Quintus Zickel und die Trollfrau - Claus Bisle - E-Book

Quintus Zickel und die Trollfrau E-Book

Claus Bisle

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Beschreibung

Die Zauberwelt der Schwebewesen öffnet ständig neue Türen. Welches unheimliche Wissen hält Quintus noch versteckt? Die Jugendlichen Simon und Julia werden zum Abschluss ihres gewaltigen Abenteuers von einem Feuerwerk von Erlebnissen überrascht. Die Erlebnisse in dieser magischen Zwischenwelt werden unvergesslich bleiben.

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In Erinnerung

an den schönen Urlaub am Nordfjord

meiner Tochter Verena

gewidmet

INHALTSVERZEICHNIS

Ein missglückter Beginn

Paukenschlag in Bretun

Rätsel um die Trollfrau

Der Wald der Geheimnisse

Das Unheil naht

In der Höhle des Teufels

Rückwege

Die Felsenburg im Visier

Die Schlacht der Mönche

Der Fluch des Reinhard Hagemann

EIN MISSGLÜCKTER BEGINN

„Wir treffen uns in fünf Minuten in unserer Kajüte“, forderte Quintus Zickel seine Freunde wie selbstverständlich auf und schon ging er durch eine Tür wieder ins Innere der Fähre, die die Gruppe über den Skagerrak nach Oslo brachte.

„Hat er eine Kajüte?“, wunderte sich Jonas.

„Habe ich richtig gehört, Quintus will ein Zimmer gebucht haben?“ Harald verstand den Satz genauso wenig.

Dora mischte sich ein: „Ich kann mir zudem nicht vorstellen, was es noch zu besprechen gäbe. Es ist alles gesagt. Wir suchen in Oslo eine Bleibe und organisieren uns von dort aus.“

„Wahrscheinlich hat er schon von einem Hotel erfahren. Vielleicht will er die Zimmer verteilen?“, hoffte Magdalena, die das Gespräch nur zur Hälfte mitbekommen hatte.

„Quintus? Die Zimmer verteilen?“ Simon runzelte zweifelnd die Stirn. „Lassen wir uns überraschen.”

Die Mädchen Radboda und Julia, die ebenfalls mit den anderen auf dem Deck des Dampfers standen und die flink fliegenden Möwen mit Brotkrümeln fütterten, schauten sich fragend an und folgten den anderen ins Innere des Schiffs.

Wo konnte Quintus sein? Alle Freunde standen in dem engen Flur: Die Schulfreunde Radboda, Julia, Jonas und Simon, deren großes Abenteuer noch längst kein Ende gefunden hatte, die besorgten Mütter Dora Hagemann und Magdalena Weingärtner, das einstige Zimmermädchen der Hagemanns, Nanetta, Simons Vater und einstiger Lehrer Harald Hartmann, sowie der Arzt Johannes Strebach. Einer fehlte. Wo wollte Quintus die kleine Versammlung einberufen? Die Gruppe entschied sich, auszuschwärmen. Quintus konnte nicht weit sein. Schnell spürten sie ihn auf.

„Entschuldigt bitte, gerade ist mir eingefallen, dass ich gar keine Kajüte habe. Ich hatte eine auf einer anderen Fahrt. Ich muss euch erklären, wie froh ihr darüber sein könnt: Sie war verdammt klein. Wir hätten darin nie alle Platz gefunden.“

„Quintus, was willst du mit uns besprechen? Wir haben jedes Detail durchgespielt.”

„Ja, mein Junge“, entgegnete er Simon. „Das fiel mir als Weiteres ein. Also trennen wir uns wieder. Zusammenzustehen ist zu auffällig.”

„Wem sollten wir auffallen? Wollte Reinhard Hagemann mit seiner dunklen Gesellschaft nicht mit dem Flugzeug in den Norden?“ Johannes Strebach half Quintus‘ Erinnerung nach. „Wir sind auf dieser Fähre unter uns.“

„Stimmt! Er sprach von einem Flughafen!”

Harald schaute auf sein Handy, auf dem gerade eine Nachricht aufblinkte. „Es ist trotzdem gut, dass wir alle versammelt sind. Franziskus schreibt, dass wir in Oslo vor das Rathaus kommen sollen. Dort wartet einer seiner Glaubensbrüder auf uns. Die Unterkünfte sind organisiert.“

„Glaubensbrüder? Ich gehe nur ungern in ein Kloster.“ Simon erinnerte sich an bitterböse Erfahrungen. Er war im letzten Kloster, das er betreten hatte, niedergeschlagen und entführt worden.

„Ich weiß nicht, ob es in Skandinavien Klöster gibt. Lassen wir uns überraschen.”

Nach diesem kleinen Zwischenspiel löste sich die Gruppe nach und nach wieder auf. Die Frauen besorgten Kleinigkeiten im beengten Duty-free-Shop an Bord, Johannes und Hartmann verfielen in eine Diskussion über die Salzmorphlinge, mit denen die Wasserlinge über der See spielten. Die Kinder zog es an die Reling. Sie hielten nach vorbeifahrenden Schiffen Ausschau.

Jonas und Radboda hatten sich auf unterschiedliche Weise in die Welt der Schwebewesen eingelebt. Während Radi eine neue Wissenschaft erkannte, die es zu erobern galt, fürchtete Jonas sich vor den unzähligen Gefahren, die er überall um sich herum erkannte. Er ging vor jedem Granitmorphling in Deckung, da er überzeugt war, er könnte von so einem blau funkelnden Splitter erschlagen werden. Straßen mied er, da er Räucherlinge als hochgiftig erkannte. Die Freunde begriffen seine Furcht erst, als sie ihn mit Stelzen durch eine Gasse laufen sahen. Seine Nase konnte er so geschickt über den hässlichen Wesen hinwegtragen.

Harald gab sich viel Mühe, um ihm klarzumachen, dass sich auf der Welt nichts verändert hatte. Er könnte wie bisher atmen, nichts wäre gefährlicher oder unzuträglicher geworden.

Quintus wählte die psychologische Variante, um dem Jungen den Schritt in die neue Welt leichter zu machen: Menschen bräuchten den Duft von den überall verbreiteten Auspuffräucherlingen. Sie würden sonst ein Lebensalter von durchschnittlich 267 Jahren erreichen und wer wollte das schon? Man sähe dann wie ein Baum aus, die Arme und Beine fielen einem ab, der Körper verkorkte, nach dem halben Lebensalter bildeten sich in der Haut rindenähnliche Buchten, in denen sich gruselige Käfer und Ameisen aufhielten. Für ihn selbst käme das nicht infrage.

Nach wenigen Tagen war auch Jonas so weit, dass er die Schönheit der Kreaturen genießen konnte. An der Reling zu stehen und die Flatterlinge der Möwen zu bewundern, die in tausendfacher Anzahl den Vögeln nachzukommen versuchten, war bezaubernd. Wie hauchfeine Schleier, die sich ständig teilten und in unfassbaren Faltenwurfvarianten fanden, schwebten sie durch die Luft. Die Jugendlichen konnten sich nicht satt sehen.

„Land in Sicht!” Jonas war der Erste, der die anderen auf die auftauchenden Inselfetzen aufmerksam machte. Und wirklich, schon näherten sie sich der Scherenküste und passierten die Zufahrt zu Norwegens Hauptstadt. Der Holmenkol mit der mächtigen Skischanze begrüßte sie als erstes Wahrzeichen.

„Harald sagte, Treffpunkt ist das Rathaus. Das muss der große Backsteinhaufen sein“, warf Simon ein und zeigte es allen auf seinem iPhone. Er erntete Zustimmung.

