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Auf seiner Reise durch die Menschheitsgeschichte erreicht Manuel Jebich das frühe Mittelalter. Er, der durch einen Fluch das Damals bestehen muss, führt uns hautnah in das "Einst." In den Jahren 400 bis 700 n. Chr. muss er das Ende der Vandalen, der Ostgoten und die blutige Zeit des Kaiser Iustinians bestehen. Daneben wird er Zeuge der Geburt des Islams. Eingebetet in eine magische Welt, darunter ein Irrweg in dem brandgefährlichem Spiegelberg, wird die unverfälschte historische Realität herausgearbeitet und in höchster Spannung dargeboten.
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Seitenzahl: 429
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Lilie (um 497 n. Chr.)
Sophienrauke (536 n. Chr.)
Riemenzunge (570 n. Chr.)
Boswella sacra (602 n. Chr.)
Schwarzkümmel (627 n. Chr.)
Schwarzer Holunder (691 n. Chr.)
Arabischer Jasmin – Fränkische Mehlbeere (732 n. Chr.)
Glossar
Zum Autor
Ein Blitz warf mich zu Boden. Ich hielt die Augen geschlossen und ließ das Inferno an mir vorbeiziehen. Nach einem kurzen Durchatmen erhob ich mich zitternd.
Bittere Kälte. Regen, der fast zu Eis erstarrte, prasselte auf mich herab. Der Temperatursturz war zu vehement. Was hatte ich als Letztes erlebt? An Attila und seine Hunnen konnte ich mich erinnern. Wir hatten ihn dazu gebracht, Italien zu verlassen. Womöglich lebte er gar nicht mehr. Das, was ich unter dem Begriff Völkerwanderung gelernt hatte, war sie noch im Gange?
„Man wird sehen“, seufzte ich und quetschte mich an den Stamm einer dichten Tanne, die mich teilweise vom Regenguss abschirmte, den Kopf gesenkt.
Ein Goldsolidi? Täuschte ich mich? Direkt vor mir auf der Erde blitzte eine Münze. Wer verlöre einen Goldsolidi?, fragte ich mich. Neugierig hob ich ihn sofort auf und musterte ihn. Das Stück war verdreckt. Ich schrubbte an ihm herum, bis etwas zu lesen war.
Anastasios.
Der Souverän sagte mir nichts. Ich versuchte, mich an die vielen Kaiser zu erinnern, von denen mir berichtet worden war. Anastasios? Nein, von ihm war nie die Rede gewesen. Allerdings waren in den vergangenen Wochen und Monaten unzählige Namen an mir vorbeigestreift, dass es unmöglich war, sie alle präsent zu haben. War er mir durch irgendwelche Umstände fremd geblieben? Oder handelte es sich bei ihm gar um den aktuellen Augustus? Ich war mir sicher, es würde sich schnell klären. Eines stand fest, nach der ganzen germanischen Raserei, die über Westrom hereingebrochen war, musste er ein oströmischer Kaiser sein. Aus der Unterstellung ergab sich die nächste Frage: War ich im Einflussgebiet Ostroms?
Die schweren Regentropfen, die sich zunehmend in leichtfüßige Schneeflocken verwandelten, verunsicherten mich. Winter. Eben irrte ich noch unter sengender Hitze an den Ufern des Po entlang. Es war nicht das erste Mal, dass ich in spärlichster Bekleidung mit Schnee und Eis zu kämpfen hatte. Das alles war kein Zufall. Diese mörderische Energie, die sich gegen mich verschworen hatte, offenbarte sich nicht nur in Menschen, sie trat mir ebenso in der Wucht der Elemente entgegen. In jeder denkbaren Kombination, lag meinen Widersachern, den Söhnen und Töchtern des Chaos, daran, mich zu zerstören. Wie mühelos wäre es für sie gewesen, mich in einer derartigen Weite erfrieren zu lassen? Einem Erfolg stand indessen etwas Unfassbares gegenüber, das mich am Leben halten musste. Mir blieb es weiterhin ein Rätsel.
Tiere halfen mir oft aus der Patsche. Barak, der Fuchs, Krawan, der Rabe, Enetha, die Eule. Warum mieden sie mich mehr und mehr? Was hatte ich falsch gemacht?
Die tanzenden Schneeflocken erschwerten mir jede Entscheidung. Kaum drei Meter weit konnte ich sehen. Dringend musste ich in einer warmen Stube unterkommen. An Ort und Stelle zu bleiben, bedeutete den Tod. Wo fand sich das nächste Leben?
Planlos stürmte ich querfeldein, in der Hoffnung, auf Straßen, Wege, menschliches Dasein zu stoßen. Immer schneller hastete ich über versteppte Felder, durch Waldstücke … ohne Erfolg.
Die Nacht warf ihre Schatten weit voraus. Panik packte mich. Meine Zehen und Finger schmerzten entsetzlich. Zu sehr waren sie von früheren Erfrierungen vorbelastet.
Ein leuchtendes Schimmern, das zwischen einigen Bäumen aufblitzte, tat ich im ersten Moment als Irrlicht ab. Ich tastete mich in völliger Dunkelheit hin und her. Nein, der spärliche Schein war real. Glücklicherweise flimmerte er schnell wieder durch einen Spalt der dichtstehenden Baumstämme. Versteckte sich in dieser Einsamkeit eine Hütte?
Voller Hoffnung kämpfte ich mich zu dem ersehnten Ziel, riss die Tür auf und fiel in die Werkstatt eines drahtigen Menschen. Nur beiläufig nahm ich wahr, wie er eine derbe Nadel, mit der er an einem Stück Leder gearbeitet hatte, vor Schreck fallen ließ und aufsprang. Meine Sinne waren konsequent auf die Wärmequelle ausgerichtet. Unterkühlt und dankbar zitterte ich vor dem knisternden Holz, auf dem Feuerfunken ausgelassen tanzten.
„Was soll das?“, fuhr der Fremde mich scharf an.
Eine Antwort sparte ich mir. Mein erbärmlicher Zustand und die ungeeigneten Stofffetzen, die mich dürftig schützten, mussten ihn verunsichern.
„Du willst dich hier aber nicht einnisten?“
„Nein, nur auftauen“, antwortete ich in ähnlichem Tonfall.
„Wie kommt man dazu, in einer solchen Zeit mit Lumpen in die Wälder zu gehen?“
„Es ist Winter?“
„Hochsommer!“, warf er mir verächtlich an den Kopf. Hatte er es mit einem Geisteskranken zu tun? Aus seiner Miene las ich den Eindruck. Mir war es gleich.
„Du machst Schuhe?“
Dass ich mich bei einem Sutor, also einem Näher, wie sie damals bezeichnet wurden, eingefunden hatte, verrieten mir die Flicken, die durch Riemen zu festem Schuhwerk zusammengezogen auf einem Brett zur Endfertigung bereitstanden. Nirgends sah ich die typischen römischen Sandalen. Eine Erklärung hatte ich prompt parat. Sandalenmacher, die Sandalarius, war ein spezielles Gewerbe, so kannte ich es. Den großen blondhaarigen, bartlosen Kerl hatte ich dabei unterbrochen, Schaftteile, an einen Lederboden zu nähen, der ohne jeden Zweifel die Funktion einer Sohle hatte.
„Das wird kein Calceus“, setzte ich nach und bezog mich auf die typisch römischen Schuhe, deren Anzahl der Binderiemen, die Stellung des Trägers verriet.
„Die Zeit dieser Römer ist vorbei“, nörgelte er, ohne seine Arbeit ein weiteres Mal zu unterbrechen.
„Einen Goldsolidi würdest du vermutlich gegen ordentliche Schuhe und einen warmen Wams eintauschen?“
Provokant warf ich ihm die gefundene Münze vor die Beine und wartete die Reaktion ab. Er beugte sich nach dem blanken Stück, betrachtete es kurz und steckte es gleichgültig ein. Mit einem „Meinetwegen“ war der Handel abgeschlossen. Der Kerl erhob sich und pfefferte mir ein fertiges Paar vor die Beine. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Lange hatte ich kein ähnlich stabiles Schuhwerk mehr getragen. Für mich waren die Lederteile unermesslicher Reichtum.
Zwischenzeitlich machte sich mein Wirt daran, Leder über einen Leisten zu ziehen und zu der vorgegebenen Passgröße zu verarbeiten. Mit pelzigen Fingern schaute ich ihm zu.
„Du lebst allein?“
„Was geht es dich an?“, erwiderte er mürrisch und zerrte an dem Material.
Unruhe im Außenbereich ließ ihn aufhorchen. Nach wenigen Augenblicken wurde die Türe erneut aufgerissen. Zwei Männer waren eingetreten, die ebenfalls die Begrüßung übergingen und dem Schuster ein Stück Holz vor die Beine warfen.
