sami in sich hinein. Er kippte den
Bourbon hinunter. Das Bild des Schwarzhaarigen flimmerte auf seiner
inneren Bühne. Die dunkle Haut, die braunen Augen, die vollen
Lippen … Das war einer von da unten, einer von diesen Allah-Freaks
…
Hatte er nicht neulich erst wieder von einem Bombenanschlag
gelesen? In Jerusalem, oder Kairo, oder weiß Gott wo. Ganz egal –
das war einer von diesen Radikalen, ich schwör‘s dir Sami …
Er bestellte einen zweiten Whisky. So was ist dir noch nie
passiert … Schwein gehabt … Noch eine Zigarette zwischen die
Lippen.
Der zweite Whisky beruhigte ihn. Zunächst. Bis er an die
vielen Menschen dachte, die jetzt um die nächste Ecke und einen
Häuserblock weiter im ImprovTheater hockten. Und mitten unter ihnen
der Kerl in dem hellen Trenchcoat und mit der Hornbrille auf seiner
Kameltreibernase. Der Kerl mit der Handgranate in der
Manteltasche!
Wer weiß, was er noch alles mit sich herumschleppt … wer weiß,
was das Arschloch vorhat …
Und ihm fiel ein, was er da gestern über dieses Theaterstück
in der Hamburg Post gelesen hatte. „Christliche und islamische
Fundamentalisten sprechen von Gotteslästerung und verlangen Verbot
des Schauspiels…“ Die Demonstranten vor dem Theater fielen ihm
ein.
Wie gesagt – Sami hatte keine Ahnung von Theater. Und von
Religion schon gar nicht. Aber er konnte zwei und zwei
zusammenzählen. „Ich muss die Polizei rufen“, murmelte er.
Was willst du ihnen sagen, du Idiot? Dass du arglos deinen Job
getan hast und plötzlich eine Handgranate statt einer Brieftasche
in der Pfote hattest?
„Scheiß drauf – ich muss den Bullen Bescheid sagen!“
*
Alexa entdeckte Eva Wagener neben der Treppe zur Empore. Die
kleine, ganz in schwarzes Leder gehüllte Enddreißigerin mit dem
roten Stoppelhaar lehnte gegen das Treppengeländer und rauchte.
Unruhig wanderte ihr Blick über die Menschenmenge, die sich ins
Foyer hinein wälzte.
Alexa drängte sich durch die Menge zur Treppe. „Hi, Eva!“ Sie
winkte.
Ein Lächeln des Wiedererkennens flog über das Gesicht der
anderen. Sie winkte zurück. „Ich freue mich für dich.“ Alexa
schloss Eva in die Arme und küsste sie auf die Wangen. „Dein Stück
ist Stadtgespräch. Gratuliere.“
„Keine Ahnung, was überhaupt los ist.“ Eva löste sich aus
Alexas Umarmung. „Jahrelang interessiert sich kein Schwein für
dich, und nur weil plötzlich ein paar Konservative auf die
Barrikaden gehen, finden die Kritiker plötzlich ein Stück von dir“,
Eva spitzte die Lippen und mimte einen gestelzten Tonfall,
„bemerkenswert.“
Sie kicherten. „Ist Micha auch da?“, wollte Eva wissen.
„Was glaubst du denn?“ Alexa deutete zu einer der beiden
Türen, die in den Theatersaal führten. Dort stand mit verschränkten
Armen ein großer, langhaariger Mann. Er trug einen abgeschabten
Lederblouson und Jeans. Ein Brillenträger. Seine große Hakennase
und sein mürrisches Gesicht fielen selbst auf diese Entfernung von
fast zwanzig Schritten auf. „Ich hab‘ ihn überreden können, sich zu
rasieren für diesen Abend.“
Eva lachte. „Seid ihr noch zusammen?“
„Klar.“ Alexa zog spöttisch den rechten Mundwinkel nach oben.
„Wir arbeiten zusammen. Sonst verbindet uns genauso viel wie am
ersten Tag – nichts.“
Eva musterte die rotblonde, sieben Jahre Jüngere vergnügt.
„Das sind die besten Voraussetzungen für lebenslange Beziehungen.“
Sie kicherte. Alexa drückte der Älteren noch einen Kuss auf die
Wange und stürzte sich wieder ins Gedränge.
Sie stolperte über irgendwelche Schuhe irgendwelcher Menschen.
Ein fester Griff schloss sich um ihren Oberarm und hielt sie fest.
Sie blickte auf – ein junges Gesicht fixierte sie. Ein dunkles
Gesicht. Hinter den Gläsern einer Hornbrille ruhten starre,
ausdruckslose Augen. Braune Augen.
„Danke“, lächelte Alexa. Der Mann ließ sie los. Sein Lächeln
wirkte bemüht.
Alexa vergaß das Gesicht sofort wieder. Sie drängte sich zu
der Tür, an der Micha wartete.
„Wo steckst du“, brummte ihr Partner. „Es geht gleich los.“ Er
drehte sich um und bohrte sich durch die Menschenmenge wie durch
durch lästiges Gestrüpp. Egal, wo er sich aufhielt und bewegte –
Michael Valezki wirkte immer ein bisschen so, als hielte er sich
für einen der wenigen nicht überflüssigen Menschen auf der
Welt.
Ein paar Minuten später saßen sie auf ihren Plätzen. Das Licht
im Saal war noch an, aber das Getrampel und Gemurmel legte sich
allmählich. Vier Reihen vor sich sah Alexa eine Gestalt, die ihr
bekannt vorkam – der Mann in dem hellen Trenchcoat und mit der
Hornbrille.
Ein Orientale sicher. Ein Palästinenser? Vielleicht auch ein
Nordafrikaner. Alexa war sich nicht sicher. Sie registrierte
beiläufig, dass er seinen Mantel anbehielt. Nichts Ungewöhnliches
bei dem gemischten Publikum. Alexa hatte ihren Fellmantel an der
Garderobe abgegeben. Micha aber gehörte auch zu denen, die sich
nicht von ihrer Jacke oder ihrem Mantel trennen konnten.
Das Licht erlosch langsam. Das Stimmengewirr ebbte ab. Und
dann öffnete sich der Vorhang …
3
Ich kann mich gut erinnern an diese Nacht. Viel zu gut.
Wahnsinnigen begegnet man in unserem Beruf öfter mal. Aber einer
Frau, die einem auf Anhieb den Schlaf raubt, eher selten.
Wir waren unterwegs. Roy steuerte unseren Dienstwagen, einen
grauen Opel. Langsam rollten wir die Lippmannstraße Richtung
Eiffler Straße entlang. Es war ein Frühsommerabend. Kurz vor acht
würde ich sagen – es dämmerte bereits.
„Da ist es.“ Roy deutete auf die Hausnummer und fuhr an den
Straßenrand.
Ich griff nach dem Mikro. „Jörgensen an Zentrale. Wir haben
fragliche Adresse erreicht. Schauen uns die Burschen mal an.“
„Okay. Die anderen sind auch schon bei ihren Zieladressen
angekommen.“ Stefan Czerwinskis Stimme. Er koordinierte den Einsatz
vom Präsidium aus. „Dann greift zu. Und haltet uns auf dem
Laufenden.“ Wir stiegen aus. An der Haustür des Mietblocks sahen
wir uns die Namen neben den Klingelschildern an.
Ein halbes Dutzend Einsatzteams waren an diesem Abend in
Hamburg Mitte unterwegs. Der BND hatte in den letzten Wochen
mehrfach Alarm geschlagen. Den Kollegen aus Berlin lagen
beunruhigende Informationen ihrer ägyptischen Agenten vor: Eine
radikale Gruppierung der Muslim-Men – der Muslim-Brüder – in Kairo
versuchten ihre Terroristen nach Deutschland einzuschleusen.
„Das ist der Name.“ Ich deutete auf ein Klingelschild im
dritten Obergeschoss: „Hosni Mussawi“. Der Mann war vor zwei Wochen
über Hamburg Fuhlsbüttel aus London eingereist. Mit gefälschten
Papieren. Diese Nachricht aus Berlin war unserem Chef erst am
Vormittag dieses Tages auf den Schreibtisch geflattert.
Und nicht nur Mussawi. Mindestens vier weitere Männer hatten
sich in den letzten Wochen mit gefälschten Dokumenten in Hamburg
Mitte eingenistet. Deswegen also unsere Aktion an diesem Abend –
mit sieben Teams wollten wir möglichst zeitgleich an verschiedenen
Stellen von Elbflorenz zuschlagen.
Roy klingelte im Erdgeschoss. Der Türöffner summte, Licht
flammte im Treppenhaus auf, wir traten ein. Auf dem Treppenabsatz
stand eine alte Dame mit Morgenmantel und Lockenwicklern in den
Haaren. „Verzeihung.“ Roy zog seine Dienstmarke. „Wir müssen ins
Haus, danke fürs Aufmachen.“
Die Frau riss erschrocken die Augen auf. Sie wackelte zurück
in ihre Wohnung. Schon auf der Treppe nach oben hörten wir ihre
Sicherungsschlösser einschnappen.
Vor der Tür im dritten Stock entsicherten wir unsere
Dienstwaffen. Ich drückte auf den Klingelknopf über dem Namen
„Mussawi“.