„Man sieht es bereits“, warf Harald ein und ergänzte mit einem humorvollen Unterton: „Bitte passt mir auf Quintus auf, damit er uns auf dem Weg dorthin nicht verloren geht.”

Der Freund protestierte vehement: „Ich bin immer an rechter Stelle! Jeder ist immer an der rechten Stelle!”

„Das ist mir zu viel Philosophie“, würgte Radboda den Disput ab. „Solange wir nicht durch den Zoll sind, sehe ich ohnehin keine Gefahr.”

Es folgte der übliche Ablauf: Das Boot legte an und der Zoll übernahm die offizielle Begrüßung der Gäste, indem er die Einreisenden sehr persönlich in Augenschein nahm.

Norwegischer Boden! Es war ein tolles Gefühl. Außer Harald - und wahrscheinlich auch Quintus - war noch keiner in dem nordischen Land gewesen. Elche, Rentiere, Mitternachtssonne, lange Tage und kaum Nächte, das waren Dinge, die man mit Norwegen in Verbindung brachte. Die Neugier darauf, in welcher Behausung man in Oslo landen würde, war groß.

„Nein, bitte nicht!” Noch bevor die Freunde sich umsehen konnten, machte sich Quintus bereits in die andere Richtung davon.

„Der hat echt nicht alle!“ Radboda schaute ihm entsetzt nach. „Für den brauchen wir eine eigene Leibgarde oder, noch besser, wir binden ihn mit Handschellen an Harald fest.”

Harald nahm es gelassen. „Du hast doch gehört, was er sagte: Dort, wo man ist, ist es immer der rechte Ort.”

„Und wie soll man da planen? Das ist doch völliger Blödsinn!” Radbodas Aufregung interessierte keinen der Reisenden.

„Begleitet mich jemand?” Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte Harald dem Freund.

Julia zögerte kurz und entschied sich dann, ihm nachzueilen.

Quintus untersuchte bereits das Wenige, das es am Ufer zu entdecken gab. Im Gegensatz zu den Kais im Süden machte alles einen sterilen Eindruck. Die sprichwörtliche nordische Reinlichkeit schien Programm zu sein.

„Bei Quintus musst du auf alles gefasst sein“, sagte Julia. „Als ich mit ihm das erste Mal an einem Kai entlangstrich, sahen wir in einem Verkaufsstand eine Karte von Slowenien. Der Name des Ort Piran stach mir ins Auge. Er hatte zuvor immer von Piraten gesprochen, doch Piran war die Lösung. Da war uns beiden klar, dass wir dorthin mussten.”

„Ja, so ist Quintus. Wenn er sagt, es ist immer richtig, wo man ist, so ist das kein Gerede. Es ist eine weise Erkenntnis, die nur ein Mensch mit unergründlichen Sinnen fühlen kann - also Quintus.”

Harald stutzte. Julias Worte gingen ihm durch den Kopf. „Entschuldige, Julia. Sagte er nicht, Hagemann wolle so lange nach Norwegen gehen, bis alle wieder gesund sind?”

„Ja, so habe ich es auch in Erinnerung.”

„Verdammt. Schau dir dieses Schiff an, vor dem er steht. Was fällt dir auf?”

„Ich weiß nicht so recht. Was soll mir auffallen?”

„Sieh doch, wie das Schiff heißt!”

„Ǻlesund?“

„ǺLESUND! Genau. Es hört sich an, wie ‘alle gesund‘.”

„Du meinst, das Schiff hat etwas mit dem Ort zu tun, wo Hagemann und seine Leute sich befinden?“

„Klar. Ǻlesund ist eine Stadt in Mittelnorwegen. Das ist ihr Ziel! Quintus, du bist genial!“, rief er seinem Freund voller Euphorie zu. „Wir fahren nach Ǻlesund!”

Gelassen nickte der Wissenschaftler und folgte den beiden zurück zu den Freunden.

Harald überrumpelte die Wartenden völlig. Alle hatten sich auf eine Dusche, einen entspannenden Abend und ein bequemes Bett gefreut, nicht aber auf eine Weiterreise.

Radboda protestierte: „Wir hatten abgesprochen, in Oslo zu bleiben. Hier wurden uns Zimmer besorgt! Wir haben nach der langen Anfahrt Ruhe verdient!”

„Das hat keinen Sinn, wir müssen umdenken”, widersprach Harald.

„Umdenken? Warum planen wir überhaupt, wenn es keinen Sinn hat? Warum sparen wir uns das Ganze nicht?”

„Gute Idee“, wandte Quintus ein. „Das lassen wir in Zukunft.”

Radboda schaute ihn entsetzt an. War sie nur von Verrückten umgeben?

Ein Schiff in Richtung Ǻlesund befand sich kurz vor dem Ablegen und wäre auch pünktlich weggekommen, wenn Quintus nicht für die gesamten Freunde eine Familienkarte verlangt hätte.

Der Begriff „Familie“, versuchte er zu erklären, ließe eine wissenschaftliche Auslegung zu.

Er, Quintus, mit vier Kindern, zwei Frauen und zwei Männern - so wurde ihm vorgeworfen - entspräche in Norwegen nicht der klassischen Familie. Für solche Konstellationen habe man zweckmäßigerweise das Wort „Gruppe“ erfunden.

Quintus hingegen hielt diesen Begriff für unkorrekt, da er die Einheit ihrer Gemeinschaft zu wenig unterstriche. Die Freunde verfolgten die Verhandlungen ungläubig.

„Quintus, wir bitten dich, das hat doch keinen Sinn“, meinte Johannes.

„Nicht? Dann nehme ich die Gruppenkarte.“

Der nächste Einwand folgte, die gäbe es erst ab 12 Personen.

„Dann nehme ich die Gruppenkarte und das nächste Rentnerpaar darf umsonst mit“, entschied er, absolut von dem wirtschaftlichen Vorteil überzeugt.

Leicht war das Rentnerpaar nicht für die Gratisfahrt zu gewinnen. Das deutsche Paar hatte keinen größeren Ausflug und vor allem keinen nach Ǻlesund vorgesehen, ließ sich aber nach langen Diskussionen überreden.

Endlich war man an Bord.

„Kann es sein, dass wir noch am Rathaus erwartet werden?“ Jonas‘ Sorgen waren begründet.

„Mache dir darüber keine Gedanken“, konnte Harald den Jungen trösten. „Als Quintus in seinen Verhandlungen steckte, habe ich Franziskus angerufen. Er regelt das für uns. Wahrscheinlich hält er schon ein Häuschen in Ǻlesund bereit.”

„Dauert die Fahrt lange?”

„Schon einige Stunden.“

„Was heißt ein paar Stunden? Zwei oder drei?“

„Vielleicht auch sechs oder sieben. Es gibt Zwischenstopps in Stavanger und Bergen. Du wirst sehen, es ist eine traumhafte Route. Genieße die Fahrt.“

Jonas, der bisher wenig von der Welt gesehen hatte, strahlte Harald an. „Super“, rief er aus.

Dass sie die zerklüftete Fjordküste, die sie nur von Bildern kannten, vor sich haben würden, registrierten die Freunde erst jetzt. In ihren glücklichen, erwartungsvollen Gesichtern stand die Vorfreude. Voller Spannung sicherte man sich gute Plätze auf dem Oberdeck.

„Wir kommen ganz schön weit ins Hinterland“, vermutete Radboda.

„Ich weiß nicht. Ǻlesund ist aus norwegischer Sicht betrachtet eine Großstadt.“ Simon studierte bei seiner Antwort eine Karte. „Es muss malerisch am Meer liegen.”

„Was wollen wir in dem Kaff? Ich hab`s nicht begriffen“, rätselte die Freundin.