„Du bist Fenkil?“
„Wenn ihr nichts dagegen habt.“ Dem Handwerker passte das alles verständlicherweise gar nicht.
„Du weißt, was das ist?“
„Was wäre ich für ein Sutor, wenn ich das nicht wüsste.“ Skeptisch studierte er das Teil. „Stammt von einem guten Leistenschneider. Was soll ich damit?“
Der Begleiter des Wortführers warf einige Lederflicken auf den Tisch. „Schaffe eine edle Fußkleidung.“
„Nicht mit dem Leder. Ich verwende meines!“, erwiderte er trotzig.
Schon fühlte er ein Schwert an seiner Kehle. „Wenn es beschlossen ist, dass dieses Leder verwendet werden muss, ist es so. St. Crispin soll dir beistehen.“
„Lass mir die Heiligen vom Leib. Das Leder ist zu weich.“
„Du wirst es so satt ziehen, dass es Edelsteine trägt.“
Fenkil hatte begriffen. Das Schuhwerk war für einen Herren gedacht, dem er nichts entgegensetzen konnte. Er gab sich drein. „Bis wann?“
„Eine Handvoll Tage vor dem Weihnachtsfest.“
Keine Erwiderung. Die Fremden zogen ab. Er klatschte die Ware in eine Ecke. „Sollen doch alle verflucht sein. Die Götter werden es richten. Was geht mich Crispin an.“
„Du magst wohl weder Heilige noch Christen?“
„Crispin! War er nicht ein Sutor gleich mir? Nicht mehr, nicht weniger. Er hatte seine verteufelte Werkstatt in der Stadt. Ständig wird mir sein Name an die Tür geworfen. Ich habe nichts mit dem Christenvolk am Hut. Hätte sich Crispin um seine Tierhäute, statt dem Kreuz gekümmert, wäre ihm das Leben geblieben. Ahlen schlugen sie dem Dickkopf unter die Nägel. Wird schon so recht gewesen sein.“
„Vermutlich in den Tagen Augustus Diokletians?“
„Hier herrschte Kaiser Maximian.“
„Was verstehst du unter hier?“
„Suessionum. Lass mich jetzt in Frieden. Nimm die Schuhe, meinetwegen auch einige Stoffe und mache dich davon.“
Mit dem Ortsnamen konnte ich wenig anfangen, erfuhr aber schnell, dass es sich um die Stadt Soissons handelte.
Gegen den knallharten Rauswurf sperrte sich alles in mir. „Über die Nacht kann ich nicht bleiben?“, versuchte ich einen Anlauf, das bittere Schicksal abzuwenden.
„Du hast noch einen Solidus?“
„Leider nein.“
„Verschwinde!“
Sein verächtlicher Blick war deutlich. Ich packte meine Errungenschaften und hielt die Abschiedsfloskel kurz. Immerhin war ich nahe einer Stadt. Das beruhigte mich. Ich würde schon irgendwo unterkommen.
Suessionum thronte herrschaftlich auf einem Kalkplateau. Im Norden und Osten begrenzte ein Fluss, die Aisne, die Stadt. Keltischer Gründung war sie römisch geprägt, doch auch dieser Glanz drohte zu erlöschen. Der germanische Stamm der Franken beherrschte seit Kurzem das Leben. Ihr heidnischer Glauben trotzte der christlichen Lehre, die sich bei den Römern etabliert hatte.
Zitternd am ganzen Leib zog ich ratlos durch die dunklen Gassen, musterte die meist aus Holz konstruierten, eng an eng stehenden Gebäude für eine Unterkunftsmöglichkeit. Wie ich solche Momente hasste. Betteln war längst zum Teil meines Alltags geworden. Ich ärgerte mich, den Solidus geopfert zu haben. Mit ihm hätte ich mir leicht eine Herberge leisten können. Die Klamotten waren nur die halbe Miete und ich hatte zu viel dafür bezahlt.
Ich trottete weiter, bis ich auf eine einstmalige römische Opferstätte traf, die durch Gewalt zertrümmert worden war. Die Franken schienen an ihr kein Interesse zu haben. Dahinter fiel mir ein weitläufiges Gebäude auf, das den Eindruck einer Herberge machte. Frech trat ich ein.
Der Empfang war ebenfalls nicht auszeichnungswürdig. Mit provokanter Gleichgültigkeit versuchte ein junger Mann, mich abzufertigen.
„Nur eine Nacht!“, betonte ich nochmals.
„Wir sind voll.“
„Mir genügt ein Platz unter einem Tisch.“
„Du störst. Unsere Gäste brauchen die Tische. Sie saufen derzeit die Nächte durch.“
„Dann werde glücklich mit ihnen“, provozierte ich und wollte soeben aus der Tür treten, als eine weibliche Stimme mich zurückrief. Die Frau stellte sich als die Schwester des jungen Mannes vor. „Sag uns deinen Namen, bevor du dich davonmachst.“
Sie war mir unangenehm. „Was soll es ändern, wenn du ihn kennst?“, erwiderte ich trotzig. „Räumen sich die Zimmer bei manchen Runenfolgen?“
„Möglicherweise ist für dich vorbestellt?“
„Wie soll das gehen? Ich kenne hier niemanden.“
„Dann verschwinde, ich wollte dir nur helfen.“
„Manuel.“
„Warum nicht gleich so. Oben unter dem Dach.“
„Wie bitte?“
„Steige mir nach, ich zeige dir die Falle.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Die junge Frau stapfte etwas unbeholfen voraus.
„Du bist keiner von den Ripuariern?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Ich mag das Volk nicht. Es ist schlechtes Geld, das wir an ihrem Durst verdienen, es geht an den Möbeln drauf, die sie im Unverstand zerschlagen.“
„Gäste?“
„Urians. Es wird davon gesprochen, dass ihr König nachkommt. Sie müssen ihm alles nach seinem Sinn vorbereiten.“
„Hier in diesem Haus?“ Ich war in einer Kaschemme, die niemals fürstlichen Ansprüchen genügen konnte.
„Der Alte hinkt. Würde kaum die Treppen hochkommen. Sie nennen ihn daher den Lahmen.“
„Du sprichst von dem König?“
„Von wem sonst? Sigismund. Die Alemannen haben ihm den Haxen gebrochen.“
„In einer Schlacht?“
„Was für eine Frage. Kennst du nicht die Schlacht der Schlachten? Wir haben dabei das verfluchte Volk nahezu ausgelöscht.“
„Die Alamannen?“
„Hier ist deine Bleibe.“ Sie brach das Gespräch ab. Die wahllos herumliegenden Strohmatten sortierte ich bereits in Gedanken nach meinen Bedürfnissen. Besser als nichts, musste ich eingestehen. Zugig. Kalt. Das Dach zeigte deutliche Schwächen.
„Eine Decke gibt es nicht?“
„Alle vergeben. Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt.“
„Schon gut“, gab ich nach, während sie mürrisch verschwand.
Suessionum, Ripuarier, Sigismund, Alamannen. Was konnte ich mir aus den Worten zusammenreimen?
Nichts.
Ich ließ es gut sein, legte mich nieder und versuchte, trotz der Kälte in den Schlaf zu kommen. Es wollte nicht klappen. Der Trubel aus den unteren Stockwerken war nicht zu überhören. Mitunter kamen mir Zweifel. War es besser, hier zu frösteln oder dort die alkoholisierten Streiter und abgefahrenen Vagabunden zu erleben? Bestimmt das Erstere, zumal ich förmlich die Gewalt roch, die sich in meinem Umfeld aufbaute. Diese Typen, die immer wieder als Besserwisser vor mir standen und mich zerstören wollten, hatte ich satt. Ich nahm mir fest vor, sie zu ignorieren, Gespräche abzuwürgen, da sie ohnehin sinnlos waren. Einschüchtern ließ ich mich längst nicht mehr. Meine Aufgabe war es, zu überleben, und das bestenfalls ohne schwerwiegende Wunden. Irgendwie musste es doch möglich sein, sich durch die Weltgeschichte zu stehlen. „Leck mich“, entschied ich, dem nächsten an den Kopf zu werfen. Der Entschluss war wie Balsam und bald schlief ich ein.
Stimmen. Ich atmete schwer, als ich zu mir kam. Jemand hatte eine Decke über mich geworfen. War es klug, mich davon zu befreien? Einem ersten Versuch folgte ein warnender Druck. Eine dunkle Gestalt stemmte sich dagegen. Ich wagte kein Wort, wartete ab.
„Lass mich sehen, wer neben dir liegt!“ Die Aufforderung musste von jemanden, der in der Tür stand, aufgetragen worden sein.
„Was für eine dämliche Frage …“
Mein Herz klopfte höher. OLAM! Er war es, der neben mir sitzend, mich schützte.