Schritte vor der Tür. „Wer ist da?“ Die Männerstimme aus der
Wohnung sprach ein Deutsch mit hartem Akzent.
„Kriminalpolizei“, sagte ich, „wir müssten Sie mal sprechen,
Herr Mussawi.“
Einen Augenblick herrschte Stille hinter der Tür. „Moment
bitte.“ Dann wieder Schritte, rascher diesmal, und schließlich das
Geräusch eines hastig hochgezogenen Fensters. Ein kurzer Blick
meines Partners verriet mir seine Gedanken – sie deckten sich mit
meinen: Mussawi versuchte über die Außentreppe zu fliehen.
Wir zogen unsere Walther P99 Pistolen, traten drei Schritte
zurück, und warfen uns gegen die Tür. Sie sprang sofort auf. Ein
spartanisch eingerichteter Raum. Kühlschrank, Matratze, zwei
Stühle, eine Herdplatte auf einer Kommode. Auf einem Tisch eine
Batterie Cola-Flaschen um PC und Monitor, und eine Menge loser
Blätter. Drei Fenster – eines davon hochgezogen.
Wir stürzten ans Fenster – ein Stockwerk unter uns zwei Männer
auf der Außentreppe.
„Kriminalpolizei!“, brüllte ich. „Stehen bleiben oder wir
schießen.“ Ein Schusssalve aus einer Maschinenpistole war die
eindeutige Antwort – Kugeln ratschten über den Klinker der
Hausfassade, schlugen über uns in ein Fenster ein, knallten gegen
die Feuertreppe und pfiffen als Querschläger durch die
Abenddämmerung.
Ich hielt dagegen. Roy zog sich ins Zimmer zurück und
alarmierte über Handy die Zentrale. „Ich schneid‘ ihnen den Weg
ab!“, rief er. Schon verschwand er wieder im Treppenhaus.
Eng an die Zimmerwand gedrückt feuerte ich in den Hinterhof
hinunter. Von gezielten Schüssen konnte keine Rede sein. Ich wollte
die Männer aufhalten, um Zeit zu schinden für Roys Angriff.
Die Bewegung links neben mir nahm ich aus den Augenwinkeln
wahr – ich fuhr herum. Etwas knallte dumpf auf den Holzboden des
Zimmers auf. An der offenen Badezimmertür stand ein Mann. Ich sah
sein entschlossenes Gesicht, ich sah die Pistole in seiner Hand –
und zog zweimal durch. Er stürzte nach hinten in die Badewanne.
Jetzt erst sah ich das hässliche Ding keine zwei Schritte neben mir
unter dem Tisch – eine Handgranate.
Draußen die Maschinenpistolen der Flüchtlinge, hier drinnen
Granatsplitter – mein Instinkt traf die Entscheidung. Ich warf mich
über das Fensterbrett und drückte mich flach auf das Laufgitter der
Nottreppe. Die Explosion hallte über die Hinterhöfe. Glas und
Fensterrahmen schossen aus der Hausfassade und fielen in den Hof.
Glassplitter regneten auf mich herab.
Ich schoss einfach in den Hof hinunter, nur um die beiden
Männer am Zielen zu hindern. Einen sah ich am Müllcontainer vor der
Mauer zum Nachbarhof, den zweiten unten an der Feuertreppe – er
hielt seine MP nach oben und jagte mir eine Salve nach der anderen
entgegen.
Die Treppe dröhnte wie eine Glocke von den Einschlägen der
Geschosse. Plötzlich ein einzelner Schuss – der Mann brach
zusammen. Roy hatte ihn vom Treppenhaus aus angegriffen.
Der zweite hing schon auf der Mauerkrone. Was sollte ich tun?
Einen Bewaffneten, der gerade bewiesen hatte, dass er zum Äußersten
entschlossen war, entkommen lassen? Damit er irgendwo in Hamburg
Mitte untertauchen und wer weiß wen massakrieren konnte? Ich musste
schießen, und mir blieb keine Zeit zu zielen. Der Mann rutschte von
der Mauerkrone, schlug auf dem Müllcontainer auf und blieb reglos
liegen.
Zurück ins Zimmer – zertrümmerte Möbel, Computerteile, Papiere
überall verstreut. Der Mann im Bad war blutjung. Ein
schwarzhaariger, dunkelhäutiger Typ. Palästinenser oder Ägypter –
Orientale jedenfalls. Er hing zusammengekrümmt in der Badewanne und
atmete noch. Über Handy alarmierte ich die Ambulanz.
Als ich unten im Hof ankam, stürmten hinter mir zwei
Uniformierte ins Treppenhaus. Roy stand neben dem Müllcontainer und
tastete die Halsschlagader des Mannes, der darauf lag. „Tot“, sagte
mein Partner.
Der zweite Bursche lag bäuchlings auf dem Hof. Seine Beine
hingen noch zwischen den Stufen der Feuertreppe. Auch er hatte
keinen Puls mehr. Beide Männer sahen aus, als würden sie aus einem
arabischen Land stammen.
„In der Wohnung ist noch ein dritter“, rief ich den Kollegen
zu. „Schwer verletzt.“ Die Uniformierten liefen die Treppen
hinauf.
Roy machte ein bekümmertes Gesicht. „Ich hörte die Explosion,
und dachte: Das ist unser letzter gemeinsamer Einsatz gewesen
…“
„Mist!“, zischte ich. „Diese Kerle sind verflucht gefährlich
…“ Ich machte mir klar, dass der junge Mann im Bad ein
Himmelfahrtskommando hatte: Er sollte uns aufhalten, um den anderen
beiden die Flucht zu ermöglichen. Er wollte sein Leben opfern, um
uns aufzuhalten. „Mist, verdammter!“
Roys Handy dudelte in seiner Jackentasche. „Müller?“ Seine
Miene verdunkelte sich, während er seinem Gesprächspartner zuhörte.
„Verstanden“, sagte er. „Stefan.“ Er steckte das Handy weg. „Der
Abend hat gerade erst angefangen, Partner – in einem Theater in der
Haubachstraße will jemand einen Mann mit einer Handgranate gesehen
haben. In einem vollbesetzten Theater …“
4
Sie standen vor der Wand mit dem Stadtplan. Stefan Czerwinski
und Jonathan Bock. Die Männer sahen sich schweigend an. Stefans
Kaumuskeln pulsierten. Jonathan Bock, der Chef
Kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppe des Bundes in Hamburg City,
presste die Lippen zusammen. Sein Blick war todernst.
„Ein Araber?“, sagte Jonathan Bock. „Hat er wirklich von einem
Araber gesprochen?“
Stefan nickte. „Wenn es stimmt“, sagte er leise. „Verdammt –
wenn er die Wahrheit gesagt hat …“
„Von wo aus hat er angerufen?“, wollte der Chef wissen.
„Er hat es nicht verraten.“ Stefan strich sich mit beiden
Händen über den Kopf. Die Anspannung trieb ihm den Schweiß auf die
Stirn. „Auch seinen Namen wollte er nicht nennen. Er muss aus einer
Bar angerufen haben. Im Hintergrund lief Musik – Jazz.“
„Und er sprach von einer Handgranate?“
„Er schwor, dass der Mann eine Handgranate mit sich
herumträgt. In der Manteltasche.“
„Wie kann er wissen, was andere Leute in ihren Taschen haben?“
Jonathan Bock wandte sich ab und ging langsam zum Schreibtisch von
Stefans Büro.
„Fragen Sie mich etwas Leichteres, Herr Bock.“
Der Chef fuhr auf den Absätzen herum. „Würden Sie den Anrufer
ernst nehmen, Stefan?“ Seine grauen Augen bohrten sich ins Gesicht
des Agenten.
Stefan nickte langsam. „Seine Stimme klang … sie klang
geschockt. Und aufgeregt.“ Er nickte energischer. „Ja, ich würde
den Mann ernst nehmen.“
„Gut.“ Jonathan Bock wandte sich dem Stadtplan zu. „Oliver und
Christine sind hier, am Museum. Uwe und Roy fahren jetzt gerade von
der Sternschanze los. Ludger und Tobias in der Hafenstraße sind am
nächsten dran.“
„Sie werden in schätzungsweise zwölf Minuten in der
Haubachstraße sein“, sagte Stefan. „Bis dahin kann es zu spät
sein.“
„Wenn es wirklich stimmt, was der Anrufer erzählt hat, dann
können wir sowieso nur noch beten. Und Schadensbegrenzung
betreiben. Rufen Sie das Altonaer Revier an, Stefan.“ Jonathan Bock
ging zum Schreibtisch und griff nach einem der Telefone. „Sie
sollen ein paar Streifenwagen hinschicken. Wie hat der Anrufer den
Mann beschrieben?“
„Mittelgroß, schmal, schwarzhaarig, heller Trenchcoat,
Hornbrille.“
„Die Polizisten sollen das Theater weiträumig absperren. Ein
Team soll in den Saal gehen, falls es vor Ludger und Tobias vor Ort
ist. Evakuierung von der hintersten Reihe an. Vielleicht können sie
den Mann erkennen. Die Sicherheit der Schauspieler und
Theaterbesucher hat oberste Priorität.“
„In Ordnung, Chef.“ Stefan nahm ebenfalls einen der fünf
Telefonhörer ab.