„Keine Ahnung. Die Fahrt dorthin wird schon irgendeinen Sinn haben.”

„Die meinen wirklich, wir finden Hagemanns Bande dort?”

„Es hat sich richtig angefühlt. Sieh es aus einer anderen Warte: Ǻlesund ist kleiner als Oslo. Das macht alles einen Tick leichter.”

„Dass ich nicht lache. Aber was soll‘s? Wir haben glücklicherweise diesen verrückten Zickel bei uns, der in irgendeine verrottete Gasse stiefelt und dann bestimmt vor den Typen steht. Ich halte es nicht aus.”

„Eben!”

Solche und ähnliche Diskussionen entwickelten sich aus der Langweile. Keiner von ihnen hatte eine Vorstellung davon, wo sie landen würden.

Erfreulicherweise wuchs das Vertrauen zwischen Johannes Strebach und den Jugendlichen. Er hatte eine Ader für ihre Bedenken. „Das Wort Ǻlesund muss bei Hagemann gefallen sein“, beschwichtigte er ihre Unsicherheit. Selbst Radboda war durch diese Information versöhnt. Weiterhin erklärte er dem skeptischen Mädchen, sie müsste Quintus einfach machen lassen. Er, ein fantastischer Analytiker, setzte sich bei keinem Gedanken Grenzen und betrachtete alles mit einer kindlichen Naivität. Welcher Wissenschaftler forschte schon auf einer solch grandiosen Basis?

Die Jugendlichen zwinkerten sich bei der Erklärung verschmitzt zu. Julia fasste am Ende das Wesentliche zusammen: „Vor allem aber habe ich Quintus lieb.”

Inzwischen waren sie einige Stunden unterwegs. Simon schlief in einem Liegestuhl ein. Warm war es nicht, eher windig, doch von der Reise übernächtigt ergab es sich so. Die Sonne stand sehr tief. Als er erwachte, fror es ihn.

Bevor er sich erhob, bestaunte er die Berge, die senkrecht ins Meer eintauchten. Die Dichte der Schwebewesen war beträchtlich geringer als in Italien. Die unterschiedlichsten Morphlinge, Wasserlinge und auch Urflieglinge prägten das Bild. Tänzlinge sah man so gut wie keine. Selbst Sturmlinge schossen in wesentlich geringerer Konzentration durch den abendlichen Himmel. Simon erinnerte sich an die Gründe, die Hagemann bewogen hatten, dieses Land aufzusuchen. Die Forschung an den Wesen, die Hagemann nicht sehen konnte, musste hier einfacher sein.

Mufflinge der ruhenden und vorbeigehenden Passagiere mischten sich ineinander. Er wollte sich einen Pullover holen. Der lag in seinem Koffer, gut verstaut.

Ein Stich ins Herz – zuerst spürte Simon ihn nur unbewusst. Doch da! Konnte es wahr sein? Ein einzelner Muffling schwebte vorbei, der ...

Er musste sich täuschen. Gab es verschiedene Menschen mit denselben Begleitern? Undenkbar! Das widerspräche allen Regeln. Er wollte es genau wissen, stand auf ... Dort schwebte eine größere Gruppe ... War er wahnsinnig geworden? Diese Wesen hatten sich ihm so fest eingeprägt, dass es keinen Zweifel geben konnte. Die Mufflinge bewegten sich durch die Tür in Richtung Bordrestaurant. Simons Herz schlug höher. Bangend folgte er den Wesen. Wieder fand er Muffis - ihre Anzahl nahm zu, die Wolken verdichteten sich.

Da stand sie, ihm den Rücken zudrehend.

„Ksenija?”

Bei Simons Wort wandte sich das Mädchen um und starrte ihm in die Augen. Ihre Hände zitterten, die Tasse, die sie hielt, zerschellte am Boden.

„Simon.“ Ein Tränenmeer bildete sich in den Augen des Mädchens. Nichts konnte sie halten, sie flog um den Hals des Freundes, küsste ihn, krallte sich an ihm fest, gehorchte nur noch ihren Emotionen.

Simon ließ sie gewähren. Einerseits war er völlig verunsichert, andererseits beflügelte auch ihn die Freude des Wiedersehens. Sie lebte! Was hatte er sich mehr gewünscht? Alles andere war in diesen Minuten restlos unbedeutend.

„Mutter ist tot“, erzählte sie. Aus dem Mädchen brach bei Simons Berührung alles heraus, was sie in sich verschlossen hatte. „Vater nahm sie mit aufs Feld, um ihr die riesigen Früchte zu zeigen und ihr eine Freude zu machen. Plötzlich fiel sie in Krämpfe, von denen sie sich nie wieder erholte. Es war furchtbar. Vater trank nur noch. Vater, was sage ich? Stiefvater. Ich verstehe alles nicht mehr. Er war gar nicht mein Vater.”

„Um Gottes Willen, Ksenija. Das tut mir sehr leid.”

„Er hat mich ständig verprügelt, Tag und Nacht. Keine Minute war ich vor seiner Gewalt sicher.”

„Dieser Music!?” Bitter und voller Verachtung klang der Name aus Simons Mund.

„Ich werde jetzt zu meinem richtigen Vater gebracht. Er hat die Fahrt organisiert. Bei ihm soll ich bleiben.”

„Du kennst also deinen richtigen Vater? Das ist gut. Vielleicht schließt er dich ins Herz. Hast du ganz plötzlich von ihm erfahren?”

„Ja. Aber er war immer wieder bei uns. Ich hatte dir auch von ihm erzählt. Reinhard Hagemann.”

Simon verschlug es die Sprache. „Nein!“ Er starrte das Mädchen wie versteinert an.

„Doch! Vielleicht kannst du mich besuchen. Er hat ein Haus beim Kleivafossen gemietet. Was tust du überhaupt hier?”

Der Junge war mit seinen Gedanken woanders. Er wusste nicht, wo einhaken, was zu beantworten war, wozu er etwas sagen sollte.

„Ist ja egal“, kürzte sie ab, „du lebst, ich habe dich wieder ... nur das zählt!”

Wieder drückte sie sich an ihn, küsste ihn. Simon schaute auf und in Julias Augen. Bitterer Hass und Entsetzten las er aus ihrem Gesicht. Sie wandte sich provokativ ab und rannte davon. Simons Gefühlswelt brach in sich zusammen.

`Kleivafossen´ hatte Ksenija gesagt. Kleivafossen musste er sich merken. Wie konnte er das alles Julia erklären? Ksenija lebte! War das zur Minute nicht wichtiger? Kleivafossen.

In Gedanken sah er nur noch die Wut, die in Julias Augen aufgeblitzt war.

„Kleivafossen. Ist es weit weg von ...?“ Simon brach den Satz ab. Durfte er sagen, wohin sie fuhren? Würde es dann Hagemann, ihr Vater, erfahren? „Nach Trondheim wollen wir“, fügte er hinzu.

‚Trondheim‘ las er als weitere Stadt der Route von einer Tafel ab, die vor ihm an der Wand hing.

„Weiß nicht. Ich bin das erste Mal in Norwegen. Vielleicht ist es ganz in der Nähe. Simon, wie können wir uns wiedersehen?”

Überfordert damit, auf irgendeine Frage sinnvoll zu antworten, wählte er die Flucht in die Sprachlosigkeit. Hagemann ist auch mein Vater, dieser Satz lag ihm auf der Zunge, obwohl er kaum zur Hälfte stimmte.

„Deine Tasse.” Er war auf eine Scherbe getreten. Diese Ablenkung kam ihm recht. Sofort bückte er sich und las die zerbrochenen Teile auf. Ksenija kam ihm zu Hilfe.

