Der Mann schwankte.
Die Passanten gingen achtlos an ihm vorbei. Seit Bürgermeister
Rudolph Giuliani für Ordnung in New York sorgt, sieht man nur noch
selten Betrunkene oder Rauschgiftsüchtige mitten in Manhattan.
Vorkommen kann es trotzdem immer noch.
Mühsam setzte der Mann einen Fuß vor den anderen. Überquerte
die Federal Plaza. Er steuerte ein bestimmtes Gebäude an. Das
40stöckige Hochhaus mit der Nummer 26. Der Sitz des New Yorker FBI
Field Office.
Der Mann stemmte sich durch die Drehtür im Erdgeschoß. Zwei
Schritte konnte er noch hinter sich bringen. Dann versagten ihm die
Beine den Dienst. Schwer schlug sein Körper auf den blank
gebohnerten Fußboden.
Ein Angestellter eilte herbei. »Ist Ihnen schlecht,
Sir?«
Die Augen des Mannes waren blutunterlaufen.
»Mr. McKee…«, krächzte er mit einem starken slawischen Akzent.
»Bitte… zu Mr. McKee…« Dabei krümmte sich sein Körper zusammen,
offenbar vori fürchterlichen Krämpfen geschüttelt.
Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Jonathan D. McKee leitet als Special Officer in Charge das FBI
Field Office New York. Es ist nichts ungewöhnliches, daß
Informanten nur mit ihm sprechen wollen. Aber daß jemand zu unserem
Chef will und dabei noch in unserer Eingangshalle tot
zusammenbricht, das kommt selbst in unserem aufregenden Job nicht
jeden Tag vor.
»Ich bin natürlich sofort hinuntergegangen, um mir den Mann
anzuschauen«, berichtete Mr. McKee. »Aber sein Gesicht sagte mir
nichts. Ich kenne ihn nicht.«
Ich nickte. Mein Freund und Kollege Milo Tucker und ich saßen
unserem Chef in der Besprechungsecke seines Dienstzimmers
gegenüber. Vor uns stand jeweils eine Tasse des köstlichen Kaffees,
den seine Sekretärin Mandy kochte.
»Könnte es etwas mit laufenden Ermittlungen zu tun haben?«
überlegte Milo.
Mr. McKee machte eine unbestimmte Handbewegung. »Das wissen
wir eben nicht. Deshalb bitte ich Sie beide, die Identität des
Toten festzustellen. Der Arzt hat mir zugesichert, daß wir die
Obduktionsergebnisse spätestens morgen abend bekommen. Den Inhalt
der Taschen des Toten habe ich bereits zusammenstellen
lassen.«
Mit diesen Worten überreichte er mir einen großen braunen
Umschlag.
»Eine Identity Card oder ein Führerschein war wohl nicht
zufällig dabei?« fragte ich unschuldig.
Ein feines Lächeln erschien auf den schmalen Lippen von Mr.
McKee. »Auch ohne ein solches Dokument werden Sie herausfinden, wer
dieser Mann war und was er gewollt hat, Jesse. Da bin ich mir ganz
sicher.«
***
Die Bat Bar an der 57th Street ist allnächtlich ein Treffpunkt
der Reichen und Schönen. In rotes und orangenes Licht getaucht
drängelt sich dort eine wohlhabende Partymeute zwischen den
schrillen Fledermaus- und Werwolffiguren, mit denen die Wände
geschmückt sind.
An diesem Morgen jedoch war die Bat Bar so gut wie
menschenleer. Nur eine Frau saß auf einem der gußeisernen
Designer-Barhocker.
Sie hieß Svetlana Scharkowa und war von Beruf Fotomodell. Und
zwar nicht irgendeines. Sie gehörte zu dem runden Dutzend
Supermodels, die es weltweit gab. In ihrer russischen Heimat war
sie der unangefochtene Star. Magazine und Werbeagenturen rissen
sich darum, einen Termin mit ihr zu bekommen. Ihr tief gebräuntes
Gesicht mit dem unverkennbaren kantigen Kinn und den wasserblauen
Augen hatte schon für weltweite Werbekampagnen Verwendung gefunden.
Doch nun hatte sie ihren ersten Job für eine nicht-europäische
Agentur.
Svetlanas erstes Foto-Shooting in New York. Man merkte ihr
ihre Nervosität nicht an, als sie scheinbar ruhig eine Zigarette
rauchte. Sie hatte gehört, daß Rauchen in Amerika inzwischen fast
überall verboten war. Aber die Foto-Agentur hatte die Bat Bar für
den ganzen Tag gemietet. Bis der Nightclub am Abend wieder für die
vergnügungssüchtigen Manhattan-Bewohner öffnete, würden alle Spuren
der Foto-Session getilgt sein. Auch Svetlanas Kippen.
Ich brauche jetzt einfach einen Lungentorpedo, sagte sie sich.
Es hängt verdammt viel ab von diesem heutigen Tag. Entweder beginnt
jetzt meine amerikanische Karriere oder…
Sie konnte noch nicht ahnen, daß sie in wenigen Minuten in
einen Wirklichkeit gewordenen Alptraum hineingezogen werden
würde.
»Svetlana! Es geht weiter!«
Schnell kippte das Supermodel den Rest ihres Cappuccinos
herunter, drückte die Zigarette aus und schwang sich mit einer
eleganten Bewegung vom Barhöcker. Jede ihre Bewegungen war
formvollendet. Das Model erinnerte an eine Gepardin, wenn sie mit
ihren langen, wohlgeformten Beinen über den Laufsteg
stolzierte.
Eilig trat sie zurück in das Licht der Scheinwerfer, die
ungefähr die Hälfte der üppig nachdekorierten Bat Bar mit
gleißendem Licht erfüllten. Es war besser, den großen Ian Conway
nicht warten zu lassen. Sie war zwar ein Supermodel, aber er ein
Starfotograf. Und er konnte ihre Karriere mit einem einzigen
Telefongespräch ruinieren, wenn er es darauf anlegte.
Mitten in der Dekoration war eine Harley Davidson ›Fat Boy‹
aufgebockt. Das absolut klassische amerikanische Motorrad. Die
Russin drehte ihren Kopf und sah den Fotokünstler fragend an.
Conway strich sich durch seinen Ziegenbart, schob seine
Baseballkappe der ›New York Yankees‹ zurück.
»Klemm dir die Karre zwischen die Schenkel, Svetlana. Wir
schießen jetzt eine Biker-Serie!« rief er zu ihr herüber.
Ihre Beine steckten in knielangen schwarzen Lederstiefeln mit
hohen Absätzen. Ihr Po wurde nur knapp von einem ebenfalls
schwarzen Lederrock bedeckt.
Sie beugte ihren Oberkörper über die Maschine und umfaßte mit
beiden Händen die Lenkergriffe. Ihre Brüste quollen dabei fast aus
ihrem Dekollete.
Ian Conway war noch nicht zufrieden. Er schüttelte den Kopf,
ging nachdenklich hin und her.
»Wir brauchen eine geheimnisvolle Atmosphäre«, entschied er
schließlich. »Arnie, nimm den linken Scheinwerfer zurück!«
Sein Assistent sprang auf, um die Befehle des Meisters
umgehend auszuführen.
»In Ordnung«, sagte Conway. »Und nun werden wir…«
Der Starfotograf konnte den Satz nicht mehr beenden. Denn
plötzlich wuchs ihm ein drittes Auge mitten auf der Stirn. Ein
blutig rotes Loch.
Überrascht riß er den Mund auf. Der Blick seiner Augen
brach.
Svetlana nahm den Widerhall des Schusses erst
Sekundenbruchteile später wahr.
Männer mit 'Strumpfmasken über den Gesichtern stürmten die Bat
Bar.
Der Beleuchter griff nach seinem Handy, doch eine Geschoßgarbe
aus einer kurzläufigen MPi fetzte in seine Brust, schleuderte ihn
zu Boden.
Ein anderer Assistent wollte Richtung Notausgang fliehen. Zwei
Kugeln trafen ihn in den Rücken, bevor er auch nur die Hälfte des
Weges zurückgelegt hatte.
Die Eindringlinge gingen mit rücksichtsloser Brutalität
vor.
Svetlana glaubte bereits, auch ihr letztes Stündchen habe
geschlagen. Sie saß immer noch auf der Harley Davidson, wie
festgewachsen. Vor Angst gelähmt sah sie, wie auch noch Conways
letzter Assistent von den gnadenlosen Gangstern niedergeschossen
wurde.
Dann wandten sich die Verbrecher ihr zu.
Einer zog sie von dem Motorrad, ein anderer hielt ihre Beine
fest.
Verzweifelt versuchte das Model, sich zu wehren. Ganz
instinktiv. Sie trat nach dem Kerl, der seine Pranken um ihre
Stiefel geschlossen hielt.
»Ganz ruhig, mein Täubchen«, zischte der andere ihr ins Ohr.
Er hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlossen. »Wie wollen dir
doch nicht wehtun müssen.«
Da hielt Svetlana Scharkowa plötzlich still.
Denn der Kriminelle hatte sie in ihrer Muttersprache
angesprochen. Und sie ahnte plötzlich, mit wem sie es zu tun
hatte.
Mit der russischen Mafia!
***
Milo und ich saßen uns in unserem gemeinsamen Büro in der 26.
Etage des FBI-Buildings gegenüber. Vor uns die Gegenstände aus den
Taschen des Toten. Viel war es nicht.
Ein kostenloser Faltplan von New York, wie sie von den
Subway-Gesellschaften an Touristen verteilt werden. Die
U-Bahnstation Church Avenue der Linien 2 und 5 in Brooklyn war
darauf mit Kugelschreiber eingekreist. Das konnte alles mögliche
bedeuten.
Interessanter war da schon eine Quittung aus dem ›Gastronom
Moscow‹, einem Restaurant in Brighton Beach, also ebenfalls in
Brooklyn. Auf die Rückseite war ein Wort geschrieben, das ich nicht
lesen konnte. Denn es war aus kyrillischen Buchstaben
zusammengesetzt.
»Das ist ein Job für Pjotr«, sagte Milo dazu.
Ich nickte meinem Partner zu. Unser Kollege Pjotr Tamarow ist
als Kind russischer Einwanderer zweisprachig aufgewachsen. Er ist
eine unschätzbare Hilfe, wenn es um Übersetzungen und ums
Dolmetschen geht.