Jonathan Bock wählte die Nummer der Telefonzentrale. „Bock.
Hören Sie zu, Linda – ich muss mit dem ImprovTheater sprechen.
Versuchen Sie, den Regisseur an den Apparat zu kriegen – es geht um
Leben und Tod …“
5
Alexa lachte laut. Das abgefahrene Stück machte ihr Spaß.
Apfelschnaps hieß es. Auf der Bühne ging es zu wie bei einer wilden
Fete.
Gut zwanzig Schauspieler tummelten sich vor einer blutroten
Kulisse: Abgerissene Penner, Transvestiten mit aufgedonnerten
Frisuren und Klamotten, Punks, Typen in Nadelstreifentuch und so
weiter, und so weiter.
Hinter ihnen, vor der Kulisse, zog sich ein Stacheldraht quer
über die Bühne. Dahinter war ein Baum zu sehen. In seinem Geäst
hing die Box, aus der die bekiffte Stimme von Axel Rose und die
unverwechselbaren Klänge seiner entfesselten E-Gitarre
drangen.
Auch ein paar nackte Männer und Frauen befanden sich unter dem
bunten Volk auf der Bühne. Die ganze Gesellschaft tanzte zu Axel
Roses Knockin on Heavens Door. Nur drei Männer nicht – sie trugen
lange, schwarze Gewänder und starrten todernst ins Publikum
hinunter.
Alexa beugte sich zu Micha, der neben ihr saß. „Sollen das
Priester oder so was sein?“, flüsterte sie.
Ihr Partner machte ein ähnlich versteinertes Gesicht wie die
drei Figuren in den schwarzen Umhängen auf der Bühne. „Das sind
Jesus, Mohammed und Buddha“, flüsterte er.
Am wildesten tanzte eine Frau. Sie war in ein loses weißes
Tuch gehüllt. Während ihres Tanzes öffnete sich das Tuch, und man
sah ihre Brüste und das dunkle Dreieck zwischen ihren Beinen. Auf
der Rückseite des Umhangs war ein Paar kleiner, goldener Flügel
angenäht. Alexa hatte schnell begriffen, wen diese halbnackte
Tänzerin darstellen sollte – den Erzengel Michael, der den Eingang
zum Paradies bewachte.
„Gegen Evas Stück sind unsere Comics ja religiöse
Erbauungsliteratur“, kicherte Alexa in Michas Ohr.
„Jetzt halt endlich mal die Klappe“, fauchte ihr
Partner.
„O Verzeihung.“ Alexa mimte die Hochachtungsvolle. „Graf
Michael Valezki will sich ungestörtem Kulturgenuss hingeben.“
Grinsend betrachtete sie den vierzigjährigen Griesgram. In den vier
Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte sie sich an seine chronisch
schlechte Laune gewöhnt. Selbst wenn er die witzigsten Comics
zeichnete, machte er ein Gesicht, als hätte man gerade seinen Hund
vergiftet. Alexas Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder auf das
chaotische Treiben auf der Bühne.
Der halbnackte Erzengel hatte sich inzwischen eine Drahtschere
geschnappt und zerschnitt den Stacheldraht – den Zaun vor dem
Paradies. Grölend strömte das bunte Volk durch die Lücke. Die drei
schwarz Verhüllten schlossen sich der Menge an, aber der Erzengel
stellte sich ihnen in den Weg und bedrohte sie mit der Drahtschere.
„Ihr kommt hier nicht ‘rein, bevor ihr nicht einige von euren
Klugscheißereien zurücknehmt, mit denen ihr die arme Menschheit
verwirrt habt …“
Alexas Blick fiel auf einen Mann, vier Reihen weiter vorne.
Der Orientale mit der Hornbrille und dem Trenchcoat. Langsam erhob
er sich. Tief gebeugt drängte er sich an den Zuschauern seiner
Reihe vorbei zum Mittelgang. Die Hände in den Taschen seines
Mantels vergraben …
6
Hauptwachtmeister Roger Venske steuerte seinen Streifenwagen
die Holstenstraße hinunter. Beleuchtete Häuserfassaden flogen
vorbei, an den Kreuzungen die Kühlerhauben der Fahrzeuge aus den
Seitenstraßen. Bremsen quietschten, Venske fuhr Slalom zwischen
Gegenverkehr und Autos, die nicht ausweichen wollten.
Venskes Partner, Wachtmeister Willy Brauer, bekreuzigte sich.
„Himmel, Roger!“, schrie er. „Geh vom Gas! Du musst kein
Extremrennen fahren, es geht nur um einen beschissenen Einsatz,
kapiert?“
„Ein Terrorist mit ‘ner Granate im Theater“, knurrte Venske.
„Darum geht‘s, und nicht um irgendeinen Einsatz …“
„Wer, zum Teufel, hat gesagt, dass wir als erste am Einsatzort
sein müssen?“ Mit beiden Händen hielt Brauer sich am Griff über dem
Beifahrerfenster fest. „Du liest doch Zeitung, Mann! Die Typen
schrecken vor nichts zurück! Ich will nicht befördert
werden!“
„Du bist und bleibst ein Verlierer, Willy.“ Eine Ampel tauchte
auf. Die Kreuzung zur Haubachstraße. Das Theater. Venske stieg in
die Bremsen.
„Das Trassierband!“, brüllte er seinen Partner an. Bevor der
sein Gurtschloss fand, war Venske schon aus dem Wagen
gesprungen.
Er rannte auf die Menge zu, die sich vor dem Theatereingang
aufhielt. Die Leute skandierten irgendwelche Sprüche, die Venske
nicht verstand, und die ihn auch nicht interessierten.
„Weg hier!“ Er zog seine Dienstwaffe. „Verschwinden Sie!“ Die
Menge wich zurück. „Los, los! Oder wollen Sie sich eine Anzeige
wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt einhandeln!“
Polizeisirenen näherten sich. Zwei aus der anderen Richtung
der Holstenstraße, eine aus der Haubachstraße. Venske sah seinen
Partner mit einer Rolle Trassierband heranschaukeln. Die drei
Streifenwagen stoppten, Wagentüren wurden aufgestoßen, Uniformierte
stülpten sich ihre Mützen auf die Köpfe und liefen mit großen
Schritten herbei.
„Sperrt den ganzen Block ab!“, rief Venske. „Wir brauchen
Platz für die Ambulanzen und die Feuerwehr!“
„Kripo schon hier?“, schrie einer der Polizisten. Venske hörte
es nicht. Er hetzte die Treppe hoch und stieß die Tür zum
ImprovTheater auf. Kein Mensch im Foyer. Die beiden Frauen hinter
dem Garderobentresen beäugten ihn verblüfft.
„Bombendrohung“, zischte der Hauptwachtmeister. „Raus hier.“
Er sah sich um. Die vielen Türen irritierten ihn. „Durch welche der
Scheißtüren komme ich so in den Saal rein, dass mich nicht gleich
jeder sieht?“
Die Frauen hatten schon die Klinken der Ausgangstüren in der
Hand. Eine drehte sich um und zeigte auf die letzte der Saaltüren.
„Durch die kommen Sie auf der Höhe der letzten Reihen in den Saal“,
sagte sie mit dünner Stimme.
Venske stürmte zu der Tür. Er lauschte. Musik und laute
Stimmen drangen aus dem Saal nach draußen. Das Stück war in vollem
Gang. Was sollte er machen? Er wusste, dass das Präsidium sich mit
dem Theater in Verbindung gesetzt hatte. Aber das Stück lief noch.
„Verdammt – was soll ich machen?“
Behutsam drückte er die Klinke hinunter und öffnete die Tür
einen Spalt. Die Musik wurde lauter. Er blinzelte in das Halbdunkel
des Saales. Zahllose Köpfe und vorn auf der hellen Bühne ein
Riesenspektakel.
Wie sollte er in dieser Menschenmenge einen einzelnen Mann
finden? Einen Mann, von dem er nur wusste, dass er arabisch aussah
– was immer das heißen mochte – und einen Trenchcoat trug. Und
nicht zu vergessen die Hornbrille. Vermutlich gab es in diesem
dunklen Saal zwanzig oder dreißig Männern mit Hornbrillen …
Venske stutzte. In einer der vorderen Reihen sah er die
Umrisse eines Mannes. Der arbeitete sich an den sitzenden
Zuschauern vorbei zum Mittelgang. Als er den erreichte, richtete er
sich auf. Venskes Hand fuhr zum Kolben seiner Dienstwaffe. Der Mann
trug einen Trenchcoat. Und tatsächlich – die Brille in seinem
Gesicht schien eine Hornbrille zu sein!
7
Die Zuschauer waren ganz bei der Sache. Eva Wagener konnte die
konzentrierten Gesichter sehen. Sie hörte Gelächter an den
richtigen Stellen, sie sah betroffene Mienen an den richtigen
Stellen. Und hin und wieder entdeckte sie auch jemanden, der empört
den Kopf schüttelte.
Auch gut. Eva gehörte nicht zu den Theaterautoren, die es
allen Recht machen wollten. Und der heftige Widerspruch von Teilen
der Presse hatte ihr eine Menge Publicity gebracht. Und schon den
siebten Tag ein volles Haus.