„Nostradamus!“ Das Mädchen riss Simon unter den Tisch. Ein Mann war eingetreten.

„Der Pater!”

„Er hat die Aufgabe, mich zu meinem Vater zu bringen.”

Simon sah den Mann aus seinem sicheren Versteck an. Eindeutig, er suchte das Mädchen, vermutete aber natürlich niemanden unter den Tischen und entschied daher, weiterzugehen.

„Dann wären wir also alle wieder versammelt. Das ist Nostradamus? Den Namen hörte ich schon mal. Mir ist er als Gruzotti oder so ähnlich in Erinnerung.”

„Er hat hundert Namen und ist brandgefährlich. Nimm dich vor ihm in Acht.”

„Ich weiß ihn zu fürchten.”

„Simon, was mache ich mit dir? Ständig bist du in Gefahr. Meinst du, mein Vater kann etwas für dich tun?”

„Hagemann!?“ Simon blieb der Name fast im Hals stecken.

„Was macht ihr dort unten?” Ein Mann vom Schiffspersonal war auf eine Scherbe getreten.

„Entschuldigen Sie, eine Tasse ist mir aus der Hand gerutscht.”

„Ist halb so schlimm. Ich mache das schon.“ Freundlich nahm er den beiden die Arbeit ab.

„Ich muss zurück, Ksenija. Wir sehen uns. Nostradamus ist für uns alle eine Gefahr. Ich muss meine Freunde warnen.”

„Logo. Mach das“, erwiderte sie etwas enttäuscht, erahnte aber die Brisanz der Stunde. „Simon ...“ Sie küsste ihn noch mal, er drückte ihr die Hand, und schnell entfloh jeder in eine andere Richtung.

„Puh“, fasste der Junge alles zusammen und sah sich vor einem neuen Problem. Wie konnte er das ins Lot bekommen? Kleivafossen! – an diesem Wort hielt er sich fest.

Die Frauen standen auf dem Außendeck zusammen. Julia drehte sich schnell beiseite, als Simon wieder ins Freie trat. Aus Radbodas Miene las er Verachtung.

„Wo ist mein Vater?“ Simon wollte kein Schweigen aufkommen lassen. Wie gut die Formulierung `mein Vater` tat, hatte er nie so schützend gespürt wie in diesem Moment, sah er sich doch auf einen Schlag nur von feindlichen Blicken umgeben. Nur einer konnte noch hinter ihm stehen: sein Vater, Harald Hartmann. Er war es ihm schuldig. Es war nicht die Nachricht über Hagemanns Aufenthaltsort, die den Jungen zu ihm zog, es war das Bedürfnis, seinen Schutz, vielleicht auch tröstende Worte zu finden. Er fühlte sich in seiner Haut nicht besonders wohl.

Keine Antwort. Es war klar, was passiert war, er hatte sich ins Abseits gespielt. Simon ging weiter. Die Bugwellen eines entgegenkommenden Schiffes, die an die Bordwand schlugen und die Gleichmäßigkeit der Fahrt brachen, nahm er nicht wahr. Er wählte eine Treppe abwärts zum darunterliegenden Deck. Konnte er dem Pater begegnen? Wie ein Blitz wurde ihm bewusst, dass die Gefahr ihn eingeholt hatte.

Die dunkle Gestalt musste auch Radboda und Jonas kennen. Vorsichtig schaute er sich nach allen Richtungen um. Johannes Strebach stand nicht weit entfernt und versuchte, eine Pfeife anzuzünden. Bei dem Wind blieb es ein ergebnisloses Unterfangen.

„Ich suche Harald.”

„Er kommt gleich. Du kannst bei mir warten.”

Simon nahm das Angebot erleichtert an.

„Wir legen gleich in Bergen an. Du warst noch nie dort?”

„Nein, Skandinavien war bei uns nie ein Thema.”

„Ich kann‘s dir empfehlen.”

„Nicht mehr nötig. Ich bin schon voll und ganz überzeugt. Klappt wohl nicht so recht“, fügte der Junge nach einer kurzen Pause hinzu, wobei er auf die Pfeife deutete.

„Man ist hier besser Nichtraucher. Vielleicht sollte ich es mir abgewöhnen.“ Nach dieser Erkenntnis steckte Dr. Strebach die Pfeife in seine Tasche.

„Kannst du mit dem Begriff Kleivafossen etwas anfangen? Es muss eine Ortsangabe sein.“ Simon war zu ungeduldig, um auf Harald zu warten, außerdem drängte es ihn, sich des Wortes zu entledigen. Es war ihm, als wenn er mit Nennung desselben aus einer Verpflichtung käme.

„Kleivafossen? Hm. Scheint ein Wasserfall zu sein.”

„Ein Wasserfall? Sicher kein Ort?”

„Es kann auch ein Ort sein, der nach einem Wasserfall benannt wurde. Foss und Fossen haben die Bedeutung von Wasserfall.”

„Meinst du, wir können ihn finden?”

„Schwer zu sagen. Es gibt abertausende Wasserfälle in Norwegen.”

„Wenn wir davon ausgehen, dass er von Ǻlesund aus zu erreichen ist, wie sieht es dann aus?”

„Besser.”

Harald trat zu den beiden. Johannes gab die Frage sofort weiter. „Sagt dir der Wasserfall Kleivafossen etwas?“

„Vielleicht habe ich es schon gelesen. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.” Ohne nachzufragen, warum die Frage gestellt wurde, nahm er sein Handy zur Hand und suchte nach dem Namen. „Er ist über den Nordfjord zu erreichen.”

„Liegen wir mit Ǻlesund völlig falsch?“, bohrte Johannes nach.

„Im Gegenteil. Goldrichtig.”

„Simon, warum Kleivafossen?“ Erst jetzt erinnerte er sich an den Frager.

„Hagemann hat sich dort eingemietet.”

Harald sah überrascht auf. „Kleivafossen? Er ist direkt am Brendalgletscher.”

„Ergibt das einen Sinn?”

„Es hat sicher einen Sinn.” Ohne eine weitere Frage wählte Harald die Nummer von Franziskus, der wohl gerade alle Hände voll damit zu tun hatte, Zimmer in Ǻlesund zu bekommen.

„Hast du schon gebucht? - Tut mir leid. Es gibt neue Erkenntnisse. Wir fahren ohne Unterbrechung zum Nordfjord weiter. Zimmer bei Olden, oder besser, in dem Tal zum Brendalgletscher wären ideal. So, wie ich es auf dem Handy sah, ist es ein enges Tal mit einer Straße. Gut wäre ein Quartier mit Blick zur Straße – Du schaust danach? – Wunderbar.”

„Ist er sauer?“ Simon hatte Bedenken.

„Nein, keinesfalls. Er lachte und wünscht uns Erfolg.”

„Du willst nicht wissen, woher ich es weiß?”

„Ich muss nicht danach fragen. Du wirst es mir erzählen, wenn es von Wichtigkeit ist.”

Simon nickte. Er wusste nicht, ob es angebracht wäre, vor Johannes von Ksenija und seinem Missgeschick zu erzählen. Simon wusste sich keinen Rat.

Die Gruppe nahm die Nachricht von ihrem neuen Ziel gleichgültig auf. Nicht Ǻlesund, sondern irgendein Ort im Hinterland sollte die neue Anlaufstelle sein.

Weit mehr Auswirkung hatte die Botschaft von Simons Fehlverhalten.

Eine Fremde hätte er abgeknutscht, war der Tenor des Geredes. Wie ein Virus drängte sich die Kunde zwischen die freundschaftliche Bande, machte sie brüchig, morsch, sprengte sie.

