1000 Höllen bis zur Gegenwart III - Claus Bisle - E-Book

1000 Höllen bis zur Gegenwart III E-Book

Claus Bisle

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Beschreibung

Ein Fluch hat Manuel Jebich in die Vergangenheit geschleudert. Die Gewalt der Weltgeschichte soll ihn zerstören. Im nun vorliegenden dritten Band der dramatischen Reise erwacht er mit entsetzlichen Erfrierungen in einer fernen wundersamen Welt. Das Kaiserreich China wird geboren. Weiter flieht er in den Spuren der Vergangenheit bis zum Jahr 70 n. Chr. Wird er Cäsar begegnen? Vielleicht auch Kleopatra? Wird er auf seiner Suche Jesus finden? Der Autor verspricht erneut ein lehrreiches und hochspannendes Werk.

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Inhaltsverzeichnis

Maulbeerbaum

Hanf

Totentrompete

Herkuleskeule

Silphium

Palmlilie

Christdorn

Schwarzer Nachtschatten

Feuerdorn

Glossar

Lieber Leser,

das größte aller Abenteuer liegt in Deinen Händen. Auf den folgenden Seiten wirst Du in die Fluten der Weltgeschichte gezogen. Fiktionen treffen auf Realitäten. Wenn Du gemeinsam mit den Helden in einer Traumwelt zu ertrinken scheinst, bildet sich um Euch die Wirklichkeit heraus, die Vergangenheit, die jede Fantasie und Vorstellung in unfassbarem Maße übersteigt. Wenn auch die Rahmengeschichte einer märchenhaften Grundidee entspringt, so darfst Du den historischen Begebenheiten Glauben schenken. Es wurde stets darauf geachtet, dass alle historischen Aspekte auf dem aktuellen Forschungsstand basieren.

Sobald es Dir gelungen sein wird, den Ozean dieser Bücher zu durchschwimmen, wird sich Dein Blick auf vieles erweitert haben. Die Menschheitsgeschichte wird ein Teil von Dir werden.

Ich wünsche mir, dass Du die Herzen Manuels, Semlas, Chen Lus und vieler anderer bald in Dir pochen fühlst.

Viel Freude, spannende und unvergessliche Stunden bei dieser gewaltigsten aller Reisen.

Maulbeerbaum

(210 v. Chr.)

Bitte sag kein Wort“, flüsterte eine sanfte Stimme.

Ich hielt die Augen geschlossen. Mir war warm.

„Die Prinzessinnen dürfen dich nicht hören.“

Fast unhörbar hauchte eine weibliche Stimme mir die Silben ins Ohr.

Undeutlich erinnerte ich mich an den freien Fall und gefrorene Glieder.

„Hast du noch Schmerzen?“

„Du weißt davon?“, fragte ich tonlos.

„Wir haben dich wegen deiner Schreie gefunden. Si-Yung hat Frieden über dich gelegt. Er besitzt große Weisheit und riet uns, dich vor den Menschen zu verbergen. So würde dein Leben geschützt.“

„Das hört sich nach einer Warnung an.“

„Ja. Du würdest Gefahr bringen, hat er betont. Er war sehr aufgeregt.“

„Trotzdem habt ihr mich aufgenommen?“

„Es ist Männern verboten, diesen Ort zu betreten. Die Prinzessinnen ekeln sich vor ihnen. Es ist ein gutes Versteck.“

Allmählich war ich in der Lage, die Augen zu öffnen. Grelles Licht blendete mich. Durch einen nebligen Schleier auf meiner Netzhaut erkannte ich nur wenig. Mein Kopf schmerzte. Wahrscheinlich war ich mit einem betäubenden Gift behandelt worden, das noch nachwirkte. War ich in China? Die Züge des jungen Mädchens, das sich um mich kümmerte, legten dies nahe.

„Von welchen Prinzessinnen sprichst du?“, lenkte ich von mir ab.

„Sie sterben heute den vierten Tod.“

China. Automatisch brachte ich diese wundersamen Sätze, mit denen ich absolut nichts anfangen konnte, mit dem fernen Osten in Verbindung.

„Den wievielten bist du gestorben?“

„Ich?“, entgegnete ich verwirrt.

„Si-Yung hat gesagt, er fände in dir viele Leben, die von einem großen eingeschlossen werden. Er verglich es mit unseren Prinzessinnen.“

„Sind es viele Prinzessinnen?“

„Mehrere Tausend.“

„Sie sind keine Menschen?“

„Die Kinder der Schmetterlinge.“

„Raupen?“

Ich fühlte mich elend. Im Moment war ich nicht in der Lage, die Sätze zu enträtseln, also schob ich die Fragen von mir. Erinnerungen brachen durch, und unzählige Fragezeichen holten mich ein. Am Anfang stand der Fluch, der mich in die Vergangenheit gewirbelt hatte, dann die unzähligen Angriffe auf mein Leben und schließlich die Zweifel an mir selbst. Erhebliche Schmerzen verdrängten die Überlegungen, als ich mich bewegte und erheben wollte. Die Beine, Füße, Finger und Zehen waren pelzig, abgestumpft. Das Mädchen drückte mich zurück in die Kissen.

Ich ließ es geschehen.

Riesige Körbe voller Blätter waren im Raum aufgestapelt. Das Mädchen verbot mir jede weitere Frage, indem sie mir ihren Finger auf den Mund legte. Schmetterlingen gleich bewegten sich unversehens weitere Mädchen in den Raum, griffen stumm nach den Blättern und begannen, sie zu zerteilen. Mit einem stummen Nicken begrüßte ich sie. Mein Anblick war ihnen augenscheinlich vertraut. Als sie mich wach vorfanden, tauschten sie neugierige Blicke aus. Immer wieder suchten die versteckten Augen mich, während die Hände emsig mit einer schier endlosen Arbeit beschäftigt waren.

„Seidenraupen?“, wagte ich, die Ruhe zu stören. Die Frau, die am ältesten zu sein schien, warf mir einen strafenden Blick zu. Vermutlich hatte sie das Sagen. Dem Mädchen an meiner Seite huschte ein Lächeln über die Lippen. Es ermunterte mich, eine weitere Frage zu stellen.

„Sie fressen die Blätter?“

„Wir füttern nur Blätter des weißen Maulbeerbaums. Sie ergeben die beste Seide.“

„Chen Lu!“

Das war als Verwarnung zu verstehen.

„Mutter, bitte sei heute nicht so streng. Wir sind alle froh, dass der Unbekannte dem Tod entronnen ist.“

Den Anflug eines Lächelns auf den Gesichtern der fleißig weiterarbeitenden Mädchen durfte ich als Zustimmung verbuchen.

„Du weißt, wie empfindsam unsere Prinzessinnen sind. Sie erhalten uns am Leben. Wir wollen sie nicht verärgern.“

„Wir haben uns doch immer unterhalten.“

„Es spricht nichts dagegen, wenn Mädchen es leise machen. Frauen haben zarte Stimmen. Er darf nichts sagen.“ Sie deutete auf mich. „Die Prinzessinnen ekeln sich vor Männern. Sie werden nichts mehr fressen.“

Ich gab zu verstehen, meinen Mund zu halten. Flink ging die Arbeit vonstatten. Nach einiger Zeit warf eines der Mädchen ein größeres Tuch über mich. Wollte sie mich verstecken? Würde eine Person erscheinen, der sie nicht trauten? Wie ich mich irrte! Aus den Geräuschen erriet ich, dass sie sich entkleideten. Durften sie nur so in den Raum der Prinzessinnen treten, um ihnen das Futter zu bringen? Ich wunderte mich. Wurde der Raum auf diese Art steril gehalten? War der Schmutz, der an den Kleidern haften könnte, womöglich eine Gefahr? Nein, ich erfuhr später, dass sie so die Temperatur am besten abschätzen und entsprechend regulieren konnten.

*

Ich verbrachte einige Tage in dem kargen Raum. Unermüdlich arbeiteten die Frauen, um die Raupen bis zu fünfmal am Tag zu versorgen. Auch erfuhr ich, dass sie die Blätter des Maulbeerbaums nur mit bloßen und gewaschenen Händen ernten durften. Die Menge des verarbeiteten Laubs nahm Ausmaße an, die kaum vorstellbar waren. Es wurde am Ende von fünf „dan“ gesprochen, was in etwa 250 kg entsprechen dürfte. Den vierten Tod der Prinzessinnen brachte ich mit der Häutung der Tiere in Verbindung. Die gefräßigen Raupen wuchsen mit einer enormen Geschwindigkeit.

An jenem Tag, als ich versuchte, das erste Mal wieder zu gehen, herrschte große Aufregung unter den Mädchen.

„Sie scheinen durch“, sagte Chen Lu aufgeregt.

„Das bedeutet?“

„Die Tiere werden nichts mehr essen. Sie beginnen zu tanzen.“

Ungläubig schaute ich sie an. „Ich darf es dir nicht zeigen, aber es sieht lustig aus. Alle Prinzessinnen wackeln hin und her und machen heitere Bewegungen.“

„Sie spinnen sich ein?“

„Sie bauen einen Käfig aus Fäden um sich, die sie aus ihrem Saft weben. Am Ende werden wir sie nicht mehr sehen. Dann müssen sie sterben.“

Mir war klar, dass sie sich in den Kokons verpuppen würden. Aber sterben?