Sie stand hinter dem Proszenium – also dem seitlichen Vorhang,
der die Bühne begrenzte – und blickte ins Publikum hinein. Der Mann
in der siebten Reihe, der sich an den Knien der anderen Zuschauer
vorbeizwängte, schien die Schnauze schon voll zu haben. Eva
grinste. Bei jeder Vorführung hatten ein paar Leute die laufende
Vorstellung verlassen. Sie betrachtete das als Kompliment.
Eine Hand berührte sie von hinten an der Schulter. Sie zuckte
zusammen und fuhr herum. Der Regisseur. Er machte ein Gesicht, als
sei ihm gerade eben gekündigt worden.
„Wir müssen abbrechen, Eva“, flüsterte er.
„Bist du bescheuert?“
„Die Kripo hat gerade angerufen – die Beamten halten es für
möglich, dass ein Bombenanschlag geplant ist.“
„Was erzählst du da?“ Eva hielt den Atem an. Gleichzeitig sah
sie die Schlagzeile vor sich. „Bombendrohung unterbricht
Apfelschnaps!“ Gute Publicity. Wann hatte es das zuletzt
gegeben?
„Wie zum Teufel willst du das hinkriegen?“ Sie blickte zurück
in den Saal. Der Mann, der genug von dem Stück hatte, stand jetzt
im Mittelgang. Doch statt nach hinten zu einem der Ausgänge, ging
er nach vorn in Richtung Bühne …
8
Blaulichter blinkten, Menschenmassen standen vor dem
Trassierband. Die Reifen unseres Dienstwagens schrien, als Roy auf
die Bremse stieg. Wir stiegen aus und spurteten auf die Wand aus
menschlichen Rücken zu.
„Platz machen, Polizei!“, brüllte ich. „Lassen Sie uns
durch!“
Die Leute wichen auseinander. Erschrockene Gesichter überall.
Und faszinierte Gesichter. Die Gaffer genossen ihre Late-Night-Show
– an diesem Abend Live. Kalte Wut packte mich. „Gehen Sie nach
Hause, zum Teufel, wenn Ihnen was an Ihrer Gesundheit liegt!“
„Und an einem vorstrafenfreien Lebenslauf“, knurrte Roy hinter
mir. Wir sprangen über das Trassierband.
„Eure Kollegen sind schon drin“, sagte einer der vielen
Polizisten auf der Vortreppe. Im Foyer trafen wir auf Tobias
Kronenberg und Ludger Mathies.
„Wir sind gerade erst eingetroffen“, sagte Tobias. „Ein
Hauptwachtmeister sei angeblich da drin.“ Mit einer Kopfbewegung
deutete er auf die Saaltüren.
„Stefan hat nochmal angerufen“, sagte ich. „Wir sollen unter
allen Umständen das Theater räumen.“
„Ich weiß“, knurrte Tobias. „Aber die Idioten haben noch nicht
einmal die Vorstellung abgebrochen.“
„Okay.“ Roy zog seine Walther. „Dann reden Uwe und ich jetzt
mit dem Regisseur.“
Tobias nickte. „Und wir gehen in den Saal!“
9
Hauptwachtmeister Venske hatte sich an der letzten Reihe
vorbei auf den Mittelgang geschlichen. Schritt für Schritt näherte
er sich dem Mann. Der lief auf die Bühne zu. Von dort aus
beschallte immer noch Rockmusik den Saal. Die Leute rechts und
links von Venske begannen zu tuscheln. Wellenartig breitete sich
die Unruhe über das ganze Theater aus. Nur die Schauspieler
schienen nichts zu merken. Die Bühnenscheinwerfer blendeten
sie.
Venske lief schneller. Er richtete seine Waffe auf den Rücken
des Mannes. Unmöglich, in diesem vollbesetzten Saal zu schießen.
Das wusste der Hauptwachtmeister genau. Aber wenn der Mann
tatsächlich eine Handgranate bei sich trug, wenn es tatsächlich ein
Terrorist war, wenn er das verdammte Ding scharf machte – es würde
mehr Opfer geben, als eine verirrte jemals Kugel kosten
konnte.
Venske sah, wie der Mann die rechte Hand aus der Manteltasche
zog. Und er sah das mehr als faustgroße, ovale Ding in seiner Hand.
Venskes Herzschlag schien plötzlich seinen Brustkorb sprengen zu
wollen. Die Granate … die verdammte Granate … Mit beiden Fäusten
packte er seine Dienstwaffe hoch.
„Hände hoch!“, schrie er.
10
Für einen Moment dachte Alexa allen Ernstes, die beiden Männer
wären Schauspieler, und ihr Auftritt würde zum Stück gehören. Erst
als der Mann im Trenchcoat sich in die Reihe der Zuschauer warf,
begriff sie, dass sich eine Katastrophe anbahnte.
Sie stieß einen Schrei aus und klammerte sich an Michas Arm
fest. Plötzlich schrien alle durcheinander. Die Leute sprangen auf
und drängten aus den Sitzreihen. Micha blieb sitzen und blickte um
sich, als wäre das ausbrechende Chaos für ihn weiter nichts, als
eine besonders interessante Szene des Stücks.
„Wir müssen raus hier, Micha!“, schrie sie ihn an.
„Uns tottrampeln lassen?“ Er schüttelte den Kopf.
Alexa stand auf und wollte ihn hochziehen. Von überall her
drangen jetzt panische Schreie. Und das Getrampel unzähliger
Schritte. „Wir müssen raus!“, kreischte Alexa.
Ihr Partner zog sie zu sich herunter. „Still jetzt“, zischte
er. „Tief durchatmen!“ Mit seinen großen Händen packte er ihren
Kopf und fixierte sie. Hinter seinen dicken Brillengläsern wirkten
seine grünen Augen unnatürlich groß. Wie kleine, exotische
Tiere.
„Niemand kann seinem Schicksal entgehen.“ Er rutschte von
seinem Sitz und zog Alexa mit sich auf den Boden hinter den
Stuhllehnen. „Mach dich klein, kauer dich zusammen“, befahl
er.
Im nächsten Moment übertönte eine Explosion das Geschrei und
das Getrampel der Schritte!
11
Wie die Salzsäulen standen die Schauspieler auf der Bühne. Sie
schirmten ihre Augen mit den Händen ab und blinzelten in das grelle
Licht der Bühnenscheinwerfer. Keiner von ihnen begriff, was sich im
Zuschauerraum abspielte. Noch immer dröhnte Musik aus dem
Lautsprecher in der Baumattrappe.
Ich hatte den seitlichen Vorhang zur Seite gerissen und stand
am Rand der Bühne.
„Weg hier!“, schrie ich. „Verlassen Sie die Bühne!“ In dem
Augenblick knallte etwas hart auf den Bühnenboden. Ich glaubte
meinen Augen nicht zu trauen – schon wieder eine Handgranate! Ein
Aufschrei ging durch die Schauspieler.
Mit drei langen Schritten erreichte ich das Teufelsding. Ich
dachte nicht nach – ich sah nur die kleine Kuppel an der
Bühnenkante aus dem Boden ragen, ich sah nur die leere Öffnung des
Souffleurkastens, und mein Instinkt steuerte meinen Fuß. Ein Tritt,
und die Handgranate schlitterte in den Kasten hinein und verschwand
in der Unterwelt der Bühne.
„Flach hinlegen!“, schrie ich und hechtete mich auf den Boden,
rollte mich ab, und robbte auf der anderen Seite der Bühne unter
den seitlichen Vorhang. Die Explosion hörte sich dumpf und trocken
an. Der Boden zitterte. Ich verbot mir die Vorstellung,
irgendjemand könnte sich unterhalb der Bühne aufgehalten
haben.
Immer noch flach gegen das Podium gepresst schob ich den
Vorhang beiseite. Zersplitterte Holzdielen ragten bizarr aus dem
Bühnenboden, Rauch stieg aus einem klaffenden Loch, die
Schauspieler drängten sich auf der anderen Bühnenseite hinter den
Vorhang. Einige zerrten eine Frau in einem weißen Umhang mit sich.
Ich sah Blutflecken im Weiß des Stoffes.
Aus dem Zuschauerraum Schrei und Getrampel vieler
Schritte.
„Bleiben Sie ruhig!“, schrie jemand. „Keine Panik,
Herrschaften!“ Tobias‘ Stimme. Ich konnte nicht erkennen, was sich
dort unten abspielte. Noch immer prallte das Licht der
Bühnenscheinwerfer auf die Bühne herab. Keine Chance, hinter diese
Wand aus blendendem Licht zu sehen. Kurz entschlossen legte ich
meine Waffe an und zielte auf die Scheinwerfer.
Der Schuss dröhnte durch den Saal, Funken sprühten, Glas
splitterte – die grelle Beleuchtung erlosch.
Ein Notlicht erhellte den Saal dürftig. Die vordere Hälfte war
schon fast leer. Hinten Menschen über Menschen. Helleres Licht fiel
durch die weit geöffneten Saaltüren.
„Ruhe! Beruhigen Sie sich! Keine Panik! Wir haben alles im
Griff!“ Tobias, Ludger und ein paar Uniformierte brüllten dahinten
durcheinander. Und aus dem künstlichen Baum noch immer
Rockmusik.
