Quintus Zickel und die Schwebewesen - Claus Bisle - E-Book

Quintus Zickel und die Schwebewesen E-Book

Claus Bisle

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Beschreibung

Nichts ist, wie es scheint. Was liegt hinter den Dingen? Das versuchen Julia und Simon zu ergründen, als ihre sicher geglaubte Welt ins Wanken gerät. Dabei kommen ihnen magische Kräfte und überraschende Wendungen zu Hilfe. Und ein Professor mit einem besonderen Riecher.

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Diese Geschichte ist ein Dank an meine Kinder Verena und Philipp.

INHALTSVERZEICHNIS

DAS ALTE HAUS

RADBODA SAUERMILCH

MERKWÜRDIGE BEGEBENHEITEN

UNGEWÖHNLICHE BEGEGNUNGEN

DIE UNERWARTETE BEKANNTSCHAFT

NÄCHTLICHE UMTRIEBE

DER TAG DANACH

WAS IST MIT JULIA?

DIE WEISHEITEN VON QUINTUS ZICKEL

IN DEN BERGEN

QUINTUS SCHLÄGT ZU

SIMONS ENTDECKUNG

WISSEN BRINGT GEFAHR

IM EXIL

UND NUN?

DAS ALTE HAUS

»Das gibt’s doch nicht! Schert euch zum Teufel, schäbiges Gesindel! Hier habt ihr nichts zu suchen!«

Julia stand vor Schreck der Atem still. Ihre Glieder erstarrten. Sie fühlte ihren Puls rasen. Natürlich war ihr klar, hier in diesem Garten hatte sie nichts verloren. Die Verlegenheit trieb ihr das Blut in den Kopf und am liebsten wäre sie tief im Erdboden versunken.

Vor ihr baute sich eine stämmige Dame auf, die wohl das mittlere Alter deutlich überstanden hatte und mit böser Miene giftige Worte um sich spuckte. Wer war sie? Gehörte ihr das Anwesen? Nein, das konnte kaum sein, sie passte nicht in diese Welt.

Der Garten, in dem sich Julia gerade sträflicherweise aufhielt, war unbeschreiblich und geheimnisvoll. Jeder Fremde, der ihn das erste Mal betrat, fand sich in einem chaotischen Blätter- und Blütenmeer wieder. In seinem verwilderten Zustand war allerdings ein System zu erahnen – nein, es war zu fühlen – ganz deutlich.

Den Eigentümer kannte niemand. Bestimmt war er längst verstorben. Vielleicht hatte es ihn auch nie gegeben und das alles war einfach im Lauf von vielen, vielen Jahren entstanden. Egal, jedenfalls war der Garten ein Stück verzauberte Welt.

Mit Simon kam Julia regelmäßig hierher. Das war für sie beide zu einer wertvollen Gewohnheit geworden. Ihr Refugium hatten sie an einer bestimmten Stelle des Anwesens gefunden, nämlich in dem Gartenhäuschen, das Julia nie so eng und erdrückend empfunden hatte wie zu dieser Sekunde.

Das Gebäude war an verschiedenen tragenden Teilen baufällig. Jetzt fürchtete Julia, es werde auf sie herabstürzen. Die Pflanzen, die sich ihren Weg ins Innere erkämpft hatten, boten nirgends ein schnelles Versteck, sondern sie schienen alle Fluchtwege zu verschließen. Glücklicherweise lag sie nicht wie sonst bäuchlings auf der Erde, um ihre Hausaufgaben zu machen.

Simon kauerte noch friedvoll auf der alten, zum Teil morschen Holzbank, hatte die Augen geschlossen und hörte Musik mit seinem iPod. Er hatte von der Aufregung um ihn her bislang nichts bemerkt und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen.

»Eben war’s doch noch nicht bewölkt«, murmelte er verträumt.

Er öffnete die Augen. Jetzt erstarrte auch er, als er anstelle der vermuteten Wolken die wild gestikulierende Frauengestalt mit verbissener Miene vor sich gewahrte. Irgend so etwas wie »Du auch!« vermutete er auf ihren Lippen. Der Klang ging in einem Schlagzeugsolo unter.

Unversehens packte sie ihn an den Kleidern und zerrte ihn hoch. Simons Kopfhörerstöpsel rutschten aus den Ohren und platschten in das Colaglas auf dem Boden. Ein gewaltiges »Verschwindet endlich« wurde daher von einem im Cola ersterbenden E-Bass-ähnlichen Sound untermalt. Es war weniger die Person selbst, sondern ihr plötzliches Erscheinen, was Simon dermaßen erschreckte. Er schnappte sich in Windeseile seinen iPod und rannte Julia nach, die bereits ein Stück entfernt, ängstlich zurückschauend auf ihn wartete.

»Unverschämtes Pack, euch werde ich es zeigen.« Das war das Letzte, was die zwei auf ihrer Flucht hören konnten.

»Du zitterst ja«, stellte Simon fest, als sie einen sicheren Abstand gewonnen hatten.

»Wundert dich das? Wer war das?«

»Die alte Storchschnabel.«

Das war natürlich nicht der richtige Name dieser sonderbaren Frau. Simon wusste nicht, wie sie hieß. Storchschnabel nannte er sie einfach, weil sie immer sehr viel redete, und dabei rasselten ihre Lippen urkomisch gegeneinander. Simon erinnerte das an einen Storch, wenn er auch noch nie einen redenden Storch gesehen hatte. Aber falls ein Storch redete, dann konnte es nur so aussehen.

»Storchschnabel? Das ist ja ein furchtbarer Name.« Julia musste kichern, obwohl es ihr eigentlich nicht danach war. »Ist das dein Ernst?«

»Wenn ich es sage. Wie soll sie sonst heißen?«

»Was weiß ich? Vielleicht Kratzbürste, Katzenblick oder Litfaßsäule.«

Nun, die Frau sah wirklich einer Litfaßsäule zum Verwechseln ähnlich. Julias Anspielung war nicht unbedingt charmant, aber doch berechtigt. Simon begann lauthals zu lachen.

»Litfaßsäule, natürlich. Hast du bemerkt, die Fetzen, die sie anhatte, waren auch keine Kleider. Die ist beklebt. Ich habe es genau gesehen.«

»Red keinen Blödsinn. Womöglich hört sie uns noch.«

Die zwei waren in sicherer Entfernung. Julias Angst war daher völlig unbegründet. Sie meinte es auch nicht ganz ernst. Simon bemerkte bereits wieder einen schelmischen Zug um Julias Lippen.

»Außerdem«, fuhr er fort, »haben wir ein gutes Werk getan.«

»Wir?«

»Ja, wir. Die alte Storchschnabel schimpft aus Leidenschaft. Sie schimpft eigentlich immer. Beim Bäcker, beim Metzger, alleine auf der Straße – wo man sie sieht, schimpft sie. Meist macht sie sich selbst rund. Jetzt hatte sie endlich einmal einen Grund, richtig loszulegen. Muss echt toll für sie gewesen sein.«

»Sims!«

»Stimmt doch. Sie hätte uns höflich bitten können zu gehen.«

»Wir waren ja auch nicht im Recht.«

»Vielleicht.«

Einige Zeit liefen beide schweigsam nebeneinander her. Ihre Gedanken waren noch im Banne der Storchschnabel und des sonderbaren Gartens, dessen Eigentümlichkeiten ihnen immer bewusst waren, die sie sich aber nie erklären konnten.

