Aaron Jones hatte weiche Knie. Der Buchhalter war immer ein
gesetzestreuer Mann gewesen. Es war ein harter Schlag für ihn, daß
sein Arbeitgeber nun das FBI im Haus hatte. Die G-men führten eine
Durchsuchungsaktion in der Firma durch.
Eigentlich hatte Aaron Jones, der kleine, unauffällige Mann,
ja nichts getan, doch er wußte, daß in ›seiner‹ Firma einige krumme
Dinge gelaufen waren, und als Mitwisser würde man auch ihn dafür
haftbar machen.
Der Buchhalter schlich in einen Raum, den die Special Agents
des FBI noch nicht durchsucht hatten. Hier lagerten einige Akten,
gut versteckt. Beweisstücke. Und Jones war fest entschlossen, sie
den G-men zu übergeben. Seine Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber
hatte nun ein Ende. Er wollte sich nicht der Mittäterschaft
schuldig machen. Der kleine Mann prallte erschrocken zurück, als er
das winzige Zimmer am Ende des langen Flurs betreten hatte.
»Sie…?« stammelte er, als er den Mann beim Durchwühlen der
Schränke ertappte.
»Ja, ich bin es.« Die Stimme des anderen war eiskalt. »Und was
machen Sie hier, Jones? Warum sind Sie nicht an Ihrem
Arbeitsplatz?«
»Ich wollte… ich meine…« Der Buchhalter wurde totenblaß.
Und bevor er zurückspringen konnte, hatten sich die Hände des
anderen wie Teufelskrallen um seinen Hals gelegt.
Aaron Jones wehrte sich verzweifelt, aber er hatte keine
Chance gegen den kräftigen Gegner. Er zappelte im unerbittlichen
Griff, der ihm die Luft abschnürte. Lief blau an.
Als der andere ihn wie eine Puppe in die Ecke schleuderte, war
Aaron Jones tot.
***
Ich zog die Augenbrauen zusammen.
Jeder Job hat seine Schattenseiten. Überall gibt es
unangenehme Arbeit, die aber nun mal getan werden muß. Deshalb
jammerte ich auch nicht, als mein Chef Mr. McKee uns an diesem
schönen Junimorgen mit einem scheinbar stinklangweiligen Fall
beauftragte.
Wir, das waren mein Freund und Kollege Milo Tucker, meine
Kollegin Annie Franceso und ich selbst, Jesse Trevellian. Alle drei
Special Agents des FBI Field Offices New York. Man hätte mit einem
Maßband checken können, wer von uns das längere Gesicht machte, als
unser Vorgesetzter uns die Einzelheiten mitteilte.
»Verdacht auf betrügerischen Bankrott?« maulte Milo. Vor
unserem geistigen Auge erschienen riesige Wolken von Bürostaub. Wir
sahen uns durch Achivkeller kriechen, auf der Suche nach einer
Akte, die als Beweisstück verwendet werden konnte. Eine ›faule‹
Akte. Wieviele korrekte Akten wir wohl vorher würden durchsehen
müssen? Fünfzig? Dreihundert? Tausend?
Auf Jonathan D. McKees schmalem Gesicht erschien ein feines
Lächeln. Er faltete seine Künstlerhände. »Ich weiß, daß dieser
Auftrag keinen von Ihnen begeistert. Aber auch betrügerischer
Bankrott ist ein schweres Verbrechen, das in die FBI-Zuständigkeit
fällt. Es handelt sich zwar nicht um Mord oder Entführung, aber
denken Sie an die Menschen, die in Elend und Arbeitslosigkeit
gestürzt werden, nur damit sich kriminelle Manager bereichern
können!«
Das saß. Mr. McKee verstand es immer wieder, uns die
Wichtigkeit auch solcher langweiligeren Fälle deutlich zu machen.
Für Milo, Annie und mich bedeutete dieser Bankrott vielleicht nur
ein paar lange Arbeitstage. Aber durch so ein Verbrechen wurde die
Existenz mancher Familie vernichtet, da hatte Mr. McKee
recht.