Und dann sah ich ihn. Heller Trenchcoat, dicke Brille,
schwarzes Haar – rückwärts bewegte er sich auf die Bühne zu. Vor
sich hielt er eine Frau fest. Wie einen Schutzschild schleifte er
sie mit sich zur Bühne. Offenbar erwartete er keinen Angriff von
dort. Aber was, um alles in der Welt, hatte dieser Wahnsinnige
vor?
Ich robbte auf die Bühne. Der Seitenvorhang bewegte sich. Roy
tauchte auf. Der Kerl unten holte eine zweite Handgranate aus der
Manteltasche. Und ich begriff, was er vorhatte. Er wollte die
Granate in die panisch flüchtende Menge werfen.
Ich sprang auf. Wenn es dem Wahnsinnigen gelang, die Granate
scharf zu machen, war alles zu spät. Ein Schatten flog an mir
vorbei. Roy – er warf sich in den Zuschauerraum. Unter dem Aufprall
seines Körpers stürzte der Terrorist mitsamt seiner Geisel zu
Boden. Die Handgranate kullerte unter eine Sitzreihe.
Schon war ich neben Roy. Er lag auf dem Wahnsinnigen. Und
unter beiden die kreischende Frau. Zwei Griffe, und die
Handschellen schlossen sich um die Handgelenke des Mannes. Roy riss
ihn von der Frau herunter und drückte ihn auf den Boden. Für einen
Moment trafen sich unsere Blicke. Es war, als wollten sich jeder
vergewissern, dass der andere noch am Leben war.
Ich wandte mich der Frau zu. Sie weinte wie ein kleines
Kind.
„Ist gut, junge Frau.“ Ich streichelte ihren Hinterkopf und
half ihr hoch. „Ist gut. Der Albtraum ist vorbei.“
12
„Was sollte ich tun, verdammt!“ Der Hauptwachtmeister
fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Ich seh‘ den Scheißkerl
zur Bühne marschieren …“, er schoss einen bösen Blick auf den Mann
in Handschellen ab, „… ich seh‘ die gottverdammte Granate in seiner
Hand! Was hätten Sie getan?“
„Schon okay, Hauptwachtmeister Venske.“ Ich klopfte ihm auf
die Schulter. „Schon okay.“ Der Mann hatte ja Recht. Wahrscheinlich
hätte ich ähnlich gehandelt wie er.
Es hatte drei Tote gegeben. Die Handgranate unter der Bühne
hatte einen Bühnentechniker getötet. Ich durfte gar nicht daran
denken. Bei der panikartigen Flucht der Zuschauermenge waren zwei
Frauen zu Tode getrampelt worden. Außerdem hatten die Ambulanzen
fünfundzwanzig, zum Teil Schwerverletzte, in die Krankenhäuser
gefahren.
Hauptwachtmeister Venske packte den Attentäter. „Komm mit, du
Mistkerl …“
Die Augen des Mannes versprühten Hass. „Es wird euch nichts
nützen“, zischte er. „Mich habt ihr, aber das gerechte Urteil des
Allmächtigen könnt ihr nicht rückgängig machen!“
Vier Uniformierte zerrten ihn über den Mittelgang des Saales
zu einem der Ausgänge. Es knirschte, als er auf seine Brille trat.
Sie war aus Fensterglas.
„Klingt überzeugend, was?“, knurrte Roy.
„Klingt wahnsinnig“, sagte ich.
Das Saallicht war inzwischen eingeschaltet worden. Hinten, in
der letzten Reihe, saßen zwei Frauen und ein Mann. Eine der Frauen
weinte leise vor sich hin, eine zierliche, rothaarige. Der
Attentäter stemmte sich gegen den Polizisten, der hinter ihm ging.
Für ein paar Sekunden blieb die Gruppe stehen. Ich sah, wie der
Fanatiker die drei Leute fixierte.
Er schrie etwas in einer fremden Sprache. Es klang persisch
und hörte sich nach einem Fluch an. Die größere der beiden Frauen
sprang auf.
„Du verdammter Idiot!“, schrie sie. „Fahr zur Hölle!“ Die
Polizisten zerrten den Mann aus dem Saal.
Roy und ich gingen zu den drei Leuten. Der Mann hielt die
Rothaarige in seinen Armen und versuchte, sie zu trösten. Er hatte
langes, strähniges Haar und ein hartes, knochiges Gesicht. Ich
schätzte ihn etwas älter als fünfundvierzig.
„Entschuldigen Sie, meine Herren“, sagte die Frau, die den
Attentäter angebrüllt hatte. „Ich hab eine Stinkwut! Kommt hier
rein und schmeißt mit Bomben um sich! Diese Fanatiker! Irgendeiner
sieht die Welt anders als sie – und sie stimmen ein gehässiges
Gebrüll an und bringen Tod und Verderben!“ Sie stemmte die Fäuste
in die Hüften. „Das darf doch nicht wahr sein, oder?“
Sie hatte rotblondes Haar, und einen großen Mund mit vollen
Lippen. Ziemlich groß war sie und eher kräftig gebaut. Im Rückblick
würde ich nicht sagen, dass Alexa eine Schönheit war. Aber sie
hatte das gewisse Etwas. Schon die Art, wie sie mit ihren großen,
blaugrauen Augen funkelte.
„Ich kann Ihre Wut verstehen“, sagte ich.
„Wir sind auch wütend, glauben Sie uns das.“ Roy ließ sich auf
einem der Klappstühle nieder. „Leider sind solche Leute nicht vom
Aussterben bedroht.“
„Ja, leider.“ Sie kam näher. „Ich bin Alexa Levin. Sie waren
Klasse, Sie beide! Einfach toll! Vielen Dank!“ Sie drehte sich nach
den anderen beiden um. „Das arme Mädchen da heißt Eva Wagener. Sie
hat dieses Theaterstück geschrieben. Und jetzt ist sie ziemlich
fertig.“
Das „Mädchen“ war ein paar Jahre älter Alexa. Mitte bis Ende
dreißig schätzte ich. Ihre schwarze Lederkleidung und ihr kurzes,
feuerrot gefärbtes Haar wollten nicht recht zu dem heulenden Elend
passen, das sie bot. „Und das ist mein Kollege Micha Valezki.“ Der
Mann brummte irgendetwas Unverständliches und nickte kurz.
Meine Augen wanderten immer wieder zu Alexa. Sie war nicht
besonders auffällig gekleidet – eine enge, bunte Hose, ein
seidenes, schwarzes T-Shirt – und trotzdem: Sie gehörte zu der
Sorte Frauen, die selbst mit einem schmierigen Overall noch etwas
Edles und Elegantes ausstrahlen. Das T-Shirt war oben herum
ziemlich offenherzig geschnitten und enthüllte einen großen Teil
ihrer herrlichen Schultern. Ich entdeckte ein paar Sommersprossen
über ihren Schlüsselbeinen.
Ein paar gute Freunde von mir kennen die wenigen Dinge, die
mich aus der Fassung können. Sommersprossen auf der Haut einer
attraktiven Frau gehören dazu.
Eva Wagener konnte sich nicht mehr beruhigen. Sie verfiel in
einen regelrechten Weinkrampf. Wir holten einen der Notärzte in den
Theatersaal. Er spritzte ihr ein Beruhigungsmittel und nahm sie mit
in die Alster-Klinik.
Auf einer Trage brachten zwei Sanitäter die Autorin nach
draußen. Wir begleiteten sie bis zum Ambulanzwagen. Auf der Treppe
entdeckte ich Ollie und Christine.
„Verdammt, Uwe“, sagte Ludger. „Das hätte viel schlimmer
ausgehen können …“
„Wem erzählst du das?“ Ich blickte über die vielen
Einsatzfahrzeuge auf der Haubachstraße vor dem Theater. Hinter dem
Trassierband, aus der Menge der Gaffer, ragten ein paar
Transparente. „Gott lässt sich nicht spotten“, stand auf
einem.
„Was sind das für Leute?“, wollte ich wissen.
„Fromme Leute“, erklärte Christine, „rechtgläubig bis in die
Knochen. Demonstrieren bei jeder Vorstellung.“
Wir informierten die Zentrale. Roy und Alexa standen immer
noch zwischen den Einsatzfahrzeugen. Eva Wagener war inzwischen in
die Klinik gebracht worden, und den langhaarigen Griesgram konnte
ich nirgends entdecken. Ich ging zu Roy und Alexa. Gerade
rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie die Frau meinem Partner ihre
Visitenkarte überreichte. Na, prächtig, dachte ich, dein
unvergleichlicher Partner versteht es mal wieder, Arbeit und
Vergnügen miteinander zu verbinden.
Alexa verabschiedete sich von uns. Ich hatte den Verdacht, sie
hatte damit gewartet, bis ich wiederkam. Ihr Händedruck und der
Blick ihrer Augen gingen mir mächtig unter die Haut. Wir sahen ihr
nach, bis sie in einen alten, braunen Jaguar Sovereign stieg. Herr
Mürrisch hockte schon hinter dem Steuer und rauchte Zigarre.
„Sie wird doch wohl nichts mit diesem grantigen Tier haben?“
Roy runzelte die Stirn.
„Du machst dir Sorgen um die Dame?“ Ich ging voraus zu unserem
Dienstwagen.