»Ich hätte gern einmal in das Haus geschaut«, unterbrach Simon die Stille. Julia nickte beiläufig. Ihr ging das Lippenspiel der Storchschnabel noch immer nicht aus dem Sinn.

»Wahrscheinlich liegt in irgendeiner Ecke der vermoderte Professor.«

»Professor?« Julia blickte ihn erstaunt an.

»Ja, einem Professor gehört angeblich der Schuppen.«

Den Garten fand Julia geheimnisvoll genug. Um das Haus machte sie daher einen ehrfürchtigen Bogen.

Das halb verfallene pavillonartige Gebäude, indem sich die zwei so gern aufhielten, befand sich auf einer kleinen Lichtung hinter dem Wohnhaus. Es war der freundlichste Ort des Gartens. Wahrscheinlich lag es daran, dass hier die Bäume einen vorsichtigen Abstand hielten.

Zum Haus führten zwei Wege, beide völlig verwahrlost. Anscheinend benutzte sie schon lange niemand mehr.

»… und du meinst, er ist tot?«, fuhr Julia leise fort.

»Wäre doch möglich, oder?«

»Müssten wir diese Vermutung nicht der Polizei melden?«

»Vermutung! Vergiss nicht, es ist nur eine Vermutung. Vielleicht sollten wir es selbst auskundschaften.«

»Ohne mich!« Julia schaute Simon entsetzt an. »Wir können doch nicht einfach einbrechen. Außerdem … vielleicht erwischt uns die fette Storchschnabel wieder.«

»Die hat dort nichts zu suchen.«

»Im Garten ist sie auch aufgetaucht.«

»Das habe ich mir gerade auch überlegt. Was hat die Storchschnabel in dem Garten verloren? Uns jagt sie fort. Hat sie mehr Rechte als wir?«

»Wird wohl so sein«, kürzte Julia die Antwort ab.

Die Jugendlichen waren in der Zwischenzeit an einem großen Tor angelangt, der Eingang zu Simons Elternhaus. Hier trennten sich ihre Wege. Das ultimative »Bis morgen« wagte heute keiner der beiden zu sagen. Sie standen sich gegenüber und schauten sich an. »Bis morgen« bedeutete für gewöhnlich das Wiedersehen im Gartenhäuschen. Ob sie es wagen konnten, dorthin zurückzukehren? Keiner getraute sich, diesen Vorschlag zu machen.

»Man sieht sich in der Schule?«, versuchte Julia, die Unsicherheit zu umgehen.

»In der Schule, sicher, ja. Bis morgen«, entgegnete Simon dann doch und drückte das schwere Gitter auf. Julia sah ihm kurz nach, wie er langsam zur väterlichen Villa trottete, und bog dann rasch in die Untere Breite ein. Die Straße, in der sie zu Hause war.

Die Hagemanns, Simons Eltern, waren wohlhabende Leute. Sie bewohnten ein vornehmes Haus inmitten einer Parkanlage. Simons Vater war selten zu Hause. Er war ein gefragter Mann in Wirtschaftskreisen und so blieb ihm für die Belange der Familie nicht viel Zeit. Wenn es ihn doch zwischendurch ins eigene Heim verschlug, lief er merkwürdig gekrümmt durch die Zimmer und Gänge des Gebäudes, da er am rechten Ohr geschäftig sein Telefon trug, das er geschickt zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt hatte. Ohne Telefon am Ohr konnte sich Simon den Vater gar nicht vorstellen.

Der Junge war sich auch immer unschlüssig, ob der Alte gerade mit ihm oder einem Geschäftspartner sprach. Manchmal konnte er es deutlich unterscheiden, wenn er zum Beispiel hörte, »werfen Sie die blöde Kuh doch raus« oder Ähnliches, schließlich hielt Simon keine Kühe in seinem Zimmer. Allerdings hatte sich der Junge auch schon mal dafür gerächt, dass ihm beständig die Aufmerksamkeit vorenthalten wurde.

Der Vater befahl damals, »die Unterlagen rauszuwerfen«. Simon warf kurzerhand einen Stoß Akten ins Kaminfeuer. Als es der Vater zu spät bemerkte, sammelte sich sein ganzer Blutvorrat im Kopf an. Eigentlich war der Vater ein ruhiger, besonnener Mensch, der auch zeitweise die Fähigkeit zum Lächeln mit spärlichem Erfolg übte, doch an dem Abend drohte er zu platzen. Simon fasste seinerseits den Entschluss, mit dem Vater nur noch zu reden, wenn dessen beide Ohren sichtbar waren. Das hatte zwangsweise zur Folge, dass sie nur noch selten miteinander sprachen.

Simons Mutter war eine schöne Frau. So sagte man zumindest. Ihm war das egal. Er mochte seine Mutter so, wie sie eben war. Simon war das einzige Kind und sie zeigte für viele seiner Eigenarten Verständnis. Oft musste sie ein Auge zudrücken, wenn er wieder einmal gegen eine sonderbare Regel des Hauses verstoßen hatte.

Sonderbare Regeln gab es genug. Der Vater hatte Bereiche, die als unantastbar galten. Doch gerade sie weckten Simons Interesse.

Die Hagemanns bewohnten das Anwesen nicht allein. Zum einen war da die Haushälterin Nanetta und zum anderen der Gärtner Rochus. Nanetta war eine treue Seele. Sie trug sehr viel zur Erheiterung im Hause bei. Durch ihre fahrige Art stolperte sie über alles, was sich dazu eignete. Auch befanden sich Vasen und andere Gegenstände in ständiger Not, von ihrem Gefuchtel mitgerissen zu werden. Sie zeichnete sich nicht durch besondere Klugheit aus, fand Simon. Er beschrieb sie gelegentlich als die dümmste Schussel der Welt. Er hatte allerdings keinen Grund, über sie zu klagen, überging sie doch wohlwollend manche seiner Flegeleien.

Rochus war ein anderer Fall. Kinder waren für ihn ein Gräuel. Als Gärtner vertrat er die Devise, Kinder gehörten ins Haus an den Fernseher und nicht in den Garten, schließlich würden extra für sie Kinderprogramme produziert. Bestimmt war auch er der Grund, warum Simon den eigenen Garten mied und mit Julia den verbotenen Ort aufsuchte. Rochus hatte etwas Brutales an sich. Ganz übel spürte man das, wenn er sich an seine Pflichten als Hausmeister erinnerte und den Weinkeller auf seine Qualitäten hin überprüfte. Diese Aufgabe übte er sehr gewissenhaft aus. Simon hatte ihn schon dabei beobachtet, wie er angetrunken über eine Rosenhecke stolperte. Eine Attacke auf die Rosenhecke hätte Simon unweigerlich Prügel eingetragen. Rochus gestand sich selbst also weit mehr Rechte zu als anderen. Simons Mutter mochte ihn auch nicht, doch schien er in der Gunst des Vaters zu stehen.