»Wie entstand der Verdacht?« wollte ich wissen.
»Wir haben einen anonymen Anruf erhalten«, erklärte Mr. McKee.
Er leitete als Special Agent in Charge das FBI Field Office in New
York und hatte ein untrügliches Gespür dafür, ob eine Information
aus heißer Luft bestand oder nicht. »Die Firma Software Services
ist pleite. Der Geschäftsführer Scott Hamilton soll angeblich
größere Summen aus dem Unternehmen beiseite geschafft und den
Bankrott absichtlich herbeigeführt haben.«
Annie Franceso stutzte. »Der Name klingt nach einem
Computerunternehmen. Die boomen doch schon seit den achtziger
Jahren.«
»Eben«, nickte unser Vorgesetzter.
»Ein weiterer Hinweis darauf, daß es bei dieser Pleite nicht
mit rechten Dingen zugegangen ist.«
Zum Abschied überreichte mir Mr. McKee einen
Hausdurchsuchungsbefehl, unterzeichnet vom District Attorney.
Wir mußten von der Federal Plaza aus nicht weit fahren, um zu
Software Services zu gelangen. Das Unternehmen war in einer
ultramodernen Büroetage angesiedelt, mitten in Battery Park
City.
Dieser Komplex aus nagelneuen Wohn- und Bürogebäuden an der
Südspitze Manhattans ist erst vor kurzem fertig geworden. Klingende
Namen wie American Express haben hier ihre Zentrale. Doch es gibt
auch Firmen, die schon wieder aufgeben mußten, bevor die Farbe an
den Wänden ihrer Büros trocken war.
Zu ihnen schien Software Services zu gehören. Und warum das so
war, würden wir herausfinden.
Wir liefen über die geräumige Plaza beim World Financial
Center mit den frisch gepflanzten Palmen auf das glasverkleidete
Bürohaus zu, in dem auch Software Services untergebracht war.
Im Erdgeschoß gab es spiegelnden Marmorfußboden, eine
Empfangsdame mit Cindy-Crawf ord-Figur - und einen Lageplan der
einzelnen Stockwerke.
»Guten Morgen«, flötete die Schöne hinter dem
Designerschreibtisch. »Wen darf ich melden?« Sie hatte schon den
Telefonhörer abgenommen.
»Niemanden«, sagte ich und hielt ihr meinen FBI-Ausweis vor
die Nase. »Wir lieben nämlich Überraschungen, wissen Sie?«
Annie hatte schon intensiv den Plan studiert. »Drei Zugänge zu
Software Services. Über den Lift, über die normale Treppe und die
Feuertreppe. Wie praktisch, daß wir zu dritt sind.«
»Jesse nimmt den Lift«, schlug Milo vor. »Er sieht von uns am
seriösesten aus.«
»Ich weiß nicht, ob das aus deinem Mund ein Kompliment ist«,
grinste ich.
»Ich nehme die Feuertreppe«, entschied Annie. Mit einem Sprung
war sie hinter dem Tisch der mißtrauisch dreinschauenden Schönheit.
Unsere Kollegin stöpselte das Telefon aus der Wand und klemmte es
sich unter den Arm.
»Ich bringe es Ihnen wieder«, tröstete sie das verdutzte
Möchtegern-Model. »Damit Sie nicht in Versuchung kommen, uns doch
noch anzumelden.«
***
Als sich die Aufzugtüren in der fünften Etage öffneten, stieß
ich mit einem Fahrradboten zusammen. Einer dieser exzentrischen
Typen mit stählernen Muskeln, die auf ihren Bikes im
tempoverrückten New York mehr verdienen als mancher
Abteilungsleiter. Er stieß mich grob zur Seite.
»Paß doch auf, Schnarchnase!« raunzte er mich an. »Zeit ist
Geld!«
Damit hatte er den Lieblingsspruch aller New Yorker aufgesagt.