„Werden sie nicht als neue Schmetterlinge davonfliegen und die Hülle zurücklassen?“

„Nur einige wenige dürfen überleben und neue Eier legen. Sie machen die Fäden beim Schlüpfen kaputt, daher müssen die meisten sterben.“

„Ihr tötet sie?“

„Sie kommen in heißes Wasser. Du wirst sehen.“

„Wie? Ich darf zuschauen?“

*

Wahrscheinlich war es zu freimütig gewesen, mir das in Aussicht zu stellen, denn Chen Lus Mutter passte die Idee gar nicht. Die Warnung des Sehers, oder was auch immer er war, wurde sehr ernst genommen. Es war kein Problem, mich für ein paar Tage unter Verschluss zu halten, zumal die Zucht der Raupen eine Sicherheitszone garantierte, die unantastbar war. Diese Zeit war jetzt jedoch abgelaufen. In dem kleinen Dorf, in dem ich angekommen war, konnten Geheimnisse nicht lange verborgen werden. Zwar hatte jeder Bauer seine eigenen separat stehenden Gebäude für die Raupenzucht, doch fand das Leben in den kleinen Lehmhütten statt, die sich zu einem kleinen Dorf vereinten, das um einen Erdaltar herum gewachsen war. Das erfuhr ich von Chen Lu, als sie mir eines Nachts einen Umhang überwarf und mich auf direktem Weg in die Behausung der Familie führte.

Genau dieser Erdaltar war es, der mich verwirrte. Denn aus ihm wuchs nicht nur die Gemeinschaft der Familien, er stellte sogar die Daseinsberechtigung des Ortes dar.

„Ein Altar?“, versuchte ich, Chen Lu zu verstehen, wobei ich den Begriff mit einem Heiligtum in Verbindung brachte.

„Heilig?“, erwiderte sie, indem sie wiederum versuchte, mich zu verstehen. „Man kann es so sehen. Für uns ist dieses Stück Erde heilig und auch der Hain, der es schützt.“

„Er ist in einem Wäldchen?“

„Ein paar Bäume schützen ihn. Von einem Wald zu sprechen, wäre übertrieben. Sonst wäre ja kein Platz mehr für die Häuser.“

„Dann kommen viele Besucher, um diese Besonderheit zu sehen?“

„Das ist doch keine Besonderheit. Ohne Erdaltäre gäbe es keine Orte.“

Spätestens jetzt wurde ich neugierig.

„Wie das? Menschen waren doch vor den Altären da und mussten irgendwo wohnen.“

„Wahrscheinlich schon. Trotzdem ist es so. Unsere Fürsten verschenken Erdklumpen. Dort, wo diese eingebracht werden, entsteht ein Altar, und es darf ein Dorf wachsen.“

„Also ein Lehen?“

„Du verwendest merkwürdige Worte.“

Ich hatte begriffen. Ein solcher Erdklumpen stand für das Recht, Felder anzulegen und bestellen zu dürfen. Die Altäre waren daher die Lebensquelle der Menschen und die Stellen, an denen die Erdteile eingegraben wurden, gesegnete Orte. „Ma Nu El, warum müssen wir dich verstecken?“

Was sollte ich auf die Frage antworten? Ich betrachtete den schmalen Raum, indem ich einquartiert wurde und den man eher als schlauchförmigen, mit Lehmmörtel grob verspachtelten Lagerraum beschreiben musste.

Natürlich machte ich mir über die Umstände Gedanken. Diese Menschen bemühten sich fürsorglich und freundlich um mich. Es blieb mir dabei nicht verborgen, dass meine Anwesenheit für sie eine Last war. Mehrmals erwog ich, zu gehen. Doch wohin? War es wirklich so, dass ich alle Menschen in meiner Umgebung in Gefahr brachte?

„Es ist besser so“, versuchte ich eine Erklärung, als mich wieder die Notwendigkeit überkam „Ich habe viele Feinde.“

„Du? Das erzähle, wem du willst. Wir lieben dich alle.“ Verlegen senkte sie den Kopf. Sie schämte sich für den Satz, der ihr entwichen war.

Am folgenden Tag überraschte sie mich noch mehr. „Morgen Abend werden wir um den heiligen Hain tanzen. Ich habe Vater gefragt, ob du auch dabei sein darfst.“

„Ich bin ein miserabler Tänzer“, suchte ich eine Ausrede.

„Da sind viele Männer. Der Tanz macht jedem sehr viel Freude. Die Männer finden die Mädchen, und wenn vor der kalten Zeit ein Kind im Bauch wächst, darf man heiraten.“

Sie errötete und schaute zur Seite.

„Willst du nicht mittanzen? Ich wäre das glücklichste Mädchen der Welt.“

Ich hatte verstanden. Wieder steckte ich in einer Falle, aus der ich mich herauswinden musste, ohne jemandem wehzutun. Zweifellos hatte Chen Lu ein Auge auf mich geworfen.

*

Auch das Auskochen der Kokons ging im Geheimen vonstatten. Auskochen mag dabei ein unglückliches Wort sein. Zwar wurde Wasser in einem bronzenen Behältnis auf einem Dreifuß erhitzt, doch es wurde nur warm gemacht und kochte nicht.

In den vergangenen Jahren hatten die Nachbarn dabei zusammengearbeitet. In diesem Jahr war die Familie auf sich gestellt. Der Hausherr zitterte davor, irgendjemand den Zutritt in sein Haus zu gestatten. Meine Anwesenheit blieb weiterhin ein Problem. Offenbar hatte er sich noch nie zu dieser Arbeit herabgelassen. In dieser Not wurde ich für einen weiteren Tag in einer geheimen Aktion in das Schmetterlingshaus geschleust. Man baute auf meine Hilfe. Die Kokons wurden zu Dutzenden in die Brühe getaucht und mit einem rauen Holzstock umgerührt, bis sich die Enden des Seidenfadens lösten. Diese wiederum wurden gesucht, ergriffen und auf Haspeln aufgerollt. Die Fäden hatten bis über zwei „li“ Länge, was über einem Kilometer entsprach. Gemeinsam arbeiteten wir bis spät in die Nacht und auch den darauffolgenden Tag. Das Aufwickeln der Fäden war ein umständlicher Vorgang. Jeweils zu zweit wurde gearbeitet, und auch ich hatte schichtweise eine Haspel zu drehen. Gemeinsame Arbeit verband. Ich vertraute darauf.

Meine Hoffnung, in die Öffentlichkeit zu dürfen, wurde allerdings nachhaltig enttäuscht. Chen Lu hatte mir auf strahlende Weise von dem anstehenden Fest erzählt. Ich war sehr gespannt darauf gewesen. Ihr Vater machte uns jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Vorhersage des Sehers war Gesetz. Er ahnte die Abgründe, die sich für die Familie auftun würden, und entschied absolut. Kein Kontakt nach außen, kein Wissen um mich, kein Fest.

Chen Lu kochte innerlich. In ihr war eine Sehnsucht gewachsen, an der sie festhalten wollte. Ihr Vater verbaute ihrem Herzen den Weg. Das Mädchen tat mir in doppelter Hinsicht leid. Ihre offensichtlichen Gefühle mir gegenüber konnte ich ihr nicht verbieten. Bei jedem Kontakt achtete ich sensibel darauf, Empfindungen aus dem Spiel zu lassen. Wie konnte ich ihr beibringen, dass sie sich keine Hoffnungen machen durfte?

Der Hass zwischen Vater und Tochter gärte. Sie wagte nicht, sich gegen ihn zu erheben, Vorwürfe zu machen, Forderungen zu stellen. Die Auseinandersetzung der beiden spielte sich im Stillen ab. Sie weigerte sich, seinen Wünschen nachzukommen. Er, der absolute Despot, war daran gewöhnt, dass die Familie sich unterwürfig zeigte. Chen Lu aber ging aus dem Raum und ließ ihn mit seinen Erwartungen allein zurück. Der Alte akzeptierte es die ersten Male zähneknirschend. Bald jedoch schäumte er vor Wut und schlug an jenem Tag auf das Mädchen in einer Art und Weise ein, dass ich um sie fürchten musste. Weinend zog sie sich in einen abgetrennten Raum zurück, während ich die Anwesenheit des Alten erdulden musste.

„Uns wäre es lieber, wenn du verschwinden würdest“, sagte er frei heraus.

„Ich will niemand zur Last fallen. Wohin rätst du mir, zu gehen?“

„Du bleibst hier!“

„Das verstehe ich nicht. Wenn du selbst sagst, du willst mich nicht im Haus haben, warum darf ich dann nicht meines Weges gehen?“

„Si-Yung verbietet es. Er hat das Orakel befragt und die Antwort lautete, dich vor allen Menschen zu verbergen. Es verstehe, wer will.“

Der Alte erhob sich und ging aus dem Raum. Mein Blick wanderte durch das enge Zimmer, das mir zu einem Gefängnis geworden war. Gebrauchsgegenstände, eine Art Sichel und andere Schneiden hingen liebevoll drapiert an den Wänden. Zierliche Werke, die kunstvoll hergestellt wurden. Hier musste ich mich schweigend verbergen. Jeden Morgen erinnerte der Alte seine Töchter daran, kein Wort über mich verlauten zu lassen. Bangte er um sein Leben? Musste ich seinen Hinweis so verstehen, dass ich mich von allein aus dem Staub machen sollte? Dem Seher hätte er so seine Unschuld beteuern können. Ich entschied, die nächste Gelegenheit zu nutzen. Wieder einmal hatte ich keinen Plan, wohin ich flüchten konnte.

*

Der große Tag des Festes brach an. Prickelnde Aufregung lag in der Luft. Alles war auf den Beinen, um die gesegnete Erde zu schmücken. Blumengebinde wurden zusammengestellt. Augenscheinlich entstand ein bunter Altar.

Chen Lu heftete den Blick stur zur Erde. Kurz nach der morgendlichen Begrüßung verschwand sie mit einem Strauß Chrysanthemen. Bestimmt mischte sie sich unter Freundinnen, suchte Trost oder half bei der Dekoration.