Nachdem Simon sich von Julia verabschiedet hatte, schlenderte er durch das Eingangstor die väterliche Hainbuchenallee entlang zu der wuchtigen Villa. Auf dem Vorplatz sah er den tollen Flitzer des Vaters, den roten Jaguar.

Ach, er ist wieder im Lande, war sein erster Gedanke.

Der Vater war von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt. Was er wohl diesmal mitgebracht hatte? Meist schenkte er Simon ein Modell für seine Flugzeugsammlung. Gelegentlich wählte der Vater allerdings auch eine CD oder eine andere Überraschung aus. Geschickt traf er immer den Geschmack des Jungen. Voller Erwartung beschleunigte Simon seine Schritte und stürmte schließlich in Richtung Villa.

Plötzlich wurde er von hinten am Hemd gepackt. Eine weitere Hand spürte er an der Kehle. Der unerwartete Druck der groben Hände schmerzte, sodass er aufschrie.

»Nicht so eilig, du Balg! Hättest mich fast umgerannt!«

Es war Rochus. Simon hatte ihn völlig übersehen. »Unser Garten ist keine Rennbahn!«

»Vater ist da«, wehrte Simon schnell ab.

»Der ist auch noch in fünf Minuten da.«

»Bitte, lass mich los!« Die Hand am Hals lockerte sich kaum.

»Nicht bevor du dich entschuldigt hast!«

Seit wann legte Rochus Wert auf eine Entschuldigung?, wunderte sich Simon.

Der Junge hatte nicht die geringste Lust, sich auf Diskussionen einzulassen, und sah auch keinen Grund, sich zu entschuldigen. Normalerweise bekam er einen Tritt von dem bösartigen Gesellen, dann war die Sache für ihn erledigt.

»Rochus, ich habe mit dir etwas zu besprechen«, erklang in ruhigem Ton Vaters Stimme. Er hatte aus der Haustüre tretend die Szene beobachtet und nickte Simon kurz zu. »Geh du schon mal rein. Ich komme gleich nach.«

Simon war erleichtert, aus den Pranken des Wahnsinnigen zu entkommen, und flüchtete mit den Worten »Hallo, Paps« ins Haus.

Warum reagierte Vater so gleichgültig?, ärgerte er sich, schließlich hat mich der Grobian fast erwürgt. Eigentlich müsste er jetzt den bösartigen Gärtner zurechtweisen oder gar entlassen. Vater war ja sonst nicht so zimperlich. Der machte aber nicht den Eindruck, auf die Szene eingehen zu wollen. Simon behagte der Auftritt des Vaters nicht. Zwei Wochen hatte er ihn nicht gesehen. Wäre da nicht ein freundlicherer Empfang oder zumindest ein ordentlicher Gruß fällig gewesen?

Zuerst die Storchschnabel und nun diese Begegnung mit Rochus, das genügte Simon einstweilen. Er betrachtete seine Kopfhörer.

Ob die wohl die Schwimmübungen überlebt hatten?

Nein, das war heute nicht sein Tag, stellte er ohne Zweifel fest und begab sich schnell auf sein Zimmer.

RADBODA SAUERMILCH

Es war ein furchtbares Gefühl. Julia saß in einem Wald. Wie aus dem Nichts wuchs die alte Storchschnabel aus einem morschen Baumstumpf. Sie war noch hässlicher als bei der letzten Begegnung. Ihr Gesicht war voller Warzen, am Kinn hatten sich Blutegel festgesaugt und die Nase gab Töne von sich wie bei einem Kampfstier. Julia wollte losrennen. Ihre Beine waren aber stocksteif und keinen Millimeter zu bewegen. Sie schlug mit den Händen um sich und gewann so das Gefühl, um sich her Raum zu schaffen. Der Angstschweiß stand ihr auf die Stirn. Sie zitterte am ganzen Leib. Gleich neben sich nahm sie einen verkrüppelten Mann wahr, der zu lachen begann. Sie schaute ihm verzweifelt und Hilfe erhoffend in die Augen. Sein Lachen klang immer furchtbarer.

Das sind Simons Kopfhörer! Der Mann hat Simons Kopfhörer auf!, schoss es ihr durch den Kopf. Durch das wilde Lachen rutschten dem Buckligen die Stöpsel aus den Ohren und plumpsten in einen Bach. Julia wollte hinstürzen und sie auffangen. Doch ihre Beine rührten sich keinen Millimeter von der Stelle. Schon lagen die Kopfhörer im Wasser und gaben einen gellenden Laut von sich.

Öffne die Augen!, dachte sie plötzlich.

Erleichtert atmete sie auf. Julia lag in ihrem Bett. Der furchtbare Ton aus den Kopfhörern kam von ihrem Wecker. Hatte sie der Traum noch einmal für das gestrige Vergehen bestraft? Ihre Beine zitterten. Langsam erhob sie sich und streifte die Zudecke ab. Erlöst stellte sie fest – die Beine gehorchten ihrem Willen. Wie befreiend es sich anfühlte, einfach so zu gehen.

Der sonderbare Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Simon konnte es nicht gewesen sein. Ihm war zwar gestern der Kopfhörer runtergerutscht … nein, er war es nicht. Sie wusste, Träume spielten oft böse Streiche und Personen erschienen meist in anderer oder veränderter Gestalt. Simon konnte schon gelegentlich hartherzig oder auch zynisch sein, aber er war es ganz sicher nicht.

Sie zog den Rollladen hoch. Noch ganz in Gedanken starrte sie aus dem Fenster auf den benachbarten Park. Der Park der Hagemanns. Die Villa konnte sie nur vermuten. Riesige Kastanienbäume verwehrten ihr den Blick. Dafür hatte Julia aber eine schöne Aussicht auf den Springbrunnen und einen Teil der Rosenanlagen. Rochus sah sie dort gelegentlich arbeiten. War er der Mann aus dem Traum? Sie kannte ihn nicht näher, doch Simon beschrieb ihn oft als ziemlich ätzend.

Lachen, das war Rochus fremd. Jedenfalls Simon zufolge. Damit schied der Gärtner schon mal aus.

Im Moment hielt sich niemand im Park auf, zumindest konnte Julia niemanden erkennen. Aus ihrem Zimmer im achten Stock dieses Wohnblocks hatte sie den perfekten Überblick.

»Was ist denn heute los?«, erklang eine Stimme. Julias Mutter. »Du bist schon auf?«

Merkwürdig war das schon, denn Julia verkroch sich gewöhnlich nach dem Weckerklingeln unter der Bettdecke und die Mutter hatte alle Mühe, sie in dem Wulst auszugraben.

Julia und ihre Mutter, Magdalena Weingärtner, lebten zu zweit in der kleinen Wohnung. Sie waren ein eingespieltes Team.

Als das Mädchen den verwunderten Blick ihrer Mutter sah, überlegte sie, ob sie von dem Traum erzählen solle oder nicht. Doch sie war ein Morgenmuffel und so nickte sie ihr lediglich ein vergähntes »Guten Morgen« zu. Magdalena lächelte verständnisvoll und verließ mit einem beiläufigen »Das Frühstück ist fertig« das Zimmer.