Doch zunächst checkten wir das übrige Material.
Dreihundert Dollar in gebrauchten Fünfziger-Scheinen.
Keine Kreditkarte.
Das war ungewöhnlich. Selbst der ärmste Amerikaner hat
heutzutage mindestens eine.
Aber wahrscheinlich war der Tote wohl ein Russe. Dafür sprach
auch der slawische Akzent, mit dem er nach der Aussage des
Angestellten seine letzten Worte gestammelt hatte.
»Was ist das hier?« fragte Milo und hielt ein buntes gerahmtes
Bildchen hoch. Es stellte einen Mann mit Bart in einer Kutte
dar.
»Könnte was Religiöses sein«, vermutete ich. »Aber auch da
kann uns Pjotr bestimmt weiterhelfen.«
»Und wer soll das hier sein?« wunderte sich mein Freund und
hob das letzte Fundstück hoch. Es war eine Schnitzerei, die einen
Männerkopf darstellte. Doch die Schnitzerei bestand nicht aus Holz
oder Elfenbein, sondern aus einem seltsamen gelblichen Material. So
etwas hatte ich noch nie gesehen.
Ich griff zum Telefonhörer. »Ist Pjotr bei euch, Blacky? Kann
er gerade mal zu Milo und mir rüberkommen?«
Noch bevor Milo eine dritte Kaffeetasse organisiert hatte,
stand der russischstämmige G-man in der Tür.
»Was gibt's, Kollegen?«
»Wir brauchen deinen fachkundigen Rat, Pjotr. Alles, was du
hier siehst, wurde in den Taschen eines Toten gefunden.«
Tamarow setzte sich und nahm einen der Gegenstände nach dem
anderen in die Hand. Dabei nickte er, als hätte er all das irgendwo
schon mal gesehen.
Milo stellte eine. Tasse mit dampfend heißem Kaffee vor ihn
hin. Genießerisch schlürfte er die heiße Flüssigkeit. Was seine Eß-
und Trinkgewohnheiten angeht, ist der gute Pjotr völlig
amerikanisiert. Mit Tee und Wodka kann man ihn jagen.
»Wer immer der Tote sein mag«, sagte er nach einer Pause, »er
ist so hundertprozentig ein Russe wie Boris Jelzin.«
»Kläre uns unwissende Amerikaner auf«, bat ich.
»Fangen wir mit der Restaurantquittung an. Den ›Gastronom
Moscow‹ müßtet ihr auch kennen. Jeder, der schon mal über den
Boardwalk gelatscht ist, ist da schon mal dran vorbeigekommen. Ein
typisches Ausflugslokal, wo sich nicht nur Exilrussen treffen,
sondern auch haufenweise andere New Yorker. Das kyrillische Wort
auf der Rückseite heißt ›Bremen‹. Keine Ahnung, was das sein
soll.«
»Ich glaube, eine Stadt in Germany«, sagte Milo. »Schau doch
mal ins Lexikon,' Jesse.«
Das tat ich. Es stimmte. Eine Großstadt 'an der Weser. Ich
pfiff anerkennend durch die Zähne:
»Du hast ja verdammt gut aufgepaßt in Geographie, Milo.«
Mein Freund grinste bescheiden. »Kleinigkeit. Ich wußte nur,
daß es einen Ort namens Bremerhaven in Germany gibt. Das klingt
doch ähnlich, oder? Dort ist nämlich der King begeistert von seinen
deutschen Fans empfangen worden, als er seinen Militärdienst in
Germany abgeleistet hat.«
»Der King?« fragte Pjotr verständnislos.
»Elvis Presley, Mann!« rief Milo. »Der King des Rock 'n
Roll!«
»Milo ist ein großer Elvis-Fan«, erklärte ich.
»Und ob!« bestätigte mein Freund und begann laut und falsch zu
singen: »Love me tender, love me true…«
Er hörte erst auf, als ich ihm einen Klebestift an den Kopf
warf. Wir lachten, doch dann hörten wir weiter Pjotrs Erklärungen
zu.
»Das hier«, sagte er und hielt das kleine Gemälde hoch, »ist
ein Heiligenbild. In der Orthodoxen Kirche Rußlands spielen die
Heiligen eine große Rolle. Viele Russen sind sehr religiös. Deshalb
tragen sie solche Bildchen mit sich herum, zum Schutz
beispielsweise.«
»Das hat diesem Mann leider nichts genützt«, warf ich bitter
ein.
»Und dieses Kleinod«, fuhr unser Kollege fort, »soll Nikolaus
II. darstellen, den letzten russischen Zaren.«
»Was ist das für ein Material?« fragte ich.
»Bernstein.«
»Nie gehört.«
»Das ist ein wertvolles Gestein, das vor allem an der Ostsee
gefunden wird. In Rußland, aber auch in Germany. Es gibt Bernsteine
vom Baikalsee, aus dem Ural oder Armenien.«
»Verstehe«, sagte ich. »Eine dieser Spuren wird uns die
Identität des Toten verraten, da bin ich sicher. Und dann werden
wir auch erfahren, was er von Mr. McKee gewollt hat.«
***
Anatol Igdalow fühlte das Kratzen an seinem Hals. Doch das
Kratzen alleine hätte ihn kaum gestört. Es gefiel ihm nicht, was da
an seiner Kehle kratzte.
Nämlich ein Galgenstrick.
Das andere Ende des nagelneuen und sehr fest aussehenden Seils
war um einen dicken Dachbalken in diesem leerstehenden Lagerhaus
geschlungen. Und Igdalow stand auf einem Fußschemel. Wenn jemand
auf die Idee käme, diesen Schemel wegzutreten, wäre dies das
sichere Ende des Russen. Und der Mann dort vor ihm sah so aus, als
ob er gerade mit dieser Idee spielte. Große Hemmungen, sie auch in
die Tat umzusetzen, hatte er bestimmt nicht.
»Aber ich weiß doch nichts!« rief Igdalow bestimmt schon zum
zehnten Mal verzweifelt aus.
Der Kleine dort schräg unter ihm hakte nun seinen linken Fuß
unter eines der Schemelbeine. Eine Bewegung von ihm, und Igdalow
würde am Strick baumeln. Er sah sich um, als hätte der Gefesselte
auf dem Schemel einen guten Witz gemacht.
»Er weiß nichts!« wiederholte der Knirps auf Russisch. »Habt
ihr gehört, Leute?«
Es befanden sich noch ein weiteres halbes Dutzend Männer indem
Raum.
Die meisten von ihnen hatten die Hände in den Hosentaschen
vergraben und musterten Igdalow mitleidlos. Es schienen alles
Landsleute zu sein. Doch das nutzte ihm wenig. Im Gegenteil.
»Dein Freund Sergej Korsakow ist spurlos verschwunden«, sagte
der Kleine geduldig. »Gestern habe ich noch gemütlich mit ihm einen
Tee getrunken. Im ›Gastronom Moscow‹. Schon da hat er mir gar nicht
gefallen. Viel zu nervös für meinen Geschmack. Deshalb habe ich
seinen Tee ein wenig gewürzt. Um ihn zu beruhigen.«
Die anderen Russen stimmten ein hämisches Gelächter an.
Igdalow wurde es heiß und kalt zugleich. War Sergej Korsakow
etwa tot? Hatte dieser kleine Satan ihn vergiftet?
Dann war wirklich alles verloren!
Doch plötzlich fiel ihm ein, wie er seinen Kopf vielleicht
doch noch aus der Schlinge ziehen könnte. Im wahrsten Sinne des
Wortes. Aber dafür mußte er bluffen.
»Ich weiß nicht, wo Korsakow hingegangen ist!« rief der Mann
auf dem Schemel verzweifelt aus. »Und ich weiß auch nicht, wo
dieses verdammte Bernsteinzimmer ist!«
Der Kleine schüttelte mißbilligend den Kopf. »Na, was sind das
für Worte? Wir sind doch alle zarentreue Russen, oder? Jedenfalls
keine gottlosen Kommunisten. Weißt du nicht, daß das
Bernsteinzimmer eines der wertvollsten Schätze des Russischen
Reiches ist?«
»Natürlich weiß ich das!« schrie Igdalow. »Aber ich weiß
trotzdem nicht, wo es versteckt ist. Doch ich kenne eine Person,
die es weiß.«
»Wer ist das?« fragte der Kleine ruhig.
»Erst nehmt ihr die Schlinge von meinem Hals!«
»Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen,
Brüderchen.«
Die Gedanken rasten durch Igdalows Kopf. Dann preßte er
schließlich hervor. »Also gut. Es ist Svetlana Scharkowa. Das
Fotomodell. Sie befindet sich gerade in New York!«
»Wie passend!« Der Kleine grinste höhnisch. »Dann träum mal
süß von der schönen Svetlana, Anatol. Ich wünsche dir heiße Träume
- in der Hölle!«
Und er kickte den Schemel weg.
Anatol Igdalow spürte noch einen kurzen heißen Schmerz. Dann
wurde es Nacht um ihn. Für immer…
***
Der Schweiß lief in Strömen über das schöne Gesicht von Annie
Franceso. Doch sie hörte nicht auf. Immer wieder krachten ihre
Fäuste gegen den Boxsack, dessen Aufhängung klingelte und
klirrte.
»Das Geräusch darf nicht aufhören!« mahnte ihr weiser
chinesischer Meister. »Wenn das Geräusch erstirbt, bist du ein
faules Mädchen!«
Die FBI-Agentin nickte, während ihre linke und ihre rechte
Faust abwechselnd gegen das Kunstleder des schweren Sandsacks
knallten. Der Meister saß im Lotussitz auf einem Meditationskissen
und ließ seine halbgeschlossenen Augen zwischen seinen Schülern
hin- und herschweifen. Manche von ihnen machten Partnerübungen,
griffen sich gegenseitig an. Andere übten Tritte oder Schläge gegen
Wandpolsterungen. Oder stärkten - wie Annie Franceso - ihre
Kondition an einem Boxsack.
Unsere Kollegin hat von uns den Spitznamen ›Miss Lee‹
erhalten. Diese liebevolle Neckerei verdankt sie ihrer Verehrung
für den unvergessenen Kung-Fu-Filmstar Bruce Lee. Er ist ihr großes
Vorbild. Und deswegen trainiert sie in jeder freien Minute in
dieser Kung-Fu-Schule in Chinatown.