„Was heißt hier Sorgen – ich würde ihr nur einen angenehmeren
Typen gönnen.“
„Einen richtig netten und gutaussehenden, stimmt‘s?“ Ich
setzte mich auf den Beifahrerplatz und überließ Roy das
Steuer.
„Stimmt genau.“
„Einem Kerl, dem die Männlichkeit, der Charme und die innere
Überlegenheit aus allen Knopflöchern quillt …“
„So ist es, mein Freund, ein anderer passt doch nicht zu einer
Edel-Lady wie Alexa!“ Roy startete den Wagen.
„Kurz: Du würdest ihr einen Kerl wünschen, wie du einer bist!“
Ich grinste ihn an, aber mein Grinsen war etwas mühsam.
„Hey, Uwe!“ Roy strahlte. „Du überrascht mich doch immer
wieder aufs Neue – korrekt: Einen Kerl wie mich würd‘ ich ihr
wünschen.“
Auf dem Weg ins Präsidium erfuhr ich, dass Alexa in Wandsbek
wohnte, dass sie einunddreißig Jahre alt war, und dass sie zusammen
mit Herr Mürrisch eine erfolgreiche Comicserie produzierte. Und
natürlich, dass Roy ihre Visitenkarte erobert hatte. Aber das
wusste ich schon.
Viel später stand ich mit einer Dose Bier am offenen Fenster
meiner Wohnung und blickte auf den nächtlichen Altonaer Volkspark
hinunter. Der zurückliegende Abend zog an mir vorbei. Ich kam zu
dem Schluss, dass es ein brandgefährlicher Abend gewesen war.
Weniger wegen der beiden Handgranaten, über die ich gestolpert
war, und wegen des Wahnsinnigen im ImprovTheater. Diese Art von
Gefahr gehört ja zu meinem Job. Nein – ein gefährlicher Abend, weil
ich über Alexa gestolpert war. Ich hatte mich verliebt. Herzlichen
Glückwunsch!
13
Wasser klatschte gegen die Windschutzscheiben. Die
Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. So dicht fiel der Regen,
dass man die Themse unter der Brücke kaum sehen konnte.
Raphael Mussa steuerte sein Taxi über die London Bridge. Die
alte Dame neben ihm auf dem Beifahrersitz seufzte.
„Ein abscheuliches Wetter. Wird höchste Zeit, dass ich die
Insel verlasse.“
„Sie fliegen aufs Festland?“, erkundigte sich Raphael
höflich.
„Nach Ägypten“, sagte die weißhaarige Lady. Sie trug einen
blauen Regenmantel. Der Schmuck an Fingern und Hals, das dezente
Make-up und die teuren Ledertaschen hinten im Kofferraum hatten
Raphael längst verraten, dass er einen wohlhabenden Fahrgast zur
Waterloo Station transportierte. Er hoffte auf ein entsprechendes
Trinkgeld.
„Ich fliege fast jedes Jahr nach Ägypten. Mein Mann und ich
haben lange dort gelebt. Er war Botschafter der Krone.“ Sie sprach
es aus wie ein Offenbarung.
Raphael zeigte sich nicht beeindruckt. „Und wie hat es Ihnen
dort gefallen?“
„Eine herrliche Zeit …“ Sie schwärmte von Land und Leuten. Die
vielen Orte, in denen Armut und Schmutz regierten, schien sie nie
gesehen zu haben.
„Das freut mich“, sagte Raphael. „Ägypten ist meine
Heimat.“
„Was Sie nicht sagen …“ London Bridge und Themse blieben
hinter ihnen zurück. Raphael bog in die Southwark Street ein. „Sie
sprechen ein tadelloses Englisch, junger Mann“, staunte die alte
Lady. „Wie lange sind Sie denn schon in London?“
„Fast acht Jahre. Ich studiere hier Elektrotechnik.“ Das klang
nicht schlecht und war fast die halbe Wahrheit. Raphael hatte sein
Studium längst abgeschlossen. Auch hatte er insgesamt zwei der acht
Jahre außerhalb Großbritanniens verbracht – eins in Afghanistan,
über ein halbes im Iran und etwa vier Monate im Sudan.
Nach seinem letzten Auslandsaufenthalt hatte er keinen Job als
Elektrotechniker mehr gefunden. Also fuhr er seit anderthalb Jahren
Taxi. Aber Fahrgäste wollten nicht mit den Problemen ihrer Fahrer
behelligt werden.
„Und mit dem Taxifahren finanzieren Sie sich Ihr Studium?“
Raphael bejahte.
„Ja, ja“, seufzte die alte Lady. „London ist teuer geworden.
Und so ein Studium kostet Geld …“
„So ist es, Madam.“ Das kurze Gespräch würde das Trinkgeld
kräftig ansteigen lassen, da war sich Raphael sicher. Er setzte den
Blinker nach links und bog in die Waterloo Street ein.
Am Taxistand vor der Waterloo Station herrschte das an
Vormittagen übliche Gedränge. Unter Regenschirmen hasteten die
Leute aus dem Bahnhof zu den wartenden Taxen, und aus den Taxen
hasteten sie in das Bahnhofsgebäude.
Raphael hielt an. Er zog die Geldtasche aus dem Hosenbund und
warf einen Blick auf die Taxiuhr. „Sieben Pfund und fünfzig Cent,
Madame.“
Mit gönnerhaftem Lächeln reichte sie ihm eine Zehn-Pfund-Note.
„Stimmt so, junger Mann.“
„Danke, Madam.“ Raphael stieg aus und schlug den Kragen seiner
Lederjacke hoch. Der Regen klatschte ihm ins schmale Gesicht und
auf die schwarzen Locken. Er angelte die Taschen aus dem Kofferraum
und trug sie der Frau bis zum Eingang des Bahnhofs.
„Einen schönen Urlaub, und grüßen Sie mir die Heimat!“
Sie bedankte sich überschwänglich und winkte, während er
zurück zu seinem Taxi lief.
Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann. Schwarzhaarig wie Raphael
und ein paar Jahre älter als er. Raphael warf sich hinters Steuer
und schlug die Tür zu.
„Ismael?“ Erstaunt sah er den bärtigen Mann an. Ismael
arbeitete in Brighton unten. Sie telefonierten fast jede Woche,
sahen sich aber höchstens alle zwei Monate mal.
„Fahr nach Woodford.“
„Der Tag hat gerade angefangen, Ismael. Ich hab‘ erst drei
Fahrten gehabt …“
„Es gibt Größeres als Geld und Arbeit, kleiner Bruder – fahr
nach Woodford.“
Raphael schimpfte vor sich hin, tat aber, was sein Bruder
verlangte. Er tat immer, was sein sechs Jahre älterer Bruder
verlangte. Schon als er ihm als kleiner Junge auf den Gassen Kairos
wie ein Hündchen gefolgt war, hatte er getan, was Ismael
verlangte.
„Wie geht‘s, Ismael?“, erkundigte er sich, nachdem er sich mit
dem Unvermeidlichen abgefunden hatte.
„Gut, gut …“ Ismael erzählte – von Frau und Kindern, von
gemeinsamen Bekannten aus Brighton, von seiner Firma. Der
Fünfunddreißigjährige arbeitete als Informatiker in einer
Software-Schmiede.
Danach war Raphael an der Reihe. „Wie geht‘s dir?“, und dann
wurde haarklein erzählt. So lief das immer. Raphael wusste, dass
Ismael ihm nicht verraten würde, was sie beide in Woodford verloren
hatten, bevor nicht dieses Ritual beendet war.
Raphael hatte nicht viel zu berichten. Ein paar Neuigkeiten
aus dem islamischen Viertel – Todesfälle, Hochzeiten, und so weiter
– ein paar vergebliche Anläufe, eine Stelle zu bekommen, und die
üblichen Frauengeschichten. Darüber sprach er wie immer besonders
ausführlich und leidenschaftlich.
„Wie lange willst du dich noch mit solchen losen, ungläubigen
Weibern abgeben?“, sagte Ismael streng. „Das ziemt sich nicht für
einen Kämpfer Gottes.“
„Was soll ich tun?“, jammerte Raphael. „Sie laufen mir einfach
so über den Weg, und ich kann nicht widerstehen.“
„Du musst endlich lernen zu widerstehen. Diese ungläubigen
Schlampen – das bringt nur Unglück! Das hast du doch gesehen
damals, als du dich mit dieser jungen Schlampe eingelassen hast!
Ich hatte dich gewarnt, und immer noch …“
„Kein Wort mehr davon!“, zischte Raphael. Alles durfte sein
Bruder ihm sagen, alles hörte er sich an. Nur über diese eine Frau
durfte Ismael nicht sprechen. Diese Eine, die ihm vor sieben Jahren
das Herz gebrochen hatte …
Sie schwiegen eine Zeitlang. Ismael betrachtete seinen
jüngeren Bruder von der Seite. Anders als er selbst, trug Raphael
keinen Bart. Sein Haar hing ihm in dichten Locken tief in den
Nacken hinein, während Ismaels kantiger Schädel von einer
fingernagelkurzen, schwarzen Matte überzogen war.
Ansonsten sahen sich die Brüder recht ähnlich – beide hatten
dunkle, glühende Augen unter dichten Brauen und große, gerade
Nasen. Bei beiden fielen das trotzig vorgeschobene Kinn und der
große, schmale Mund auf, und beide waren nicht besonders
groß.