Ich sah ihm ins Gesicht. Hager, schwarze Sonnenbrille, knallroter
Fahrradhelm. Kurz dachte ich daran, wütend zu werden. Aber ich
wollte mich jetzt nicht mit ihm abgeben. Ich hatte schließlich
einen Job zu erledigen. Außerdem gehörte er nicht zum Personal. Er
würde hier wohl nur etwas abgegeben oder geholt haben. Es gab also
keinen Grund, ihn festzuhalten.
Die Lifttüren sirrten zu. Eine Frau in einem weinroten
konservativen Businesskostüm kam auf mich zu. »Sir? Womit kann ich
dienen?«
»Jesse Trevellian. FBI New York. Wir müssen sämtliche Räume
von Software Services durchsuchen. Niemand darf momentan diese
Etage verlassen. Holen Sie bitte den Geschäftsführer.«
Die Angestellte erbleichte, als hätte ich gerade das Ende der
Welt verkündet. Doch dann eilte sie mit schwingenden Hüften davon.
Ich hakte meine FBI-Marke an mein Jackett und sah mich um.
Direkt vor mir befand sich ein Großraumbüro, in dem zwischen
Zimmerpalmen und Raumtrennern aus Kunststoff Männer mit weißen
Oberhemden und bunten Schlipsen an Computern schufteten. Es
herrschte hektische Betriebsamkeit. Noch schien keiner von ihnen
mitbekommen zu haben, daß sie sich demnächst einen neuen Job suchen
mußten. Arme Teufel.
»Was soll dieser Auftritt?«
Ich wandte mich dem Mann zu, der mich so aggressiv angekläfft
hatte. Er war fast einen Kopf größer als ich, ungewöhnlich hoch
gewachsen. Er war auch recht hager, und das verstärkte diesen
Eindruck noch. Die stechenden Augen musterten mich, als wäre ich
ein lästiges Insekt. Er trug einen sehr teuren Anzug mit
Weste.
»FBI New York. Wir ermitteln gegen Software Services wegen des
Verdachts auf betrügerischen Bankrott. Mit wem habe ich das
Vergnügen?« Ich präsentierte ihm den Hausdurchsuchungsbefehl.
»Ich bin Scott Hamilton, der Geschäftsführer. Und ich warne
Sie! Sie können hier nicht einfach…«
»Der District Attorney hat dieses Dokument unterschrieben«,
unterbrach ich ihn kalt. Dieser Bursche war mir auf Anhieb
unsympathisch. »Sie können selbstverständlich einen Anwalt kommen
lassen, der uns während der Durchsuchung kontrolliert. Wir werden
Ihre sämtlichen Buchführungsunterlagen mitnehmen müssen. Sie
bekommen natürlich eine Quittung. Ansonsten darf niemand die Firma
verlassen, bis wir nicht sämtliche Unterlagen verpackt
haben.«
Hamilton knirschte mit den Zähnen. »Mein Anwalt wird Ihnen auf
die Finger sehen! Meine Sekretärin zeigt Ihnen alle Aktenbestände.
Und nun entschuldigen sie. Ich habe noch zu tun!« Und er stürmte
davon, als wollte er Amerika den Krieg erklären.
Die Frau in Weinrot lächelte mir so verkrampft zu, als wäre
ich ein betrunkener Weihnachtsmann auf einem Kindergeburtstag. »Ich
bin Cybil Lynch, Mr. Trevellian. Soll ich Sie gleich in die
Buchhaltung führen?«
»Das wäre nett«, sagte ich lächelnd. »Desto schneller haben
wir es hinter uns, nicht wahr? Gibt es eigentlich Schlüssel für die
Tür zum Treppenhaus und zur Nottreppe? Dann müssen meine Kollegen
dort nämlich nicht mehr Wache halten und…«
Ohrenbetäubendes Glasgeklirr unterbrach mich mitten im
Satz.