An jenem Tag war der Alte besonders streng zu mir. Gäste wurden erwartet. Das bedeutete ein hohes Risiko. Einen schlüssigen Plan, wie er das meistern wollte, konnte ich nicht erkennen. Ich war gespannt, wie er die Gäste und mich unter einen Hut bringen wollte. Wahrscheinlich würde niemand das Haus betreten dürfen. Dass ich ein wenig Schadenfreude empfand, muss ich zugeben. Gern hätte ich mich unter das Volk gemischt, die Atmosphäre und den fremden Brauch wie ein neues Gewürz eingeatmet. Stattdessen saß ich in der Ecke des engsten Raumes und starrte auf Kessel, Krüge und fremdartiges Handwerkszeug.

Irgendwann knurrte mein Magen. Ein kleiner Sack enthielt harte Reiskörner. Sie konnten mir wenig helfen. Lange schaute ich sehnsüchtig auf einige getrocknete Früchte und erlag schließlich der Verführung. „China“, wiederholte ich erneut. Ich war fest davon überzeugt, dort zu sein. Was verband ich mit diesem Land? Grausamkeiten, Drachen, Kaiser, rollende Köpfe – es waren keine erbaulichen Impressionen.

Die Besen, Rechen, Beile und andere Gegenstände, zwischen denen ich kauerte, zeugten weiterhin von einer fernen Zeit.

Ich schob mich hinter ein Reisgebinde und hoffte, unentdeckt zu bleiben.

*

Überraschend schlich sich Chen Lu ins Zimmer.

„Komm mit! Beeile dich!“, flüsterte sie mir zu.

Unschlüssig zögerte ich. Ich wusste nicht, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, wenn man sich dem Willen des Hausherrn nicht ergab. Chen Lu zog mich am Arm. Widerwillig ließ ich mich fortreißen.

„Wohin gehen wir?“

Meine Frage blieb unbeantwortet. Ihre Geste, die mir bedeutete, den Mund zu halten, verstand ich dagegen zu gut.

Außerhalb dämmerte es bereits. Erstmals konnte ich einen Eindruck von der kleinen Ansiedlung gewinnen. Mehrere Häuser, die meisten mit Bambus und Schilf bedeckt, reihten sich aneinander. Wir bogen um ein paar Windungen und tauchten in den Schatten einer dichten Baumgruppe ein. Dort saß ein Junge auf der Erde und sortierte kleine Stäbchen.

„Das ist Chi!“

„Freut mich“, fasste ich mich kurz.

„Chi wird dir sagen, was aus uns wird.“

„Wie bitte? Das verstehe ich nicht.”

„Chi ist ein gelehriger Schüler und kennt sich in der Deutung aus.“

Das konnte nicht ihr Ernst sein. Der Junge war kaum der Pubertät entwachsen.

„Wir durften nicht um den Erdhügel tanzen und konnten uns nicht finden, doch will ich bei dir bleiben. Chi wird uns sagen, ob wir glücklich werden.“

„Äh ja“, stammelte ich auf der Suche nach einer passenden Antwort, „das wird wohl sehr schwierig werden. Ich habe bereits eine Braut.“

„Hat sie ein Kind von dir?“

„Wie bitte?“

„Also nein.“

„Nein.“

„Dann musst du sie nicht heiraten.“

„Das schon, aber…“

„Ein ABER musst du nicht beantworten. Das wird Chi uns sagen. Es gibt Bestimmungen. Sie allein sind verbindlich.“

„Bestimmungen.“

„Setz dich!“

Chen Lu zog mich zur Erde. Ich versuchte, es mir vor dem Jungen einigermaßen bequem zu machen. Er selbst ließ die Stäbchen mit bemerkenswerter Ruhe durch seine Finger gleiten. Es schien kein Ende zu nehmen.

„Chi, du musst dich beeilen, wir dürfen nicht erwischt werden!“

Er nickte und sah mich an: „Du musst ein Gebet sprechen, Ruhe finden, dann deinen Namen und deine Heimat nennen. Wir können dann beginnen.“

Was sollte ich machen? Chen Lu blickte voller Hoffnungen auf mich. Ich ergab mich der Situation. Wahrscheinlich lautete das Ergebnis ohnehin `geht gar nicht`. Ich faltete meine Hände und flüsterte eines der Nachtgebete, die ich in meiner Kindheit gelernt hatte. „Manuel Jebich, Erdenkind.“

Verwundert warfen sich die beiden Blicke zu, fanden aber glücklicherweise keinen Einspruch.

„Jetzt die Schafgarben.“

Chi nickte erneut auf die Aufforderung unserer Freundin.

„Du musst dir die Frage selbst stellen.“

Sie meinte mich.

Während ich bejahte, entzündete er ein Pulver, das ich dem Geruch nach als Weihrauch erkannte.

„Jedes der Stäbchen musst du durch den Rauch führen und am Anschluss eines zur Seite legen.“

Um es kurz zu fassen, 50 Stäbchen hatte ich zu bedienen. Ich musste Häufchen bilden, sie zusammenwerfen und wieder nach unterschiedlichen Systemen ordnen. Aus der jeweiligen Stückzahl der Reste bildete er einen Zahlencode, der mich an das Wunder eines binären Systems erinnerte. Als Ergebnis malte er verschiedene Linien in den Sand. Jeweils zwei Balken wurden an der Ober- und Unterseite von gebrochenen Linien eingerahmt.

„Was bedeutet das Zeichen?“, konnte sich Chen Lu nicht mehr halten, als er den letzten Strich zog.

„Zweimal Kan. Das Zeichen des Wassers.“

„Was bedeutet es?“

„KAN – Das Abgründige!“ Aufgeschreckt schossen die beiden von ihren Plätzen. Ein älterer Herr stand hinter uns und kam mit scharfem Wort zum Punkt. Leichenblass starrten sie auf die strenge Miene des in festliche Tücher gekleideten Alten.

Ich wollte meine Freunde nicht in dieser misslichen Lage belassen und versuchte daher, die Spannung abzubauen.

„Ist es ein schlechtes Vorzeichen?“

Der Fremde blieb ruhig. „Wenn du wahrhaftig bist, hast du im Herzen Gelingen, und was du tust, hat Erfolg.“

„Das Wasser fließt unentwegt und kommt zum Ziel“, ergänzte Chi mutig.

„Es ist das Bild des wiederholten Abgründigen. So wandert der Edle in steter Tugend und übt das Geschäft des Lehrens aus.“

„Also ein gutes Zeichen!“, warf Chen Lu ein.

„Wäre nicht der dritte Platz in Bewegung. Vorwärts und rückwärts. Abgrund über Abgrund. Ich rate dir, halte inne. Dein Leben ist ansonsten in Gefahr.“

„Bitte“, unterbrach ich die Prophezeiungen, „ich habe lediglich die Garben sortiert, was redet ihr mir ein?“

„Du fühltest die Sonne der Weisheiten.“

„Entschuldige Meister, womöglich habe ich etwas falsch gemacht.“ Chi verneigte sich.

„Du hast dein Werk gut vollbracht, längst habe ich dich beobachtet.“

„Dann sind auch die Bewegungen von vier und sechs stimmig?“

„So wird es sein. Mit Stricken und Tauen ist sein Wirken gebannt, eingeschlossen in dornumhegten Kerkermauern, und doch sind ein Krug, eine Reisschale und Tongeschirr sichtbar, das durch ein Fenster gereicht wird. Das, was du aus deinem Wissen des I Ging ziehst, Chi, deckt sich mit dem, was ich aus dem Rücken eines Schildkrötenpanzers las. Aus einem solchen, in Hitze gebrannt, schenkt uns die Natur die Wahrheiten.“

Wenn bis zu diesem Moment alles in ruhigem, doch schnellem Ton ablief, so überstürzten sich die Ereignisse augenblicklich. Warum sich gerade jetzt Leute um uns scharten, sich durch die Bäume und Büsche drängten, blieb mir verschlossen. Womöglich suchten sie den Alten. Die Ersten blickten stumm und neugierig auf uns. Das änderte sich in dem Moment, als Chen Lus Vater auftrat. Er rempelte mehrere Personen aus dem Weg, packte seine Tochter an den Haaren und wollte sie aus der Mitte ziehen. Sie schrie entsetzlich. Das war mir zu viel. Im Reflex stob ich auf, um den stählernen Griff zu lösen.

Er versetzte mir einen Tritt, sodass ich auf die Erde fiel.

„Scher dich weg. Dich braucht hier niemand. Du bringst nur Unheil“, brüllte er, und zu den Menschen gewandt ergänzte er: „Fragt Si-Yung! Seine Weissagungen haben vor ihm gewarnt! So ist es doch?“

„Ich sagte, du sollst ihn hüten!“

„Du sagtest auch, dass er uns Verderben und Untergang bringt! Freunde“, forderte er die Anwesenden auf, „werft ihn aus dem Ort! Schlagt ihn tot. Er bringt Gefahr über uns, über euch, über alle!“

Grob packte er mich am Arm und versuchte, mich wegzuschleifen.

„Lass von ihm ab!“, schritt der Seher ein.

Es war zu spät. Die Menge war aufgeheizt. Menschen rissen mich mit. Ein Schrei Chen Lus durchschnitt noch kurz das Durcheinander.

Der aufgeheizten Meute war alles zuzutrauen. Es war sinnlos, sich zur Wehr zu setzen, sich zu sträuben. Kaum auf den Füßen erwartete mich ein neuer Schlag, und schon donnerte ich wieder auf die Erde. Ich holperte über Stock und Stein, als ich über den Boden gezogen wurde.