Jennifer Clark betrat den Raum. Die FBI-Agentin hatte ihre
Kollegin schon öfter hier abgeholt, wenn wieder ein gemeinsamer
Einsatz angesagt war. So wie heute.
Der alte Kung-Fu-Meister bemerkte die FBI-Spezialagentin
sofort.
»Annie!« rief er mit seiner leisen, doch eindringlichen
Stimme.
Die dunkelhaarige junge Frau wandte sich um, erkannte Jennifer
Clark am anderen Ende des Raums. Sie ließ ihre Fäuste mit den
ledernen Handschützern sinken und ging zu ihrem Meister. Verbeugte
sich mit gefalteten Händen tief vor ihm.
»Darf ich gehen, Vater?« sagte sie dem Ritual gemäß.
»Du darfst, meine Tochter«, antwortete der chinesische
Greis.
Jennifer Clark folgte ihrer erschöpften Kollegin in die
Frauen-Umkleidekabine.
»Tut mir leid, dich hier zu stören, Annie. Aber Mr.
McKee…«
»Laß mich raten. Wir haben einen neuen Fall, stimmt's?«
Annie riß sich das verschwitzte T-Shirt, die schwarze Hose und
ihren Slip vom Leib und sprang nackt unter die Dusche.
»Stimmt«, bestätigte Jennifer Clark. »Svetlana Scharkowa ist
entführt worden.«
»Wer?« rief Annie Franceso durch das Rauschen der
Wasserbrause.
»Dieses russische Supermodel. Noch nie von ihr gehört? Aber
warum auch. Das hat ja nichts mit Kung Fu zu tun, ›Miss
Lee‹.«
Grinsend erschien die puertoricanische FBI-Agentin wieder in
der Umkleidekabine, sich mit einem riesigen Handtuch abfrottierend.
»Du sagst es, Schätzchen. Warum muß ich wissen, wie irgendwelche
Supermodels heißen? Das bringt mich nicht weiter. Das hier bringt
mich weiter!«
Mit diesen Worten wirbelte sie herum und täuschte einen Tritt
gegen Jennifers Brustkorb an, der ihr mehrere Rippen gebrochen
hätte. Wenn er durchgezogen worden wäre.
Jennifer Clark lächelte. Sie hatte sich schon längst an die
temperamentvolle Art von ›Miss Lee‹ gewöhnt.
Keine fünf Minuten später war Annie Franceso komplett
angezogen und geschminkt. Die beiden Frauen fuhren in dem grünen
Oldsmobile aus dem FBI-Fuhrpark in die 57th Street. Zur Bat Bar.
Dort, wo das Blutbad an Ian Conway und seinen Assistenten
angerichtet worden war.
»Der Hausmeister hat das Massaker entdeckt«, berichtete
Jennifer, nachdem sie geparkt hatten und sich unter der Absperrung
der City Police durchschlängelten. »Der Mann steht unter Schock.
Die City Police hat schon rausgefunden, daß hier Fotos mit Svetlana
Scharkowa gemacht werden sollten. Aber von ihr fehlt jede Spur. Da
war es natürlich klar, daß wir übernehmen würden.«
Annie nickte. Entführungen sind grundsätzlich Sache des
FBI.
Die Agentinnen betraten den Nachtclub. Abends tobte sich hier
die prominente und wohlhabende Schickeria von Manhattan aus. Nun,
in dieser Nacht würden sie ihren Spaß woanders suchen müssen. Denn
bis die Spurensicherung fertig war, würde noch einige Zeit
vergehen.
Die Leichen waren schon abtransportiert worden. Nur noch die
weißen Kreidestriche zeugten von den Gewalttaten, die sich hier
abgespielt hatten. Und die riesigen Lachen mit geronnenem und
getrocknetem Blut.
Jennifer biß die Zähne zusammen. »Wer immer hier gewütet hat,
ist mit beispielloser Brutalität vorgegangen.«
.Annie stimmte zu. »Sie haben alle Zeugen niedergemacht. Es
sollte keine Überlebenden geben, die eine Aussage zu der Entführung
machen konnten.«
»Das heißt?«
»Das heißt, daß Conway oder seine Leute oder vielleicht sogar
alle Anwesenden die Täter persönlich gekannt haben,
Jennifer.«
»Es kann aber auch bedeuten, daß es den Mördern auf ein paar
Leichen mehr oder weniger nicht ankam.«
Die Männer von der Spurensicherung waren eifrig beschäftigt.
Es gab zahlreiche Geschoßhülsen, die sorgfältig gesammelt wurden.
Dadurch konnte man Rückschlüsse auf die Art der Waffen
ziehen.
Plötzlich stieß einer der Techniker einen überraschten Ruf
aus.
Annie Franceso ging zu ihm hin und sah ihm neugierig über die
Schulter. »Was Interessantes gefunden, Pietro?«
Der Spurensicherer hielt mit einer Metallzange einen
Gegenstand hoch.
Es war der Kopf des russischen Zaren Nikolaus II. Aus
Bernstein geschnitzt.
***
Milo und ich hatten einen neutralen roten Buick aus dem
FBI-Fuhrpark genommen und inzwischen ganz Brooklyn durchquert. Nun
standen wir auf dem legendären Boardwalk.
Boardwalk, die Strandpromenade von Coney Island. Es roch nach
Hot Dogs und Pommes Frites, mit denen geschäftstüchtige Verkäufer
auf die sonnenhungrigen New Yorker warteten. Denn der Boardwalk
läuft direkt an den Stränden Brighton Beach und Manhattan Beach
entlang. Und dahinter ist nichts als die Wassermasse des
Atlantik.
Jetzt im Mai hielt sich die Zahl der Tagestouristen freilich
noch in Grenzen. Nur Rentner bevölkerten in Scharen die Bänke der
Strandpromenade. Viele von ihnen waren aus Rußland eingewandert und
lebten in einem der vielen Altersheime, die es in der Nähe gibt.
Eine Ziehharmonika verbreitete melancholische Melodien. Man hätte
für einen Moment vergessen können, daß dies hier mitten in Amerika
war.
Milo und ich traten in den schummerigen Innenraum des
›Gastronom Moscow‹ Das Lokal, in dem unser unbekannter Toter einen
Tag vor seinem Ende gespeist haben mußte. Das besagte jedenfalls
das Datum auf der Rechnung.
An Plastiktischen saßen auch hier hauptsächlich Rentner vor
ihren Flaschenbieren. Eine dickliche junge Frau mit einem goldenen
Schneidezahn kam uns entgegen und führte Milo und mich zu einer
Sitznische. Ihr blondes Haar sah so unecht aus wie das von
Barbie.
»Was darf's sein, Gentleeemeeen?« Ihr Akzent war echtes,
unverfälschtes Brooklyn. Irgendwo zwischen Fiatbush Avenue und
Canarsie.
Ich ging auf ihren Tonfall ein. Vielleicht konnten wir so am
besten was erreichen, »'n Kaffee für mich un' mein' Kumpel,
Schwester. Und ’n Blick aus deinen Guckerchen.«
Sie grinste mich an wie ein Honigkuchenpferd. Auch als ich
meinen FBI-Ausweis auf den Tisch legte, erlosch ihr Lächeln nicht.
Ein gutes Zeichen.
Ich zeigte ihr auch ein Foto von dem unbekannten Toten. Wir
hatten es in aller Eile machen lassen.
»Kennste den Typen, Herzchen?«
Anscheinend machte ich meine Sache gut. Dabei bin ich in
Harpersvillage, Connecticut, aufgewachsen. Doch ich habe New York
und die Sprache seiner Bewohner bei zahllosen Einsätzen so gut
kennengelernt wie kaum ein anderer.
»Klaro!« schnaubte sie selbstbewußt. »Das is ’n Russki. Hat
kaum ’n veeeerständliches Wort rausgekrieeegt, der Typ.«
Milo unterdrückte krampfhaft einen Lachanfall. ,
Die Serviererin stemmte die Hände in die Hüften und bog den
Kopf nach hinten. »Der hing mit noch ’n paar anderen Russkis rum.
Einer ist das da hiiinten. Schon wieder am Wodkasaufen.«
Und sie schwenkte ihren Arm wie einen Kran in Richtung eines
dunkelhaarigen Muskelpakets, das auf einem der Plastikhocker an der
Theke rumlungerte. Da die Stimme unserer neuen Brooklyner Freundin
ungefähr so laut war wie eine Hafensirene, bemerkte der Russe
sofort, daß wir über ihn redeten.
Er sprang auf und nahm die Beine in die Hand. Noch nicht mal
seinen Schnaps trank er aus.
»Los, Milo!«
Doch ich brauchte meinen Freund nicht anzutreiben. Genau wie
ich war er schon reflexartig gestartet.
»Kaffee gibts später, Schwester!« rief ich noch über die
Schulter zurück.
Auf dem Boardwalk hatte der Verdächtige schon einen ziemlichen
Vorsprung. Rücksichtslos stieß er die Menschen um, wenn sie ihm im
Weg standen. Er mußte wirklich ziemlich was auf dem Kerbholz haben,
wenn er sich so verzweifelt schnell aus dem Staub machen
wollte.
Hatte er überhaupt mitgekriegt, daß wir G-men waren? Oder
hielt er uns am Ende für konkurrierende Gangster, die ihn
kaltmachen wollten?
Spekulationen, für die mir nun die Zeit fehlte. Ich
konzentrierte mich lieber aufs Laufen. Milo war direkt neben
mir.
Wir sprangen über einige Jugendliche hinweg, die es sich auf
den Holzplanken des Boardwalk gemütlich gemacht hatten.
»Stehenbleiben! FBI!« rief ich. Der Mann sollte wenigstens
eine Chance haben, sich uns zu ergeben.
Doch sein Tempo nahm nicht ab. Vielleicht verstand er ja auch
unsere Sprache nicht.
Plötzlich schlug er einen Haken und wollte links über eine
breite Holztreppe hinunter zum Strand. Wir mußten ihn uns endlich
schnappen.
»Bleib du hinter ihm!« rief ich Milo zu. »Ich schneide ihm den
Weg ab!«
Und bevor mein Freund etwas erwidern konnte, war ich über das
Holzgeländer des Boardwalk geflankt. Ein untrainierter Mensch hätte
sich bei diesem Sprung wahrscheinlich mehrere Knochen gebrochen.
Aber ich habe schon ganz andere Höhen bewältigt. Außerdem landete
ich nicht auf Beton oder Stein, sondern auf Sand.