***
Milo hatte sich im Treppenhaus postiert. Er fühlte sich hier
wie ein Wachsoldat an der Grenze zu einem befreundeten Land. Er
rechnete nicht damit, daß etwas geschah. Eine Hausdurchsuchung bei
betrügerischem Bankrott ist nun mal nicht mit der Erstürmung eines
Gangster-Hauptquartiers zu vergleichen. Milo gähnte ungeniert. Auf
dem schmalen Platz zwischen der Treppe und dem Nebeneingang zu
Software Services konnte ihn ja niemand sehen.
Das änderte sich im nächsten Moment schlagartig. Die Tür wurde
aufgestoßen, und ein Mann wollte die Treppe hinabstürmen. Der
Special Agent überwand seine Schrecksekunde sofort.
»He! Moment mal, Freundchen!«
Milo packte den Unbekannten am Jackettärmel.
Der Eilige reagierte blitzartig. Kaum hatte Milos Hand seinen
Arm gepackt, als auch schon die andere Hand des Mannes in seine
Hosentasche fuhr, und ein Klappmesser hervorzauberte!
Milo stieß den Mann mit voller Wucht zurück. Der krachte mit
dem Rücken gegen die Glastür, die sich als ziemlich instabil
erwies. Sie zerbrach in tausend Scherben. Aber dadurch schien der
Kampfgeist des Messerhelden nicht beeinträchtigt worden zu sein. Im
Gegenteil. Es war klar, daß er auf der Flucht war. Und unbedingt an
Milo vorbei mußte.
»Hijo de puta!« brüllte er Milo an und attackierte ihn erneut.
Milo sprang zurück, knallte schmerzhaft mit dem Rücken gegen das
Treppengeländer.
Es war keine Zeit für große Worte. Jetzt war Handeln gefragt.
Milo wollte nach seinem Smith & Wesson in der Gürtelhalfter
greifen. Doch der Messerheld mußte seine Bewegung richtig gedeutet
haben. Wieder drang er auf Milo ein.
Milo schaffte es, die Messerhand mit einem Tritt zur Seite zu
kicken. Doch der Unbekannte sprang ihn an. Ein betäubend süßliches
Rasierwasser drang an Milos Geruchsnerven. Das war allerdings das
geringste Problem. Der G-man umklammerte jetzt das Handgelenk des
Fremden, um das Messer unter Kontrolle zu bringen. Das war sein
Fehler.
Milo hatte nicht auf die andere Hand des Mannes geachtet. Die
krallte sich in seine Haare und schlug Milos Kopf mit voller Wucht
gegen die Wand. Bei Milo gingen die Lichter aus.
Der andere wirbelte herum und stürzte die Treppe hinunter
davon.
***
»Kommen Sie!« rief ich Cybil Lynch zu und rannte in die
Richtung, aus der ich das Glasklirren gehört hatte. Irgendwas war
hier oberfaul. Ich sah eine zerbrochene Tür. Die Scherben waren
nach innen gefallen. Jemand mußte sie von außen zerstört
haben.
»Das ist die Tür zum Treppenhaus!« rief die Sekretärin hinter
mir. Das hatte ich mir schon gedacht. Aber wo war Milo?
Ich riß meinen .38er Smith & Wesson aus der Gürtelhalfter
und näherte mich vorsichtig der Tür.
»Bleiben Sie zurück!« raunte ich Miss Lynch zu. Ich glitt
lautlos neben den Türstock, öffnete die zerstörte Ausgangstür - und
sah Milo reglos auf der Treppe liegen!
Ich mußte ihm sofort zu Hilfe kommen. Aber erst vergewisserte
ich mich, daß ich nicht in eine Falle tappte.
Weit und breit war niemand zu sehen, der mir auflauern
konnte.
»Milo! Verdammt, Milo…« murmelte ich. Ich sah Blut, das seine
Haare verklebte. Er war totenbleich und nicht bei Bewußtsein, aber
er atmete. Das war die Hauptsache.
»Rufen Sie eine Ambulanz!« rief ich der Sekretärin zu.