„… hast es doch selbst gesehen. Mit einem Weib kam ich die Treppen hoch. Was bezweckt es, wenn wir sie wecken?“
„Du willst behaupten, sie liegt hier?“
„Wer sonst? Kannst du wildfremde Menschen herbeizaubern? Sag mir, wen suchst du? Ich werde dir frei antworten.“
„Weiß nicht.“
„Das weißt du nicht? Dann erkundige dich und komme wieder, wenn du deinen Verstand gefunden hast.“
„Wenn ich ihn sehe, werde ich wissen, ob er es ist, den ich erwarte.“
„Lass uns in Ruhe. Hier bist du auf dem Holzweg. Schere dich zum Teufel.“
Mürrisch zog der Fremde ab.
„Olam!“ Meine Fassungslosigkeit und das Glücksgefühl ließen keine weitere Silbe zu.
„Nichts wie raus hier“, drängte er.
„Wir sind in Gefahr?“
„Kleben nicht ständig Probleme an unseren Sohlen? Stopp“, bremste er sofort wieder. „Ich schaue, ob die Luft rein ist.“
Nach einem flüchtigen Blick in den Hausflur zog er mich aus dem Raum und trieb mich die vielen Stockwerke, immer auf Lautlosigkeit bedacht, hinab.
Fast hätte ich mich zu einem Aufschrei verleiten lassen. Am Eingangsbereich lag ein Erschlagener. Fairra stand an dessen Seite und feuerte uns an. „Wo bleibt ihr?“
„Ging nicht schneller.“
Das Desaster, in dem meine Freunde und ich steckten, lag auf der Hand. Trotz allem fielen wir uns erleichtert in die Arme, als wir der Kaschemme in sicherer Entfernung den Rücken gekehrt hatten.
„Das warst aber nicht du?“, kam ich auf den Getöteten zu sprechen.
„Gelegentlich fallen Widersacher, die sich mir entgegenstellen, in zwei Teile auseinander.“
Voll Grauen versuchte ich die Tat auszublenden.
Außerhalb der Stadt fanden wir in einem Eichenwaldstück eine Hütte. Aufgestapelte Felle, in die wir uns vergruben, ersetzten jede Heizquelle.
„Du musst verstehen, Fairra ist zur Seherin geboren. Es ist ihre Berufung, Menschen zu opfern, um die Götter zu besänftigen. Du warst in großer Gefahr. Fairra entschied, mit dem Geschenk, Wotan für dich zu gewinnen.“
„Glaubst du, der Gott ist damit zufrieden?“, fragte ich.
„Manuel, wir wissen, kein anderer als du sät mehr Menschlichkeit in die Welt. Womöglich bist du die Inkarnation der Humanität. Der stehen allerdings bittere Realitäten entgegen.“
„Was redest du!“
„Von Blindheit sind wir auf keinen Fall geschlagen.“
„Liebster Freund“, unterbrach Fairra ihn, „bitte verstehe uns nicht falsch. Die bewährten Regeln der Weltordnung basieren auf Egoismus und einem ständigen Überlebenskampf. Dein Weg der Verständigung ist neu. Du bist aus der Urzeit aufgetaucht und legst überall kleine unscheinbare Flämmchen der Liebe. Die Menschen, die du derart beschenkst, vergessen es nicht, das ist das unfassbare Wunder. Es bleibt eine Sehnsucht an ihnen haften, die sie weitertragen. Die Götter haben dich ins Herz geschlossen, daher lassen sie dir alles an Schutz zukommen, was in ihrer Macht steht. Aber selbst sie stoßen an Grenzen. Der Narzissmus ist übermächtig und entzündet sich täglich neu wie ein Flammenmeer. Den Asen habe ich geschworen, alles für dein Leben zu riskieren.“
Ich hörte der Freundin verständnislos zu. Für mich war es das Normalste der Welt, Menschen zu helfen, zumal, wenn sie in Not kamen. Sie stellte es wie etwas Ungewöhnliches dar.
„Wir müssen an das Schwert kommen“, wechselte Olam das Thema. Fairra nickte stumm, sie hatte sich in der mir fremden Welt verrannt.
„Von welchem Schwert redest du? Kann ich dabei helfen?“, warf ich ein.
Fairra schreckte auf. „Ja, vielleicht. Die Mächte streiten sich um den Stahl.“
„Ihr sprecht von einem besonderen Schwert?“
„Die Klinge Chlodwigs.“
„Chlodwig der Franke?“
„Du hast von ihm gehört?“ Fairra nahm mich ins Visier. Ich nickte etwas hilflos.
„Wir sind in einer brisanten Situation. Wie ich vermute, hast du erfahren, dass wir uns im Reich der Franken befinden.“
„Wie weit sind die Römer zurückgedrängt?“ Ich versuchte, den Anschluss an meine Erinnerungen zu bekommen.
„Um es klarzustellen, es gibt lediglich noch im fernen Osten Römer.“
„Westrom ist gefallen? Ich erinnere mich als Letztes an Kaiser Valentinian III. Er war der Herrscher über Westrom.“
„Es nahm mit ihm ein bitteres Ende. Aëtius, der Name sagt dir etwas?“
„Ja, absolut. Der Feldherr des Kaisers. Ich habe ihn persönlich bei den Beratungen kennengelernt, wie Attila zu begegnen wäre. Gemeinsam mit Papst Leo zogen wir ihm entgegen.“
„Mit Erfolg. Attila verschwand aus dem Römischen Reich. Er starb bald darauf an einer Magengeschichte. Dass es in seiner Hochzeitsnacht geschah, verdient keine große Beachtung.“
„Er erlebte mehr Hochzeitsnächte als ein Tausendjähriger Weihnachtsabende.“ Fairra gluckste bei der Bemerkung Olams.
„Was wurde aus Valentinian?“, fragte ich interessiert.
„Wenn wir auch seit Attilas Dahinscheiden so gut wie nichts mehr von dem Hunnenvolk wahrnehmen“, erklärte Olam, „ihre Raubzüge hatten eine Kette von Folgen ausgelöst. Thorismund, der Visigotenkönig, der während der Schlacht auf den Campi Catalauni auf Grund des Todes seines Vaters auf das Schild des Herrschers gehoben wurde, nützte Valentinians Schwäche und dehnte das eigene Reich bis Orleans aus. Manches mag er sich vorgenommen haben, starb indes wenige Jahre nach dem Antritt seiner Regentschaft. In seinem Nachfolger Theoderich II. fand Aëtius, der ihm bei einer Auseinandersetzung in Hispania Tarraconensis gegen die Bagauden mit Erfolg zur Seite stand, einen Verbündeten. Der erfahrene Feldherr musste sich den Vorwurf gefallen lassen, zu eng mit den Barbaren zu harmonieren. Berater impften in Valentinian, dem Augustus, den Virus des Misstrauens ein.“
„Und Valentinian glaubte ihnen?“
„Das Unheil nahm seinen Lauf. Dem Feldherrn wurde in Anwesenheit des Kaisers der Hals aufgeschlitzt. So fand der Retter Roms ein bitteres Ende. Aëtius war zu angesehen, als dass diese Geschichte ignoriert werden konnte. Zwei seiner Getreuen wählten eine scheußliche Erwiderung auf die Fehlentscheidung des Augustus und töteten Valentinian III. Ab diesem Moment driftete das große westliche Rom in einen Todeskampf ab.“
„Es wurde kein passender Nachfolger gefunden?“
„Alle Versäumnisse der vorangegangenen Herrscher gerieten zu Sargnägeln. Die germanischen Völker, die widerwillig in das Reich eingegliedert werden mussten, erhielten nie den Status eines Römers, sondern blieben Ausländer, Menschen zweiter Klasse. Dass somit keine Einheit entstehen konnte, wurde zwangsläufig zur Tragik. Ausgesperrt, verachtet von der römischen Oberschicht, verblieb ihnen das zweifelhafte Recht, als Söldner zu dienen. Die Geschlossenheit des einstmals stolzen Roms war zudem den Eigeninteressen der unzähligen ethnischen Gruppen gewichen, die Rivalitäten beschworen. Jede beharrte auf ihren Kandidaten für den Kaiserthron. Rom wäre zu retten gewesen, wenn die großen selbständigen Reichsgebiete zu einer gemeinsamen Gestaltung den Antrieb gefunden hätten. Stattdessen kam es knüppelhart. Die Vandalen fielen über die dahinsiechende Stadt Rom her und plünderten sie gnadenloser als seinerzeit Alarich. Papst Leo vermochte zwar die schlimmsten Metzeleien zu verhindern, doch änderte dies nichts an dem entsetzlichen Ergebnis. Die Überreste des Jerusalemer Tempels, die in der Hauptstadt lagerten, wurden geraubt, Eudocia, die Tochter Valentinians, entführt und mit Hunerich, dem Sohn Geiserichs, verheiratet.“
„Bitte entschuldige, wenn ich hier unterbreche. Ihre Mutter Licinia Eudoxia war mir ans Herz gewachsen. Weißt du, was mit ihr geschah?“
„Sie wurde von den Vandalen geraubt und nach Africa verschleppt. Soweit mir bekannt ist, wurde sie später infolge langer Verhandlungen freigekauft. Sie verstarb vor rund drei Jahren. Die Tochter schenkte Hunerich einen Erben, Hilderich. Wer weiß, womöglich wird dieser Enkel des römischen Kaisers am Ende König über die Vandalen. Eine verrückte Welt.“
„Es liegt auf der Hand“, stimmte ich ihm zu.