Doch seltsamerweise trieben sie mich nicht aus dem Ort, sondern behielten mich in ihrer Mitte. Im Wilden Westen hätte mich in solch einer Situation der Strick erwartet. Was hatten sie vor?

Einige Kerle beobachteten das Geschehen vom Rande aus. Ich sah sie nur flüchtig. Plötzlich schoss eine Peitsche in die Mitte der Gruppe. Ein Mann, der mich gerade malträtierte, schrie auf. Ihn hatte sie erwischt. Ein zweiter Hieb ließ die durchgedrehte Gesellschaft auseinanderfahren.

„Packt ihn!“ Der Befehl kam aus der Richtung, in der ich die Kerle wahrgenommen hatte. Pferde stoben in die Runde. Eine Hand packte mich entschlossen am Hemd und schleuderte mich im Flug geschickt auf ein Pferd. Im Galopp ließen wir das Dorf hinter uns.

Sattellos klemmte ich mich mit den Beinen fest. Erstmals dachte ich mit Wohlwollen an Alexander zurück, dem ich meine Sicherheit auf den Tieren verdankte.

*

Steppe. Aufgewühlter Staub der vorauseilenden Pferde zwang mich, die Augen zu schließen. Meine Bewegungen harmonierten mit dem rhythmischen Flug der Tiere.

Bis zum Morgengrauen trieben sie vorwärts. Endlich preschten wir in eine Stadt. Mit unverminderter Geschwindigkeit jagten wir durch die Gassen. Rücksicht auf Passanten gab es nicht, ihnen blieb kaum Zeit, links und rechts aus dem Weg zu springen. Flüche und Beschimpfungen verhallten hinter uns. Wir hielten offenbar im Zentrum der Ansiedlung. Ich wurde vom Pferd gehoben.

War ich kein Gefangener? Ich wurde nicht gefesselt. Einer der Begleiter lief in ein palastähnliches Gebäude.

*

Sollte ich an dieser Stelle warten? Die Möglichkeit, mich dünne zu machen, bestand. Die anderen Reiter stiegen ebenfalls von den Pferden, unterhielten sich, schenkten mir kaum Beachtung.

Ferner Osten. Wieder bestätigte sich diese Vermutung. In der aufkeimenden Stadt gab es einfache Gebäude, derselbe Baustil, den ich von dem kleinen Dorf kannte, in dem ich mich kurz davor noch befunden hatte. Die Dächer waren allerdings massiver und fest aus Stein gefügt. Mich berührte der Schwung der nach oben gebogenen Dachbalken. Ich fühlte mich in eine Märchenwelt versetzt. Vereinzelte, wohl herrschaftliche Gebäude erinnerten mit ihren Zwischendächern an das, was ich mit dem modernen China verband. Die Menschen, die durch die Straßen huschten, waren weit weniger in Seide gekleidet, als ich es vermutet hätte. Der Stoff war für die Normalbevölkerung wohl zu teuer.

Auffällig waren Bauarbeiten an vielen Stellen. Die Stadt war mit einem Sprössling vergleichbar, der just durch die Erde brach und sein Grün zu entfalten begann. Zwei große, massive Bronzestatuen prägten den weiten Platz, Krieger mit warnenden Gesichtern, die in Natura ordentlichen Respekt eingeflößt hätten.

„Du kannst mir folgen“, forderte der Reiter mich auf, der mich auf sein Pferd gesetzt hatte und gerade aus dem Gebäude zurückgekommen war.

Er gab sich keine Mühe, mir die Situation zu erklären oder wenigstens mein Vertrauen zu gewinnen.

Mit gemischten Gefühlen folgte ich ihm in ein Gebäude, das einfach konstruiert war, jedoch eine beachtliche Größe hatte. Lehmböden waren in den Fluren und in den angrenzenden Räumen zu finden. Ich wurde ein Stockwerk höher gebeten und in ein karges Zimmer verwiesen. Eine Pritsche, die als Bett herhalten konnte, fiel mir erst im zweiten Moment auf. Im Herzen des Raums standen auf mehreren kleinen Tischen Gefäße und Schalen aus Keramik. All diese Dinge erinnerten mich an eine Apotheke oder ein Laboratorium. Ein Mann war emsig damit beschäftigt, Stoffe zu mischen und nebenbei einen Tiegel aufzuheizen.

„Ning wird dich einweisen.“

Einweisen? Wurde von mir etwas erwartet? Schon war mein Begleiter verschwunden. Ning erhob sich, verbeugte sich höflich vor mir und bat um meinen Namen.

„Manuel.“

„Ein ungewöhnlicher Name. Du stammst aber nicht von den Hsiung-nu ab?“

„Hsiung-nu? Nein, keinesfalls“, wehrte ich vorsorglich ab. Ich vermutete, dass mir eine solche Herkunft wenig nützen konnte. „Mein Volk wohnt dort, wo die Sonne untergeht. Du musst 1.000 Berge überqueren und ebenso viele Seen und Flüsse kreuzen, um es zu finden.“

„Oh!“ Er betrachtete mich aufmerksam. „Gibt es dort große Wissenschaftler?“

„Nicht mehr oder weniger als anderswo.“

„Dann will ich mich von deinem Wissen überraschen lassen.“

Mein Wissen? Was erwartete er von mir? Ich dachte an meinen unzureichenden Chemieunterricht. Was hatte ich zu bieten? Musste ich diesem Menschen zur Hand gehen? Er selbst hatte bestimmt manches drauf, das las ich ihm förmlich von der Nase ab.

Unsicher schritt ich zum Fenster und warf einen Blick in die Weite. In der Ferne schlugen schwarze Rauchschwaden in die Höhe.

„Ein Brand?“, suchte ich ein neues Thema.

„Feuer?“ Der Sonderling stand bereits an meiner Seite. „Ach so. Nichts Gefährliches. Das alte Wissen geht in Asche auf. Unser Herr lässt Bücher verbrennen.“

„Welcher Herr? Wer ist so wahnsinnig, Bücher zu vernichten?“

Der dürre Mann rannte aus der Tür, suchte den Flur ab und tauchte merklich erleichtert wieder auf. „Sei mit deinen Äußerungen vorsichtig. Du weißt nicht, wer mithört. Die alten Zeiten sind vorbei. Qin Shihuangdis Beamte sind überall.“

Mir stockte das Blut. War das nicht die offizielle Bezeichnung des ersten chinesischen Kaisers?

„Qin Shihuangdi!“ Ich versuchte, mich in diese Tatsache finden. „Er lässt Bücher verbrennen?“

„Die alten Lehren des Meisters K`ung und seiner Anhänger betäuben die Sinne. Deren Ziel, das ‚jen‘, passt nicht in die neue Gedankenwelt.“

„Was hat ‚jen‘ für eine Bedeutung?“

„Die führende Gesellschaft soll aus Güte und innerer Überzeugung richtig handeln. Qin Shihuangdi lehnt das ab. Er will das Volk dumm halten.“

„Du bist sehr provokant.“

„Ich sage es dir, wie es ist. Die Menschen und besonders unsere Bauern müssen entsprechend der von der Natur gegebenen Einfachheit bescheiden bleiben. Er liebt die Lehre des Tao. Tao ist tatenlos. Es gibt wachsen, erblühen und vergehen, Tag und Nacht, Leben und Sterben – ein ungestörter Ablauf. Jeder Eingriff in den Ablauf ist schadhaft.“

„Du teilst diese Gedanken nicht?“

„Doch, ich teile sie! … Und wie ich sie teile! Denkst du, ich will, dass mein Kopf ebenfalls rollt? Was rede ich denn? Es ist sinnlos.“

„Es wird ihm kaum gelingen, Wissen und weise Erkenntnisse zu vernichten, indem er einige Bücher verbrennen lässt.“

„Oh, wäre es nur das. Es wird nicht nur Geschriebenes zerstört, es werden auch die Gehirne gelöscht.“

„Wie?“

„Abgeschlagen.“

„Nein. Das ist unmöglich.“

„Was meinst du, warum wir alle die neue Lehre teilen? Wer will schon sterben? Aber was rede ich denn? Es ist sinnlos!“ Ning unterstrich mit allerlei Gesten seine Worte.

„Hat nicht jeder Mensch freie Gedanken? Er müsste alle Köpfe abschlagen. Wie will er in sie hineinsehen, um zu entscheiden …?“

„Der Mund plappert über Dinge, die da oben drin sind.“ Der verzweifelte Mann wies auf seinen Kopf. „Ein Satz, und du bist weg. Manchmal nicht nur das. Die ganze Familie wird erschlagen, um alle Unfrucht auszulöschen.“ Mein Gegenüber zitterte. Ich musste die Sätze erst setzen lassen, um zu verstehen, was um mich herum geschah.

„Dein Name ist Ning?“

„Willst du mich jetzt verraten? Mach es nur. Es ist ohnehin bald um mich geschehen.“

„Guter Ning, das will ich natürlich nicht. In solchen Zeiten ist es immer wichtig, dass man zusammenhält, der eine sich auf den anderen verlässt und da auch keine Zweifel aufkommen lässt. Was meinst du, warum bin ich hier?“

„Du? Aus demselben Grund wie ich und viele andere auch.“

„Wir sind nicht nur zu zweit?“

„In diesem Raum vielleicht. Doch viele arbeiten an dem Ziel.“

„Welchem Ziel?“

„Ein Mittel für die Unsterblichkeit unseres Herrn zu finden.“

Hatte ich recht gehört? War ich aufgegabelt worden, um zu forschen? Da musste ich versagen. Wieder sah ich mich in einer teuflischen Falle.