Im Handumdrehen war der Doc da. Nach einer schnellen
Untersuchung ließ er meinen Freund von den Sanitätern auf einer
Trage abtransportieren.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, meinte er. »Aber ich muß
Ihren Kollegen im Hospital gründlich durchchecken.«
Ich nickte grimmig. Wer immer Milo das angetan hatte, würde
nicht ungestraft davonkommen. Aber zunächst mußte ich mich um
allerlei Dinge gleichzeitig kümmern. Zum Glück trafen wenige
Minuten später meine beiden Kollegen Clive Caravaggio und
Blackfeather ein. Unser indianischer Mitarbeiter, der von uns
›Blacky‹ genannt wird, sah wieder einmal so aus, als wäre er der
Oberboss eines Großunternehmens. In seinem Maßanzug aus Schurwolle
wirkte er so bedeutend, als würde er jeden Tag im Weißen Haus ein
und aus gehen. Hochmütig hat ihn seine teure Kleidung allerdings
nie gemacht. Und das ist die Hauptsache.
»Könnt ihr die Türen sichern?« bat ich die beiden. »Ich
brauche Annie hier im Büro, um die Akten zu checken.«
Wer war der Unbekannte, der Milo niedergeschlagen hatte? Auch
das würden wir herausfinden müssen.
Annie Franceso trat ins Büro. Sie hatte bereits gehört, was
mit Milo passiert war.
»Scheußliche Sache«, murmelte sie. »Dieser Fall ist wohl
brisanter, als wir alle uns das vorgestellt haben.«
»Das stimmt«, meinte ich. Und mit bitterem Humor fügte ich
hinzu: »Nun sehne ich mich beinahe danach, friedlich am
Schreibtisch zu sitzen und eine Akte nach der anderen
durchzusehen.«
Meine Kollegin grinste mich schief an. »Das glaubst du doch
selbst nicht, Jesse.«
»Du kennst mich eben, Annie.«
Endlich fingen wir mit unserer eigentlichen Aufgabe an. Wir
mußten sämtliche Buchhaltungsunterlagen von Software Services
durchgehen, um Hinweise auf einen Betrug zu finden. Die Stecknadel
im Heuhaufen, sozusagen. Es war unser Glück, daß die Firma noch
nicht so lange am Markt war. Da hatte sich noch nicht allzu viel
angehäuft.
Cybil Lynch zeigte sich sehr eifrig darin, uns zu helfen. Sie
präsentierte die Bestände, brachte uns Ordner mit
Personalabrechnungen, Quittungen und Durchschlagen von
Forderungen.
»Das hier ist alles aus dem laufenden Geschäftsjahr«, klärte
sie uns auf. »Aber wir haben natürlich auch noch ältere Akten
aufbewahrt.«
»Können wir die bitte auch sehen?« forderte Annie.
»Folgen Sie mir.«
Wenn diese Frau durch den plötzlichen FBI-Einsatz hier in der
Firma verwirrt war, verstand sie das jedenfalls gut zu verbergen.
Sie ging uns voraus, bog um eine Ecke des Flurs und öffnete eine
schmale Tür.
Cybil Lynch schrie laut und entsetzt auf.
Noch war Dorene Esterhazy eine schöne Frau. Noch war nichts
von den Schäden zu sehen, die das Kokain in ihrem atemberaubenden
Körper anrichtete. Die Droge ist ein schleichendes Gift. Wie ein
Parasit höhlt sie ihr Opfer von innen aus. Und es bleibt nichts
zurück als eine leere Hülle.
Ein geschulter Therapeut in einer Entzugsklinik hätte freilich
auf den ersten Blick erkannt, was mit Dorene los war. Er hätte das
verzehrende Feuer in ihren Augen richtig gedeutet. Doch die meisten
Männer hielten ihren verhangenen Schlafzimmerblick für ein pikantes
Detail ihrer erotisierenden Erscheinung.