„Hunerich hatte Ambitionen, Augustus zu werden.“
„Das klingt plausibel. Er war zumindest der Schwiegersohn des Kaisers. Wer gab ihm da kontra?“
„Die Senatoren. Avitus, ein Prätorianerpräfekt uns Oberhaupt der Edelgarde, wurde zum Augustus ausgerufen. Theoderich und die Aristokraten Galliens standen hinter ihm, nicht aber der Ostkaiser. Nach 15 Monaten wurde er ermordet, worauf zwei neue Namen kursierten, der Suebe Rieimer und der Römer Maiorianus. Sie waren die Widersacher Avitus’ gewesen. Maiorianus wurde zügig auf den Kaiserthron gehoben. Ihm waren bei Gott die Visigoten und Burgunder nicht gewogen. Rieimer trat an der Seite des Augustus dagegen ein und setzte sich mit den Burgundern erfolgreich auseinander. Das Ende brachte deren Umsiedelung nördlich Lyons. Die Harmonie zwischen Rieimer und Maiorianus war zeitlich begrenzt. Der Suebe strebte zwar nicht das höchste Amt an, suchte aber gleichwohl einen Weg unter einem Deckmantel das Land zu lenken. Schlau legte er Libius Severus, einer Marionette, den Purpur um.“
„Das funktionierte?“
„Anfangs, ja. Wir dürfen bei den Entwicklungen Ostrom nicht ausblenden. Von dort schauten die Herrscher mit Argusaugen auf den Westen. Die Herren wünschten sehnlichst, den eigenen Machtbereich auszudehnen. Zu jenem Zeitpunkt wurde in Konstantinopel Anicius Olybrius, der Ehemann der zweiten Tochter Valentinians III., gefördert. Rieimer sah durch ihn große Gefahr für sein Konstrukt und opferte seine Marionette, Libius Severus. Man spricht von Gift. Pech für Olybrius, dass der Ostkaiser Markian, sein Gönner, starb. Ihm folgte Kaiser Leo, der den Griechen Anthemius vorzog, und mit Zustimmung Rieimers auf den Thron Westroms platzierte. Das erzürnte Geiserich und führte zu einer Auseinandersetzung zwischen Vandalen und Ostrom.“
„Verstehe ich nicht“, sagte ich ein wenig ungeduldig.
„Olybrius war mit Hunerichs Ehefrau Eudocia verschwägert.“
„Himmel, diese Verquickungen!“, rief ich aus, nun endgültig verwirrt. „Bitte überfordere mich nicht!“
„Das Folgende ist banal. Nach der Auseinandersetzung Leos mit Geiserich wurde Anthemius aufgegeben. Für Rieimer hatte das weitere bittere Folgen. Er, der immer um eine Führungsrolle kämpfte, musste zu Gunsten der Vandalen Sardinien und Sizilien aufgeben. Unter diesem ganzen Wirrwarr explodierten die Kräfte der Anarchie. Zwar wurde durch das Zutun des Ostens Iulius Nepos zum Herrscher ausgerufen, doch was sollte er tun? Keine Armee stand ihm zur Verfügung. Die germanischen Völker begannen, den Kuchen endgültig unter sich aufzuteilen. Orestes, ich sehe ihn als arm- und beinlosen Feldherrn des Kaisers, er verjagte Nepos und rief in seiner Verzweiflung den letzten der weströmischen Kaiser aus: Romulus.“
„So steht dieser Name am Anfang und Ende Roms?“
„Das Reich mag untergehen“, flüsterte Fairra. „Falls sich aber in einem christlichen Gallien Römer und Barbaren fänden, kann die römische Kultur wieder erwachen. Ich hörte diese Worte aus dem Munde eines weisen Mannes, Apollinaris Sidonius.“
„So mag es sein“, versuchte Olam seinen Bericht zu beenden. „Als ‚Augustulus‘ wurde Romulus verspottet. Er stand hilflos allein in der Welt.“
„Wurde er bereits getötet oder passiert das der Tage?“, warf ich sarkastisch ein.
„Er fand ein frühes, aber ehrenvolles Ende. Mit ihm ist Westrom erloschen.
„Das ist unvorstellbar. Einfach so? Das einst so gigantische Rom?“
„Das ist die Realität. Odoaker, niemand vermag zu wissen, ob er germanischer oder hunnischer Abstammung war, sein Name stand für den Neubeginn. Er lenkte die letzte römische Armee. Das war so gut wie nichts, jedoch mehr als alles andere. So befand er über den sinnlos gewordenen Senat, gar über Italien. Das alte Reich lag ihm am Herzen. So holte er sich die Zustimmung des Senats, Romulus aufs Altenteil zu setzen. Im wunderschönen Golf von Neapel erhielt dieser ein Anwesen.“
„Abgeschoben. Und dieser Odoaker regierte? War er nicht, wenn er vom Senat unterstützt wurde, ein weiterer Kaiser?“
„Er war schlau, sich das nicht anzumaßen. Es gab eine Macht, die er fürchtete, Ostrom, das zwischenzeitlich von Zenon gelenkt wurde. Odoaker wollte sich als Souverän des Reiches, zum Patrizius mit Oberbefehlsgewalt nominieren lassen. Zenon versagte es ihm.“
„Zenon hatte etwas anderes im Sinn!“, mischte sich Fairra ein. „Er förderte einen Mann aus den eigenen Reihen, keinen Römer, Amalier aus adligem Geschlecht, einen Greutung: Theoderich.“
„Theoderich der Ostgotenkönig lebt?“, entfuhr es mir.
Olam lachte. „Ein Spießgeselle von dir?“, lästerte er.
Ich erinnerte mich an einen Ausflug mit meinen Eltern, der uns nach Ravenna geführt hatte. Damals war ich über das Dach seines Grabmals fasziniert. Mir wurde erklärt, es wäre aus einem einzelnen Stein geschlagen. Mehrmals umrundete ich das Mausoleum und fand keinen Bruch.
„Er lebt.“ Fairra bestätigte meinen Einwurf auf unheimliche Weise und wies gleichzeitig Olam an, mit der Erzählung fortzufahren.
„Wo waren wir steckengeblieben?“, suchte Olam den Anschluss. „Theoderich. Zenon. Du kennst Zenon?“
„Eben sagtest du, der wäre Kaiser im Osten.“
„Stimmt, ja. Zenon der Isaurier.“
„Isaurier, hört sich grausam an.“
„Meinst du? Die Isaurier sind ein uralter Volksstamm, der am Fuße des Taurusgebirges einst ein zwielichtiges Dasein führte. Räuber, Sklavenhändler …“
„Nun Augustus. Dieser Zenon baute Theoderich gegen Odoaker auf.“
„Gezielt. Theoderich durchbrach die gesicherten Alpenpässe und drängte die Truppen Odoakers bis zum Isonzo zurück. Mailand und Pavia nahm er in Beschlag, bis ihn der Skire mit Hilfe der Burgunder unter Druck brachte und in Pavia stellte. Es waren letztendlich die Visigoten, die Theoderich erfolgreich an die Seite traten.“
„Terwingen und Greutungen gemeinsam“, entglitt mir.
„Visigoten und Ostrogoten. Du sagst es. Sieben Jahre ist es her, als der Ostrogotenkönig seine Machtstellung durch eine endgültige Schlacht sicherte.“
„Wir wollen den nächsten Punkt überspringen. Manuel ist da empfindlich“, warf Fairra ein.
Olam nickte und schwieg.
„Ihr überspringt eine brutale Schandtat?“, erriet ich.