*

Die Untere Breite befand sich in einem Vorort von Neustadt. Um in die Schule zu gelangen, nahm Julia den Bus. An der Haltestelle traf sie häufig Simon. Wie Julia besuchte er das Emmanuel-Kant-Gymnasium. Heute würden sie einander verpassen, da Simon erst in der zweiten Stunde Unterricht hatte. Er war ein Jahr älter als Julia und eine Klassenstufe über ihr. Die Anfangszeiten ihres Schultags deckten sich daher nicht immer.

Julia machte sich morgens aus einem Hang zum Aberglauben gelegentlich einen Spaß. Sie bildete sich ein, die erste Begegnung des Tages würde dessen ganzen Ablauf beeinflussen. Träfe sie auf einen Menschen, der ihren freundlichen Gruß erwiderte, so könnte nichts mehr schiefgehen und der Tag wäre gerettet. Mit diesen Gedanken spielte sie auch heute, während sie an der Mauer des Hagemann’schen Anwesens entlanghastete, um danach links in die Bahnhofstraße einzubiegen, Simons Adresse, an deren Ende sich die Bushaltestelle befand. Als sie an der Kreuzung ankam, verlangsamte sie ihren Schritt und blickte vorsichtig nach rechts in die Straße hinein. Wen würde sie als Erstes erblicken? Unbekannte eilten an ihr vorüber, entweder wollten sie ebenfalls zum Bus oder sie verschwanden still in Nebenstraßen.

Julia lief aufmerksam weiter. Nein, das durfte nicht wahr sein, auf sie hier zu treffen, war ein ganz übles Vorzeichen. Wie herbeigezaubert stand vor ihr Radboda Sauermilch, ihre Klassenkameradin. Selbstverständlich hieß sie nicht Sauermilch. Simon nannte sie immer so. Er hatte die Gewohnheit, für jede und jeden einen geeigneten Namen zu finden. In Wirklichkeit hieß sie Wilk, Radboda Wilk.

Radboda konnte man durchaus nicht als Schönheit bezeichnen. Ihre Haare hingen ungepflegt über das knochige Gesicht. Am größten schienen die Augen zu sein, die immer in Bewegung waren. Den Mund benutzte sie im Gegensatz dazu fast nie. Das ganze Mädchen war dürr. Simon meinte, wenn man sich in ihrer Nähe befinde, sollte man den Atem anhalten, denn unter dem kleinsten Luftzug bräche sie ab. Radboda war hochintelligent und das machte sie unter den Schülern auch nicht gerade beliebt. Da sie bereits eine Klassenstufe übersprungen hatte, war sie die Kleinste unter Julias Mitschülern. Anfangs tat sie sich sehr schwer, den fehlenden Stoff aufzuarbeiten, doch biss sie sich zäh durch und nun war sie bereits wieder Klassenbeste. Wenn im Winter bei den Wilks der Schornstein rauchte, meinte Simon: Radboda ist beim Pauken heißgelaufen. Was sie besonders unbeliebt machte, war ihre kühle, distanzierte Art. Sprach man sie an, so reagierten lediglich ihre Augen. Der Rest des Mädchens blieb unbeteiligt. Auch hier hatte Simon eine Meinung. Er war der Ansicht, außer dem Gehirn und den Augen wäre an ihr alles überflüssig.

Und nun musste Julia an diesem Morgen ausgerechnet ihr begegnen. Was für ein Omen!

»Guten Morgen, Ra…«, fing sie an, doch der vermeintliche Unstern war bereits an ihr vorbeigeschossen. »Blöde Kuh«, schloss Julia den begonnenen Satz und folgte ihr etwas langsamer bis zur Bushaltestelle.

Mathe!

Allein dieses kurze Wort entfachte in Julia ein unangenehmes Gefühl. Heute stand in der ersten Stunde zu allem Übel noch eine Klassenarbeit an, unangekündigt. Was für ein Tag. Erst walzte ihr Radboda über den Weg und jetzt drohte gleich das nächste Unheil. Als Schnuffi, so nannten sie den Mathelehrer, da er immer die Nase gekünstelt hochzog, die Blätter mit den Aufgaben austeilte, schien er auf Reißnägeln zu kauen. Sein Gebiss bewegte sich in alle erdenklichen Richtungen und jedes Mal verkrampften sich die Backenmuskeln auf entsetzliche Art. Julia war keine schlechte Schülerin, doch vor Mathe hatte sie heillosen Respekt. Vielleicht bezog sich der Respekt auch eher auf Schnuffi, den alle fürchteten. Nun, das war schließlich einerlei. Mathe und Schnuffi waren sowieso nicht trennbar, jedenfalls nicht in diesem Schuljahr.

Als Julia das Blatt vor sich liegen hatte, überflog sie die Aufgaben. Nummer eins und drei hielt sie für lösbar. Bei Nummer zwei und vier musste man mal sehen. Insgesamt konnte eine Drei rausspringen, überschlug sie und begann etwas beruhigter zu rechnen.

Zwischendrin wanderte ihr Blick zu ihrer Nachbarin und automatisch noch einen Platz weiter. Hier saß Radboda … oder besser gesagt, hier rutschte Radboda mit dem Hintern auf ihrem Stuhl hin und her. Sie war schon völlig in die Arbeit vertieft und traktierte mit ihrem Füller das Aufgabenblatt. Julia musste lächeln. Sie stellte sich gerade vor, das Schreibgerät würde zu glühen beginnen und das Papier in einem Funkenflug untergehen. Waren da nicht kleine Rauchwolken über dem Blatt der ungeliebten Kameradin?

Einen Vorteil hatten Mathearbeiten, die Zeit raste dahin. Und bald kündigte Schnuffi das Ende an. Die Arbeiten wurden von außen zur Mitte hin gegeben, damit er dort zügig einsammeln konnte. So geschah es, dass Julia unversehens Radbodas Arbeit in den Händen hielt. Ihr Blick fiel auf das Ergebnis der dritten Aufgabe –»25«.

Nein, 252 musste da stehen.

Julia war sich absolut sicher. Doch schnell zogen Zweifel auf. Radboda irrte sich nie. In Windeseile überschlug sie die Aufgabe erneut. Eindeutig 252.

Schnuffi stand schon ganz in der Nähe und legte die bereits eingesammelten Arbeiten säuberlich aufeinander. Julia zögerte keine Sekunde mehr, griff zu ihrem Stift und ergänzte die 25 mit der fehlenden Zwei auf Radbodas Blatt.

»Jetzt aber aus.« Mit diesen Worten zog Schnuffi ihr das Blatt weg, legte es auf den Stapel und ging weiter. Julias Herzschlag setzte aus. Der Lehrer hatte das Blatt für ihres gehalten. Das war knapp gewesen. Was hatte sie getan? Wenn nun 25 stimmte? Dann war Radbodas Aufgabe falsch. Keine Eins zu schreiben galt für Radboda als vermasselt und als Vorbote eines nahenden Weltuntergangs.