Sehnsüchtig raste Dorene zur Tür des Luxusapartments am
Central Park West, das Scott Hamilton für sie gemietet hatte. Auf
dem Weg dorthin warf sie automatisch einen Blick in den riesigen
Wandspiegel in der Diele. Ja, sie war perfekt gestylt. Unter der
weißen Seidenbluse wölbten sich ihre üppigen Brüste, der enge
schwarze Rock bedeckte ihre langen Oberschenkel nur zur Hälfte. Ihr
blondes Haar trug sie schulterlang.
Dabei muß ich jetzt überhaupt nicht gut aussehen, dachte sie
ironisch, während sie auf den Türsummer drückte. Ich erwarte ja nur
den Fahrradboten…
Einen Moment später erschien die drahtige, hoch gewachsene
Gestalt mit dem roten Radhelm in der Aufzugtür.
»Guten Tag, Ma am!« grüßte der Biker mit dem typischen
schleppenden Tonfall der Texaner. »Ich bringe von Software Services
einen Umschlag für Sie.«
»Danke.«
Unhöflich riß ihm Dorene den Umschlag aus der Hand und knallte
die Tür zu. Aber nun hatte sie keinen Sinn mehr für Umgangsformen.
Die Süchtige dachte nur noch an ihr Kokain. An ihr schönes weißes
Pulver, das Scott Hamilton für sie besorgt hatte und mit dem
sie…
Der Umschlag war leer.
Enttäuscht schrie die junge Frau auf. Nervös riß sie das
Papier auseinander, suchte überall. Aber der verdammte Umschlag war
leer. Ob vielleicht dieser hirnrissige Bote den falschen…? Sie
stürzte wieder zur Tür, wollte ihm hinterherjagen.
Aber der Mann mit dem Fahrradhelm war noch nicht wieder zum
Lift gegangen. Er stand noch vor der Tür.
»Sie… Sie haben mir den falschen Umschlag gegeben!« rief die
Kokserin empört aus.
»Wirklich?« grinste der Mann aus Texas in den kurzen
Bikershorts. »Ach, das tut mir aber leid, Ma am. Das werden wir
gleich haben…«
Und er folgte ihr in die Wohnung und ließ die wasserdichte
Plastiktasche von seinen muskulösen Schultern gleiten. Er schüttete
sie aus. Über ein Dutzend Umschläge und Päckchen ergossen sich auf
den Velours-Teppichboden. Dorene kniete sich hin und durchsuchte
mit fliegenden Fingern die Sendungen.
Der Bote blieb mit verschränkten Armen stehen und betrachtete
genüßlich die Oberschenkel der blonden Frau, über denen der Rock
noch weiter hochgerutscht war.
Kokser-Schätzchen, dachte er abfällig. Jetzt bist du reif,
Kokser-Schätzchen!
»Was soll das?« schrie die Blondine ihn unbeherrscht an,
nachdem sie alles geprüft hatte. »Mein Päckchen ist nicht dabei!
Ich will mein Päckchen zum Henker!«
»Ist es wirklich nicht dabei?« flüsterte der hagere Mann und
ließ seine Muskein spielen. »Was ist denn da so Wichtiges
drin?«
Und durch den Schleier ihrer Sucht erkannte Dorene plötzlich,
was sie tun mußte. Wie sie jeden Mann dazu bekam, ihre Wünsche zu
erfüllen.
»Ist das so wichtig?« fragte sie mit einem smarten Lächeln
zurück. Ihre rechte Hand griff an das behaarte Bein des Bikers
oberhalb des Knies. »Sie haben ja verdammt harte Muskeln. Darf ich
die mal fühlen?«
»Überall, Ma'am!« grinste der Texaner und zog das T-Shirt über
seinen durchtrainierten Oberkörper.
***
Cybil Lynch hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie
verschloß die Augen vor dem, was sie nicht sehen wollte. Ich hatte
sie für cool gehalten. Aber angesichts eines Toten geben die
meisten Menschen ihre unnahbare Fassade auf.