Trotzdem wurden meine Knochen ganz schön durchgeschüttelt.
Einige frühe Badegäste kreischten entsetzt auf, als ich zwischen
ihnen landete und mich abrollte.
Ich rannte zum Fuß der Treppe. Der Russe erstarrte auf den
Stufen, drehte sich entsetzt um. Milo war hinter ihm. Und mein
Freund machte nicht den Eindruck, als wenn er ihn durchlassen
würde.
»Geben Sie auf!« sagte ich mit eindringlicher Stimme. »Wir
sind Special Agents des FBI New York. Und wir…«
Weiter kam ich nicht. Das Muskelpaket griff mich mit dem Mut
der Verzweiflung an. Er wollte in meinen Magen treten.
Ich drehte meine Hüfte und packte seinen Fuß mit beiden
Händen.
Beinahe hätte ich ihn zu Boden bekommen. Aber dann stieß er
mir seine Fäuste als Doppelramme auf den Rippenbogen. Da meine
Rippen schon durch den Sprung etwas angeschlagen waren, ließ ich
ihn für einen Moment los.
Da war Milo über ihm. Wie ein Tiger sprang mein Freund den
Flüchtigen von hinten an und riß ihn von den Beinen.
Der Dunkelhaarige rief etwas auf Russisch. Es war bestimmt
keine Freundlichkeit. Er drosch seine Faust gegen Milos Kinn.
Mein Freund revanchierte sich mit einem Kniestoß in die
Magengegend.
Ich hatte mich wieder berappelt und nahm.meine Handschellen,
um den Kerl an weiteren Dummheiten zu hindern, denn er holte schon
zu einem fürchterlichen Kinnhaken aus.
Das war der Moment, in dem ich die stählernen Armreifen um
seine Gelenke klicken ließ. Sein Kopf wirbelte herum, er sah mich
haßerfüllt an, doch bevor er es verhindern konnte, war sein linker
Arm mit dem rechten zusammengekettet.
»Na also«, sagte ich und fuchtelte mit meinem FBI-Ausweis vor
den Schaulustigen herum, die sich neugierig dem Kampfplatz genähert
hatten. »Ich werde jetzt unseren Wagen holen, Milo. Dann bringen
wir unseren Freund zur Federal Plaza, wo wir…«
Daraus wurde nichts. Denn in diesem Moment bellte ein Schuß,
wahrscheinlich aus einem Präzisionsgewehr, denn die Kugel traf
unseren Gefangenen direkt in den Kopf. Man mußte kein Arzt sein, um
zu erkennen, daß er sofort tot war.
Die sensationsgierigen Badegäste liefen kreischend
durcheinander. Milo und ich warfen uns zu Boden und zückten unsere
38er Smith & Wessons.
Aber es fielen keine weiteren Schüsse…
***
»Ihr seht ja ganz schön fertig aus«, begrüßte Jennifer Clark
Milo und mich, als wir sie und Annie Franceso kurz vor Feierabend
in der Halle des Federal Buildings trafen. »Haben die New York
Yankees schon wieder verloren?«
»Sehr komisch, Jennifer«, meckerte Milo. »Wir sollen doch
diesen unbekannten Toten identifizieren, der unbedingt zum Chef
wollte. Und prompt haben wir einen Verdächtigen gefangen. Und bevor
wir ihn ins Gebet nehmen konnten, hat ihm jemand das Lebenslicht
ausgeblasen.«
»Natürlich gab es keine Zeugen«, ergänzte ich. »Obwohl der
ganze Boardwalk voll war von Passanten. Aber es wollte wieder
keiner was gesehen haben.«
»Unser aktueller Fall ist auch nicht besser«, tröstete Annie
Franceso meinen Freund. »Jennifer und ich sollen dieses entführte
Supermodel Svetlana Scharkowa finden. Aber bisher sieht es trübe
aus. Keine Zeugen. Kaum Indizien. Nur ein Haufen Patronenhülsen und
der Kopf eines Opas aus Bernstein.«
»Was?« riefen Milo und ich wie aus einem Mund. »Opa aus
Bernstein?«
Jennifer Clark lachte. »Wir haben uns schon bei einem Juwelier
schlau gemacht. Das Schmuckstück soll Zar Nikolaus II. von Rußland
darstellen. Es ist aus Bernstein. Das ist ein wertvoller Stein, der
in Europa gefunden wird, und zwar…«
»…hauptsächlich in Rußland und Germany«, ergänzte ich. »Ein
eigenartiger Zufall.«
»Was?« fragten nun Jennifer und Annie gleichzeitig.
»Daß auch unser unbekannter Toter einen solchen Zarenkopf aus
Bernstein in der Tasche gehabt hat.«
***
Der Kerl stank nach Schweiß wie eine ganze Kompanie Soldaten
nach dem Waffendrill in der Augustsonne. Er saß auf einem Hocker
und starrte Svetlana Scharkowa an.
Das Supermodel fühlte ein Würgen im Hals. Sie haßte diese
Situation. Und das nicht nur wegen dem Körpergeruch dieses
Kriminellen. Die blonde Russin saß auf einer Pritsche in einem
fensterlosen Betonverließ. Irgendwo in New York? Irgendwo in
Amerika? Wer konnte das schon wissen.
Die Beine hatte sie übereinandergeschlagen. Doch ihr Minirock
bedeckte ihren Po mehr als dürftig. Sie versuchte ihn weiter
herunterzuziehen, aber er gab keinen Millimeter mehr nach. Der
Schweißige glotzte weiterhin, als wäre er bei der Fleischbeschau.
Und aus seiner Sicht gesehen war er das ja auch.
Nun rieb er die Hände gegeneinander. Svetlana war sich sicher,
daß auch sie schweißnaß waren. Schweißnaß und kalt. Ihr wurde
wirklich schlecht. Trotz ihrer intensiven Sonnenbräune war sie
totenbleich geworden.
Aber der lüsterne Gangster bemerkte es nicht.
»Du bist wirklich schön, mein Täubchen«, hechelte er und stand
auf. Doch bevor er auf sie zukommen konnte, wurde die Tür
aufgerissen.
»Was machst du hier?« herrschte ihn einer der anderen
Verbrecher an.
Der Verschwitzte zog den Kopf zwischen die Schultern. »Nichts,
Arkadi, wirklich nichts!« jammerte er. »Ich wollte nur…«
»Nur was?« Arkadis flache Hand klatschte in das Gesicht seines
Komplizen. »Du hast hier nichts verloren, Konstantin!«
Er packte den Lüsternen an seinem verschwitzten Hemd und warf
ihn gegen die Wand. Konstantin versuchte nicht, sich zu
wehren.
»Wenn ich dich noch mal dabei erwische, daß du Svetlana
Scharkowa belästigst! Wenn du sie auch nur noch mal ansiehst mit
deinen dreckigen Blicken… dann bist du tot! Verstanden?«
Zur Bekräftigung schlug Arkadi den Kopf von Konstantin bei
jedem seiner Sätze krachend gegen die Wand. Als er ihn losließ,
sackte der Verschwitzte in sich zusammen. Dann kroch er stöhnend
und wimmernd aus der Tür. Arkadi gab ihm zum Abschied noch einen
Tritt in den Hintern.
Dann grinste er Svetlana gewinnend an. Er hob die Hand zur
Ventilation und drehte sie höher.
»Hat einen ganz schönen Gestank verbreitet, mein Kumpel, was?«
sagte er. »Aber die Luft ist gleich ausgetauscht. Er wird dich
nicht mehr behelligen. Sonst bekommt er es mit mir zu tun.«
Das Model sah den Gangster an. Er wirkte so ganz anders als
sein Komplize. Groß war er und muskulös, wie sie aufgrund seines
ärmellosen T-Shirt erkennen konnte. Seine langen Haare fielen ihm
bis auf die Schultern. Er roch nicht nach Schweiß, sondern nach
einem teuren Rasierwasser. Seine Haut war fast'so tief gebräunt wie
die von Svetlana. Auch er hatte die ganze Zeit russisch mit ihr
gesprochen.
»Was wollt ihr von mir?« wagte Svetlana nun zu fragen. »Ich
bin nicht so vermögend, und niemand wird für mich Lösegeld
bezahlen.«
Der Verbrecher lachte. »Du verdienst mehr als die allermeisten
Leute in unserer Heimat, mein Täubchen. Aber das ist nicht der
Grund, weshalb du hier bist. Und das weißt du auch. Du bist jetzt
in New York. Und es ist auch in New York, da sind wir uns sicher.
Und wir wissen genau, daß du es jetzt in die Heimat holen
wolltest.«
»Was meinst du mit es?« fragte Svetlana.
»Stell dich nicht dumm. Ich spreche natürlich vom
Bernsteinzimmer!«
***
Am nächsten Morgen holte ich Milo mit meinem roten Sportwagen
an unserer gewohnten Ecke ab.
Mein Freund ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Entgegen
seiner Art war er still, fast schon mürrisch.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« fragte
ich.
»Die Laus war rothaarig, langbeinig und verlogen bis über
beide Ohren«, knurrte Milo.
Ich seufzte. »Blender gibt es viele, ob Männlein oder
Weiblein.«
»Du hättest Philosoph werden sollen, Jesse.«
»Das ist mir zu langweilig, Partner. Ich habe das Gefühl, daß
uns dieser Bernstein-Fall noch jede Menge Action bringen
wird«
Und damit sollte ich recht behalten.
Ich stellte meinen roten Flitzer in der Tiefgarage unter dem
FBI-Building ab. Mit dem Lift fuhren Milo ünd ich hoch in den 26.
Stock.
Kaum hatten wir das Büro betreten, klingelte das Telefon auf
meinem Schreibtisch.
Ich sprang hin. »Trevellian!«
Es war Linda, unsere Telefonistin mit der rauchigen Altstimme.
»Da bist du ja endlich, Jesse. Ich habe hier deine Verbindung nach
Germany.«
»Ah ja. Thanks, Linda.«
Kurz vor Dienstschluß hatte ich gestern noch ein Fax nach Bonn
in Germany geschickt. Dort befindet sich eine der 13 ausländischen
Verbindungsstellen, die das FBI weltweit unterhält. Die Kollegen
dort hatten von mir außerdem noch ein Funkbild von dem unbekannten
Toten bekommen.
»Special Agent Tom Denham hier.«
»Special Agent Jesse Trevellian, Field Office New York.