„Was tun wir in Woodford?“, brach Raphael schließlich das
Schweigen.
Ismael wandte sich ab und blickte durch die Windschutzscheibe
in den Regen. „Ahnst du es nicht?“
„Der Scheich?“
Ismael nickte. „Er hat mich gestern Abend in Brighton
angerufen. Es ist endlich soweit, kleiner Bruder.“
Raphael antwortete nichts. Er ahnte, das sein Leben auf einen
neuen Wendepunkt zusteuerte.
Wie damals in Kairo, als Ismael ihn nach dem Freitagsgebet
beiseite nahm und sagte: „Die Al-Qaida braucht dich in London“.
Über zehn Jahre war es her.
Oder wie vor fünf Jahren, als Ismael aus Kabul anrief und
sagte: „Komm nach Afghanistan – die Al-Qaida braucht Kämpfer, die
mit allen Waffen vertraut sind. Hier wirst du ausgebildet für den
Kampf gegen den Großen Satan!“
Raphael steuerte das Taxi durch die nordöstlichen Stadtviertel
von London bis nach Woodford hinein. Der Scheich wohnte in einem
Mietshaus in einem alten Arbeiterviertel. Ein paar Straßenzüge
waren hier fast ausschließlich von islamischen Familien bewohnt.
Auch eine Moschee gab es in Woodford.
Raphael fand einen Parkplatz und rangierte den Wagen in die
Parklücke. Der Regen hatte kaum nachgelassen. Sie stiegen aus,
zogen sich die Jacken über den Kopf und liefen zurück zum Mietshaus
des Scheichs.
Eine von vier Frauen des Scheichs führte sie in ein geräumiges
Wohnzimmer. Kahlid Al Turabi saß in einem großen Plüschsessel. Vor
ihm auf einem niedrigen Glastisch dampfte Tee aus einem Glas. Er
wies auf die Couch, und die beiden Brüder nahmen Platz.
Der Scheich war vielleicht sieben, acht Jahre älter als
Ismael. Ein dichter Vollbart überwucherte die untere Hälfte seines
runden Gesichts. Den Rest bedeckte eine große Sonnenbrille. Al
Turabi trug einfache Kleider: Ein beigefarbenes, langes Gewand,
dunkelbraune, weite Weste und den schwarzen Turban eines
schiitischen Koranlehrers.
Raphael wusste, dass er in ständigem Kontakt mit Fazlur Rahman
Kalil stand. Beide hatten sie in Afghanistan gegen die Russen
gekämpft. Während dieses Krieges hatte der damals noch sehr junge
Ismael den Koranlehrer und den Talibankämpfer kennengelernt. Fazlur
Rahman Kalil war die rechte Hand des Führers von Al-Qaida und der
Chef seiner Leibwache.
„Eure Stunde ist gekommen“, sagte der Scheich. „So Allah will,
wird sich bald die Tür zum Paradies für euch öffnen.“ Er lehnte
sich zurück und schwieg. Als wollte er seinen Worten Zeit geben,
den Weg in die Herzen und Köpfe der Brüder zu finden. „Falls ihr
bereit seid“, fügte er schließlich hinzu.
Eine seiner Frauen kam herein und brachte zwei Gläser und
frischen Tee.
„Die Ungläubigen ertrinken in der Flut des Schmutzes, den sie
Tag für Tag ausspeien“, ergriff der Scheich erneut das Wort. „Es
wäre gottgefällig, würden sie allein an all dem Dreck zugrunde
gehen – aber in ihrer maßlosen Verblendung haben sie beschlossen,
die ganze Welt mit ihrem Schmutz zu verunreinigen …“
Raphael und Ismael schlürften Tee, während der Scheich sich in
zornigen Monologen gegen die Ungläubigen im Allgemeinen und den
Großen Satan im Besonderen erging. Wesentliche Dinge brauchten
viele Worte – so war das eben.
Al Turabi setzte seine Tasse ab und beugte sich nach vorne.
Etwas Verbittertes lag auf seinem dicken Gesicht. Aus großen,
braunen Augen musterte er das Brüderpaar. Raphael wusste, dass er
nun zum Thema kommen würde.
„Nächste Woche wird hier in London ein Theaterstück
aufgeführt, das unseren Propheten Mohammed und den Propheten Jesus
aufs Abscheulichste verhöhnt. Einer unserer Brüder hat in Hamburg
vergeblich versucht, den Zorn Allahs über die Schlange zu bringen,
die solches Gift abgesondert hat. Bevor seine strafende Hand sie
und ihre Schauspieler treffen konnte, griff das Bundeskriminalamt
ein. Verrat.“
Raphael und Ismael hörten schweigend zu. Beiden war klar, was
jetzt kommen würde.
„Gemäß der Scharia habe ich das Todesurteil gegen diese Hure
verhängt. Und noch gegen zwei weitere Schmutzspeier! Morgen wird
ein Aufschrei der Angst durch die Städte des großen Satans
gellen!“
Eine Fatwa! Ein Schaudern rieselte über Raphaels Nackenhaut.
Ein Todesurteil. Scheich Kahlid Al Turabi war nicht nur ein
Mudschtahid – ein Religionsgelehrter, der den Koran selbstständig
auslegen durfte – er war auch ein Clanführer, ein Scheich. Er hatte
das Recht, eine Fatwa auszusprechen! Und jeder gläubige Kämpfer
konnte die Gelegenheit beim Schopfe fassen, Allahs Willen zu
vollbringen.
„Ihr wisst, dass Salman Rushdie sich in ein Loch verkrochen
hat, seit er zum Tode verurteilt wurde. Keine Zeile Schmutz hat er
seitdem mehr produziert …“ Wieder folgte ein längerer Monolog.
Diesmal eine Abhandlung über Sinn und Zweck der Fatwa.
„Neben der Theaterhure habe ich die Fatwa gegen zwei
Schmierfinken verhängt, die Allah und seine Propheten in nutzlosen,
schändlichen, ja, sündigen Bilderbüchern lästern. Alle drei leben
in einer Stadt, in der Kloake des Großen Satans, in Hamburg.“
Wieder machte Al Turabi eine Pause. Er griff nach seiner
Teetasse und lehnte sich zurück. Die beiden Brüder saßen wie
festgewachsen und starrten auf ihre Hände, die sie auf ihre
Oberschenkel gelegt hatten. Raphael merkte, wie der Stoff seiner
Jeans unter seinen Händen heiß und nass wurde.
So verstrichen ein paar Minuten. Endlich blickte der Scheich
sie wieder an. Seine Augen waren starr und wie aus Stein.
„Ich frage dich, Ismael Mussa – bist du bereit, die Strafe
Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?“
„Ja“, sagte Ismael mit fester Stimme.
„Und ich frage dich, Raphael Mussa, bist du bereit, die Strafe
Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?“
„Ja“, sagte Raphael leise.
14
„Der Islam ist keine kriegerische Religion“, sagte der Mann.
„Genauso wenig wie das Christentum in seinem Kern eine gewalttätige
Religion ist.“ Er trug einen dreiteiligen Maßanzug, war hager,
klein und glattrasiert. „Aber Sie kennen ja die Geschichte der
christliche Kirchen, und Sie kennen die christlichen Extremisten in
Ihrem eigenen Land – ich erinnere Sie nur an die Attacken auf
deutsche Ärzte, die Abtreibungen durchgeführt haben.“
Wir hatten den Anwalt des Attentäters in seinem Büro in
Hamburg Harburg besucht. Er hieß Zakaria Nabul, war gläubiger
Moslem. Ein Palästinenser, der schon seit über zwanzig Jahren in
Hamburg lebte und mit einer Deutschen verheiratet war.
„Und so gibt es leider, leider auch im Islam radikale
Strömungen“, sagte er. „Strömungen, die den Koran sehr willkürlich
auslegen. Ich gebe zu, dass diese Strömungen gefährlich sind und in
den letzten Jahren viel Einfluss gewonnen haben.“
Wir hatten ihn nicht gebeten, uns die verschiedenen
Schattierungen des Islams zu erklären. Aber der Anschlag auf das
ImprovTheater hatte einen großen Wirbel in der Presse ausgelöst,
und Nabul schien das Bedürfnis zu haben, seine Religion zu
verteidigen. Roy und ich hatten Verständnis dafür.
„Aber es ist doch wahr, dass der Koran den Heiligen Krieg
predigt“, wandte Roy ein.
Nabul winkte ab und schüttelte den Kopf. „Heiliger Krieg – was
für eine irreführende Übersetzung. Dschihad bedeutet in erster
Linie Anstrengung für die Sache Gottes. Kampf gegen die eigenen
schlechten Eigenschaften und das Bemühen um wahren Glauben und
aufrichtigen Gehorsam gegen Gott. Das ist der sogenannte große
Dschihad. Und dann gibt es allerdings noch den kleinen
Dschihad?“
„Und was meint der Koran damit?“, wollte ich wissen.