„Dieser mächtige Herrscher lässt seit Jahren mit gewaltigem Aufwand an einem gigantischen Grab bauen, lässt Kammer um Kammer entstehen, um sein ganzes Reich in die Ewigkeit mitzunehmen und kämpft ebenso um ein Wunderpräparat für seine Unsterblichkeit. Er misstraut allem.“

„Es gibt keine solchen Mittel, und es wird hoffentlich auch nie etwas dieser Art geben.“

„SCHWEIG!“, brüllte Ning mich an. „Es muss etwas dieser Art geben, sonst werden wir begraben.“

Ich schaute ihm tief in die Augen. Er machte keine Witze. „Es ist schon passiert?“

„Es geschieht ständig. Jeden Monat werden Wissenschaftler, die gescheitert sind, in der Erde verscharrt.“

„Lebend?“

„Lebend!“

Ich nickte. Diese Drohung überstieg meine Vorstellungskraft. „Wie hältst du dich am Leben?“

„Indem ich forsche und vermittle, kurz vor dem Ziel zu sein.“

„Es klappt?“

„Nicht mehr lange. Des Kaisers Handlanger werden ungeduldig. Sie müssen Erfolge verkünden.“

Ich hatte begriffen. „Woran arbeitest du gerade?“

„Ich brenne Yinz hu aus.“

„Lass sehen ... Quecksilber?“ Die Perlen konnte ich eindeutig zuordnen. „Was machst du damit?“

„Es kommt ins Essen.“

„Wie? Aber es wird doch nicht etwa eine Speise für den Kaiser?“

„Aber natürlich. Es ist ein Element, das unsterblich macht. Da sind wir uns alle einig, alle Wissenschaftler.“

„Ihr seid wahnsinnig. Das ist Gift. Ihr tötet ihn!“ Ich sagte meine Meinung voller Emotion und Überzeugung.

Mein Gegenüber wehrte ab. „Quecksilber ist ein Grundelement des Lebens! Ganz sicher!“

„Ganz sicher nicht!“, trotzte ich. „Es zerstört den Körper! Hast du die Möglichkeit, den Herrn anzusehen? Wenn er das Zeug schon länger zu sich nimmt, wird man die Spuren einer Erkrankung sehen, Haarausfall und was weiß ich.“

„Keiner sieht ihn. Er lebt abgeschlossen von der Welt, und selbst bei seinen Expeditionsreisen – gerade ist er wieder auf einer – sitzt er verborgen in seiner Kutsche. Zutritt hat nur Li Si, sein Kanzler. Gäste hören allenfalls seine Stimme. So sagt man zumindest.“

Wir schauten uns einige Zeit unschlüssig an. Er legte einen Tiegel mit schwefelähnlichen Inhalten zur Seite und zögerte, weitere Verschmelzungen in Angriff zu nehmen.

„Habe ich dich verunsichert?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Und wenn schon. Mein Schicksal ist besiegelt.“

„Wie meinst du das?“

„Längst ist mein Erfolg überfällig. Ich sagte es schon. Die Herren Minister werden nicht mehr lange zögern und mich für meine Unfähigkeit bestrafen.“

„Dich lebendig vergraben?“

„Mich und dich. Du bist mit im Boot.“

Das traf mich wie ein Schlag. Wahrscheinlich hatte er recht, dieses Los passte zu meinem Werdegang. Was war das für ein Herrscher, der seine Wissenschaftler auf so bestialische Weise hinrichten ließ? Es dauerte eine geraume Zeit, bis ich ein Gefühl für meine Lage fand. War es das, was mir drohte? Mein Instinkt signalisierte mir etwas anderes. Vergraben zu werden erschien mir zu einfach.

„Vergraben. Meinetwegen“, kürzte ich daher ab. „Was wäre, wenn wir zum Kaiser gehen, um ihm die Wahrheit zu sagen?“

Zugegeben, es war ein blöder Gedanke, den ich flapsig auftischte und keinesfalls wirklich in Betracht zog.

„Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Alle großen Gelehrten berichten von der Heilkraft des Quecksilbers, und dann willst du mit der Wahrheit kommen?“

„Du glaubst mir nicht?“

Mein Gegenüber schüttelte sich, als wollte er sich vor einer Antwort drücken. „Und wenn es so wäre. Wer hat Interesse, sie zu hören?“

„Der Kaiser.“

„Vergiss das schnell.“

„Der Kanzler Li Si?“

„Dem komme nicht zu nahe. Es wäre Selbstmord.“

Ich stand noch immer am Fenster und schaute ins Weite. Lebendig vergraben! Abwegig war es keinesfalls.

Emsige Menschen rannten durch die Straße. Sie waren mit den Bauarbeiten beschäftigt, die überall im Gange waren. Rechter Hand schaute eine der gewaltigen Statuen auf die Passanten. Sollte der mörderische Blick sie anstacheln?

„Sie sind aus Waffen gegossen.“

„Wie?“, schreckte ich auf.

„Die Metallriesen. Es gibt mehrere hier in Hsienyang, dem Zentrum des Reiches. Zwölf Stück. Als unser Kaiser die Macht über die streitenden Heere gewonnen hatte, ließ er alle Waffen beschlagnahmen und goss sie zu solchen Riesen um. Kein Mensch sollte damit jemals wieder morden können.“

„Kein schlechter Zug.“

„Machen wir uns nichts vor. Er schützt nur sich selbst dadurch. Es gibt keine Aufstände mehr. Ohne Waffen sind die Hände der Aufrührer gebunden.“

Ich stimmte zu. Jede Gefahr wurde an der Quelle zerstört. Wie weit solche und ähnliche Maßnahmen trugen, sollte ich später noch am eigenen Leib erfahren. Schließlich schob Ning seine Tiegel zur Seite. Meine Gedanken hatten ihn durcheinandergebracht. Er tat sich schwer damit, seinen Plänen weiter zu folgen.

„Ich will es für den heutigen Tag dabei bewenden lassen. Vielleicht kommt uns auch das Glück entgegen und des Kaisers Abgesandte finden das Reich der Unsterblichkeit.“

„Ein Reich? In der Ferne? Er lässt danach suchen?“

„So wurde es mir gesagt.“ Ning musterte mich genau. „Ich sehe schon, du glaubst an kein solches Land.“

„Bestimmt nicht.“

Mit einem Seufzer ließ er sich auf einige in der Ecke liegenden Kissen nieder.

*

Die Sonne lachte ins Zimmer, als ich die Augen öffnete. Ning war an seinem Tischchen beschäftigt. Ein Hölzchen, dessen Ende er mit den Zähnen zerfaserte, nutzte er als Pinsel. Geschickt tauchte er es in ein mit Tinte gefülltes Gefäß und malte einige Zeichen auf ein Bambusstück.

„Bist du schon lange wach?“, begrüßte ich ihn.

„Ich hatte schlechte Träume. Die ganze Nacht hüpfte mir das Quecksilber um die Ohren.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Du meinst es ja gut. Willst du dem Kaiser ein Pergament zukommen lassen?“

„Was ist ein Pergament?“

„Ich sehe dich schreiben.“

„Ja, eine Botschaft. Die Frage ist nur, wie soll sie zu unserem Kaiser kommen?“ Kurzentschlossen brach er sein Werk entzwei. „Für wichtige Nachrichten nimmt man die doppelte Länge.“ Ning griff zu einem Rohr, das knapp einen halben Meter erreichte, und begann von Neuem, seine Botschaft aufzubringen.

„Was schreibst du?“

„Du darfst es lesen.“

„Tut mir leid. Ich verstehe die Zeichen nicht. Es sind wunderschöne Bilder, die mir ihre Bedeutung nicht verraten.“

„Du kannst nicht schreiben? Du? Ein Wissenschaftler?“

„Ich sagte nie, dass ich ein solcher wäre.“

„Was suchst du dann hier? Erzähle das, wem du willst. Die Schrift, das will ich dir sagen, ist etwas Überirdisches. Die Zeichen verbinden uns mit der Götterwelt. Unsere Vorfahren haben sie entwickelt, um mit den Heiligen in Kontakt treten zu können. Die Form der Zeichen deckt sich mit dem Wesen der Götter. Tausende Zeichen sind daraus geworden.“

„Hat die Schrift mit den Orakeln zu tun?“

„Bestimmt. Sie hatten dieselbe Geburtsstunde. Ich greife selten auf Orakel zurück. Das ist das Element der Zauberer. Aber die Idee ist gut. Werfen wir den Rücken einer Schildkröte ins Feuer. Die Risse, die die Hitze sprengt, beantworten alle Fragen.“

„Das glaubst du wirklich?“

„Es ist so. Man kann einen magischen Code daraus errechnen. Die Wahrheit liegt in den Zahlen.“

„Du meinst, was wird, kann man berechnen?“

„Auf die Mathematik bauen alle Wissenschaften. Die Alchemie, die Astronomie …“

„Schon gut. Ich habe verstanden.“

Ning war nicht mehr zu bremsen. Er griff nach einem Schildkrötenpanzer und hielt ihn über die Flamme. Eine Zeit schaute ich dem sonderbaren Schauspiel zu.

„Was sagt dein Schildkrötenpanzer?“

„Wir gehen zum Kaiser.“

„Wie bitte?“

„Wir sagen es ihm. Er wird uns den Kopf abschlagen, und du wirst sehen, das ist ein wesentlich schönerer Tod, als begraben zu werden.“

„Das ist eine angenehme Botschaft.“

„Ich schlage vor, wir packen das wichtigste Zeug zusammen und machen uns auf den Weg.“ Seine Stimme überschlug sich.