Konntet ihr etwas anfangen mit meiner Anfrage von gestern?«
»Ja und nein, Jesse. Dieser Mann ist uns völlig unbekannt.
Auch die deutsche Bundespolizei, das BKA, hat das Bild durch ihr
Fahndungsraster laufen lassen. Ergebnis: null. Bleibt also nur das
Wort Bremen. Aber das ist zu dürftig. Bremen ist eine Großstadt.
Jedenfalls für deutsche Verhältnisse, hahaha. Wir wissen nicht, wo
wir den Hebel ansetzen sollen.«
Ich fluchte innerlich. »Gibt es in Bremen vielleicht eine
größere russische Emigrantengemeinde, Tom? Der Tote ist
wahrscheinlich ein Russe. Er hatte ein Heiligenbildchen in seiner
Tasche, außerdem ein Schmuckstück aus Bernstein und…«
»Wie war das?« Mein Kollege am anderen Ende der Welt hatte
mich unterbrochen.
»Ein Schmuckstück aus Bernstein. Das ist ein wertvoller Stein,
der…«
»Ich weiß, was Bernstein ist, Jesse. Schließlich lebe ich
schon fünf Jahre hier in Germany. Aber ich habe gestutzt, weil mir
was eingefallen ist. Da war irgendwas mit Bernstein und Bremen.
Bleibst du einen Moment in der Leitung?«
Das tat ich natürlich. Dann hörte ich, daß irgendwo in Europa
Papier raschelte und Schubladen knallten. Fünf Minuten später
meldete sich Tom Denham wieder.
»Da ist wirklich was gewesen, Jesse. Vor wenigen Tagen wurde
in Bremen ein Mosaik aus Bernstein gefunden. Es soll angeblich aus
dem berühmten russischen Bernsteinzimmer stammen.«
»Sagt.mir nichts.«
»Das ist ein einmaliger Kunstschatz, für den so mancher viele
Millionen Dollar auf den Tisch legen würde. Das gibt es auf der
ganzen Welt nur einmal. Außerdem ist es seit über fünfzig Jahren
buchstäblich spurlos verschwunden. Das erhöht den Preis natürlich
noch.«
Mein Adrenalinspiegel schoß in die Höhel Hatte die Jagd nach
dem Bernsteinzimmer den unbekannten Russen das Leben gekostet?
»Habt ihr mehr Informationen darüber, Tom?«
»Na klar.« Er lachte. »Du weißt doch, was FBI-Agenten tun,
wenn sie keinen aktuellen Fall haben, oder? Sie sammeln Fakten wie
die Eichhörnchen Nüsse!«
Wir lachten beide. Es war ein gutes Gefühl, endlich
weiterzukommen bei den Ermittlungen.
»Ich habe einen Bericht über das Bernsteinzimmer geschrieben.
Hier ist nämlich gerade absolut nichts los, und ich sterbe vor
Langeweile. Du bekommst gleich ein Fax von mir, okay?«
»Danke, Tom.«
»Kein Problem, Jesse. Und grüß mir New York.« In seiner Stimme
schwang Heimweh mit.
Wir verabschiedeten uns voneinander, dann ging ich hinunter in
die Computerzentrale und hielt ein Schwätzchen mit den Kollegen,
während ich auf meine Nachricht aus Germany wartete. Ich hatte
meinen Kaffeebecher noch nicht mal halb ausgetrunken, als eine ewig
lange Papierschlange aus dem Faxgerät quoll.
Ich nahm den Bericht mit in unser Büro.
Milo saß jetzt an seinem Computer und checkte die
Personenbeschreibung des Mannes, der gestern am Strand von Brighton
Beach vor unseren Augen ermordet worden war. Wir wollten
herausfinden, ob er vielleicht vorbestraft war. Bisher
Fehlanzeige.
Mein Freund wirkte alles andere als zufrieden, während er auf
die Tastatur einhämmerte. Genau wie mir selbst lag auch ihm der
Außendienst mehr.
»Hör dir das an, Alter«, sagte ich. »Vielleicht ist das der
Schlüssel zum Geheimnis unserer unbekannten Leiche.«
Dankbar wandte sich Milo von seinem Bildschirm ab und drehte
sich auf dem Bürostuhl zu mir hin.
»Das Bernsteinzimmer«, las ich vor, »wurde vor zweihundert
Jahren dem russischen Zaren Peter dem Großen geschenkt. Und zwar
von dem preußischen König Friedrich Wilhelm I.«
»Und das soll eine Spur sein?« maulte Milo. »Da bestand New
York noch aus drei Häusern und einem Palisadenzaun!«
»Nicht so ungeduldig, Milo. Dieses Bernsteinzimmer gilt als
das achte Weltwunder. Es besteht aus lauter einzigartigen
Kunstwerken, die alle aus Bernstein geschnitzt waren. Durch diese
Einmaligkeit ist es praktisch unbezahlbar. Reiche Sammler würden
praktisch jeden Betrag ausgeben, um das Bernsteinzimmer in ihren
Besitz zu bringen. Und für nationalbewußte Russen ist es ein Symbol
der Zarenherrschaft.«
Milos Interesse erwachte. »Das heißt, jede Menge Leute würden
auch über Leichen gehen, um an das Bernsteinzimmer zu
kommen.«
»Genau. Denn jetzt geht die geheimnisvolle Geschichte erst
los. 1941, als die Deutschen in der Sowjetunion einmarschiert sind,
haben sie das Bernsteinzimmer demontiert und nach Königsberg
geschafft.«
»Nicht nach Bremen?« fragte Milo hoffnungsvoll.
- »Das wäre zu schön, was? In Königsberg verliert sich dann
die Spur. Vor ein paar Tagen wurde aber in Bremen ein Mosaik
gefunden, das angeblich aus dem Bemsteinzimmer stammen soll. Aber
das bedeutet'überhaupt nichts. Genausogut könnte der Rest des
Bemsteinzimmers…«
»…auch irgendwo in New York versteckt sein!« beendete Milo
meinen Satz.
***
Iwan Ramsakow schlug zu.
Seine harten Fäuste tanzten auf dem Kinn seines Kumpanen. Es
blitzte in seinen Augen auf, während er wutschnaubend seinen Zorn
an dem jüngeren Mann ausließ.
Dieser war klug genug, sich nicht zu wehren. Denn er hatte
schon früh erkannt, daß Ramsakow ein Diktator war, der in seiner
Wut zur mordgierigen Bestie werden konnte. Wer für ihn arbeitete,
biß besser die Zähne zusammen.
Die Fäuste krachten in die Rippen des jüngeren Mannes, gegen
seinen Solarplexus, auf das linke Auge. Das würde ein schönes
Veilchen geben. Doch das war Ramsakow egal. Er paßte nur auf, daß
er den Jüngeren nicht totschlug. Schließlich würde er ihn noch
brauchen.
Endlich ließ er die Arme sinken.
»Geh mir aus den Augen, du Versager!« knirschte der Kleine
schließlich.
Der junge Mann trollte sich stöhnend und ächzend.
Oleg Krapodkin hatte die ganze Zeit hinter seinem Schreibtisch
gesessen und der Bestrafung mit unbewegter Miene zugesehen. Er
wirkte so unauffällig wie ein Buchhalter. Doch zu Zeiten der
Sowjetunion war er einer ihrer gefährlichsten Spione gewesen. Nun
kämpfte er nur noch für eine Sache. Für sein persönliches
Nummernkonto in der Schweiz.
»Hat er seipe Lektion gelernt?« fragte der Ex-Spion.
»Das will ich hoffen!« grollte Ramsakow. »Das mußt du dir mal
vorstellen! Da knallt dieser Trottel einfach Viktor ab. Vor den
Augen von zwei FBI-Agenten!«
»War doch ganz gut so. Jetzt kann er nichts mehr ausplaudern!«
Krapodkin lachte dreckig.
»Ausplaudern? Der Idiot wußte doch sowieso nichts. Der wußte
noch nicht mal, daß wir das Bernsteinzimmer in die Heimat
zurückschaffen wollen. Als ich mit Korsakow gequatscht habe, habe
ich Viktor nur mitgenommenen, um Korsakow Angst einzujagen. Worum
es ging, hat Viktor nicht geschnallt. Und jetzt haben wir das FBI
am Hals!«
Krapodkin starrte ihn ungerührt an und warf die neueste
Ausgabe der New York Post auf den Tisch. »Erst mal haben wir andere
Probleme!«
Die Schlagzeilen sprangen dem Kleinen ins Auge: ›Blutbad in
der Bat Bar -Sexy Svetlana gekidnappt!‹
»Verdammt!« fluchte Ramsakow, nachdem er den kurzen Artikel
hatte. »Ist uns da einer zuvorgekommen?«
Krapodkin lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Die
Frage ist, wer außer uns noch weiß, daß Svetlana Scharkowa das
Versteck des Bernsteinzimmers kennt.«
»Anatol Igdalow habe ich höchstpersönlich gehenkt.« Mit einem
sadistischen Grinsen erinnerte sich der Verbrecher an seine feige
Tat. »Und Korsakows Tee habe ich mit-Gift gewürzt. Also schon mal
zwei Mitwisser weniger.«
Krapodkin verzog keine Miene. »Das bringt uns jetzt aber nicht
weiter, Iwan. Wir müssen diese Schlampe Svetlana ausfindig machen,
bevor sie jemand anderen zum Bernsteinzimmer führt!«
Er griff zum Telefon…
***
Ich stand vor der Subway-Station Church Avenue. Der unbekannte
Tote von der Federal Plaza hatte diesen Ort auf seinem Stadtplan
mit Kugelschreiber eingekreist. Das mußte etwas zu bedeuten haben.
Aber was?
Diese Frage beschäftigte mich im Moment allerdings nicht so
besonders. Denn ich konzentrierte mich auf die Messerspitze, die
gegen meine Kehle gedrückt wurde.
»Verdammt neugierig, der Yankee.«
Der Kerl, der diese Worte in gebrochenem Englisch ausstieß,
war eigentlich hoch ein Junge. Aber ein Junge mit einem
Klappmesser. Er stand unmittelbar vor mir. Gekleidet war er in
einen nagelneuen Trainingsanzug einer teuren Kultmarke. Nichts an
ihm wirkte auf den ersten Blick bedrohlich. Bis auf das irre
Flackern in seinen Augen. Drogen.