„Das ist untertrieben. Theoderich lockte Odoaker in eine Falle und halbierte ihn mit seinem Schwert. Am Ende stand nur der Kommentar, der Skire wäre ein Mann ohne Knochen gewesen.“
„Wisst ihr, ich bin zwischenzeitlich auf alles vorbereitet.“
„Nein, Manuel.“ Fairra nahm mich ins Visier. „Das bist du nicht und du wirst es niemals sein. Genau sehe ich, was in dir vorgeht. Odoaker wollte das Beste für Rom, versuchte, auf seine Art, alles zum Guten zu wenden. Nur weil es einem weit entfernten Herrscher nicht passte, wurde in Italien nicht nur sein Blut vergossen. Tausende Menschen mussten mit ihm sterben. Mit Theoderich wurde ein Held geschaffen, der aus einem Gebräu von Willkür, Egoismus, Blutvergießen, Machtrausch gegoren war. Dieser Despot, von dem du gerade voller Achtung gesprochen hast, war so unnötig wie ein Kropf. Du spürst das alles und du leidest darunter, du bist entsetzt und verkapselst die Trauer in dir. Ich spüre es.“
„Wie überlegen ist Theoderich?“, flüsterte ich.
„Zur Stunde, neben dem Ostkaiser, der mächtigste Mensch überhaupt.“
Auch Olam wurde mit seinen Worten zurückhaltender. „Er ist nicht nur ein begabter Feldherr, er ist nicht minder ein exzellenter Taktiker. Kaum war Odoaker der Erde übergeben, hielt er um die Hand Audofledas an. Sie ist die Schwester Chlodwigs.“
„So ist der Franke sein Schwager?“
„Nicht nur das. Es wird gemunkelt, dass er seine Schwester Amalafrida mit dem derzeitigen Vandalenkönig Thrasamund verheiraten möchte. Seine Tochter Thiudigotho hat er vor drei Jahren mit dem Visigoten Alarich II. und ein weiteres Kind, Ariagne-Ostrogotho, mit Gundobald dem Burgunderkönig vermählt. Bald werden trotz bestehender Rivalitäten alle germanischen Großreiche enge verwandtschaftliche Beziehungen unterhalten, die einen Austausch auf oberster Ebene erleichtern.“
„Ariagne-Ostrogotho? Sie heißt wirklich so?“ An die bunten Namen hatte ich mich längst gewöhnt, der fiel mir aber besonders auf, so ungewöhnlich war er.
„Streng genommen lediglich Ariagne. Da Zenons Frau ebenso hieß, hat man das Ostrogotho zur Unterscheidung angefügt. Von vielen wird sie nur Ostrogotho gerufen“, erklärte Fairra.
„Wir wollen es bei dem für heute belassen“, entschied Olam. „Du bist auf dem Laufenden, zumindest was das politische Geflecht im Westen angeht.“
„Danke, Olam.“ Damit machte ich ebenfalls einen Punkt unter das Thema. „Was ist mit Weilai, mit Muck? Zugegeben, über sie etwas zu erfahren, brennt mich weit mehr. Ich habe euch getroffen. Gehören wir nicht alle zusammen?“
„Wir können dazu nichts sagen“, wehrte Fairra ab. „Unsere Feinde sind übermächtig. Sie kooperieren mit den dunkelsten Mächten. Das Band, das Keylam wob, konnten sie sprengen. Selbst die Energien der Nornen versagen vor dem Bösen.“
„Keylam ist tot.“
Meine erbarmungslose Nachricht traf die beiden Freunde knallhart. Jede Einzelheit saugten sie mir aus der Erinnerung. Fassungslos starrten wir uns am Ende lange an. Fairra war noch blasser als sonst.
„Es ändert nichts. Wir müssen vorwärts denken.“ Mit dieser Bemerkung vergrub sich Olam in den Fellen.
„Das Schwert Chlodwigs.“ Fairra hauchte die wenigen Silben abwesend. Mich schauderte.
Lange dauerte es an, bis wir in den Schlaf fanden. Das Einzige, was mir an jenem Abend Mut machte, war der Gedanke, jeden weiteren Tag einen Hauch näher an die Gegenwart zu kommen.
Katerstimmung am Morgen. Nächtlicher Schneefall war in Regen übergegangen. Von der Wolle, in die ich mich eingewickelt hatte, trennte ich mich schweren Herzens.
„Was steht an?“, fragte ich energielos.
„Wir gehen nach Civitas Remorum.“
„Könnt ihr machen.“ Ich verwarf den Vorschlag und griff zu den wärmenden Fellen.
Ein fragender Blick Olams auf Fairra. „Wir verschieben auf morgen“, entschied sie. Ich hätte ihr um den Hals fallen können.
Tags darauf kam Remorum zur Sprache. Ich war überrascht. Meine Freunde hatten in weiser Voraussicht ein raffiniertes Netzwerk gesponnen. Üblicherweise tapsten wir wie Naivlinge in unbekannte Städte. Dem war an diesem Morgen nicht so.
„Wir sind in der Unterkunft Gallo d‘Oro eingebucht“, rief Olam dem Kutscher zu, der in unzähligen Decken eingemummt auf seinem Kutschbock uns verständig zunickte.
„Werden es aber nie beziehen“, erklärte mir Fairra weiterhin vertraulich.
„Eine Finte Fairras“, weihte Olam mich ein, „dieses Unternehmen soll eines der gefährlichsten sein, das wir bisher hinter uns gebracht haben. Ich kann’s mir nicht vorstellen.“
„Ob brenzlig oder nicht“, ergänzte Fairra, „das Allentscheidende ist, es muss glücken.“
„Aus diesem ersten Schritt schließe ich, unsere Namen kursieren in einem Gebäude, in dem wir nie sein werden? Ist es so geplant?“, zog ich meine Schlüsse.
„Du hast es erraten. Fairra hat sich Pseudonyme überlegt. Wir werden als ziehende Handwerker unscheinbar untertauchen.“
„Was haben wir in Remorum vor?“
„Du weißt doch, wir müssen an das Schwert kommen.“
„In Remorum? Nicht in der Hauptstadt Suessionum, in der sich Chlodwig aufhalten müsste?“
Fairra lächelte. „In Remorum, der Bischofssitz. Der fromme Mann wird die Waffe weihen.“
„Ein Schwert?“ Mein Einwurf klang zynisch.
„Warte ab.“
Sie brach die Unterhaltung ab, da der Kutscher zu uns zurückschaute. Hören konnte er unser Getuschel kaum, da
die Hufschläge der Braunen und das metallene Räderwerk ein Mithören verhinderte.
„Wie werde ich heißen?“, nahm ich wieder das Wort auf.
Fairra grinste mich an. „Hornfex. Du gehst zu einem Kammmacher in die Lehre.“
„Das ist nicht dein Ernst.“
Ein herzliches Lachen ließ alles als Scherz erscheinen.
„Olam wird zu Rhinero. Es wird ein Elfenbeinschnitzer gesucht.“
„Manuel, die spinnt. Vom Schnitzen habe ich keinen blassen Dunst.“
„Den brauchst du auch nicht. Wir haben alle Lieferungen von frischem Bein blockiert. Es ist derzeit ohnehin ein großes Problem, an die weiße Ware zu kommen. Um euch Klarheit über die Situation zu verschaffen, die Werkstätten des Kammmachers und eines Schreiners sind Tür an Tür. Der Schreiner nützt seine Produktionsstätte gemeinsam mit einem Beindreher, da sie dasselbe Handwerkszeug benötigen. Ist nicht unüblich. Der alte Schnitzer ist verstorben und daher liegt die Herstellung brach.“
„Das kann heiter werden“, stellte Olam fest.
Holprige Straßen. Ausschließlich die alten Römerverbindungen. Teile der Via Agrippa. Remorum war in eine Stadtmauer eingebunden. Die Überfälle der Franken in die einst römische Stadt, der Durchmarsch der Vandalen und bald darauf die Verwüstungen durch die Hunnen, hatten bittere Spuren hinterlassen. Die Ängste der Stadtbevölkerung prägten die Entwicklung der Stadt. Remorum, der Sage entsprechend eine Gründung des Romulus’ Bruders Remus und somit eine unscheinbare Schwester Roms, hatte das Glück, Sitz eines Bischofs zu sein. Er, Nicasus, ließ auf den verwilderten Resten des verwaisten Römerbades eine stattliche Kirche erbauen, an der wir vorbeifuhren. Er selbst hatte beim Hunnensturm sein Leben gelassen.
„Remigius, heißt der aktuelle Bischof“, ergriff Fairra das Wort.
„Ist er wichtig für uns?“
„Denke schon. Entlasse uns hier“, forderte Fairra den Kutscher auf.
„Es ist noch ein ordentliches Stück bis zum Gallo d‘Oro“, wunderte er sich.
„Ist mir bekannt. Wir haben uns für einige Besorgungen entschieden. Die Gassen sind eng, das Gespann hilft uns in dem Gewinkel nicht weiter.“
Zufrieden schob unser Fahrer die Münzen, die ihm Fairra zusteckte in die Tasche, und fuhr seines Wegs.