Magdalena, Nanetta und Radboda bedauerten Julia. Dora wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Gegen Simon Partei beziehen konnte sie nicht, war er doch gefühlsmäßig ihr eigenes Kind. Sie durfte ihn nicht im Stich lassen.

Jonas fand es cool und wollte es dem Freund bei Gelegenheit sagen. Es sich mit Julia zu verscherzen, war aber auch nicht sein Ding.

Strebach verhielt sich möglichst neutral und hielt sich an Harald, der wiederum kein Aufheben von der Erzählung machte. Er verknüpfte die Fakten. Der Sohn hatte eine Person getroffen, die eine Verbindung zu Hagemann hatte. Dieses offenbar hübsche Mädchen musste er besser kennen. Es gäbe bestimmt eine Geschichte dazu, die Aufklärung brachte, nicht aber eine Lösung oder Linderung der Situation. Er entschied, abzuwarten.

Quintus hatte zu dem Thema die tiefste Erkenntnis: Die passenden Vögel fänden sich am Ende immer. Die Natur richtete es so ein. Er beobachtete es bei Amseln, Meisen, Galgenvögeln. Warum sollte es bei Jugendlichen anders sein?

Franziskus hatte zwischenzeitlich Kontakt mit dem Pfarrer des kleinen Örtchens Olden aufgenommen.

Die Kommunikation zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem evangelischen Geistlichen klappte ausgezeichnet. Er kümmerte sich engagiert um zwei Unterkünfte, die geradezu ideal lagen. Oldevatn nannte sich die Stelle, an der die Straße zwischen zwei langen Seen hindurchführte. Wollte Hagemann seine Behausung verlassen, um Einkäufe oder andere Dinge zu besorgen, war es nur über diese Brücke möglich.

Eine angemietete Hütte wurde von Harald, Johannes, Quintus und Simon bezogen, die anderen fanden eine Unterkunft auf der anderen Seite der Brücke, in einem der typischen bunten, stattlichen Holzhäuser des Landes. Flaten mochte der Ort heißen. Julias und Simons räumliche Trennung verschaffte der Gruppe spürbare Entspannung.

„Er fährt ein schwarzes Geländefahrzeug“, sprach sich schnell herum. In ihm wurden abwechselnd die Gebrüder Rochus, Fleischhacker, Hagemann und andere Personen gesehen. Weitere Fahrzeuge konnten als die von Urlaubern, Anwohnern oder Kurzbesuchern abgetan werden. Vielleicht waren auch Gäste Hagemanns unter den vorbeifahrenden Fahrzeugen. Eines stand fest, nur diese Straße, die alle gut überblicken konnten, führte zum Tal am Kleivafossen.

Die Freunde hielten sich bedeckt und mieden die Durchfahrtsstraße, soweit es möglich war. Nur, wenn man sich gegenseitig besuchte, bestand eine begrenzte Gefahr.

Das weiterführende Tal wurde von den Gastgebern wie folgt beschrieben: Es verengte sich zum Ende hin erheblich, wobei die Straße, so weit man sie öffentlich befahren dürfte, kaum anstiege. Man käme noch an verschiedenen Häusern vorbei, irgendwann stünde man aber vor einem nicht überquerbaren Massiv. Linker Hand fände man den Wasserfall und ein Stück weiter einen Gletscherabbruch. Überhaupt wären die Berge rundherum von Gletschern bedeckt. Die Jugendlichen konnten es fast nicht glauben. Von ihrem Standort aus sah alles wunderschön grün und bewaldet aus.

„Wohnt ein junges Fräulein Julia hier?“

Die Freude war groß, als Quintus in Wanderkleidung auftauchte und nach Julia fragte. „Ich will wieder einmal mit meiner kleinen Freundin auf Tour gehen.”

Julia hatte sich seit der furchtbaren Erfahrung auf dem Boot zurückgezogen und sich keinem mehr gezeigt. Magdalena Weingärtner, ihre Mutter, war daher froh, als der Wissenschaftler die Initiative ergriff, und hoffte, er könnte Julia dazu bewegen, mit ihm etwas Zerstreuung zu finden. Wer konnte Quintus auch einen so herzlichen Wunsch abschlagen?

Als Magdalena das Zimmer der Tochter betrat und Quintus‘ Wunsch vortrug, zeigte sich für den Bruchteil einer Sekunde ein spitzbübisches Lächeln. Die Mutter atmete auf. Sie wusste, dass das Mädchen zu überzeugen war. Für einen mittelgroßen Ausflug gerüstet fanden die beiden hinter dem Häuschen einen Weg, der auf die Anhöhe führte, wahrscheinlich zu einem der vielen Wasserfälle.

„Man sieht dich nur noch sehr selten“, begann Quintus irgendwann das Gespräch.

„Mir ist nicht danach“, wich Julia aus.

„Ich habe mitbekommen, Simon hätte dich sehr enttäuscht.”

„Bitte sage den Namen nie wieder.”

„Tut es so weh?”

„Ja.” Julia war überrascht, wie direkt er ihr Thema ansprach, aber auch, wie vorsichtig und einfühlsam der sonst so ungeschickte Kerl sich dem Kernproblem näherte.

„Er ist ein dummer Junge und muss noch viel lernen“, fuhr er fort.

„Das hilft mir nichts. Es ist aus und vorbei und ich weiß auch nicht, was wir hier überhaupt noch wollen. Hagemann und diese ganzen Wesen gehen mich doch überhaupt nichts an. Außerdem sitzen wir seit zwei Wochen in dem Haus und warten auf irgendetwas. Was soll denn passieren?”

„Es wird etwas passieren.”

„Wir führen Listen, wann und wie oft jemand über die Brücke in den Ort fährt. Siehst du einen Sinn darin?”

„Ich? Nein. Dieser Stredings ...”

„Strebach?”

„Genau. Er und Harald machen ständig Luftmessungen.”

„Und?”

Quintus zuckte mit den Achseln. „Wir können die Schwebewesen sehen. Messungen sind etwas Sinnloses.”

Julia lachte über die unbeschwerte, offene Art des Freundes.

„So gefällst du mir besser. Du bist ein hübsches Mädchen. Wäre ich 60 Jahre jünger, meine wissenschaftlichen Studien würde ich ausschließlich auf dich konzentrieren.”

„Hübsches Mädchen? Du hättest SIE sehen sollen. Wow! Da verschlägt es dir die Sprache. Da habe ich nicht die geringste Chance.”

„Bestimmt eine Trollfrau.”

„Wie?“

„Man sagt, Trollfrauen sind die hübschesten aller Geschöpfe.“

„Du glaubst an Trolle?”

Quintus‘ Anmerkung klang nach fester Überzeugung. Julia fand es trotz des ernsten Themas erheiternd.

„Natürlich gibt es in Norwegen Trolle. Vielleicht nur in Sagen, Sagen sind aber existierende Geschichten und somit sind auch die sich darin spiegelnden Wesen existent.”

Julia war von dem Gedanken angetan. So wären alle erfundenen Gestalten gleichfalls reale Gestalten? Warum nicht? Erdachte Personen können Vorbilder, Traumgestalten, auch Schreckensfiguren sein. Sie lösen Gefühle, Gefallen, Missmut aus. Alles sind reale Empfindungen.

„Gut, die Trollfrauen mögen hübsch sein. Was ist an ihnen sonst besonders? Es gibt doch einen Haken. Stimmt’s?” Julia hatte zwar von den Fantasiewesen gehört, sich aber nie ein Bild von deren Frauen gemacht.

„Natürlich. Sie verführen Männer.”

Julia lachte jetzt herzlich. „Im Ernst?”