Die Passanten hasteten an uns vorbei. Keiner von ihnen hatte
anscheinend vor, mir zu helfen oder auch nur hinzusehen. Es war
alltäglich, daß Menschen auf der Straße bedroht wurden. Das gehörte
zum Stadtbild, so wie die roten Hydranten und die gelben
Cabs.
»Mach keinen Quatsch, my boy«, ächzte ich. »Ich wollte doch
nur wissen, ob du den Mann auf dem Foto kennst.«
In meiner rechten Hand hielt ich eine Aufnahme von dem Toten
aus der Empfangshalle des FBI-Gebäudes.
»Schnüffler!« stieß der Messerheld hervor. »Schnüffler -
killen!«
Ich hatte genug gehört. Der Junge war offenbar völlig von der
Rolle. Er würde mich töten, weil ihm die Drogen das Gehirn
aufgeweicht hatten. Morgen würde er sich an nichts erinnern können.
Es gab keinen Grund, kein Motiv.
Aber zu diesem'Spiel gehörten immer noch zwei.
Ich ließ mir nicht anmerken, daß ich völlig konzentriert war.
Trainingsanzug hatte mich mit seinem Messer überrumpelt. Noch
einmal würde mir das nicht passieren.
Ich drückte meine Zehen in den Schuhen hart gegen die
Gehsteigplatten unter mir. Gleichzeitig ging ich unmerklich in die
Knie. Einige Zentimeter nur. Aber es reichte.
Von der Unterlippe des Messerschwingers tropfte Speichel. Er
hatte den Mund halb geöffnet und sah aus, als wäre er fast gänzlich
weggetreten. Für mich stand fest, daß er sofort zustechen
würde.
Bevor das Blut aus meiner Kehle sprudeln konnte, katapultierte
ich mich blitzschnell nach hinten. Einen Yard nur. Aber es reichte,
um Abstand zwischen die tödliche Klinge und mich zu bringen.
Gleichzeitig riß ich mein linkes Bein vor die Brust und schoß
meinen Fuß aus dem Kniegelenk ab wie eine Kanonenkugel.
Meine Schuhspitze traf das Handgelenk des Jungen. Er jaulte
auf wie ein Kojote. Klirrend fiel das Messer auf den Boden.
Mit einem schnellen Schritt war ich wieder direkt vor ihm und
landete einen rechten Schwinger auf seinem Kinn.
Er stolperte einige Schritte zurück.
Dann sah er mich mit schreckgeweiteten Augen an und nahm die
Beine in die Hand. Er stieß rücksichtslos Leute zur Seite, während
er die Church Avenue in Richtung Süden entlangjagte.
Ich überlegte einen Moment, ihn zu verfolgen, ließ es aber
sein. Es lohnte die Mühe nicht. Tausende wie er lungerten überall
in New York City herum. Es gab keinen Grund, ihn mit dem
Bernsteinzimmer-Fall in Verbindung zu bringen.
Statt dessen stieg ich in den U-Bahn-Schacht hinunter, wo Milo
damit beschäftigt war, dem Personal das Foto des toten Russen
vorzulegen.
»Wo bleibst du denn?« frotzelte er. »Hast du erst noch ein Eis
gegessen?«
Ich hob die Schultern. »Kleine Meinungsverschiedenheit. Aber
nichts Wichtiges rausgekriegt.«
»Geht mir genauso.« Resigniert ließ sich Milo auf eine mit
Graffiti beschmierte Bank fallen. »Jesse, im Umkreis von einer
Quadratmeile um diese Subway-Station leben ein paar tausend
Brooklyner. Jeder von ihnen kann etwas mit dem Toten zu tun haben.
Oder keiner. Vielleicht hat er den Stadtplan von jemand anderem
bekommen, der den Kringel um die Station gemacht hat. Wir suchen
hier die Stecknadel im Heuhaufen!«
»Hast recht, Alter«, stimmte ich zu. »Vielleicht bringt uns
das Obduktionsergebnis ja weiter. Der Doc hat heilige Eide
geschworen, daß wir es heute auf den Tisch bekommen.«
In diesem Moment dudelt mein Handy los.
»Trevellian hier!«
Ich bekam eine kurze Nachricht und mußte schlucken.
Wie in einem bösen Fiebertraum reaktivierte ich mein
Mobiltelefon und starrte dumpf vor mich hin.
»Was ist los?« drängte mein Freund. »Du bist weiß wie die
Wand! Was ist passiert, Jesse?«
»Das war Linda aus der Telefonzentrale«, sagte ich mit
tonloser Stimme. »Annie Franceso ist tot.«
***
Der Trump Tower an der Ecke Fifth Avenue und 56th Street ist
einer der jüngsten Wolkenkratzer New Yorks. Das 68 Stockwerke hohe
Gebäude hat einen der schönsten Eingangsbereiche der ganzen Stadt.
Die Wände und Fußböden bestehen aus feinstem Breccia-Marmor, der in
einer Mischung aus Rosa und Orange leuchtet. Inmitten von
Restaurants und Cafés stürzt ein 60 Meter hoher künstlicher
Wasserfall in die Tiefe.
In einem Café mit Blick auf die Wassermassen saß an diesem
Morgen die FBI-Agentin Annie Franceso und wartete auf eine
Informantin.
Ein anonymer Anruf war beim FBI eingegangen. Eine Frau mit
slawischem Akzent wollte etwas über die Entführung von Svetlana
Scharkowa erzählen. Linda hatte sie mit Annie Franceso verbunden.
Und die beiden Frauen hatten sich verabredet. Die einzige Bedingung
der Unbekannten war, daß unsere Kollegin allein kommen
sollte.
Annie Franceso nippte an ihrem Cappuccino. Es war zehn Minuten
nach zehn Uhr morgens. Die Informantin war spät dran. Ob sich
jemand einen dummen Scherz erlaubt hatte? Das konnte man vorher nie
wissen. Wir verdanken die Lösung vieler Fälle solchen anonymen
Tips.
»Miss Franceso?«
Wie aus dem Boden gewachsen stand die junge Frau plötzlich vor
der FBI-Agentin. Sie war dunkelhaarig und zierlich wie unsere
Kollegin selbst. Ihre Augen wurde von einer riesigen schwarzen
Sonnenbrille verdeckt.
»Das bin ich, ganz recht.« Annie zeigte ihren
Dienstausweis.
Olga Andropowa war wie elektrisiert, als sie Annie Franceso
sah. Eigentlich wollte sie ja nur ihren Arkadi ans Messer liefern.
Ihren geliebten Arkadi, der nur noch Augen für dieses verdammte
blonde Flittchen Svetlana Scharkowa hatte. Aber als sie die
FBI-Agentin erblickte, entstand plötzlich ein neuer wahnwitziger
Plan in ihrem überreizten Gehirn…
»Sie werden verstehen, daß ich meinen Namen nicht verrate«,
sagte Olga, während sie sich neben Annie an den kleinen Marmortisch
setzte. Sie winkte dem Kellner und bestellte eine Coca Cola. Dann
sah sie sich suchend um.
»Hier wird nicht geraucht.« Angie grinste, denn sie konnte
sich denken, daß die Russin nach einem Aschenbecher Ausschau hielt.
»Das ganze Gebäude ist qualmfrei. Erzählen Sie mir, was Sie wissen.
Und schon können Sie wieder raus und sich die Lungen teeren.«
»Verrückte Amerikaner«, murmelte die Frau mit der
Sonnenbrille. »Also -Sie suchen die Entführer von Svetlana
Scharkowa?«
»Richtig.«
»Ich kenne sie.«
Annie Francesos Adrenalinspiegel schoß in die Höhe, aber sie
blieb nach außen hin cool. »Woher?«
»Spielt das eine Rolle?« fragte Olga zurück und spielte nervös
mit der Speisekarte herum. »Ich kenne sie eben.« Und der Boß der
Bande ist die große Liebe meines Lebens, fügte sie in Gedanken
bitter hinzu.
»Wer sind diese Entführer?«
»Es ist eine Gruppe aus Moskau, die schon seit eineip halben
Jahr hier in New York Geschäfte betreibt. Sie gehören zu einer
großen Organisation.«
»Also russische Mafia.«
»Wenn Sie so wollen«, sagte Olga und verzog verächtlich den
Mund. »Der Anführer dieser Gruppe heißt Arkadi Schostkin.«
»Können Sie ihn beschreiben?« Annie machte sich fleißig
Notizen.
»Groß, muskulös, gebräunte Haut, kantiges Kinn, blaue Augen.«
Annie hätte das Leuchten in den Augen der Zeugin sehen können, wenn
diese keine Sonnenbrille getragen hätte. »Breite Schultern, leicht
gelocktes, schulterlanges Haar.«
»Klingt, als ob Sie ihn gut kennen würden«, bemerkte die
FBI-Agentin trocken.
»Das geht Sie nichts an!« zischte Olga wütend. »Arkadi war…
war… ach, egal. Jedenfalls haben er und seine Leute diese Scharkowa
entführt und das Fotografen-Team umgelegt. Das ist es doch, was Sie
interessiert, oder?«
»Sicher. Können Sie mir auch sagen, wo das entführte
Fotomodell gefangengehalten wird?«
»116 Rivington Street«, antwortete die Informantin wie aus der
Pistole geschossen. »Ein einzelnes Haus, das Arkadi für seine
Import/Export-Firma gemietet hat. Ist natürlich nur Tarnung.«
»Ich werde Ihren Tip sofort überprüfen lassen«, sagte Annie
Franceso. »Ich nehme nicht an, daß Sie…«
»Nicht so schnell!«
Plötzlich spürte die FBI-Agentin den kalten Stahl einer Waffe
zwischen ihren Rippen. Die Frau mit der Sonnenbrille hatte die
Mündung eines Revolvers oder einer Pistole auf sie gerichtet.
Sehr geschickt, dachte Annie. Sie hat mich so mit ihren
Informationen in ihren Bann gezogen, daß ich die Knarre nicht
bemerkt habe. Mein Trainer hat recht. Ich muß noch viel
aufmerksamer werden.
Doch momentan gab es nichts, was Annie tun konnte. Die
Unbekannte war unberechenbar und zu allem fähig.
Aus den meisten üblen Situationen konnte sich ›Miss Lee‹ mit
ein paar Fausthieben und Kung-Fu-Tritten befreien. Doch dafür
fehlte ihr jetzt die Bewegungsfreiheit. Annie zweifelte nicht
daran, daß die Frau abdrücken würde. Ihr Gesicht wirkte starr wie
eine Maske. Kalt und gefühllos.