Und dieser kleine Mann, der dort in der Aktenkammer lag, war
wirklich mausetot. Wahrscheinlich ermordet, wie ich mir wegen der
Würgemale an seiner Kehle dachte.
Ich ging in die Hocke und berührte seine Gesichtshaut. Sie war
noch nicht erkaltet. Es konnte noch nicht lange her sein, seit ihn
jemand umgebracht hatte. Wahrscheinlich war die Tat geschehen,
nachdem wir schon bei Software Services eingetroffen waren.
»Kennen Sie den Toten?« hörte ich Annie Franceso fragen.
»Ja.«, schluchzte Cybil Lynch. »Das ist… war Mr. Jones. Unser
Buchhalter.«
Der Buchhalter mußte sterben, während das FBI wegen
betrügerischem Bankrott ermittelte! Das kam mir sehr verdächtig
vor.
»Es gibt drei Möglichkeiten«, sagte ich zu meiner Kollegin,
die ihren Arm tröstend um die gescheckte Sekretärin gelegt hatte.
»Entweder war es dieser Radkurier, der mich beinahe umgerannt hat.
Oder der Unbekannte, der Milo niedergeschlagen hat. Oder aber der
Mörder befindet sich noch in dieser Etage!«
Cybil Lynch schluchzte noch einmal entsetzt auf.
Ich griff zu meinem Handy und beorderte ein
Spurensicherungsteam sowie die Männer des Coroners hierher. Wir
würden alle Angestellten von Software Services festnehmen. Jeder
würde ein Alibi für die Tatzeit vorweisen müssen. Das konnte extrem
schwierig werden. In diesem Unternehmen ging es zu wie in einem
Bienenstock. Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Kollegen fanden
sich zusammen, besprachen etwas und gingen dann wieder auseinander.
Wer von ihnen hätte sagen können, wo sich die anderen in den
nächsten Minuten aufhalten würden?
Da ertönte ein entsetzter Ruf aus dem vorderen Teil des
Büros.
»Feuer!«
***
Jorge Ramirez grinste höhnisch, als er sich in den Bus der
Linie 15 schwang und 1 Dollar 25 für den Fahrpreis in dem
Münzbehälter an der Vordertür verschwinden ließ. Er war der einzige
Fahrgast, der an der South Ferry Richtung Uptown eingestiegen war.
Nun konnte er sich sicher sein, nicht verfolgt zu werden.
Ramirez war ein kleiner Gauner, wie sie zu Tausenden in New
York herumliefen. Seine Masche war es, sich in Büros herumzutreiben
und dort in unbewachten Augenblicken die Schreibtische und Spinde
der Angestellten zu durchwühlen. Mal stahl er eine Geldbörse aus
einer unbewachten Handtasche, mal räumte er in einer Teeküche die
Kaffeekasse der Abteilung aus. Kein sehr einträgliches Geschäft,
gewiß. Aber bisher hatte sich der Kleinkriminelle damit er über
Wasser halten können.
Doch an diesem Tag war ihm ein eiskalter Schreck in die
Glieder gefahren. Die Ausbeute bei Software Services war ganz gut
gewesen. Drei Brieftaschen und fünf Dollar in Münzen, die er in
einem Briefumschlag neben dem Kopierer gefunden hatte. Doch als er
sich hatte davonmachen wollen, hätte ihn dieser blöde Kerl beinahe
festgehalten. Ob die Firma in letzter Zeit öfter Besuch von Ramirez
›Kollegen‹ bekommen und einen Detektiv engagiert hatte? Der kleine
Mann aus El Salvador wußte es nicht. Aber es war diesem Burschen
jedenfalls übel bekommen, ihn - Jorge Ramirez - aufhalten zu
wollen.
Der Latino hatte auf der letzten Bank im Bus Platz genommen.
Hier wähnte er sich unbeobachtet. Er zog die Brieftaschen aus
seinem schmalen Umhängebeutel hervor und ging seine Ausbeute durch.