„Im Ernst. Sie sind von Natur aus stockhässlich, können aber jede Gestalt annehmen, auch die wunderbarste. So verführen sie vornehmlich Menschen. Nach der Heirat entwickeln sie sich - wie soll ich sagen? - spröde, kalt, abweisend. Ihnen fehlt die Lebendigkeit. Hast du so eine Trollfrau in den Armen, fühlt es sich an wie ein Kleiderständer oder ein verkorkter Besenstiel.”

Quintus hatte es geschafft, Julia ins Leben zurückzuholen. Die Vorstellung einer solchen Frau brachte sie zum Lachen.

„Kann man ein Menschenkind aus den Fängen einer Trollfrau zurückbekommen?”

„Kann man!”

„Quintus, du bist herrlich und der beste Freund auf der ganzen Welt! Ich schlage vor, wir suchen jetzt Trollmufflinge, oder gibt es solche Wesen nicht?”

„Fantasiewesen sind keine Säugetiere, also können sie keine Mufflinge haben. Nennen wir ihre Begleiter einfach Trolllinge.”

„Dann auf zur Suche. Wer den ersten Trollling gefunden hat, hat gewonnen!”

Der Bann war endgültig gebrochen. Julia fühlte sich erstmals wieder besser und roch die Erdenluft, die einem doch so viel geben konnte.

Sie waren zwischenzeitlich steil aufgestiegen, traten aus der Bewaldung und erreichten eine Grasmatte.

„Was für ein großartiger Ausblick!“, rief Julia.

Weit unter ihnen waren die beiden Seen zu sehen, die sich an der Brücke trafen. Diese trennte bekanntlich die Häuser der Freunde.

Sie hörten das Geratter eines Fahrzeuges, das sie gerade überfuhr. Schwebewesen waren sehr dünn angesiedelt, es herrschten Schnüfflinge von Gräsern und Felsenkräutern vor, Mufflinge sah man spärlich. Morphlinge bildeten einen leichten Schleier, den man kaum wahrnahm.

Hier aus der Ferne erkannte man ... waren es Wasserlinge?

Nein. Zwar gab es die in Fülle, doch das, was man jetzt sah, waren Schwebewesen von gefrorenem, ewigen Eis.

Wie eine Haube aus Kristallen schwebten sie wenige hundert Meter über ihnen. Der bläuliche Glanz ließ etwas Unvergängliches spüren, obwohl das Eis selbst am Gletscherbruch sehr vergänglich war und in unzähligen Wasserfällen abfloss.

„Was meinst du, wie sehen Trolllinge aus?”

Wo war Quintus geblieben? Gerade hatte er sich noch wenige Meter hinter dem Mädchen befunden. Jetzt lag er auf der Erde und versuchte, unter eine Grasmatte zu schlüpfen - zumindest sah es so aus.

„Quintus, bitte!“ Julia hatte nicht die Laune, seine ständigen Auswüchse zu tolerieren.

„Ich habe etwas gefunden. Schnell! Schau dir das an.”

Julia ließ sich Zeit. Sie hatte schon so viele besondere Wesen gesehen, dass sie eines, sollte es auch etwas ganz Abartiges sein, nicht aus der Fassung bringen konnte.

„Ein Springwurzschnüffling!”

„Ja ... und?“

Quintus stand verstört auf, wusste nicht links noch rechts, stolperte über den nächstbesten Stein und krabbelte danach wieder zu dem Wesen.

„WAHRHAFTIG! Es muss einer sein!”

„Selbst wenn du einen Troll gefunden hättest, würde ich diese Aufregung nicht verstehen.”

„Eine Springwurz ist nicht minder spektakulär! Springwurzen gibt es nicht. Sie sind Fabelpflanzen! Schnell, sieh nach, ob du einen Schwarzspecht oder Wiedehopf siehst, nur sie können die Springwurz finden ... heißt es.”

Wieder stand er vollkommen durcheinander auf, stolperte noch mal über denselben Stein und kam vor Julia zu liegen.

„Und weißt du, wie Springwurzen aussehen?”

„Nö! Das weiß niemand.”

„Oh, Quintus!”

„Es ist fantastisch. Springwurzen wachsen dort, wo es Schätze gibt und Verstecke springen auf, wenn man sie mit ...”

„Quintus!”

„Ist ja schon gut.” Kleinlaut erhob er sich. „Und es war doch ein Springwurzschnüffling!”

„Ich meine, am gegenüberliegenden Berg ebenfalls Menschen zu sehen.”

Julia hatte sich nicht getäuscht. Gegenüber traten zwei Personen in etwa derselben Höhe auf einen Felsen und bestaunten von dieser Warte ebenfalls das Tal. Es war Haralds Wunsch gewesen, dass Johannes Simon begleitete. Johannes Strebach hatte sehr lange mit Hagemann zusammengearbeitet. Er war von jeher sein engster Vertrauter gewesen. Harald wollte den beiden die Gelegenheit verschaffen, sich anzunähern, auszutauschen, die Vergangenheit und Herkunft aufzuarbeiten.

Simon hatte zwar erfahren, Haralds Sohn zu sein, doch ansonsten war seine Abstammung ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Buch, das er kaum zu öffnen wagte. Ständig auf der Flucht, versuchte er, Bruchstücke der Welt zu kitten. Es war sein Schicksal, dadurch eigene Anliegen zu ignorieren.

Strebach war ein behutsamer Freund. Er begleitete den Jungen lange stumm. Er entschied, ihn vorsichtig in die Vergangenheit zu entführen.

„Du hast Sandra getroffen?”

Simon schaute den Begleiter erstaunt an. „Sandra?”

„Ja.“ Etwas verunsichert ergänzte Johannes: „Hagemanns Tochter.”

„Ksenija?”

„Ksenija? Okay. Wir sprechen aber von derselben Person?”

„Ksenija? Sandra? Du meinst, sie hat in Kroatien einen anderen Namen?”

„Du kennst sie aus Kroatien?”

„Ja.”

„Jetzt wird mir manches klar. Simon, dann weißt du wahrscheinlich nicht, dass Sandra die Tochter von Hagemanns erster Frau ist.”

„Meine Mutter ist dann seine zweite Frau?”

„So ist es, Simon.”

Man sah dem Jungen an, dass er es sich nicht vorstellen konnte.

„Ich weiß gar nichts über mich und über meine Familie.”

„Setz dich zu mir.“ Johannes wies auf einen geeigneten Stein, der sich neben den beiden befand. „Du und Sandra, ihr seid Kinder mit einem gemeinsamen Schicksal.”

„Das verstehe ich nicht.”

„Es ist sehr schwer zu begreifen. Simon, bitte versuche, alle deine Erfahrungen, Erkenntnisse, dein Wissen über dich und deine Familie, selbst deine Empfindungen zu den einzelnen Personen in Einklang zu bringen. Es wird ein Bild entstehen, das stimmig ist. Darf ich fragen, was du alles über dich weißt?”

„Über mich? Harald ist mein Vater, meine Mutter starb, die Hagemanns haben mich aufgezogen.”

„So weit, so gut. Bitte versuche, ein wenig mehr ins Detail zu gehen.”

„Wie meinst du das?”

„Versuche, jeden Gedanken auszudrücken.”

„Harald und mein Adoptivvater kennen sich von früher. Quintus und Harald fanden die Schwebewesen, verschwiegen sie aber vor Hagemann.”

„Du weißt, warum?”

„Man sagte mir, sie hätten Angst, er könnte mit dem Wissen Unheil anrichten. Berechtigt! Er tut es!“

„Ist Unheil alles, wovor die beiden Angst haben?”

„Ich bin auf der ständigen Flucht vor ihm. Er will von mir etwas über die Wesen erfahren, da er meint, damit steinreich werden zu können.”