Das Viertel, in das wir untertauchten, prägte kleine Läden und Handwerksstuben. Ein Schmied schlug Eisen und schaute auf. Er erkannt sofort, dass mit uns kein Geschäft zu machen war, und widmete sich gleich wieder seinem Werk.
Wir wanderten durch eine typisch römisch-gallische Stadt. Reste römischer Bauten, die ihren Glanz verloren hatten, berührten mein sentimentales Gemüt. Die neueren Steinhäuser waren vielfach mit Holz aufgestockt.
Nüchterne Anwesen mit geflochtenen Wänden drängten sich zwischen sie. Die Gasse, durch die wir gezwungenermaßen gehen mussten, war vom Regen aufgeschwemmt. Mit Sprüngen halfen wir uns über die größten Pfützen.
Corius war Römer keltischer Abstammung. Er nahm mich herzlich auf. „Du kennst dich in der Fertigung von Kämmen aus?“, wollte er schließlich wissen.
„Kaum“, versicherte ich ehrlich und erhoffte etwas Mitgefühl.
„Ich will dir’s beibringen“, war die gelassene Antwort.
Olam ging es im Gegensatz dazu lausiger. Der Schreiner hatte ihn ungeduldig erwartet. Ein hoher Herr wäre hier gewesen und hätte nach dem Beinschnitzer gefragt. Für den König wären kunstvolle Dinge zu schaffen. Sobald der Fremde eingetroffen wäre, verlangte der Herr, benachrichtigt zu werden.
Ein Knabe wurde dementsprechend zeitnah abgesandt. Olam, der immer keck und mutig war, wurde für einen Moment blass.
„Wo haben wir hier Elfenbein?“, war der erste Notnagel, an den er sich zu hängen suchte.
„Remigius hat zuverlässige Quellen. Sei unbesorgt. Du wirst reichhaltig mit Rohstoffen versorgt werden.“
Fairra belustigte die Situation. Ein schelmischer Blick mir gegenüber, eine kurze Entschuldigung und weg war sie.
Fakt war, die römische Herrschaft hatte abgedankt und das Volk der Franken war am Ruder. Was änderte sich dadurch? Die ursprünglich keltische Bevölkerung war längst römisch geworden und behielt diese Prägung bei. Die Machtübernahme der Franken berührte sie wenig, das Leben ging unverändert weiter.
Dennoch gab es einen kritischen Punkt. Der größte Teil der Einwohner waren Christen. Chlodwig, der Franke, steckte im Gewand des Heidentums. Soweit germanische Herrscher den Weg zu Christus fanden, war ihnen die arianische Glaubensrichtung nahe, hingen vorsorglich aber ebenso ihren Gottheiten nach.
Der Angst, sich den Zorn dieser Allmächtigen zuzuziehen, wurde mit allerlei Riten und abergläubischen Formen begegnet.
Corius setzte sich am folgenden Tag an den Tisch, nahm ein Stück Horn, das aus einem Hirschgeweih getrennt war, in die Hand und kratzte es mit einem Schabeisen ab. Er wies mich an, ihm gleichzutun. Schon die ersten Versuche waren brauchbar.
„Wird daraus ein Kamm?“
„Wir wollen sehen“, lächelte er.
Zugegeben, ich war wissbegierig, wie man aus diesem zähen Stück einen Gebrauchsgegenstand schaffen konnte. Gleich zu Beginn trat Corius’ Ehefrau ins Zimmer, die ich bis zu dem Zeitpunkt nicht gesehen hatte und mir bei der Gelegenheit vorgestellt wurde. Sie hatte ein barsches Auftreten und pflaumte ihren Ehemann giftig an. Er ertrug es gelassen und zog seelenruhig Längsrillen in das gesäuberte Tiergebein.
„Bitte entschuldige“, kam er nicht umhin seine bessere Hälfte in Schutz zu nehmen. „Chlodwig ist derzeit das gewichtige Thema.“
„Der König?“
„Er ist in aller Munde. Das große Fest wirft seine Schatten voraus. Hier in Remorum spinnt die Weiberwelt verrückt. Es werden hohe Gäste erwartet. Ich bin froh, wenn wieder Ruhe einkehrt.“
Ein stummes Nicken von mir. Meine Unwissenheit, entschied ich, nicht zur Schau zu stellen. Mit altkluger Miene signalisierte ich, über alles Bescheid zu wissen. Währenddessen hatte er den begonnenen Arbeitsschritt abgeschlossen. Entlang dem enthornten Geweihteil waren, sich gegenüberliegend, vier tiefe Furchen entstanden. Mit einem Metallstück unter vorsichtigem Druck spaltete er das Horn an den Stellen, so dass am Ende vier fast identische Teile auf dem Tisch lagen.
„Mach mir das Folgende nach.“ Corius legte eines der Stücke vor sich auf eine Ebene und walzte es mit einem Eisen platt.
Während ich tüchtig probierte, ihm gleichzutun, was nicht gelingen konnte, fragte ich mich, wie ich am Geschicktesten mehr von der Situation in der Stadt erfahren konnte. Ich versuchte, in meinem schlanken Geschichtswissen nach Chlodwig zu kramen. Merowinger, das Stichwort hatte ich sofort parat. Den Begriff ließ ich unscheinbar verpackt fallen.
„Du kennst seine Abstammung?“
„Kaum“, gab ich zu.
Corius lachte herzlich. „Es gibt eine üble Mär über die Entstehung dieser Sippe. Der Urvater Chlodio soll mit seiner Ehefrau geschwommen sein, als sie von einem Meereswesen Neptuns erfasst und begattet wurde. Der Sohn dieser göttlichen Verbindung wurde Merowech.“
„Wer kommt auf solche Dinge?“ Wieder einmal trugen mich meine Erinnerungen in die griechische Gedankenwelt, die stets Realität und Mythen zu einer Einheit verschmolzen.
„Realistischer ist sicher, dass Aëtius … Du kennst ihn?“
„Der römische Feldherr?“
„Genau der. Er siedelte Chlodio und dieses Geschlecht der salischen Franken in Tournai an. Der Enkel und somit Sohn Merowechs, Childerich, war umstritten. Angeblich machte er nicht davor halt, Mädchen nach willkürlichem Lustgebaren zu missbrauchen. Um Haaresbreite hätte ihn das eigene Volk erschlagen. Es gelang ihm mit knapper Not zu den Thüringern, einer kleinen Bevölkerung im Fernen Osten, zu entkommen. Seine Schwäche für Frauen wurde ihm auch dort Verhängnis, denn er ließ sich mit der Gattin des ansässigen Königs ein.“
„Ungeschickt.“
„Ohne Sinn und Verstand. Er kam zurück. Die Franken vergessen schnell. Vielleicht gaben sie ihm auch eine zweite Chance. Ihnen fehlte eine Führergestalt und eine solche steckte in ihm. Basina, des Thüringers Weib, folgte ihm und gebar Childerich einen Sohn: Chlodwig. Childerich war absolut romfreundlich. Es brachte ihm viele Vorteile. Es sind über eine Handvoll Sommer vergangen, seit er starb. Hast du sein Grab schon gesehen?“
„Ich kann mich nicht erinnern.“
„Er wurde in einem monströsen Hügel bei Tournai beigesetzt. Alle seine Pferde begleiteten ihn in die Ewigkeit.“
„Oh, nein. Chlodwig wurde sein Erbe?“
Mein Meister nickte bedächtig. Überrascht war ich, wie sich nebenbei unsere Teile zu flachen Plättchen geformt hatten. Corius griff nach ihnen, bohrte geschickt einige Löcher durch sie und vernietete sie. „Was ihn und seinen Vetter Ragnachar ritt, sich gegen Rom zu wenden, verstehe, wer will.“
„Was ist deine Meinung?“
„Es ist das Blut dieser Franken, die die Auseinandersetzung liebten und ein eigenes Reich unabhängig von einer fremden Übermacht sehen wollten. Ich war ein Kind, als in den Straßen und Gassen Remorums die Angst umging, Chlodwig wäre eingefallen. Der Aufruf versetzte alle in Panik. Wir fühlten uns zu dieser Zeit unter dem Feldherrn Syagrius sicher, der diese letzte römische Bastion umsichtig verwaltete.“
„Syagrius sagt mir nichts.“
„Es ist nicht einfach, sich in den Machenschaften der römischen Herrscher zurechtzufinden. Wen kümmern sie? Mir ist mein Handwerk lieb. Manches wird geredet. Angeblich übte der Ostkaiser erheblichen Druck auf die westlichen Cäsaren aus. Sie versagten. Sei es, wie es sein wolle. Syagrius war jedenfalls in den Ränkespielen mit eingebunden. Zu jener Zeit dominierte er der Rolle des Heerführers, der die letzten römischen Gebiete in Gallien beherrschte. Chlodwigs Angriff war er nicht gewachsen. Die Aufregung der Alten, die durch seinen Einfall ausgelöst wurde, übertrug sich schnell auf uns Kinder. Wurde unser Land nicht regelmäßig verwüstet, geplündert? Wie ein Lauffeuer überrollte uns die Schreckensbotschaft, Syagrius wäre in einer direkten Schlacht unterlegen und zu den Goten geflohen. Wir waren führerlos.“
„Bekam er Hilfe von ihnen?“
„Von Alarich dem Visigoten? Im Gegenteil. Alarich II. scheute die Auseinandersetzung mit Chlodwig. Er wusste, wie brandgefährlich dieser Kerl war, baute vor und lieferte den römischen Feldherrn aus. Chlodwig ließ ihn töten.“
Stille trat ein. Corius hatte währenddessen die dicht übereinanderliegenden Hornplatten mit einem Eisen derart bearbeitet, dass sie an Größe und Aussehen nahezu identisch waren. Die Nieten wurden gelöst.