„Tut mir leid, da kann ich wenig dienen. Ich habe nichts.“

„Welch ein Wohlstand. Dieses Glück kann ich mit dir teilen.“

Er meinte es ernst, wühlte in seinen Unterlagen, also in den geschnittenen und zusammengehefteten Bambusrohren, ließ dann wieder davon ab und blickte mich unschlüssig an. „Weißt du, wo er sich aufhält?“

„Der Kaiser? Ich dachte, auf Inspektionsreise?“

„Unser Land ist groß.“

„Wie wäre es mit einem neuen Schildkrötenpanzer? Er wird es uns verraten.“

„Es war der letzte. Vielleicht verraten es uns die Knochen.“

„Gibt es außer Orakeln noch andere Informationsquellen?“

„Meinst du, ich wäre wahnsinnig und vertraute mich einem dieser unsäglichen Beamten an?“

Das konnte heiter werden. Er trat aus dem Raum und bat mich, ihm zu folgen.

*

Auf der Straße scheiterten wir mit unserem Vorhaben, in der Menge unterzutauchen. Die vielen emsigen Arbeiter, die Baustoffe anschafften, und Bauern, die Waren anlieferten, trugen Gewänder, an denen ihr Beruf ablesbar waren. Erschienen Personen in reichen Stoffen, gar Seide, zog Ning mich auf die Seite. Er wusste ihren Beamtenrang abzulesen und überschüttete mich mit Warnungen.

Mehr und mehr verstand ich, dass die Regeln der Bevölkerung eng gefasst waren, um eine strikte Zuordnung oder auch Abgrenzung, wie man es sehen wollte, zu ermöglichen. Er verbot mir Augenkontakte, ordnete einen zügigen, doch nicht zu flotten Schritt und eine ernste Miene an.

Bei all dem sog ich den Charme der exotischen Bauweise auf. Viele mir unbekannte Pflanzen waren in voller Blüte und mancher Untergebene oder Bauer bemüht, die Höfe der Herren farbenfroh zu gestalten. Auch erfuhr ich, dass es einerseits einfache Bauern, dann aber auch Edle gab, die durchweg gebildet waren. Die Bauern wurden bewusst dumm gehalten. Von der Geisteswelt des Tao hatte Ning bereits berichtet. Als wir das Ende der Stadt erreicht hatten, wurde Ning schneller.

„Du weißt, dass wir auf der Flucht sind?“, ermahnte er mich. „Spätestens jetzt wird man uns vermissen. Denkst du, wir waren in dem Zimmer, um uns einen schönen Tag zu machen? Die Herren brauchen Resultate. Täglich fragen sie danach. Sei froh, dass du es nie erlebt hast.“

„Und da wir fehlen, wird nach uns gefahndet?“

„Es läuft eine Maschinerie an, die nur auf eines getrimmt ist: zu töten. Wir haben uns nicht so benommen, wie es die Ordnung vorschreibt.“

Flucht vor den Beamten, Suche nach dem Kaiser. Was machte es für einen Unterschied? Führten nicht beide Wege zu demselben Ergebnis?

Meine Frage, wen wir nach dem Herrscher fragen könnten, wurde mit einem leeren Blick beantwortet. Also niemanden. Das Misstrauen unter den Menschen war groß. Keiner wagte, den Mund aufzumachen. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Guter Ning, gibt es irgendjemanden in der Bevölkerung, der weder zu den Bauern noch zu den Edlen gehört und trotzdem nicht gerade freundlich auf die herrschende Gesellschaft zu sprechen ist?“

„Warum sollte es so etwas geben?“

„Es ist eine Frage.“

„Händler?“

Ich hätte einen Luftsprung machen können. Händler. Wer bereiste die Ländereien mehr als sie?

„Wo finden wir sie?“

„Auf den Märkten am Fluss …“

„Fluss klingt gut. Kennst du einen Marktplatz oder Ähnliches?“

„Der ist in der Stadt. Dorthin bringst du mich nicht mehr zurück.“

„Sind nicht auch in den Dörfern Händler zu finden?“

„Nur die Gutsherren verhandeln mit ihnen. In kleinen Orten wirst du keine finden. Es ist Vorsicht geboten. Die Augen der Herrschaft sind vorwiegend dort, wo Geld getauscht wird.“

*

Es war ein glücklicher Umstand, dass bald die Nacht hereinbrach. Im faden Schein des Mondes kamen wir jedoch nur langsam vorwärts. Das strukturierte Denken des Kaisers beschäftigte mich. Obwohl ich bislang wenig Gutes an seinem Tun finden konnte, so reformierte er das riesige Land nachhaltig. Alles, was ich sah und was Ning mir beschrieb, war bis ins kleinste Detail durchdacht. Auffällig waren selbst die Abstände der Spurrillen in den Straßen, die exakt an die Achsausmessungen der Fuhrwerke angepasst waren. Ning sprach von vielen Normen, die der Kaiser veranlasste, beispielsweise die Vereinheitlichung der Schrift, der Währung, der Maße und Gewichte. China verschmolz zu einem Ganzen.

*

Die Tage, die wir am Flussufer entlangwanderten, um einen Handelsknotenpunkt zu finden, verbrachten wir voller Angst. Sahen wir in der Ferne Reiter, versteckten wir uns. Mehrmals tauchten wir sogar in den Fluss, wobei es den kleingewachsenen, dürren Ning einmal beinahe weggespült hätte. An jenem Abend sahen wir in der Ferne endlich Lichter.

„Es ist eine kleine Stadt“, bemerkte Ning erleichtert.

Ein Ort am Fluss bedeutete Austausch. Unsere Hoffnung war berechtigt: Hier war die Chance immens, Händler zu finden - jenen Berufsstand, der für jedes Reich von hoher Bedeutung war, hier im Land allerdings als nichtswürdig und wertlos abgetan wurde.

Stabile Lehmhütten drängten sich bis ans Flussufer. Die Bewohner schliefen bereits. Bedächtig schauten wir in die Straßen. Vielleicht konnten wir einen Handelsplatz ausfindig machen oder eine Herberge finden. Einige Schiffe waren an stabilen Rohrgestellen angebunden. Unweit des Hafenbereichs öffnete sich ein Platz, der sich zum Handel eignete.

Nur wenige Menschen waren in den Gassen. Die meisten ignorierten uns. Ein Passant informierte uns mit raschen Sätzen über die Möglichkeiten einer Bleibe. In einem jener Gebäude, die den Platz einrahmten und mit zwei Stockwerken weitläufig ausgebaut waren, blühte das Leben.

„Meinst du, wir können uns eine Übernachtung leisten?“

„Ich will bei einem der Händler eine Mitfahrgelegenheit auf seiner Dschunke einhandeln. Dazu brauchen wir unser Käsch. Er wird uns keiner aus Barmherzigkeit auf seinem Schiff verstecken.“

Es war eine brillante Idee, in die ich sofort einwilligte. Wie jeder Bürger hatte auch Ning seine Münzen auf eine lange Schnur aufgereiht, die er sich um den Hals gelegt hatte. Ich war voll und ganz auf ihn angewiesen.

Unschlüssig schaute ich auf das zweistöckige Gebäude, aus dem lautes Stimmenwirrwarr drang.

Just in dem Moment, als wir abdrehen wollten, trat ein Gast aus der Tür. Beinahe stießen wir zusammen. Er hatte ein festes Ziel vor Augen und fluchte über uns. Das, was ich verstand, war, dass er wohl seinen Kumpan suchte.

„Alles klar bei dir?“, rief er beim Weitergehen in die Dunkelheit.

Aus einem beschatteten, überwachsenen Winkel eines sich anschließenden kleinen Platzes drang ein Echo. „Bist du endlich so weit? Ich warte nicht mehr lange. Es war abgesprochen, dass wir uns die Wache teilen.“

„Wenn der Mond den Himmelswagen passiert! Das war ausgemacht. Du wirst doch wohl so lange warten können!“

Missgestimmt ging er zurück in die Herberge.

Auch wir hätten uns auf die weitere Suche gemacht, wäre nicht ein Lichtreflex von einem Metallteil des Fremden auf eine Kutsche getroffen. Ich hatte geglaubt, Ketten gesehen zu haben. Vorsichtig hielt ich meinen Freund zurück.

„Hast du die Kutsche gesehen?“

„Wir müssen weg, alles andere interessiert mich nicht“, versuchte er, meinen Einwand wegzubügeln.

„Bildete ich mir es ein oder sind dort gefesselte Menschen?“

„Wenn ja, werden sie zum Henker gebracht.“

„Wie?“, schreckte ich hoch.

„Sie müssen übles Volk sein. Man darf nicht gegen die Gesetze verstoßen. Du weißt doch: Kopf ab.“

Das musste er auf keinen Fall betonen. Waren wir doch selbst Geächtete. Die armen Teufel steckten womöglich in einer ähnlichen Situation. Wir mussten ihnen helfen. Daran gab es nichts zu rütteln. Ketten, rief ich mir ins Gedächtnis ... keine Fesseln.

„Warum zögerst du?“, drängte Ning barsch. „Komm nicht mit solchem Volk in Kontakt! Ihr Verderben trifft uns auch. Wir sind ohnehin vogelfrei.“

„Tut mir leid, Ning, ich schneide sie los.“

„Bist du wahnsinnig! Ein bewaffneter Beamter hält Wache. Du kommst an ihm nicht vorbei. Ihnen zu helfen, kannst du vergessen. Verstehe doch!“

„Gut, wir kommen an ihm nicht vorbei. In Kürze ist Wachtwechsel. Wir warten auf den anderen.“

„Du spinnst! Ich will deine Gedanken nicht hören. Nein! Niemals!“

„Der andere ist in der Schenke. Du bist doch Alchemist. Misch ihm etwas ins Getränk. Er fällt dann in Schlaf und wir haben freies Spiel.“

„Ich? Gerade noch ich! Warum überhaupt?“ Er hüpfte bei seiner Abwehr von einem Bein aufs andere. Wahrscheinlich ahnte er, gegen einen festen Entschluss ankämpfen zu müssen.