»Zweihundertzweiundfünfzig«, erklang es da in der ersten Reihe. Julia nahm es wie in einem Traum wahr. »Hast du das auch?« Ihr Blick wanderte zu Radboda. Auch sie hatte die Jungs gehört. Es war an ihrer Mimik abzulesen, wie sie die ganze Aufgabe noch einmal durch ihren Kopf wandern ließ. Eine Blässe legte sich über ihre Züge. Julia hingegen fühlte sich wie von einem schweren Bann erlöst. Es war ein tolles Gefühl, jemandem geholfen zu haben. Es spielte dabei keine Rolle, ob es ein Freund oder eben die merkwürdige Radboda war. Gleichzeitig aber begriff sie sich selbst nicht. Radboda hätte Ähnliches nie gemacht. Ganz im Gegenteil – sie verwehrte jedem den Blick auf ihre Blätter und zeigte sich kühl triumphierend, wenn jemand anders versagte.

Die Schulglocke gellte im Drei-Groschen-Klang und man begab sich in den nächsten Raum.

Bio war angesagt. Biologie war das Lieblingsfach der Schüler. Der Grund lag bei Harald Hartmann. Ein Biologielehrer, den jeder mochte. Selbst Simon fand keinen geeigneten Spitznamen für ihn. Wahrscheinlich scheute er sich, diesen liebenswerten Menschen zu kränken. Hartmann machte zwar einen ernsten Eindruck, doch sprach er seine Schüler immer in ruhigem Ton und voller Respekt an. Allerdings verlangte er denselben Respekt von seinen Schülern und erhielt ihn auch in ungewöhnlichem Maße.

Mit seinen Erklärungen über die Zusammenhänge in der Natur schlug er seine Schüler in Bann. Meistens. Es kam auch vor, dass die Schüler ihn nicht begriffen. In dem Fall ließ man ihn reden und widmete sich einer anderen Beschäftigung im tiefen Untergrund der Schulbänke. Hartmann wurde nachgesagt, er mache selbst einen fesselnden Roman daraus, wenn eine Ameise mit Kreuzschmerzen den Tag verschläft.

Eines stand fest, selbst scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten gewann er einen Sinn ab und er verstand es, sie den Schülern plausibel zu machen.

Heute stand Pflanzenkunde auf dem Programm. Die an sich wenig aufregende Entwicklung der Pflanzenformen präsentierte Hartmann mit Charme und einem kräftigen Schuss Humor. Es gelang ihm dabei, für die Schüler alles in ein glänzendes Licht zu tauchen.

Als Hartmann die Vielfalt der Pflanzenwelt ansprach, blickte er Julia nachdenklich an. »Bei dir um die Ecke ist doch der Garten von Professor Quintus Zickel, nicht wahr?«

»Quintus, was?« Julia hörte diesen Namen zum ersten Mal. Sie vermutete schnell, dass es sich um eben ihr Versteck handeln musste und bei diesem Quintus um den Professor, der da womöglich irgendwo im Haus moderte.

»Quintus Zickel! Hast du noch nie von ihm gehört?«

»Nein. Allerdings gibt es einen Garten mit einem unbewohnten gruseligen Haus bei mir um die Ecke in der Bahnhofstraße.«

Hartmann lächelte und nickte Julia zu.

»Du solltest ihn dir unbedingt mal ansehen. Dort wiederholt sich keine Pflanze und man ist vor kaum einer Überraschung sicher. Ein Garten von größter Vielfalt. Professor Zickel hat gegen einen Besuch sicher nichts einzuwenden.«

Der Quintus Dings mag vielleicht nichts dagegen haben, doch Hartmann weiß vermutlich nichts von der Storchschnabel. Sie ist Überraschung genug, dachte Julia insgeheim.

Gleichzeitig wurde ihr bewusst, warum der Garten so einzigartig auf sie wirkte. Hartmann hatte recht. Ein Blätterwirrwarr dieser Art hatte sie noch nirgendwo sonst gesehen.

»Du warst schon dort?«

Um Gottes willen, was sollte Julia darauf antworten? Sie wollte Hartmann weder belügen noch ihm die Wahrheit sagen, und so schaute sie ihn einfach wortlos an. Sein Gesicht verzog sich zu einem eigenartigen und doch nachsichtigen Lächeln. Julia wurde das Gefühl nicht los, völlig durchschaut zu werden. Schnell brach sie den Blickkontakt ab, da sie eine große Peinlichkeit verspürte.

Noch gingen ihr Hartmanns Bemerkungen über den Garten und sein Lächeln durch den Kopf, als sie in der Pause auf den Hof eilte.

Simon müsste jetzt auch hier sein, dachte sie.

Sie sprachen in der Schule selten miteinander. Beide hatten Angst, von Schulkameraden gehänselt zu werden. War er doch ein Junge aus einer höheren Klasse und das böte Anlass für entsprechende Schlüsse.

Jetzt aber musste sie ihm dringend von der Biostunde erzählen. Ob er wusste, dass in dem Haus ein gewisser Quintus Zickel wohnte, der wohl nichts gegen einen Besuch einzuwenden hätte? So könnte man sich ja weiter dort treffen, vorausgesetzt dieser Professor sähe über die gängigen Regeln hinweg.

Wo Simon nur steckte? Schnell suchte sie alle Orte des Schulhofs ab, die er mit Freunden bevorzugt aufsuchte.

Endlich! Da stand er. Simon redete gerade mit zwei Jungen seiner Klasse. Würde er es ihr übelnehmen, wenn sie frech störte?

Julia versuchte, sich durch Blickkontakt bemerkbar zu machen. Geschickt stellte sie sich entsprechend auf, damit er sie sehen musste. Simon reagierte nicht. Wich er ihrem Blick bewusst aus? Er musste sie doch sehen.

Der Zeitpunkt war wohl gerade ungünstig, schloss sie aus seinem Verhalten. Na gut, dann eben später, entschied sie und ging ohne den erhofften Erfolg zurück zur Klasse.

*

Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt, als er in die Vorstadt einbog. Die Schule verschwand langsam im hinteren Fenster. Julia sah Simon vier Reihen vor sich sitzen. Rechts vor ihr kauerte Radboda, ihr Mittagessen vorwegnehmend, denn sie nagte eifrig an den Fingernägeln.

Zwei Fingerkuppen hat sie inzwischen bestimmt schon verschlungen, mit solchen Gedanken versuchte sich Julia abzulenken. Ungeduldig wartete sie auf den rechten Moment, um Simon anzusprechen.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, wie Haltestelle für Haltestelle angefahren wurde. Allmählich leerte sich der Bus. Ihr Blick huschte erneut zu Radboda. Noch war an ihr ein Stück Hand zu sehen.

Der Bus hielt erneut. Simons Nebenplatz wurde frei. Julia ergriff die Chance und huschte an seine Seite.

»Was machen wir heute Mittag?«, begann sie das Gespräch.

»Was sollen wir schon machen? Die Storchschnabel stiert bestimmt wieder im Garten herum, nachdem sie uns gestern erwischt hat.«

»Der Garten gehört einem … ach, jetzt fällt mir der Name nicht mehr ein … der hat offenbar nichts gegen Besucher«, warf Julia rasch ein.

»Woher willst du das wissen?«

»Hartmann sagt das!«

»Du hast mit Hartmann über unsere Besuche geredet?«

Simons Tonfall hatte etwas Vorwurfsvolles.

»Nein, ich nicht mit ihm, er mit mir«, versuchte sie sich zu entschuldigen.