„Wir tasten uns zur Quelle des Unheils vor.”

„Johannes, du weißt mehr über mich. Stimmt`s?”

„Leider, Simon. Ich habe jahrelang an Hagemanns Seite gearbeitet, gelernt, wie er tickt, was er verfolgt, miterlebt, wie sich alles entwickelt hat. Ich erfuhr viel von ihm, oft sehr Interessantes. Ich lernte aber auch, ihn als Mensch zu hassen, zu boykottieren und irgendwann suchte ich den Weg zu Harald, um mein Gewissen zu reinigen.”

„Ist er so schlimm?”

„Du musst selbst dein Urteil fällen.”

Einen Moment verloren sich die Gedanken der beiden in der Tiefe des Taleinschnitts.

„Ich bin bereit. Was weißt du über mich?”

„Simon, du warst schon als Baby ein Opfer der Schwebewesen. Damals, als Harald und Quintus sie gefunden und Hagemann ausgeschlossen hatten, begann er, alles daran zu setzen, an das Geheimnis zu kommen. Deine Eltern führten eine sehr gute Ehe. Hagemann begann damit, über deine Mutter Einfluss auf Harald auszuüben. Er setzte sie unter Druck, drohte ihr mit Gewalt. Sie selbst wollte Harald nicht in Not bringen, seine Forschungen nicht stören, von denen sie nicht nur überzeugt war, sondern an denen sie oft aktiv mitwirkte. Mein Eindruck war, dass sie entschied, sich selbst aus dem bösen Spiel zu nehmen. Das konnte nur gelingen, indem sie sich absetzte, sich versteckte. Sie war schwanger. Du kamst zur Welt. Hagemann hat das erfahren. Ständig ließ er deine Mutter von zwielichtigen Gestalten aufsuchen, bewachen und er versuchte, jede Information zu seinem Zweck zu nutzen. Sein Interesse fiel auf Andreas Kind. Du weißt, dass deine Mutter so hieß?”

„Ja, Johannes, das weiß ich. Warum auf mich? Ich war doch nur ein Baby.”

„Nein, das warst du nicht, du warst Haralds Sohn, für Hagemann ein goldenes Huhn. Er musste dich um jeden Preis in die Hände bekommen. Dich zu adoptieren war sein großer Einfall, doch gab es zwei Dinge, die ihm im Wege standen. Erstens war er bereits verheiratet und selbst gerade Vater geworden.”

„Sandra?”

„Sandras Mutter sprach sich gegen die Adoption eines weiteren Kindes aus. Sie litt damals schon an einer Nervenkrankheit. Sein zweites Problem war, dass deine Mutter dich nie zur Adoption freigegeben hätte.”

„Er hat es trotzdem geschafft?“ Fast lautlos fragte der Junge weiter. „Was ist mit meiner Mutter passiert?”

„Hagemann gab den Auftrag, sie unter Druck zu setzen und wenn sie nicht bereit wäre ...”

„... sie umzubringen?!” Fassungslos starrte Simon Johannes an.

„Du weißt es?”

„Wer hat es getan? Rochus? Fleischhacker?”

„Für die brutalen Aufgaben hat er Fleischhacker in seinen Zirkel aufgenommen.”

„Dann ist er ihr Mörder!” Simon sprang auf. Völlig aufgewühlt wusste er nicht mehr, wie alles zu fassen wäre.

„Sandra und seine Frau ließ er von Rochus nach Kroatien abschieben. Mit Dora fand er eine Frau, die einer Adoption nichtsahnend zustimmte.”

Simon nahm die letzten Worte nur noch wie in einem Trancezustand auf. Bei was für einem Menschen war er aufgewachsen? Im Moment sah er nur einen vor seinem geistigen Auge: Fleischhacker! Seine Hände verkrampften sich. Sollte er weinen, aufschreien? ... Nichts hielt ihn mehr. „MÖRDER!“, brüllte er aus voller Brust ins Tal und verschaffte sich so etwas Luft.

Julia hörte auf der benachbarten Bergseite die Stimme. Wie erfroren blieb sie stehen. Es war ein Klang voller Hass, voller Angst, ein Hilferuf, der in der Lage war, die Welt aufzuschrecken.

„Simon.“ Flehend schaute sie Quintus an. „Er braucht mich.”

Der Freund nickte.

PAUKENSCHLAG IN BRETUN

Es regnete. Simon wurde von dem verfolgt, was Johannes ihm erzählt hatte. Sie waren an jenem Tag noch sehr hoch gestiegen, fast bis an den Rand des gewaltigen Gletschers. Am Morgen danach hatte er lange erschöpft im Bett gelegen, gequält von seinen Empfindungen.

Er versuchte, Strebachs Worte Stück für Stück noch einmal abzurufen. Viele Erlebnisse, die er einst mit Reinhard und Dora Hagemann und auch mit Rochus gehabt hatte, bekamen im Nachhinein eine vollkommen neue Bedeutung. Nichts war Zufall gewesen, hinter allem erkannte er eine bösartige, gezielte Absicht, die dazu bestimmt war, ihn im Unwissen zu halten.

Er hasste Hagemann mehr und mehr. Seine Mutter, Dora Hagemann, hatte ihn, das angenommene Kind, vor dem vermeintlichen Vater wohl behütet und geschützt. Rochus, das hatte er schon immer gewusst, war ein Bösewicht, und Fleischhacker ... der Mörder seiner leiblichen Mutter. Dieser Satz hatte sich in seine Seele gebohrt und zerfraß sie wie ein Lindwurm. Simons Wille zum Kampf gegen die Hagemannbande nahm eine neue Qualität an. Es war zu viel, was ihn bewegte. Wie sollte er alles fassen, bündeln, wie damit umgehen?

Ein Schlag an seinen Fensterladen schreckte ihn auf. Er öffnete.

„Und? Lässt du mich herein?“ Radboda schaute ihn verschmitzt an.

„Natürlich, klar. Komm an die Tür, ich öffne dir.”

„Mach dir keine Umstände“, entschied sie und kletterte bereits durch das Fenster.

„Wie läuft es bei euch?“, begrüßte der Junge sie erstaunt. Seit der Szene auf dem Boot, die ihm so übelgenommen worden war, hatte er kein Wort mehr mit Radboda gesprochen.

„Ätzend. Statistiken über vorbeifahrende Autos zu führen, ist etwas für Schnarchzapfen. Hast du dich wieder einbekommen?”

„Du meinst wegen ...“

„Genau. Deine Knutschszene an Bord.”

„Die scheint ja großen Eindruck gemacht zu haben.”

„Hat sie. Absolut. Und ich find`s zum Kotzen. Andererseits, so kommen wir auch nicht weiter. Läuft bei euch mehr ab?”

„Bei uns? Harald und Johannes arbeiten Tag und Nacht. Ständig werden Luftproben eingefangen und analysiert, Berichte geschrieben. Soweit ich mitbekommen habe, können sie keine Veränderung feststellen.”

„Was treibt Quintus, der große Wissenschaftler?”

„Er hält die Arbeit der beiden für dämlich. Er starrt in die Luft und überlegt.”

„Das hat was. Was machen wir?”

Simon schaute die Freundin skeptisch an. Wenn Radboda auf diese Weise wie aus dem Nichts erschien und gezielt nach einer Aufgabe fragte, führte sie bereits etwas im Schilde, hatte vielleicht sogar einen Plan in der Tasche.

„Radi, auf was willst du hinaus?”

„Wir gehen zum Angriff über!”

„Wer sind ‚wir‘?”

„Du und ich!”

„Ach so. Fein.”

„Schau mich nicht so begossen an. Pack dein Zeug zusammen.”