„Du fällst mit deinen Klamotten weniger auf. Außerdem sieht man dir deine friedliche Art an. Keiner erwartet das Verderben aus deiner Hand.“

„Mach das, mit wem du willst, nicht mit mir!“

„Welches Gift schwebt dir vor?“

„Keines! Nie und nimmer. Fliegenpilze eventuell.“

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Er war also schon dabei, sich einzufinden.

„An Töten dachte ich nicht, um ehrlich zu sein.“

„Ich will gar nichts. Ich mache mich aus dem Staub und du kannst tun, was du willst!“

„Was ist das Gelbblühende für ein Kraut?“

„Ginster führt zunächst zur Übelkeit.“

„Das ist es!“

„Lasse es dir nochmals sagen, mit mir kannst du nicht rechnen!“

„Gut, mit dir nicht“, blieb ich stur. „Wie kommen wir zu Alkohol?“

„Bier bekommst du in der Schenke. Was willst du damit?“

„Gut, das besorge dann ich“, ließ ich ihn in Unkenntnis.

Ning hielt inne und atmete heftig durch. „Du? Nein! Mit deinen Klamotten fällst du auf. Du bringst uns um! Und außerdem hast du kein Käsch. Was immer du damit vorhast, den Teil übernehme ich.“

„Ich danke dir“, nahm ich ihn in die Arme. Aufgeregt wehrte er ab und flüchtete in das Gebäude.

Mein Plan sah vor, die Giftstoffe des Ginsters in ein alkoholisches Getränk zu mischen. Irgendwie musste im zweiten Schritt der Wächter überzeugt werden, das Zeug zu trinken. Heftige Übelkeit würde ihn dann ausschalten. Der Versuch war es wert.

Es dauerte nicht lange, bis Ning mit einem Krug voller Gerstensaft zurückkam.

„Was muss von dem Kraut in den Sud?“

„Du hast einen Willen wie Eichenrinde.“

„Hoffentlich.“

„Nimm Blüte, Rinde, Blätter. Es wird scheußlich schmecken.“

„Es bringt ihn aber nicht um?“

„Der hält was aus. Er ist ein fetter Mops.“

Während wir uns daranmachten, den höllischen Trank zu brauen, ging auf der gegenüberliegenden Seite der Wachtwechsel vonstatten. Ning schüttelte ständig mit mürrischen, kaum vernehmbaren Bemerkungen den Kopf.

„Er wird womöglich doch daran verrecken, bestimmt“, schloss er das Prozedere ab.

Jetzt kam mein Part.

Ich holte tief Luft und schwankte, einen Angetrunkenen mimend, über den Platz. Als ich den Wächter beinahe erreicht hatte, spielte ich eine Überraschung und Heiterkeit vor, mit der der Fremde nicht umzugehen wusste. Ich sah ihm seinen ordentlichen Alkoholspiegel an. Das kam mir entgegen.

„Guter Freund, ich muss nach Hause“, lallte ich, „wenn mein Alter mich mit diesem bitteren Trank erwischt, wird er mich erschlagen. Nimm du ihn und rette mir mein Leben.“

„Was ist es für Zeug?“, wurde er neugierig.

„Ein wundersamer Wurzelbrand. Der geht an die Nieren und erweckt nach kurzer Zeit Glücksgefühle, die mir zu Hause keiner gönnt.“

Schon hatte ich den Krug abgestellt und schwankte weiter. Was er mir noch nachrief, ignorierte ich. Eine Konversation war kaum mein Ziel.

Dann hieß es abwarten. Ich verkrümelte mich in der Dunkelheit zwischen den Hauswänden. Ning wartete noch immer auf der gegenüberliegenden Seite. Jeden kleinen Ton versuchte ich, aufzuschnappen, jede Regung. Konnte ich aus dem Wenigen Schlüsse ziehen?

Nach langen Minuten flog mir ein brachialer Fluch entgegen. Er hatte getrunken! Es musste scheußlich geschmeckt haben. Ich lauschte noch konzentrierter.

Keinen Schritt traute ich mich vorwärts. Hätte er mich gesehen und als den Übeltäter erkannt, er hätte mich ohne mit der Wimper zu zucken gespalten. Da war ich mir sicher.

Ich schreckte auf. Eine Gestalt stand vor mir. Ning!

„Worauf wartest du? Er kotzt die Büsche voll.“ Ich atmete auf.

Wir eilten durch die Nacht.

„Hast du ein Messer?“

„Klar. Aber sprachst du nicht von Ketten?“

Noch immer stand der Wagen im Dunkeln. Ob die armen Gefangenen schliefen? Im schwachen Schein des Mondes erkannte ich Hände, die ans Gestänge des Fuhrwerks gefesselt waren. Ning war bereits dabei, die ersten Fesseln zu durchschneiden.

Keine Ketten, bemerkte ich erleichtert. Wahrscheinlich waren es Teile des Gespanns, die mich irritiert hatten.

Es kam Leben in die Personen.

„Verschwindet!“, flüsterte Ning. „Beeilt euch!“

Sie verstanden nicht, was gerade passierte und zögerten.

„Sind alle gelöst?“ Ich umrundete das Gespann und berührte alle Arme.

„Bin so weit. Weg hier!“

Ich durfte meinen Freund nicht länger hinhalten. War er doch tapfer und machte das von mir Wahnsinnigem initiierte Spiel mit. Wir hasteten davon.

„Ma Nu El!“ Wie versteinert blieb ich stehen. Wer rief meinen Namen? Erschüttert wandte ich mich um.

„Chen Lu?“

Wie kam sie auf den Wagen?

Personen sprangen von der Pritsche. Chen Lus Mutter stand an der Deichsel, zögerte, wandte sich dann ebenfalls ab und suchte das Weite.

„Chen Lu, was tust du hier?“

Ning zog eifrig an meinem Hemd. „Es ist keine Zeit!“

Hilflos rang ich nach Worten. „Chen Lu, du musst verschwinden! Schnell!“

Endlich reagierte auch sie, sprang von dem Gefährt und lief mir entgegen.

„Ich bleibe bei dir!“

Ein hilfloser Blick zu Ning.

„Keine Zeit, wir müssen los!“

Es war überfällig. Der Wächter hatte uns bereits ins Visier genommen, zog trotz aller Übelkeit sein Schwert und brüllte mit bezwingender Lautstärke: „Packt sie, sie haben mich getötet! Schlagt sie tot!“

Fiebernd rasten wir davon, durch die Gassen, änderten ständig die Richtung und standen irgendwann in einem Wald.

Keuchend war es uns kaum möglich, Worte zu finden.

„Der Fluss...“, fiel mir endlich ein.

Ning nickte. Weiter ging die Jagd.

Bald standen wir vor dem Wasser. „Und jetzt?“, hechelte Ning.

Ein alter Kahn ruhte wie ein Geschenk unter einer Weide. Ein Fingerzeig genügte. Nings Mes-ser blitzte im Sternenschein auf. Das Seil war gelöst. Chen Lu hatte währenddessen am Ufer die Ruder aufgetrieben. Ein kurzer Tritt ins Nass, und schon hatten wir unsere Plätze gefunden.

„In welche Richtung?“

„Der Strom soll uns leiten“, war Nings Antwort.

Die Ängste, die uns allen in den Knochen saßen, mobilisierten außerordentliche Kräfte. Mit mächtigen Schlägen hingen wir in den Rudern.

*

Der Morgen dämmerte, als wir das Wasserfahrzeug in einer stillen Bucht an eine geschützte Stelle zogen, um unter dichtem Buschwerk auszuruhen. Ning akzeptierte die Anwesenheit Chen Lus wie selbstverständlich. Wenige Worte während der Fahrt hatten uns zu einem seltsamen Trio zusammengefügt, dessen Zusammenspiel viele Fragen unbeantwortet ließ.

Chen Lu saß am Fluss, als ich aus einem kurzen Schlaf erwachte.

„Willst du Fische fangen?“, rief ich ihr zu.

„Ning besorgt etwas zu essen. Was meinst du, womit können wir Wasser schöpfen?“

„Schuhe?“

Mein Vorschlag endete in einem Kichern. Beide schauten wir auf meine durchlöcherten und provisorisch angeschnallten Sohlen. Womöglich hatte Chen Lu noch niemals festes Schuhwerk gesehen.

Mein Magen knurrte. Dass Ning nach etwas Essbarem Ausschau hielt, war mir gerade recht. Hoffentlich würde er fündig werden. „Meinst du, wir können auch Fische aus dem Wasser angeln?“

„Es ist gefährlich. Die Erben Longs lauern.“

„Wer ist Long?“

„Der doppelschwänzige Drache. Er hat neun Söhne. Sie können gut oder schlecht sein. Wir wissen es nicht. Wasserdrachen sind nicht weniger gefährlich als Feuerdrachen.“

Sie sprach von Krokodilen. Vor diesen Reptilien hatte auch ich Respekt. Ich schaute mich um. Keines war auszumachen. Aufatmen. Die Nacht wäre lebensgefährlich gewesen. „Die gibt es wirklich hier?“

„Sie sind Wesen der Götter. Manchmal verstecken sie sich in den Körpern der Tiere.“ Chen Lu war sehr ernst.