»Das verstehe ich nicht.«

»Es hat sich in Bio so ergeben. Ich glaube, wir müssen uns echt keine Gedanken machen.«

»Das gestern, das hat mir gereicht!«

Simon machte einen genervten Eindruck. Er beachtete Julia kaum und starrte zum Fenster hinaus.

Diese Art von Unterhaltung tat Julia weh. Sie versuchte es anders. »Ja, du hast sicher recht. Warten wir ein paar Tage ab. Was machen deine Kopfhörer?«

»Haben den Geist aufgegeben«, erwiderte er knapp.

»Tut mir leid. Du kannst meine haben. Ich brauche sie sowieso nie.«

»Kann drauf verzichten.« Die Wucht dieser Ablehnung stach ihr tief ins Herz. Das fühlte sich an wie eine Ohrfeige. Ob sie sich einfach verziehen sollte? Ganz bestimmt, entschied sie.

Beim Aufstehen wendete sie sich noch einmal um.

»Simon, was ist mit dir los?«

»Ach, lass mich in Ruhe.«

Julia bewegte sich verstört auf ihren früheren Sitzplatz zu, an Radboda vorbei. Die Blicke der Mädchen begegneten sich. Ein schadenfrohes Grinsen lag auf Radbodas Lippen.

MERKWÜRDIGE BEGEBENHEITEN

Ein durchdringender Schrei riss Simon aus dem Schlaf. Der gellende Laut fuhr ihm tief in die Glieder und ihn beschlich ein unheimliches Gefühl. Hatte er geträumt? Nein, jetzt hörte er Tritte, die den Flur entlanghasteten. Es musste etwas Schreckliches passiert sein. Sein Wecker zeigte 3:20 Uhr. Ein Hauch von Panik stahl sich in sein Zimmer. Simon sprang aus dem Bett und zur Tür. Er öffnete sie und rannte auf den Flur. Beinahe wäre er mit seiner Mutter zusammengestoßen.

»Was ist?«, fragte er, und seine Stimme flackerte.

»Irgendwas mit Nanetta«, war die kurze, unsichere Antwort. Simon folgte ihrem schnellen Schritt, ohne ein weiteres Wort. Nanettas Zimmertür stand offen, drinnen lag das Mädchen auf dem Boden, anscheinend bewusstlos. Simons Vater beugte sich gerade über sie, neben ihm Rochus.

»Einen Arzt! Rochus, wir brauchen einen Arzt«, befahl Hagemann.

»Um diese Zeit? Wen soll ich da anrufen?«, entgegnete der Angesprochene widerborstig.

»Einen Notarzt, verdammt noch mal!«

Instinktiv hatte sich Frau Hagemann zu Nanetta gekniet und ihr ein Kissen unter den Kopf geschoben.

»Lebt sie noch?«, stammelte Simon.

»Sicher, ja. Sie ist nur in Ohnmacht gefallen. ROCHUS, was ist mit dem Arzt?«

Dieser Satz seines Vaters war als deutliche Verwarnung an Rochus gerichtet, der immer noch teilnahmlos dastand und Nanetta anstarrte.

»Ich mache das schon«, rief Simons Mutter und eilte zum Telefon.

Simon beobachtete das Mädchen. Kein Atemzug war wahrzunehmen. Regungslos lag sie auf dem kalten Marmorboden, die Augen geschlossen. War sie gestürzt? Sie müsste sich ja dann verletzt haben … Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Halt, was war das?

»Papa, was für eine Wunde hat Nanetta am Hals?«

Herr Hagemann sah Simon erstaunt an.

»Welche Wunde?«

Bei diesem Satz drehte er suchend den Kopf des Mädchens zur Seite, und wirklich, an ihrer Halsschlagader befand sich eine blutunterlaufene Stelle.

»Verdammt!« – Er stand auf und lief nachdenklich durch den Raum.

Rochus blickte noch immer mit morschem Blick auf Nanetta. »Ein Vampir. Ganz sicher, das war ein Vampir«, begann er sein elementares Wissen beizusteuern.

»Du Idiot«, heischte Hagemann ihn an, »Vampire gibt es in Fantasiegeschichten und in deinem bescheidenen Gehirn, aber nicht bei uns. Öffne die Fenster und stell zwei Ventilatoren auf.«

Offensichtlich wollte der Vater ihr Luft verschaffen, begriff Simon. Rochus folgte der Aufforderung und verließ das Zimmer, um das Gewünschte zu holen.

»Papa, kann ich irgendetwas helfen?«, sagte Simon in die eingetretene Stille hinein.

»Nein, Junge. Geh ins Bett.«

»Ich kann jetzt nicht schlafen. Ich mache mir Sorgen um Nanetta.«

»Die dumme Gans wird es überleben.«

»Hat sie etwas falsch gemacht?«

»Weiß nicht. Vielleicht.«

»Was ist das für ein Fleck an ihrem Hals?«

»Was weiß ich. Vielleicht ein Knutschfleck.«

Simon war enttäuscht. Er hatte eine ernsthafte Antwort erwartet, schließlich hatte sein Vater einmal Medizin studiert und war Chef einer Arzneimittelfirma. Er beschloss zu gehen. Gerade als er das Zimmer verlassen wollte, kündigte die Haustürglocke neue Bewegung an.

»Der Arzt«, hörte er seinen Vater erleichtert sagen.

Schon hörten sie den herbeigerufenen Mediziner mit Dora Hagemann die Treppe heraufeilen.

»Guten Abend, Herr Hagemann, was ist passiert?«

Ohne die Antwort abzuwarten, beugte sich der Arzt über das Mädchen und fühlte ihren Puls. Nach einer Pause, die unendlich lang erschien, tastete er verschiedene Stellen an ihrem Körper ab, beleuchtete die Pupillen und kontrollierte ihre Atmung. Das ganze unterstrich er mit ständigem Kopfschütteln. Offensichtlich stand auch er vor einem Rätsel.

»Ist es etwas Ernstes?«, drängte ihn Hagemann. »Ein Schlaganfall?«

»Nein, das nicht«, versuchte der Arzt zu besänftigen, »fast alles scheint ziemlich normal zu sein. Aber die Atmung ist so schwach, als ob sie in eine Art Tiefschlaf verfallen wäre. Ja, eben wie bei Tieren während des Winterschlafs. Sehr ungewöhnlich. Es handelt sich um eine Art Koma. Vor Kurzem hat es hier im Ort einen ähnlichen Fall …«

»Koma?«, unterbrach ihn Hagemann verwundert.

»Ja. Wir müssen sie in die Klinik einweisen. Ich rufe sofort einen Krankenwagen.«

Bei diesen Worten wählte er bereits auf seinem Handy die entsprechende Nummer und gab einige Anweisungen.

»Koma. Warum sollte sie in ein Koma verfallen?«, drängte Hagemann den Arzt, da er mit dieser Feststellung nichts anfangen konnte. »Üblicherweise verfallen Menschen in ein Koma, weil ihr Körper einen besonderen Schutz braucht, nicht aber Haushälterinnen, die sich ohnehin schon in Trance bewegen.«

»Diese Frage sollten wir zurückstellen«, schloss der Arzt das Gespräch ab.

Schnell trafen die Sanitäter ein. Sie trugen Nanetta aus dem Haus in den Rettungswagen.