„Wenn du meine Meinung wissen willst, Chlodwig stieg der Erfolg zu Kopf. Er verfiel in eine Verwüstungsorgie und wütete in unserem Land ohne Verstand und Hemmung. Was klage ich? Wir kannten nur das Leid.“
„Es gab keine Hoffnung?“, wollte ich wissen, da ich das nicht glauben wollte.
„In Remorum war das Licht zu Hause. Chlodwig tobte vor allem gegenüber den christlichen Kirchen, die er schamlos ausrauben ließ. Unsere Augen richteten sich daher auf einen Menschen, Bischof Remigius. Er verstand es, die verängstigten Seelen zu besänftigen. Entschlossen stellte er sich Chlodwig in den Weg. Mit Erfolg!“
„Was ein Feldherr nicht vermochte, das erreichte ein Geistlicher?“
„Mit Gottes Hilfe. Fürwahr.“
Skeptisch schaute ich Corius an.
„Du glaubst mir nicht. Zweifelst du an der Macht unseres allmächtigen Gottes?“
„Sicher nicht, doch kann ich mir kaum vorstellen, dass sich ein Despot wie dieser Chlodwig durch die Bitte eines Geistlichen beeinflussen lässt. Vermutlich hatte er Argumente in der Hand, die besser trafen als Geschütze.“
„Viele haben gehofft, dass Remigius seinen Herrn bittet, den Aggressor mit einem Blitz zu erschlagen.“
„Ihr seid mir eine fromme Gesellschaft“, lachte ich.
Corius griff zu weiteren kleinen Hornplättchen, die er zuvor schon vorbereitet hatte, klemmte sie zwischen zwei der hergestellten Hornteile und verniete dieses wieder kunstvoll. Mit einer feinen Säge ribbelte er Zähne in diese dünnen herausstehenden Plättchen und hübsch anzusehen, lag ein brauchbarer Kamm auf dem Tisch.
Das Bild, das ich während der Erzählungen gewonnen hatte, musste ich später nachbessern. Chlodwig war nicht nur ein gewissenloser, herrschsüchtiger Feldherr, sondern nicht weniger ein durchtriebener Kopf. Remigius verstand, ihn auf einer Ebene zu erreichen, die eine erfolgreiche Zukunft in Aussicht stellte. Das Netzwerk der christlichen Kirche war durch die Jahrhunderte zu einer gewaltigen Macht angewachsen. Während sich die weltlichen Despoten zerfleischten, wuchs durch jene im Westen eine neue Einheit. Remigius musste das ihm verdeutlicht haben, dass er es sich mit dieser Machtfülle nicht verscherzen durfte. Bedenkt man weiter, dass das westliche Rom am Ende angekommen war und die Gesamtheit der germanischen Herrscher arianisch geprägt war, so wird deutlich, wie dieses gewaltige christliche Netzwerk brach lag und nach einem Haupt dürstete, das an der Seite des Papstes die weltlichen Strukturen ordnete. Remigius bekam bei alledem durch einen eklatanten Fehlgriff einen weiteren Trumpf zugespielt. Die arianischen Könige bemerkten den Einfluss des Bischofs auf den Franken und entschieden diesen zu zerstören. So spielten sie Chlodwig die burgundische Königstochter als Ehefrau zu. Dieser Schachzug wurde zum Bumerang. Chrotichilde fühlte sich zum Christentum hingezogen. Dass sie und Remigius schnell gemeinsam auf den Herrscher einwirkten und ihm die Vorteile geschickt verkauften, war sonnenklar. Die Meinung Chlodwigs, dass Jesus eine schwache Persönlichkeit wäre, die nicht einmal vom Geschlecht der Götter abstammte, war sicher nicht mühelos zu widerlegen. Letztendlich war er selbst der Enkel Merowechs, eines Menschen, bei dessen Zeugung Neptun nicht nur die Finger im Spiel gehabt hatte. In Chlodwigs Adern floss folglich göttliches Blut.
Corius riss mich aus den Gedankengängen, indem er den fertigen Kamm präsentierte. Vor mir lagen weiterhin unangetastet zwei plattgewalzte Platten. Würde er von mir verlangen, das Werk nachzuahmen?
„Du darfst ihn benutzen“, schlug er ein persönlicheres Thema an und zeigte auf meinen verfilzten, restlos verwahrlosten Schopf. In dieser Mähne war kaum ein Durchkommen. Corius bereiteten die ersten Versuche, eine Linie in das Gewirr zu bekommen höchstes Vergnügen.
Olam fuhr wie ein aufgepeitschter Sturm in die Stube. „Hornfex … Entschuldige, lieber Corius … wir brauchen den Jungen dringend.“
„Schon gut“, gab mein Herr nickend bei. Was wollte er dem überstürzten Einfall des Freundes auch entgegenhalten? Eine unbegreifliche Bestürzung tobte in Olam. „Was ist los?“ Ich zerrte an seinem Hemd, als wir ins Freie traten.
„Fairra hat eine grauenvolle Botschaft.“ Mehr war aus ihm in der Hektik nicht herauszubekommen. Wenige Augenblicke später standen wir vor unserer Seherin, die, wider der Situation, gefasst und in sich gekehrt, einen mir nicht erkenntlichen Punkt fixierte.
„Du weißt doch“, brach es aus Olam heraus, „es waren Zimmer für uns vorbereitet, die wir nicht bezogen haben.“
„...ein Umstand, den ich bedauere“, unterbrach ich ihn.
„Was meinst du, was geschehen ist?“
Ich wagte keinen weiteren Einwurf.
„Sag du es ihm!“, rief er deprimiert Fairra an. Starr blieb sie in sich gekehrt.
„Die Gäste auf der Ebene, die für uns gebucht war, wurden allesamt getötet.“
Bestürzt schoss mir alles Erdenkliche durch den Kopf. Ich sah das Blutbad vor meinen Augen, die Dämonen, die sich mit bestialischster Wildheit gegen uns stemmten und einen Fehlschlag eingestehen mussten. „Was wird hier gespielt?“, flehte ich Fairra an.
Sie sah auf. „Es wird das Fest der Feste sein.“
„Von was sprichst du?“
„Bischof Remigius bereitet die Taufe Chlodwigs vor.“
Es dauerte einige Minuten, bis ich die gesamten Zusammenhänge begriffen hatte. Der Katholizismus ist eine der Quellen der Menschlichkeit. Die Entscheidung des führenden Königs, sich taufen zu lassen, musste äußerst schmerzhaft für die Dämonen sein.
Dass wir selbst bei all dem eine Rolle spielten, war erschütternd. Das Schlachtfest ging zweifelsohne auf das Konto unserer Existenz.
Worin bestanden ihre Ängste? Zermürbt und ratlos blieb ich mit meinen Reflexionen allein.
In der Folge sah ich, wie Utukzull seine Herden in den Kutten Gläubiger versteckte. Es war eine düstere Ahnung.
„Ich besorge eine Franziska. Das alles ist mir zu gefährlich.“ Olam riss mich mit dieser Entscheidung aus den Gedankengängen.
„Eine Freundin? Hier? Was soll das?“, zweifelte ich an seinem Verstand.
„Wie? Wer?“
„Die Franziska?“
„Sie kann eine Lebensretterin sein. Du weißt nicht, für was sie taugt? Stimmt’s?“ Ein leichter Vorwurf war herauszuhören.
„Er spricht von der Streitaxt der Franken. Sie trägt die Schärfe an beiden Seiten“, erklärte Fairra mir.
„Ich bin dafür, dass wir uns einschließen“, hielt ich dagegen.
„Das wird zunächst der bessere Weg sein“, bestätigte Fairra. „Ihr geht unverändert euren Geschäften nach und ich halte Ausschau. Auf Enethas Ruf verabschiedet ihr euch.“
Enetha? Sie sprach von meiner Eule? Mich wunderte nichts mehr. Berührt stimmte ich zu.