„Warum wurdest du gefesselt und auf den Wagen gebunden?“ Diese Frage ging mir nicht aus dem Kopf.

Chen Lu lenkte ab und fand in der Ferne ein anderes Thema. „Ning! Ich glaube, er ist fündig geworden!“

Ihre Antwort glich mehr einem Jubelruf als einer Feststellung. Wahrhaftig, der gute Freund zerrte ein Tier hinter sich über die Erde. Wie konnte er es erlegt haben? Mit seinem Messer? Dann alle Achtung.

Er selbst hüpfte uns voller Begeisterung entgegen. „Ein Leckerbissen! Es gibt Häuser, wenige li von hier!“, stammelte er fast atemlos.

Meine Freude wurde schnell getrübt. Das, was er mitbrachte, war weder Schaf noch Ziege, es war ein Hund.

„Nein! Sag nicht, du hast ihm den Garaus gemacht.“

„Du musst dir dabei nichts denken. Er ist ganz frisch. Hunde fängt man am einfachsten, wenn sie angebunden sind.“

„Wie? Du hast den Haus- und Hofhund einer Familie abgemurkst?“

„Es hat überall gebellt. Hör doch! Da sind noch welche.“

Dass in weiter Ferne mehrere Hunde heulten, die im Moment wohl ihren Freund beklagten, freundete mich mit der Tat nicht mehr an.

„Hingerichtet werden wir ohnehin. Was spielt es daher für eine Rolle? Lassen wir uns den Leckerbissen doch noch zukommen.“

„Wie willst du ihn braten?“, warf ich in der Hoffnung ein, dass ihm die Mittel dafür fehlten.

„Ich bin Alchemist. Feuer ist Medizin. Ich verstehe mich durchaus auf die Kunst des Feuermachens. Du wirst schon sehen.“

Angewidert wandte ich mich ab. Musste das sein? Mein Magen war deutlich zu hören.

Chen Lu versuchte, meinen verlorenen Blick zu verstehen. „Du magst keine Hunde?“

„Nur lebend.“

„Die armen Bauern bekommen wenig Fleisch zu essen. Wenn überhaupt, gibt es Vögel oder Fische. Ning wird uns ein Festessen bereiten.“

„Bitte ohne Quecksilber“, versuchte ich, die Situation zu beschwichtigen.

Ning gefiel der Einwurf. „Ohne Quecksilber! Wie der junge Herr wünscht! Der Herr hat einige besondere Vorlieben. Mädchen, lass die Finger von ihm.“

Chen Lu senkte errötet den Kopf.

„Ach, was rede ich für dummes Zeug“, fuhr er fort. „Wir alle drei sind vogelfrei. Was sollen wir uns einschränken? Egal, was wir tun, schlimmere Folgen, als lebendig vergraben zu werden, erwarten uns nirgends.“

„Du hast einen bitteren Humor, guter Freund“, entgegnete ich. „Wahrscheinlich hält mich diese Gewissheit am Leben. Ich verstehe allerdings nicht, wie du, Chen Lu, und deine Familie in diese Lage kommen konntet. Ich habe euch als fleißige Bauern kennengelernt.“

„Mag sein“, warf Ning ein. „Trotzdem haben sie gegen ein Gesetz verstoßen und sie wurden angezeigt. War es so?“, wandte er sich an das Mädchen.

Chen Lu hielt weiterhin den Kopf gesenkt. Ihre Verlegenheit verwandelte sich in Furcht.

„Unser Kaiser“, fuhr Ning weiter, „musste, um sein Reich zu sichern, die Reißleine ziehen und harte Regeln mit mörderischen Konsequenzen aufstellen.“

„Meinetwegen, doch was hat das mit dieser liebenswerten Bauernfamilie zu tun?“

„Sehr viel. Das Leben kann nur existieren, wenn der von der Natur vorgegebene Weg eingehalten wird. Wachsen, blühen, vergehen. Der Tag beugt sich der Nacht, das Leben dem Tod. Das musst du verstehen.“

„Tut mir leid, ich begreife nicht, was du meinst. Das ist zu einfach. Streckt das Leben nicht seine Fühler nach vielen Seiten aus?“

„Und schon wieder hast du dich strafbar gemacht. Allein dieser Gedanke ist eine Sünde, ein Vergehen, ein Grund, enthauptet zu werden.“

Enttäuscht starrte ich auf meine Freunde. Chen Lu nickte leicht, Ning versuchte sich an einer weiteren Erklärung.

„Jedes Streben kann zum Schaden des Herrschers sein. Dem gilt es, vorzubeugen.“

„Das ist doch Blödsinn“, wehrte ich mich. „Wie will er in die Köpfe der Menschen schauen? Dort spielt sich das Unvorstellbare ab. Das kannst du nicht leugnen.“

„Gedanken spiegeln sich in Bewegungen, Wortfetzen, Unachtsamkeit. Unsere Herrschaft versteht sich darauf, die Keime auszufiltern, die den göttlichen Ablauf stören. Vier oder fünf Familien sind von Staatswegen zu einer Gruppe gefasst. Sie kontrollieren sich in einem engen Verbund gegenseitig, damit die Regeln nicht gebrochen werden. Schlägt eine Person aus der Runde, so wird diese – oft sogar die ganze Familie – vernichtet. Falls ein Nachbar so leichtsinnig ist, Untaten einer oberen Stelle nicht anzuzeigen, sind er und seine Sippe selbst dran, und ihre Köpfe rollen ebenfalls.“

Aufgelöst stierte ich auf Ning.

„Chen Lu, mir ist das gleich, ob ihr einen Nachbarn in Schutz genommen oder selbst mit den Sitten gebrochen habt, wir sind alle drei am Ende unseres Wegs“, ergänzte Ning gleichmütig.

Was konnte diese unschuldige Familie verbrochen haben? Aufgewühlt sprang ich auf. Ich war der Grund. Sie hatten mich versteckt. Allein ich musste mir dieses Elend zuschreiben. Natürlich hatten die anderen Familien davon Wind bekommen. Nicht allein das, ich war bei jenem Fest vertrieben und von Gesetzeshütern aufgegabelt worden. Dazu musste es Fragen gegeben haben.

Chen Lu ahnte, was in mir vorging. Sie fixierte mich mit ihrem Blick.

„Ich bin schuld“, flüsterte ich kaum vernehmlich.

„Es ist alles gut, lieber Ma-Nu-E“, wehrte sie ab.

Ning begriff sehr schnell. „Mag sein, wie es will. Man muss eins mit Gott und der Natur bleiben. Wenn man ausbricht, ist es eben so. Tao – der Weg. Man muss das verstehen“, versuchte er sich erneut an einer Begründung. „Unser Kaiser hat Kriege aus seinem Reich gebannt, indem er alle streitenden Reiche zu einem verschmolzen hat. Diesen Zustand darf man nicht gefährden.“

Mir graute vor dieser einfachen Gedankenwelt. „Gut, der Kaiser will das, was er erreicht hat, schützen. Damit bringt er lediglich sich außer Gefahr, längst nicht das Volk. Er zerstört die Seelen der Menschen und brennt ihre Sehnsüchte aus.“

„Sprich solche Dummheiten nicht aus“, warnte Ning mich. „Aber was soll es, wir sind ohnehin in Kürze dran. Willst du diesem Kaiser immer noch das Leben retten?“

„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Im Übrigen bin ich überzeugt, Gutes zieht Gutes nach sich. Vielleicht berühren wir in dem Herrn eine Saite, die ein bisschen Milde – wenn auch nur ein winziges Flämmchen – entzündet.“

Doch Ning schüttelte nur den Kopf. „Hör zu, du junger Narr. Einst wuchsen 31 Mächte, die aus unseren Ackerbauern, den Shangs, entsprangen. Sie lebten unter der Erde, schützten sich mit Schilfaufbauten und ernährten sich von Sorghum, Hirse und Weizen. Wang wurden die Großkönige genannt, die diese Mächte anführten. Sie schufen Beamtenstaaten, denen hohe Diener, die yin, die shih, also Schreiber, und pu`s, die Orakeldeuter, angehörten. König Wu schlug mit einer gelben Streitaxt das Haupt des mächtigsten Shangherrschers ab und hängte es an die große, weiße Fahne. Der tugendsame König Wu aus der Familie der Chou, die im Westen des Reiches angesiedelt waren, zentrierte die Macht auf diesen Sektor. Wu ersetzte viele der bisherigen Herrscher mit Mitgliedern aus der eigenen Familie und erhoffte sich so, sein Reich zu sichern. Er scheiterte. Der zu mächtig gewordene Hofadel tötete ihn. Es entbrannten darauf Kriege unter den mächtigen Fürsten. Du hast schon von der Zeit der kämpfenden Reiche gehört? Jahrhunderte bekriegten sich Chu, Han, Qi, Wie, Yan, Zhao und Qin, bis endlich der letztere dominierte. Er, unser heutiger Kaiser, Qin Shihuangdi, eroberte ein Reich nach dem anderen und vereinte alle zu einem großen, friedlichen Staat. Um Revolten zu verhindern, ließ er alle Waffen beschlagnahmen und schmolz sie zu Glocken und mächtigen Statuen ein. Er lässt auch die alten Gedanken vernichten, indem er alle Bücher vernichtet und die vollen Köpfe der Gelehrten leert. Jeder Keim von Staatsfeindlichkeit wird an der Wurzel erstickt.“

„Ich habe begriffen“, würgte ich den Rest der Erzählung ab. Ich wollte das alles nicht kommentieren, griff zu einem Stück mittlerweile durchgebratenem Hund und verlor mich in Gedanken, bis das Fleisch in meiner Hand erkaltet war.