„Damit ist in der Tat der militärische Kampf gemeint“, räumte
Nabul ein. „Aber nur zur Verteidigung der islamischen
Glaubensfreiheit und gegen die Unterdrückung verfolgter
Glaubensgenossen.“
„Das gleiche alte Lied wie im Christentum.“ Roy zuckte mit den
Schultern. „Alles eine Sache der Auslegung.“
„Da haben Sie leider nicht ganz unrecht, Herr Müller.“ Zakaria
Nabul machte ein bekümmertes Gesicht. „Diese radikalen Islamisten
legen den Koran in der Tat so aus, wie es ihnen passt. Mohammed hat
aber nie davon gesprochen, den Islam mit Waffengewalt
durchzusetzen. Der Koran sagt ganz eindeutig: In der Religion gibt
es keinen Zwang, und: Ruf die Menschen mit Weisheit und einer guten
Ermahnung auf den Weg deines Herrn.“
„Ach!“ Ich war erstaunt. Und Roy ging es ähnlich. Der Anwalt
nickte bekräftigend.
„Nach unseren Erkenntnissen gehört Ali Sadr zu der radikalen
Gruppe um den Scheich Bin Laden“, sagte ich. Wir hofften, der
Anwalt des Attentäters würde ein paar Informationen herauslassen.
Er hatte stundenlang mit Ali Sadr – so hieß der Fanatiker –
gesprochen. Der Mann saß im Hochsicherheitstrakt im Gefängnis in
Fuhlsbüttel.
„Zur Al-Qaida?“ Nabul wirkte plötzlich betroffen. „Er hat mir
eine Menge irrsinniger Phrasen an den Kopf geworfen. Aber die
Al-Qaida hat er nicht erwähnt. Das ist natürlich ein schlechtes
Zeichen, wenn der Arm des weltweiten Staatsfeindes Nummer eins
schon bis nach Hamburg reicht.“
Staatsfeind Nummer Eins – das klang ziemlich reißerisch, traf
aber den Nagel auf den Kopf. Der saudische Scheich Osama Bin Laden
hatte sich seit Jahren auf unser Land eingeschossen. Anschläge
gegen deutsche Einrichtungen gingen genauso auf sein Konto, wie die
verheerenden Bombenattacken gegen die US-Botschaften in Kenia und
Tansania 1998.
257 Tote und mehr als fünftausend Verletzte hatten diese
beiden Angriffe gekostet. Die Amerikaner hatten mit Cruise Missiles
zurückgeschlagen und eine Giftgasfabrik des Bankiers des Terrors im
Sudan vernichtet. Sogar sein Hauptquartier in Afghanistan war
angegriffen worden. Doch der Super-Terrorist hatte fliehen
können.
Niemand hatte eine Ahnung, von wo aus er derzeit seine Kämpfer
in den blutigen Terrorkrieg kommandierte. Obwohl CIA und Mossad
fieberhaft nach ihm suchten. Auch auf unserer Fahndungsliste stand
er ganz oben.
„Wir glauben nicht, dass es sich bei Ihrem Mandanten um einen
einsamen Fanatiker handelt, Herr Nabul“, sagte Roy. „Er muss
Hintermänner haben. Wir sind fest davon überzeugt, dass diese
Hintermänner über eine gut organisierte Logistik in Hamburg
verfügen.“
Der Rechtsanwalt nickte. Er wirkte sehr ernst.
„Ich frage Sie direkt, Herr Nabul“, sagte ich. „Haben Sie in
Ihren Gesprächen mit Sadr irgendetwas in Erfahrung gebracht, was
unsere Theorie bestätigt, oder was uns in unseren Ermittlungen
weiterhelfen könnte?“
„Ich bin kein Staatsanwalt“, erwiderte er. „Sie müssen mich
verstehen – ich bin Rechtsanwalt. Mein Klient muss sich auf meine
Verschwiegenheit verlassen können. Aber … und das bleibt unter uns,
meine Herren – ich bin auch deutscher Staatsbürger. Und wenn ich
aus irgendeiner Quelle erfahren würde, dass deutsche Staatsbürger
in unmittelbarer Gefahr sind, würde ich Sie selbstverständlich
informieren.“
„Danke, Herr Nabul.“ Wir verabschiedeten uns und fuhren zurück
ins Präsidium.
„Was hast du für einen Eindruck von dem Mann?“, wollte ich von
Roy wissen.
„Scheint sehr vernünftig zu sein – trotzdem sollten wir dem
Ermittlungsrichter eine Abhörerlaubnis abschwatzen.“
„Seh‘ ich genauso.“ Die Sache war einfach zu brisant. Wenn
Sadr tatsächlich im Auftrag Bin Ladens versucht hatte, die Bühne
mit Handgranaten anzugreifen, mussten wir mit weiteren Anschlägen
rechnen. Nach allen Erfahrungen gab es nichts Hartnäckigeres als
den islamistischen Terrorismus. Das rechtfertigte es hoffentlich
auch in den Augen des zuständigen Richters Nabuls Gespräche mit dem
Attentäter zu belauschen.
„Was machst du übrigens heute Abend, Partner?“, wollte ich
wissen.
„Etwas sehr Schönes, Uwe.“ Roy strahlte, und ich wusste, dass
meine Frage ins Schwarze getroffen hatte. „Ich werde die
interessante und erfolgreiche Comic-Autorin Alexa Levin zum Essen
ausführen.“
Der Name verursachte mir ein heißes Brennen hinter dem
Brustbein. Seit Tagen wollte Alexas Bild mir nicht mehr aus dem
Kopf gehen.
„Schämst du dich gar nicht, deine Dienstpflichten dazu
auszunutzen, arglose Frauen an Land zu ziehen?“ Wahrscheinlich
wirkte mein Grinsen etwas verkrampft. Roy merkte es nicht.
„Überhaupt nicht, Partner“, lachte er. „Wenn das Schicksal
einem eine attraktive und kluge Frau über den Weg führt, muss man
zugreifen. Außerdem habe ich eine Schonfrist von über einer Woche
verstreichen lassen.“
„Das Schicksal also“, murmelte ich. Für ein paar Minuten
verfiel ich in brütendes Schweigen. Roy steuerte unseren
Dienstwagen in die Tiefgarage unter dem Polizeipräsidium.
„Wo trefft ihr euch denn?“, fragte ich ihn, als die Aufzugtür
sich hinter uns schloss.
„In ‘Der alte Ritter’.“ Am Zucken seiner linken Braue merkte
ich, dass meine Neugierde ihn irritierte.
„Weißt du was, Partner?“ Die Lifttüren schoben sich
auseinander, und wir traten aus dem Aufzug. „Ich hab noch nichts
vor heute Abend. Und mit einem Menschen plaudern, der abgefahrene
Comics macht – das war schon als kleiner Junge mein sehnlichster
Wunsch. Ich komme mit.“
Roys Unbehagen war jetzt offensichtlich. Er runzelte die Stirn
und beäugte mich skeptisch.
„Nicht nötig, Uwe – ich werde ihr genaustens auf den Zahn
fühlen und dir alles erzählen. Versprochen.“
„Lieb von dir, Roy.“ Ich hielt ihm die Tür in unser Büro auf.
„Aber ich will es aus ihrem Mund hören, wie sie auf die Ideen
kommt, wie ihre Karriere zustande kam, und so weiter, du
verstehst.“
„Natürlich verstehe ich das, Uwe“, versicherte Roy. „Ich kann
ja einen Minirekorder mitlaufen lassen.“
„Was bist du für ein treuer Freund.“ Ich hängte mein Jackett
über die Lehne des Bürosessels. „Aber ich will dir nicht zu viel
Mühe machen. Außerdem möchte ich mir eines ihrer Comic-Hefte
signieren lassen.“
Roy ließ sich in seinen Stuhl fallen und legte die Beine auf
den Schreibtisch. „Sein wann, zum Teufel, interessierst du dich für
Comics?“ Unverhohlen misstrauisch musterte er mich.
„Ich? Seit tausend Jahren, glaub ich. Meine Mutter hat mir
schon Donald Ducks Abenteuer vorgelesen, als ich noch Windeln
trug.“
„Davon hast du nie erzählt“, knurrte Roy. „Hör zu, Uwe – ganz
ehrlich: Ich will mit der Frau allein sein.“
„Ach so!“ Ich mimte den Überraschten. „Sag das doch gleich!
Kein Problem, Partner. Ich werde mir mein Heft signieren lassen,
ein halbes Stündchen Alexas holden Worten lauschen, und euch dann
allein lassen.“
15
Sie reisten über den Airport Helmut Schmid in Deutschland ein.
Genau acht Tage nach dem Treffen mit Al Turabi. An den Schaltern
der Einreisebehörde legten sie ihre gefälschten Papiere und ihre
Presseausweise vor.
Die Al-Qaida hatte Beziehungen zu der größten ägyptischen
Zeitung. Offiziell reisten Raphael und Ismael Mussa als
Journalisten der Zeitung Al Ahram ein. Ein gefälschtes Schreiben
der Chefredaktion bestätigte ihren frei erfundenen Auftrag: Eine
Reportage über das Leben islamischer Enklaven in Hamburg.
Anstandslos schmückte der Angestellte der Einreisebehörde ihre
Pässe mit dem Einreisestempel.
Am Zoll musste Ismael seinen Koffer öffnen. Akribisch zählten
die Zollbeamten die Zigaretten, die er mitgebracht hatte: Neun
Schachteln Nil à zwanzig Zigaretten. Zweihundert waren erlaubt.
Also auch hier keine Probleme.