»Was wollen Sie von mir?«
»Bewegen Sie sich. Wir gehen jetzt auf die Damentoilette.
Gemeinsam.«
Annie Francesos Körper war angespannt wie eine Stahlfeder.
Bereit, jede Sekunde zu explodieren.
Doch die Unbekannte ließ ihr keine Chance. Ihre Schußwaffe
hatte sie mit ihrem leichten Sommerblazer getarnt, den sie über dem
Arm trug.
Die Frauen gingen nebeneinander durch die Tür mit der
Aufschrift ›Ladies Restroom‹.
Annie wollte gerade zu einem Befreiungsschlag ausholen, doch
die Informantin kam ihr zuvor. Kaum hatte sich die Tür hinter den
beiden geschlossen, als der FBI-Agentin auch schon der Pistolenlauf
über den Schädel gezogen wurde.
Die Frau mit der Sonnenbrille fing die Ohnmächtige auf und zog
sie in eine der geräumigen Toilettenkabinen. Wie alles in dem Café
waren auch die sanitären Anlagen luxuriös.
Olga war immer noch an russische Standards gewöhnt. Amerika
erschien ihr wie ein Wunderland. Ein Wunderland, in dem sie bleiben
wollte. Auch ohne Arkadi.
Die Gangsterbraut durchwühlte die Taschen der FBI-Agentin. Sie
fand ein paar Münzen, ein paar Dollarscheine, den Dienstrevolver
der Marke Smith & Wesson und das Wichtigste überhaupt: den
Führerschein und den FBI-Ausweis.
Olga rechnete sich eiskalt ihre Chancen aus. Mit etwas Glück
würde es ein paar Stunden dauern, bis die ohnmächtige Agentin
gefunden wurde. Bis dahin konnte sie, Olga Andropowa, mit
irgendeinem Inlandsflug in irgendeine Stadt der USA verschwunden
sein. Sie wollte sich die Ähnlichkeit zwischen ihr selbst und Annie
zunutze machen. Als sie die FBI-Agentin gerade zum ersten Mal
gesehen hatte, war plötzlich eine Idee in ihr aufgeblitzt. Als
FBI-Agentin würde sie sich Zutritt zu jedem Flugzeug in diesem Land
verschaffen können. Sie mußte einfach nur behaupten, einen
Verdächtigen zu verfolgen. Der Vorteil: ihr Name tauchte in keiner
Passagierliste auf. Es würde für Arkadi und seine Leute unmöglich
sein, sich auf ihre Spur zu setzen.
Zumal mein geliebter Arkadi bald andere Probleme kriegen wird,
dachte sie haßerfüllt, während sie sich Annies Smith &
Wessen-Halfter an den Gürtel hakte und die Papiere unserer Kollegin
in ihre Jackettasche steckte. Wenn diese FBI-Schnalle wieder wach
ist, wird sie Arkadi ihre Kollegen auf den Hals hetzen. Insofern
habe ich doch noch eine gute Tat für die amerikanische
Bundespolizei vollbracht. Da ist es nur gerecht, wenn ich mir eine
kleine Belohnung nehme!
Olga warf noch einen Blick auf Annies Paßfoto. Wenn man nicht
zu lange hinsah, könnte man sie wirklich für diese Person
halten.
Dann verbarrikadierte sie die Toilettentür von außen. Gerade
rechtzeitig, bevor eine andere Frau den ›Restroom‹ betrat.
Good bye, Annie Franceso, dachte Olga Andropowa spöttisch,
während sie das Café durchquerte. Amerika, ich komme!
Dies war ihr letzter Gedanke. Mitten im Eingangsbereich des
Trump Towers wurde ihr zierlicher Körper plötzlich von einer Garbe
aus einer Maschinenpistole durchsiebt.
Olga hatte keine Chance. Sie starb mit einem überraschten
Ausdruck auf dem Gesicht.
Panik brach aus unter den Hunderten von Menschen, die sich am
späten Vormittag im Trump Tower aufhielten. Doch der hauseigene
Security Service hatte die Lage schnell wieder unter Kontrolle. Nur
vom Täter fehlte jede Spur.
Die Cops der City Police waren im Handumdrehen da. Einer von
ihnen checkte für eine erste Identifizierung die Taschen der
Ermordeten.
»Verdammt!« sagte er zu seinen Kollegen. »Das ist ja eine
FBI-Agentin!«
***
Milo saß am Steuer des roten Buicks aus dem FBI-Fuhrpark. Er
hatte mir angesehen, daß ich im Moment nicht fahrtüchtig war. Okay,
es ist für uns alle hart, wenn es jemanden von uns erwischt. Aber
gerade Annie… warum sie?
Nun, es war sinnlos, sich diese Fragen zu stellen. Ich wußte
nur, daß ich den Kerl kriegen wollte, der das getan hatte. Er
sollte sich vor Gericht verantworten müssen.
»Was genau hast du gehört?« fragte Milo.
»Eine Streife der City Police ist nach einem Feuerüberfall in
den Trump Tower gerufen worden«, berichtete ich. »Offenbar hat ein
unbekannter Täter eine Frau mit einer MPi-Garbe niedergestreckt.
Und diese Frau ist Annie Franceso.« Ich biß die Zähne
aufeinander.
»Wo ist Jennifer Clark? Die beiden arbeiten doch zusammen an
dem Entführungsfall Svetlana Scharkowa!«
»Ich weiß es nicht, Milo. Jedenfalls hat die City Police in
der FBI-Zentrale angerufen, und von dort aus hat man uns
verständigt. Warum, Milo,.warum? Sie war ja immer sehr mutig. Sie
muß eine heiße Spur verfolgt haben! Verdammt, verdammt…«
Die Gedanken drehten sich in meinem Gehirn. Aber jetzt kam es
darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren. Weder Haß noch Trauer
würden uns helfen, den Mörder zu fangen. Nur Mut und Sinn für
Tatsachen.
Doch es war nicht immer leicht, nach diesem Prinzip zu
handeln.
Endlich kamen wir beim Trump Tower an. Das Blinklicht mit dem
Magnetfuß auf dem Wagendach bahnte uns den Weg durch die Absperrung
der City Police.
Milo und ich sprangen aus dem Buick und eilten dorthin, wo das
Verbrechen stattgefunden haben mußte.
Jennifer Clark erwartete uns bereits. Sie sah ernst aus, aber
nicht so verzweifelt, wie ich es erwartet hatte. Konnte sie den Tod
ihrer Kollegin einfach so wegstecken? Das bezweifelte ich.
»Der Fall wird immer verworrener!« begrüßte sie uns. »Seht
euch am besten das Opfer an!«
Ich schluckte und trat mit weichen Knien näher. Dort lag sie
ausgestreckt auf dem Rücken, von den Kugeln eines feigen Killers
für immer dem Leben entrissen.
Ich atmete tief durch. Und dann…
Was war das?
Es war kaum zu glauben. Täuschten mich meine Sinne? Oder was…
was sollte das?
»Das…«, stotterte ich, »…das ist nicht…«
»Das ist nicht Annie!« bestätigte Jennifer Clark. »Aber diese
unbekannte Frau sieht ihr ein wenig ähnlich. Und sie hatte Annies
Dienstausweis, Annies Revolver und Annies Führerschein. Aber wo,
zum Teufel, ist Annie?«
»Weißt du denn, was sie hier wollte?« fragte Milo.
»Eine unbekannte Informantin wollte sich mit Annie treffen.
Aber nur mit ihr allein. Es sollte um die Entführung von Svetlana
Scharkowa gehen.«
»Und du hast sie allein gehen lassen?« schnauzte ich Jennifer
an.
Sie sah mir direkt in die Augen. »Wenn Annie jetzt hier wäre,
würde sie dir sagen, daß sie kein Kindermädchen braucht,
Jesse!«
In diesem Moment ertönte ein splitterndes Geräusch in einem
der Cafés, vielleicht dreißig Yards entfernt.
Jennifer, Milo und ich zogen unsere Dienstwaffen und
sprinteten auf das Café zu.
Da sahen wir in der Tür des ›Ladies Restroom‹ eine
wohlbekannte Gestalt auftauchen.
Annie Franceso.
Sie hielt sich mit der linken Hand ihren blutenden Kopf und
kam auf schwankenden Beinen auf uns zu.
»Mußte die verdammte Tür eintreten«, murmelte sie. »Dieses
Weibsbild hat mich überrumpelt… aber dafür wird sie bezahlen…
sie…«
Annie taumelte immer mehr. Ich machte einen riesigen Satz und
nahm sie vorsichtig auf meine Arme.
»Diese Behandlung lasse ich mir gefallen.« Sie lächelte tapfer
und legte ihren Kopf an meine Schulter. »Dafür leiste ich… mir…
sogar den Luxus… ohnmächtig zu werden…«
Und sie sackte weg.
***
Konstantin war stolz auf sich. Er hatte diese Verräterin Olga
Andropowa nicht nur erledigt, sondern war auch unerkannt
entkommen.
In seinem lila Jogginganzug mit der kleinen Reisetasche in der
Hand hätte man ihn für einen Freizeitsportler halten können, der
zum Training geht. Und davon gibt es in Manhattan Zehntausende.
Doch Konstantins Tasche enthielt seine Beretta M 12 S-MPi, mit der
er vor wenigen Minuten eine tödliche Garbe in die Brust der
dunkelhaarigen Russin gefeuert hatte.
Das Töten war Konstantins Beruf. Er war noch sehr jung
gewesen, als er bei der damaligen sowjetischen Eliteeinheit Speznas
das ›Handwerk‹ des lautlosen Tötens gelernt hatte, wie man das so
schön nannte. Doch die Disziplin in der Armee hatten ihm immer
Probleme gemacht. Schon damals war sein krimineller Antrieb stärker
gewesen. Auch seine Vorgesetzten hatten bemerkt, was für ein faules
Ei sie sich ins Nest geholt hatten. Konstantin wurde unehrenhaft
entlassen, nachdem er die Regimentskasse geplündert und einem
Sergeanten sein Messer zwischen die Rippen gestoßen hatte.
Im Straflager hatte er dann Freunde gefunden, die seinen
weiteren Lebensweg bestimmen sollten. Russische Mafiosi.