„Sigismund, man nennt ihn den Lahmen, wird die nächsten Tage eintreffen“, erklärte Fairra weiter. „Vorboten bemühen sich um seine Unterkunft.“
„Ist das von Bedeutung?“, fragte ich verunsichert.
„Sigismund ist der König der ripuarischen, der rheinischen Franken. Sein Verhältnis zu Chlodwig sehe ich kritisch. Sie bekämpften zwar vor einigen Monden gemeinsam die Alamannen, da diese in ihre Reiche eingefallen waren, wehrten sie auch in einer großen Schlacht erfolgreich ab, dennoch spüre ich derzeit Missstimmungen, die zu Spannungen führen können.“
„Ein Lahmer kämpfte gegen die großmächtigen Alamannen?“
„Die Verletzung zog er sich bei einem der Gefechte zu. Lange stand es bei den Auseinandersetzungen auf Messers Schneide. Erst in Tolbiacum obsiegten die Franken.“
Warum Fairra auf Sigismund eingegangen war, blieb verschleiert. Später sollte es mir dazu dämmern. Schonungslos formte sich ein Gewebe von historischer Bedeutung.
Wie knapp wir doch dem Tod entgangen waren. Durch die darauffolgende Nacht quälte ich mich schweißgebadet hindurch. Das Leben unschuldiger Menschen ging mitunter auf unsere Rechnung. Nie lernte ich, damit umzugehen. Mir war zum Speien. Alle Ereignisse drehten sich wie ein Strudel in meinem Kopf, das angedachte Fest, das Schwert, das wir stehlen wollten, der Bischof, der sich gegenüber einem autoritären Despoten behauptete, die Königin, die als überzeugte Christin die Weltentwicklung entscheidend beeinflussen würde. Welche Hand vermochte, dies alles zu bündeln? Und immer wieder fand sich dazwischen die Sorge um die vielen Freunde, die womöglich längst nicht mehr lebten. Weilai, Chen Lu, Seraphin, Muck, Nick, meine Tochter Atid.
Am darauffolgenden Morgen erhob ich mich übernächtigt. Was half es? Es gab nur einen Weg, den durch diese Hölle. Augen zu und weiter … der Gegenwart entgegen.
Mein erster Weg führte mich zu Olam. Mir lag an der Gesellschaft eines Freundes. Pflichtbewusst hielt er sich in seiner Werkstatt auf. Es war ein sonderbares Bild. Einerseits war dort der Schreiner, der reichlich mit Arbeit versorgt, seine Aufträge abarbeitete.
Olam saß auf einem Tisch und drehte Däumchen. Dem Kollegen passte das nicht. Missmutig schaute er regelmäßig zu ihm auf. Einst hatte er diese Wirkungsstätte mit einem ebenfalls rührigen Handwerker geteilt. Bei den Plünderungen durch Chlodwigs Krieger war der Beindreher, wie so manch anderer ehrlicher Bürger, ums Leben gekommen. Der Alte hasste Chlodwig, er verabscheute die Franken, er war grundsätzlich ein gefrusteter Kerl. Olam rechtfertigte sich mit der lapidaren Begründung, Elfenbein würde angeliefert und dann schlüge seine Stunde. Einstweilen müsse er eben warten. Auf den Vorwurf, Beindreher verarbeiteten ebenso Hirsch- und andere Tierknochen, setzte Olam entgegen, so weit würde er sich nie herabwürdigen lassen.
Um es vorwegzunehmen, es war nicht Olams Tag. Während wir belanglose Sätze tauschten, wurde die Tür aufgerissen, einige Herren fragten nach dem Beinschnitzer.
„Er!“ Der Tischler deutete auf meinen Freund.
„Ich, ja, meinetwegen. Mit was kann ich zu Diensten sein?“
„Wir werden von seiner Geistlichkeit Remigius selbst geschickt. Zur Taufe des hohen Herrn hat er entschieden, Chlodwig ein kunstvolles Kreuz zu vererben. Es hat eine filigrane Elfenbeinarbeit zu sein.“
„Es ist eine Ehre für mich, diesem Wunsch nachzukommen. Mir schwebt längst ein Werk vor, das alles Dagewesene übertrifft und die Christenheit zu Verblüffung führen wird“, vergaß sich Olam einmal wieder. „Wobei, es gibt eine Not, das mir gefragtem Beinschnitzer zu schaffen macht. Es ist kein Elfenbein zu bekommen. Seit die germanischen Herren in dem ehemaligen Römischen Reich dominieren …“
„Mach dir keine Sorgen deretwegen“, wurde mein Freund unterbrochen. Der etwas beleibte Herr in mittlerem Alter, der Nase nach war er dem Wein nicht abgetan, ließ auf einen Wink einen vollständigen Elefantenzahn hereintragen. Er wurde vor Olam auf den Tisch gelegt.
Meinem Freund entglitt kurz die Kinnlade. Schnell gewann er die Fassung zurück. „Nicht das beste Material. Das Tier hat zu trockenes Grünzeug gefressen. Da werde ich allein in der Lage sein, etwas Rechtes daraus zu wirken.“
„Sieben Tage verbleiben dir. Was verlangst du als Lohn?“
„Ich, Lohn? Es ist eine Ehre für mich, dem hohen Herrn …“
„Was verlangst du!“, wurde er jäh unterbrochen.
„Kurz gesagt, es mangelt mir an nichts, abgesehen vom Elfenbein. Du glaubst nicht, wie mich die wartenden Aufträge plagen, die ich nicht beginnen kann. Der Gratzstock für Phäresun, die Kette für Alwina, Algrostas Fibel, der Hosenknopf …“
„Schon gut. Du bekommst das Bein. Die Mühe soll nicht zu deinem Schaden sein.“
Die Auftraggeber waren mit der Ansage zufrieden und zogen mit kurzem Gruß wieder ab.
„Wie willst du das machen?“, wisperte ich ihm zu.
„Keine Ahnung, wie so ein Gedrechsel geht. In der Ferne bin ich gerne.“
„Fairra meint, wir sind hier am sichersten.“
„Waren, mein Freund, waren. Wir reden draußen weiter, der Alte irritiert mich.“
Geschwind wechselten wir die Stuben.
„Einverstanden“, kam ich auf das angesprochene Thema zurück. „Wir schauen uns nach einer neuen Bleibe um.
„Es wird schwierig werden, Fairra zu überzeugen. Vergiss die Sache mit dem Schwert nicht.“
„Zugegeben, ich verstehe es nicht. Erkläre mir bitte, was hat es mit dem Stahl auf sich?“
„Frage das Fairra. Sie drängt nach der Waffe.“
„Dann soll sie ausfindig machen, wo sie liegt, wir brechen dort ein und danach nichts wie weg.“
„Das war auch mein Vorschlag.“
„...und ihre Antwort?“
„Eine naive Grimasse und Gefasel von Unverständlichem. Eines wurde klar, das Schwert gibt es noch nicht. Es wird wohl gerade hergestellt.“
„Dann müssen wir die Werkstatt finden!“
„Was meinst du, was sie die ganze Zeit treibt? Bislang wurde sie nicht fündig. Ihre neue Vermutung ist, dass es fertig ist, versteckt wurde und bei Remigius oder Chrodechilde auf den Tag der Übergabe wartet. Dann spricht Fairra wieder von einer Wehr, die längst im Einsatz wäre. Unsere Seherin tappst in herbstlicher Nebelstimmung umher.“
„Warum ist sie so auf die Waffe fixiert?“
„Lass die Fragerei. Kein Mensch versteht, dass wir immer wieder ihren seherischen Ahnungen unterliegen.“
Olam versuchte unaufhörlich, Fairra zu einem Ortswechsel zu ermutigen. Sie blieb verärgert stur. Wie schwierig es für sie war, sichere Unterkünfte zu finden, wurde bei einer hartnäckigen Diskussion deutlich. Unser Freund hatte keine Ahnung, wie er aus einem Elfenbeinstück irgendein Gebilde herausbrächte. Bei alledem wurde er von seinem Schreiner pausenlos arglistig ins Visier genommen. Mit Bestimmtheit ahnte er die Unfähigkeit des armen Kerls, dessen Zunge sich, was seine Fertigkeiten betraf, zu weit in die Freiheit gewagt hatte.
Eine bittere Erkenntnis stimmte unsere Seherin um.
„Ich habe ihr in die Augen gesehen, wir müssen weg“, entschied sie unerwartet. Sie sprach von der Ehefrau meines Kammmachers. „Sie wird vom Argwohn zernagt. Ich beobachtete, wie Männer ihr eine Geldsumme zuschoben. Es mag nichts bedeuten, doch dürfen wir kein Risiko eingehen.“