Nachdem der Wagen das Grundstück verlassen hatte, legte sich die erste Aufregung. Die Stimmung, die sich danach breitmachte, hatte etwas Unversöhnliches, Abweisendes, fand Simon. Jedes der Familienmitglieder verlor sich in eigene Interpretationen. Simon fror und zitterte, was sicher auch auf die ungewöhnliche Uhrzeit zurückzuführen war. Endlich fiel Frau Hagemanns Blick auf den Jungen.

»Simon, oh Gott. Das ist eine furchtbare Nacht. Bitte geh wieder ins Bett.« Mit diesen Worten nahm sie ihren Sohn in den Arm und begleitete ihn auf sein Zimmer.

»Bleibst du noch ein wenig hier?«, bat er.

Die Mutter setzte sich zu ihm an die Bettkante und strich ihm über die Haare.

»Meinst du, Nanetta wird wieder gesund?«

»Ganz sicher«, beruhigte ihn die Mutter, »du weißt doch, Papa kennt die besten Ärzte.«

»Was glaubst du, was mit ihr passiert ist?«

»Ich habe wirklich nicht die geringste Vorstellung. Morgen sehen wir weiter. Versuch noch ein wenig zu schlafen«.

Bei diesen Worten küsste sie den Jungen und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer.

So richtig kam Simon in dieser Nacht nicht mehr zur Ruhe. Unter Koma verstand er etwas Furchtbares. Viele Geschichten hatte er schon darüber gehört. Oft nahm bei einem Koma das Gehirn Schaden und beim Aufwachen erkannten die Betroffenen ihre eigene Familie mehr. Ja, wenn sich Nanetta an manche Dinge, die Simon angestellt hatte, nicht mehr erinnerte, wäre ihm das sehr lieb, aber ihn sollte sie natürlich erkennen. Erst jetzt bemerkte er, wie gern er sie mochte. Seine Gedanken verloren sich in Erinnerungen, darüber schlief er schließlich doch ein.

»Du musst aufstehen. Simon. Wach auf.«

Beim Klang dieser Worte wurde er kräftig durchgeschüttelt.

»Komm endlich zu dir. Du bist sehr spät dran.«

Als er die Augen öffnete, erkannte er seine nachsichtig mahnende Mutter. Simon war noch so vom Schlaf umfangen, dass er alles wie in einem Rausch wahrnahm. Aufstehen, Waschen, Zähneputzen, Anziehen …, selbst das Verlassen des Hauses erlebte er in einem gleißenden Dämmerzustand.

Beim Blick auf seine Uhr stellte Simon ernüchtert fest, dass ihm verdammt wenig Zeit blieb, um den Bus zu erreichen. Er versuchte zu rennen, aber die Beine bremsten ihn mehr, als dass sie ihn vorwärts trugen. Von Weitem sah er nun auch den Bus stehen. Keine wartenden Kinder mehr vor seiner Tür. Er konnte jeden Moment losfahren.

Simon winkte dem Fahrer, raffte seine kümmerlichen Kräften zusammen und stürmte noch einmal los. Alles umsonst. Wie befürchtet, begann sich der Bus in einer gleichgültigen Gemächlichkeit aus der Parkbucht zu bewegen und zu entfernen.

Erschöpft blieb Simon stehen. Er hörte sein Herz schlagen und schnaufte schwer.

Die erste Stunde kann ich vergessen, gestand er sich ein. Und der nächste Bus fuhr erst in vierzig Minuten. Zu lange, um hier zu warten. Nach Hause zurückzugehen kam nicht infrage. Sein Vater war morgens meist missmutig oder in Eile, und heute … NEIN! Bei all dem Durcheinander wegen Nanetta … Außerdem müsste Simon dann zugeben, dass er den Bus verpasst hatte. Obwohl es wahrscheinlich sowieso niemanden interessierte.

Unschlüssig stand er an der Straße. Ein Ziel hatte er zwar nicht, doch fühlte er sich hier in der vertrauten Gegend wohl und so schlenderte er planlos die Straße zurück, in der Hoffnung, die vierzig Minuten würden schon irgendwie vergehen. Vielleicht begegnete er sogar einem anderen Nachzügler.

In Gedanken versunken fand er sich vor dem Haus des unbekannten Professors wieder. Lange schaute er in den verbotenen Garten.

Erinnerung geisterten ihm durch den Kopf. Da waren Julia und er an dem Nachmittag, als sie im Teich einen Frosch fangen wollten, Simon aber ausrutschte und ins Wasser plumpste. Hätte die Storchschnabel gesehen, wie er die Hose zum Trocknen an einen Ast hängte! Unwillkürlich musste er grinsen.

Gerade als er sich abwenden und weitergehen wollte, kam ihm etwas seltsam vor – ein Fenster im Obergeschoss stand offen. Er sah es deutlich durch das Blattwerk der Bäume. Nie zuvor hatte er irgendein Zeichen von Leben in diesem Haus wahrgenommen. Sollte sich da drinnen etwas bewegen? Simons Neugierde war geweckt.

Er schaute nach links, nach rechts. Kein Mensch war in der Nähe. Seine Uhr zeigte ihm noch dreißig Minuten an bis zur Abfahrt. Zeit genug.

Einen Blick in das Innere des sonderbaren Anwesens zu riskieren, das schien ihm der Mühe wert. Er wusste auch schon, wie. Das Blut schoss ihm vor Aufregung in den Kopf. Noch einmal sah er sich nach allen Seiten um. Zwar näherten sich jetzt Fußgänger, aber unter ihnen war niemand, den er kannte.

Gleichgültigkeit vortäuschend drückte er die Klinke des Gartentors und trat ein. Vorsichtig lief er den Weg entlang zum Haus, dabei behielt er den Eingang immer im Auge. Womöglich kam jeden Moment die Storchschnabel heraus. Doch angesichts dieser Bedrohung sagte er sich: Geschwindigkeit siegt.

Klettern war Simons Spezialität. Saß er erst mal oben zwischen den Ästen, könnte ihm keine Storchschnabel oder sonst wer etwas anhaben. Von der großen Linde an der Giebelseite würde er zwei oder drei Zimmer im ersten Stock einsehen können. Das war die Lösung.

Stück für Stück arbeitete er sich hoch bis zur zweiten Astreihe.

Je näher er dem offenen Fenster kam, umso stärker nahm er einen sonderbaren Duft wahr. Streng genommen handelte es sich eher um ein Duftgemisch. Einmal überwog dieser, kurz darauf ein anderer Geruch. Eine derartige Mischung war für Simons Nase vollkommen neu, obwohl er der Meinung war, seinen Zinken schon überall hineingesteckt zu haben. Erstaunlich. Ein Haus, das jahrelang verwaist gewesen war, hätte eigentlich aus so einer Luke einen Gestank nach Moder oder so etwas Ähnlichem verströmen müssen.

Die Neugierde wuchs weiter.

Zimt? Das roch nach Weihnachten. Was ihn jetzt noch alles umwehte, konnte er unmöglich benennen. Koreander, Kardamom, dann Wolken von Thymian, Rosmarin, frischem Fichtenbruch? – Pfui Teufel: Schwefelgestank! Er stach ihm in die Lunge. Woher kam dieser Schwall an Gerüchen?