Konstantin ging die Fifth Avenue entlang, warf flüchtige
Blicke auf die Auslagen der berühmten Juweliere. Gerade ging er an
dem weltbekannten Geschäftslokal von van Cleef vorüber, das schräg
gegenüber vom Trump Tower liegt.
Es juckte ihm in den Fingern, doch er bezwang seinen Drang zu
stehlen. Die Organisation sorgte für ihn. Wenn er seine Aufträge
ausführte, konnte ihm nichts passieren. Er mußte nur seinen
Befehlen gehorchen.
Doch genau das war sein Problem. Es hatte ihm nichts
ausgemacht, daß ihn sein Boß Arkadi zusammengeschlagen hatte.
Konstantin konnte eine Menge einstecken. Vielmehr störte ihn der
Grund, weshalb der Boß es getan hatte. Er sollte seine Finger von
dieser Svetlana Scharkowa lassen. Und das fiel dem Killer äußerst
schwer.
Seihe Gier nach dem Model war ungeheuerlich. Alle seine
Gedanken drehten sich nur noch um sie. Was ging ihn dieses
verdammte Bernsteinzimmer an? Er wollte Svetlana. Ihre
wohlgeformten Schenkel. Ihre atemberaubenden Hüften. Ihre runden
Brüste.
Konstantin stöhnte auf und schluckte schwer. Und dann kam ihm
etwas in den Sinn.
Was, wenn Olga Andropowa gar keine Verräterin gewesen war? Sie
war die Freundin seines Bosses Arkadi Schostkin gewesen. Was, wenn
der schöne Arkadi sie nur hatte umlegen lassen, um bei Svetlana
freie Bahn zu haben?
Konstantin ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Vielleicht
würde er selbst ja als nächster beseitigt werden. Damit das ›junge
Glück‹ ungestört blieb.
Zum ersten Mal vertraute der Mafioso seinem Anführer nicht
mehr blind. Er hatte immer ohne Widersprüche das getan, was die
Organisation von ihm verlangt hatte, doch das konnte sich jetzt
sehr schnell ändern.
Die Schritte des Killers wurden schneller und härter. Er
marschierte förmlich am Modehaus Bergdorf-Goorman vorbei,
überquerte die 58th Street und steuerte auf die Pulitzer Memorial
Fountain zu.
Wenn Arkadi es mit Svetlana treibt, so schwor er sich, dann
wird noch mehr Blut fließen! Und es wird nicht mein eigenes
sein!
***
Annie Franceso hatte eine Gehirnerschütterung. Da Mr. McKee
wußte, daß sie auf den Arzt nicht hören würde, hatte er selbst ihr
strengste Bettruhe verordnet. Natürlich besuchte er sie auch im
Saint Vincent's Hospital, in das sie vom Trump Tower aus gebracht
worden war. Und wenn ›Miss Lee‹ auch sonst immer ihren eigenen Kopf
durchsetzt - eine Anordnung von unserem Chef befolgt sie stets ganz
lammfromm.
Jonathan D. McKee verabschiedete sich gerade von unserer
Kollegin, als Jennifer, Milo und ich das Zimmer betraten. Der
behandelnde Arzt hatte kurze Besuche erlaubt. Und wir mußten
unbedingt erfahren, was diese Informantin Annie mitgeteilt hatte.
Bevor sie erschossen und Annie k.o. geschlagen wurde.
»Sie denken an Ihr Versprechen?« fragte Mr. McKee und hob
scherzhaft mahnend den Zeigefinger. »Zwei Wochen lang werden Sie
dieses Zimmer nicht verlassen.«
»Yes, Sir«, seufzte Annie Franceso in gespielter Verzweiflung.
»Zwei Wochen ohne Training. Das wird hart.«
»Das Leben ist hart!« sagte ich grinsend und überreichte
unserer Kollegin einen in buntes Papier geschlagenen Karton. »Ein
kleines Genesungsgeschenk. Von uns dreien!«
Mit leuchtenden Augen riß die puertoricanische Agentin die
Verpackung auf und öffnete die Schachtel.
Darin befanden sich zwei chinesische Porzellanfiguren, die
sich in klassischer Kung-Fu-Pose gegenüberstanden. Ich hatte in
Chinatown nicht lange suchen müssen, um dieses Geschenk zu
finden.
»Vielen Dank!« Annie strahlte und setzte die Figuren
vorsichtig auf ihren Nachtschrank. »Außerdem hat der Chef nur
gesagt, daß ich im Bett bleiben muß. Aber auch hier kann ich
Übungen machen!«
Und mit diesen Worten stieß sie ihre rechte Faust vor sich in
die Luft, während gleichzeitig ihre linke Handkante am Arm
hinunterglitt. Als Deckung.
Wir lachten, doch dann kamen wir auf den Grund unseres Besuchs
zu sprechen.
»Ich habe schon von Mr. McKee gehört, daß diese unbekannte
Frau erschossen worden ist«, sagte Annie mit mißmutigem Gesicht.
»Sie muß zu der Bande gehört haben. Zu der Bande, die Svetlana
Scharkowa entführt hat. Das heißt, falls sie die Wahrheit gesagt
hat, natürlich.«
»Was hat sie denn gesagt?« wollte Jennifer Clark wissen.
»Der Boß der Entführerbande heißt Arkadi Schostkin. Sie hat
mir eine genaue Personenbeschreibung gegeben. Muß ein ziemlicher
Schönling sein. Aber er ist nur ein kleines Licht in der
Organisation. Und die heißt für mich russische Mafia.«
Ich biß mir auf die Lippen. Verdammt. Auch in New York
drängten immer mehr organisierte Verbrecher aus anderen Ländern in
die Unterwelt. Dadurch wurde die Luft zunehmend bleihaltiger.
»Wir werden uns mit den Kollegen in Rußland kurzschließen
müssen«, warf ich ein. »Aber erzähle weiter.«
»Dieser Arkadi betreibt zur Tarnung ein
Import/Export-Geschäft. 116 Rivington Street. Und dort soll auch
Svetlana Scharkowa gefangengehalten werden.«
»Mitten in der Lower East Side«, frotzelte Milo. »Da bekommt
sie ja Amerika gleich von der schönsten Seite zu sehen!«
»Ich glaube kaum, daß sie ihr ein Zimmer mit Aussicht gegeben
haben«, sagte ich. »Tut mir leid, daß dieser Besuch nur so kurz
war, Annie. Aber du weißt, daß wir jetzt handeln müssen.«
»Na klar!« Unsere verletzte Kollegin nickte kampfeslustig.
»Gebt diesen Verbrechern von mir ein paar Kinnhaken mit!«
***
Iwan Ramsakow war besessen vom Bernsteinzimmer.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte er sich von einem
linientreuen Kommunisten in ei,nen glühenden russischen
Nationalisten verwandelt. Und nun kreiste sein ganzes Leben nur
noch um das Bernsteinzimmer der russischen Zaren.
Es war für ihn ein Symbol der Größe des alten Rußland. Daß es
außerdem einen unschätzbaren Wert hatte und viele Millionen Dollar
bringen würde, fand er natürlich auch nicht unangenehm.
Svetlana Scharkowa war entführt worden. Und sie kannte das
Versteck des Bernsteinzimmers. Also mußte Ramsakow versuchen, das
Model zu finden. Dann würde er sie schon zum Sprechen bringen. Er
hatte da so seine Methoden.
Ramsakows Kumpel Oleg Krapodkin verfügte dank seiner
Vergangenheit als Spion immer noch über exzellente Verbindungen. Er
hatte in russischen Emigrantenkreisen die Lauscher aufgestellt. Und
herausgefunden, daß die Mafia für das Kidnapping des schönen Models
verantwortlich gemacht wurde.
Die Gerüchte kreisten immer stärker um einen Namen.
Arkadi Schostkin.
Und dieser Arkadi Schostkin war der Grund, weswegen Iwan
Ramsakow an diesem trüben Maitag an der Ecke Orchard und Rivington
Street herumlungerte. Er wollte sich nicht auf seine Leute
verlassen.
Wo genau Schostkins Schlupfwinkel war, hatte er schon
rausgefunden. Jetzt brauchte er noch Details. Zum Beispiel, über
wieviel Männer der Mafiaboß verfügt. Oder in welchem Raum dieses
blonde Flittchen versteckt war.
Die Orchard Street ist für die Menschen dieses Slums ein
riesiges, stets überfülltes Wohnzimmer. Ein großer Teil des Tages
spielte sich für viele auf der Straße ab. Sei es, weil sie
arbeitslos waren und ihnen in den kleinen engen Wohnungen die Decke
auf den Kopf fiel. Oder deshalb, weil sie sich als Straßenhändler
mit Kringeln, Hot Dogs oder Limonade eine karge Existenz geschaffen
hatten. Andere dealten schlicht und einfach mit Drogen oder boten
ihren Körper als männliche und weibliche Prostituierte an.
Jedenfalls fiel es an dieser Straßenecke überhaupt nicht auf,
wenn ein etwas kleinwüchsiger Mann mit Händen in den Taschen Löcher
in die Luft starrte.
Plötzlich spannten sich alle Muskeln in Ramsakows Körper. Ein
junger Mann schlenderte die Orchard Street entlang.
Der russische Nationalist kannte ihn noch aus Moskau. Kennen
war zuviel gesagt. Er hatte dort sein Foto in der Zeitung gesehen.
Zusammen mit einem Fahndungsaufruf. Auf den Kopf des Verbrechers
waren damals 100.000 Rubel ausgesetzt gewesen. Wegen bewaffnetem
Raubüberfall.
Ein Herzchen, das so richtig zur russischen Mafia paßte.
Konstantin hatte Ramsakow nicht bemerkt. Warum sollte er auch?
Der kleine Mann lungerte vor einem Pfandhaus herum. Betrachtete die
Juwelen und Schreibmaschinen, die hinter einem dicken Stahlgitter
ausgestellt waren. Als der Killer im Trainingsanzug an ihm
vorbeigelaufen war, folgte ihm der Nationalist unauffällig.
Es gelang Ramsakow, Konstantin zu überrumpeln. Mit einem
mächtigen Stoß schubste er ihn in eine dunkle Gasse.
Überrascht keuchend stolperte Konstantin zwischen die
Mülleimer. Ratten brachten sich quiekend in Sicherheit.
Der Killer fiel zu Boden, aber wie ein Stehaufmännchen kam er
sofort wieder hoch.