„Jetzt? Auf der Stelle? Radi, du spinnst.”

„Wann sonst? Wir treffen uns in 15 Minuten vor der Brücke. Alles klar?”

„Es schüttet wie aus Kübeln!”

„Hast du noch nie geduscht?”

„Nicht in Kleidern.”

„Dann komm eben ohne Kleider. Mich stört es nicht.”

„Du bist verrückt, völlig verrückt!”

„Ja, ja, ich weiß.” Radboda wartete keine Antwort ab. Sie kletterte bereits wieder aus dem Fenster und lief in Richtung des Campingplatzes, der Urlaubern nahe der Brücke Kurzweile bot.

Zweifelnd stand Simon im Raum. Was sollte er tun? Ihr folgen? Im Grunde hatte sie recht. Das ständige Warten auf irgendetwas nützte keinem. Eine Regenjacke war schnell gefunden und bald sprang er dem Mädchen nach.

„Ich wusste, dass du kommst“, empfing sie ihn.

„Und jetzt?”

„Wie hieß der Wasserfall?”

„Kleivafossen.”

„Gut, den suchen wir.”

„Was meinst du, wie viele Kilometer ist das Tal noch lang? Der Wasserfall muss ziemlich am Ende sein.”

„Es wird sich in Grenzen halten. Vielleicht fünf Kilometer oder so. Das Tal endet dann. Ich habe es mir im Internet angeschaut. Viele Häuser gibt es dort nicht mehr. Wir werden die Mistbande schon aufgabeln.”

„Und dann klopfen wir an und bitten um eine Tasse Tee? Wie stellst du dir das vor?”

„Quatsch. Wir werden es doch noch schaffen, in deren Bude zu kommen!”

„Aber bitte nicht mit einer Axt, oder hast du wieder vor, alles kurz und klein zu schlagen?”

„Wenn du mit Diplomatie weiterkommst, bitte sehr. Ich lasse mich überraschen.”

Radi hatte kein schweres Handwerkszeug dabei, das tröstete ihn.

„Wir müssen wohl der Straße nach.“ Simon hatte Bedenken. „In jedem der Fahrzeuge, das an uns vorbeifährt, kann Hagemann sitzen. Die Gefahr ist groß, dass wir ihm leichtsinnig in die Arme laufen.“

„Ja, das ist der wunde Punkt. Wir müssen immer ein Versteck in Reichweite haben und wenn eine längere freie Stelle kommt, heißt es spurten.”

„Es kann ins Auge gehen.”

„Natürlich.”

Radboda war voll auf Risiko programmiert. Der Junge äußerte noch manche Bedenken, lehnte sich aber nicht ernsthaft gegen den Willen der Freundin auf. Sein Hass auf Hagemann und seine Helfer war zu groß. Seine Familie, sein ganzes Leben hatte er auf dem Gewissen. Ksenija und er waren Schachfiguren eines Verrückten. Lieber wollte er sich erwischen lassen, seine Wut allen ins Gesicht brüllen, als weiter in einer Holzhütte eingesperrt zu bleiben.

Sie brachen auf.

Durch die glitzernden Lamettafäden der Wasserlinge, die vom Himmel tanzten, tollten sich Wolken von orangerötlichen Aurorabrennlingen. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken. Der allgegenwärtige Wind gab keiner Wettersituation ausreichend Gelegenheit, sich einzunisten. Wolken wurden hierher und wieder weggeblasen. Für Simon und Radboda fühlte es sich wie ein immerwährendes Eintauchen in ein Nordlicht an.

Den Jugendlichen kam kein Fahrzeug entgegen, so lange sie dem Seeufer folgten. Tief und unergründlich waren die Seen in das Land eingeschnitten. Quintus hatte dem Jungen erklärt, sie wären so tief, wie die Berge hoch waren. Noch galt es, ein großes Stück zurückzulegen, doch das Ende des Tales war absehbar. Ein kaum überwindbares Gesteinsmassiv lag vor den beiden.

„So, wie ich es auf meinem iPhone gesehen habe, gibt es an diesem Wasserfall kein Gebäude.” Radboda war voll bei der Sache.

„Meinst du, die Bande ist in irgendeinem der Höfe rechts von uns?”

Es waren die letzten Häuser vor dem Wasserfall, die Simon aus einiger Entfernung betrachtete.

„Gut denkbar. Das muss Bretun sein.”

„Meinst du, da können noch Menschen leben?”

„Klar. Es kommen doch ständig Besucher. Die bringen Zaster. Dann wird es sich dort auch leben lassen.”

„EIN AUTO!” Simon hörte einen Motor und in der Ferne sah man einen Wagen auftauchen. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die Jugendlichen von der Straße und versteckten sich in einer Hecke. Hoffentlich waren sie nicht gesehen worden.

„Deine Tussi ist im Wagen!”

„Rochus und der Alte ebenfalls.” Mit dem Alten meinte Simon Hagemann, der deutlich zu sehen war und an der Seite des Gärtners gestikulierte.

„Das bedeutet Fleischhacker, Vinzenz Rochus und Nostradamus müssen noch in der Unterkunft sein.”

„Vielleicht auch sonst noch jemand. Wer weiß, wen Hagemann alles um sich geschart hat.”

„Warten wir es ab. Eines ist sicher: Wir sind auf dem richtigen Weg. Der Wagen kam vom Ende des Tals. Keines der Gebäude, an denen wir vorbeigekommen sind, kann es also gewesen sein.”

„Topp! Dann würde ich sagen, weiter geht es.”

Zielstrebig marschierten sie vorwärts. Die Straße endete in großen Geröllhalden. Ein letzter großer Parkplatz markierte den Abschluss. Für Besucher gab es eine Einkehrmöglichkeit. Mit Kutschen konnte man noch ein Stück weiterfahren.

„Hier müssen sie irgendwo sein. Das sind die absolut letzten Gebäude.” Radboda hämmerte bei ihren Erläuterungen ständig auf ihr iPhone ein. „Mist! Keine Verbindung.”

„Was soll‘s, wir haben einen Überblick. Wie packen wir es an? Eines von den Holzhäusern muss es sein.”

„Okay, schauen wir uns um.”

Vorsichtig huschten sie von Busch zu Busch und wagten sich mit Bedacht vor die stabil konstruierten Gebäude.

„Was meinst du?”

„Es sieht gut aus.”

„Ich habe noch ein ganz anderes Gefühl.“ Simon senkte die Stimme. „Wir sind nicht allein.”

„Wovon sprichst du?“, flüsterte Radboda ebenfalls.

„Siehst du Muffies?”

„Nein ... allerdings ... auch wir haben keine.”

„Wie?“ Simon betrachtete sich erschrocken. „Sie sind weg?”

„Schau dich um. Es gibt nirgends Schnüfflinge, auch keine Morphlinge. Es gibt gar nichts!”

Die Jugendlichen schauten sich nach allen Richtungen um. Durch die Luft schossen Sturmlinge und nur in weitem Abstand erkannten sie anderes Leben dieser Art. Um sie selbst war allerdings alles wie tot.

„Meinst du, sie haben uns schon im Visier?” Radboda versuchte, alles auf die Reihe zu bekommen.

„Was tun wir? Gehen wir zurück, oder machen wir weiter im Text?”

„Sag du.“ Die Freundin war das erste Mal verunsichert. Ob das den Jungen anspornte oder ob er einen Rückzug für nicht weniger gefährlich hielt, mag dahingestellt bleiben.

„Weiter“, hauchte er. Radboda nickte.

Beide sahen keine Notwendigkeit mehr, sich zu verstecken. Sie rannten zu dem ersten Häuschen und schauten in die Fenster.