Simon malte sich als Quelle der Aromen ein beachtliches Laboratorium aus, schließlich gehörte das Gebäude einem Wissenschaftler.

Bald hatte er es geschafft. Er war bereits so weit oben, dass er das Zimmer bequem überblicken konnte. Doch was sich vor ihm auftat, musste eine Sinnestäuschung sein. In dem Raum befand sich … nichts.

Simon stieg noch ein Stück höher. Sicher standen dort drinnen irgendwo Gläschen, Phiolen oder ähnliche Behältnisse, aus denen die Düfte entwichen. Aber nichts dergleichen war zu sehen. Der Junge wagte sich auf die dünneren Äste. Er kletterte nach links, dann nach rechts und spähte in alle Winkel.

Das Zimmer war leer. Es gab nicht einmal Tapeten. Die Wände zeigten sich nackt und gleichgültig.

Der mysteriöse Professor musste ein Zauberer oder Magier sein. Mit Wissenschaft ließ sich dieses Phänomen jedenfalls nicht erklären… Genau! Der Garten war ihm schon lange verhext vorgekommen.

Und die Storchschnabel, so spann er den Faden feixend weiter, die Storchschnabel war kein Mensch, sondern ein aufgequollener Heuballen mit einer Unkenstimme und den Augen einer Kartoffel.

Ins Haus zu steigen schied aus. Die Äste reichten nicht nah genug ans Fenster heran. Falls Simon überhaupt den Mut aufgebracht hätte, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Plötzlich wurde ihm bewusst, wie schnell die Zeit verstrichen war. Mist, er durfte nicht noch einen Bus verpassen. Schleunigst kletterte er vom Baum herunter, verließ unbemerkt das Grundstück und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.

*

Als Simon mit einer ordentlichen Verspätung das Klassenzimmer betrat, wurde er auf erwartete Weise begrüßt. Aus einer Ecke kam das Unvermeidliche: »Na, verschlafen?« Aus einer anderen Richtung: »Der hat wohl die Tage verwechselt. Simon! Donnerstags fangen wir in der Ersten an.«

Er überhörte alles und setzte sich nach einer lapidaren Entschuldigung dem Lehrer gegenüber auf seinen Platz. Glücklicherweise hatten sie gerade Kunst. Paule, wie sie den Lehrer nannten, war die meiste Zeit damit beschäftigt, den Geräuschpegel niedrig zu halten. Ein Schüler weniger fiel ihm da wohl gar nicht so auf. Während Simon seinen Zeichenblock zurechtlegte, beschloss er, Julia von seiner Entdeckung zu berichten. Gleich nach der Stunde. Er musste sich jemandem anvertrauen. Auch war er gespannt, was die Freundin zu Nanettas Unfall sagen würde.

Die Pausenglocke erklang. Simon stürmte auf den Schulhof. Er wusste, wo er Julia finden konnte. Sie stand mit einigen Klassenkameradinnen im Halbkreis, ins Gespräch vertieft. Simon ging es nun ähnlich wie Julia tags zuvor, er brachte den Mut nicht auf, sie zu stören.

Da Julia ihm den Rücken zuwandte, konnte er ihr auch kein Zeichen geben. Die Minuten verstrichen. Gleich würde die Pause zu Ende sein. Eine Chance hatte Simon noch. Er wusste, welchen Rückweg Julia ins Gebäude bevorzugte, und dort wollte er sie abfangen.

Schüler um Schüler drängten an ihm vorbei, während er an dem kalten unpersönlichen Treppenaufgang stand.

Wohl war ihm dabei nicht. Julias Freundinnen würden sicher wieder in das übliche dämliche Gekicher verfallen, wenn er sie ansprach. Er hasste das wie die Pest.

Wo blieb sie? Da, endlich kam sie. Ein Stein fiel ihm vom Herzen und doch fühlte er sich ungewöhnlich bedrückt. Geschickt änderte er seine Position so, dass sie ihn sehen musste. Ihre Blicke trafen sich kurz. Julia schaute schnell zur Seite, flüsterte einer Mitschülerin etwas zu und beide enteilten, ohne den Jungen weiter zu beachten, in Richtung Klassenzimmer.

Geschlagen blickte Simon den Mädchen nach. Selten hatte er sich so alleine gefühlt. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, dass er sie gestern schwer gekränkt haben musste. Das Gespräch im Bus … Du Hornochse, sagte er zu sich selbst, das war keine Glanzleistung.

Chemie stand auf dem Stundenplan. Harald Hartmann war in Simons Klasse neben Bio auch für dieses Fach zuständig. Auch was chemische Mixereien anging, galt Hartmann in der Schule als Phänomen. Kein anderer Lehrer verstand so überzeugend und fesselnd, diese sonst wenig beliebte Materie zu präsentieren. Wenn er gelegentlich von Dingen erzählte, die keiner verstand, ließ man ihn einfach reden. Schließlich war er fair genug, in den Arbeiten nur das landläufige Wissen abzufragen.

Heute stellte er Gläser mit Chemikalien auf den Tisch im Labor. Ein Glas auf der linken, ein kleineres auf der rechten Seite des Tisches. Beide Gläser waren zunächst abgedeckt. Dann nahm er den Deckel ab und fragte die Schüler, ob sie etwas sähen. Natürlich sah keiner etwas, doch wollte man das nicht unbedingt zugeben.

Der kleine Moritz, immer gern ein Besserwisser, warf auch sofort eifrig ein: »Das rechte, es verfärbt sich!« Niemand konnte eine Farbveränderung feststellen.

Der witzige Jonas, Simons Freund, hatte eine andere Idee: »Die Gläser lösen sich auf!« Zumindest erntete er ein schallendes Gelächter in der Klasse. Hartmann ließ die Menge gewähren und begann, über ein Glas hinwegzublasen.

»Fällt euch wirklich nichts auf?«

Es trat Stille ein. Keiner wusste, was Hartmann bezwecken wollte. Jonas, stets auf der Suche nach einem Gag, entdeckte leider auch keine Veränderung an den Substanzen. Angespannt sann er darüber nach, wie er alle aufheitern könnte.

Inzwischen breitete sich ein unangenehmer Geruch im Raum aus. Das war die Chance für Jonas: »Wir haben ein Megaschwein in der Klasse!«

Die Schüler in den hinteren Reihen nahmen den widerlichen Gestank noch nicht wahr. Sie begriffen die Anspielung daher nicht und so fiel das Gelächter sparsamer aus als erwartet.

»Jonas ist auf dem richtigen Weg«, warf Hartmann ein.

»Fragt sich nur, wer es war«, ergänzte der Schelm.

»Hier. Der Schuldige sitzt in diesem Glas.« Hartmann nahm das linke Glas an sich und ging die Reihen durch, wobei er die unsichtbaren Dämpfe unter die Nasen der Schüler winkte.

Die Gesichter nahmen die ablehnendsten Formen an. Es stank wahrhaft entsetzlich.

»Ammoniak nennt sich dieses Gas. Ich habe ein wenig in dieses Glas getan. Im anderen Glas dort befindet sich Salzsäure. Auch Salzsäure dampft und riecht nicht besonders. Beide Dämpfe sind, wie ihr klugerweise bemerkt habt, nicht sichtbar.«