Kreditkarten enthielt jede von ihnen, meist die üblichen großen
Marken: American Expreß, Diners Club, Visa, Master Card. Das war
okay. Er hatte einen Hehler an der 42nd Street, der ihm diese
wertvollen Plastikchips zu einem guten Einheitspreis
abkaufte.
Und Bargeld? Dieser hier bekam wohl von seiner Frau nicht
allzu viel Taschengeld. Ramirez starrte spöttisch auf die einzelne
Dollarnote, die ihm zwischen Briefen und Tankquittungen
entgegenflatterte. Da war das nächste Exemplar schon
vielversprechender. Ein teuer aussehendes dickes Ding aus
Kalbsleder.
Der Dieb pfiff durch die Zähne. Achthundert Bucks in
100-Dollar-Noten! Der Besitzer dieser Brieftasche mußte gut bei
Kasse sein. Ein gewisser Scott Hamilton, den Informationen auf dem
Führerschein nach.
Und dann wurden Ramirez Augen noch größer. Denn in einem
Nebenfach wartete ein weiterer interessanter Fund.
Ein Briefchen mit Kokain!
Ich war nicht erstaunt, die Akten in dem anderen Raum in
Flammen aufgehen zu sehen. Wer immer uns hier in die Suppe spucken
wollte, tat dies gründlich und gnadenlos. Der Anschlag auf Milo,
der Mord, die Brandstiftung.
Ich riß einen Feuerlöscher von der Wand und stürzte mich auf
den Aktenschrank, in dem es lichterloh brannte. Die Angestellten
liefen in Panik durcheinander wie aufgescheuchte Hühner.
Das Papier wurde natürlich in Windeseile ein Raub der Flammen.
Aber schnell gelang es mir, den Brand zu ersticken. Die
Sprinkleranlage tat ihr übriges dazu. Ich wurden naß wie eine Katze
im Regen.
»Du könntest dich zur Wahl der Miss Wet-Shirt stellen!« sagte
ich grinsend zu Annie, als der letzte Funken verloschen war. Wir
sahen aus wie aus dem Wasser gezogen.
Sie trat mir scherzhaft in den Hintern. »Und du darfst diese
ganzen Akten allein durchforsten, wenn du dich nicht wie ein
Gentleman benimmst.«
»Gnade! Diese Strafe ist zu hart!«
Doch schnell wurden wir wieder ernst. Wer immer uns hier in
die Quere gekommen war, er war gemeingefährlich. Ein Brand setzt
immer Menschenleben aufs Spiel. Immer mehr wuchs meine Überzeugung,
daß der Verdacht auf betrügerischen Bankrott zu Recht bestand. Und
damit wurde natürlich Scott Hamilton zu unserem Hauptverdächtigen.
Nur er allein konnte von einer Firmenpleite profitieren.
Der Geschäftsführer empfing mich mit ironisch hochgezogenen
Augenbrauen, als ich in seinem Büro aufkreuzte, dabei eine
Wasserspur hinterlassend.
»Haben Sie eine Dusche genommen, G-man? Ist es so anstrengend,
die Nase in unsere Firmenakten zu stecken?«
Ich streckte den Arm aus und zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Wo sind Sie in den letzten Minuten gewesen, Mr. Hamilton?«
Ungerührt hielt er meinem wütenden Blick stand. »Ich war hier.
Wo sonst? Ich arbeite meist allein. Das werden Ihnen alle meine
Mitarbeiter bestätigen können.«
»Sie haben also kein Alibi für den Zeitpunkt der
Brandstiftung!«
Er grinste mich unverhohlen an. »Nein, habe ich nicht. Aber
ich wette, daß mindestens die Hälfte aller Menschen auf dieser
Etage ebenfalls keins haben. Und außerdem - ich besitze ja noch
nicht mal ein Feuerzeug. Ich bin Nichtraucher!« Und er stieß ein
meckerndes Gelächter aus.
Ich kämpfte meinen Zorn nieder. Und dann sagte ich so ruhig,
wie man es von einem Vertreter der Bundesregierung erwarten durfte:
»Wir bereiten die zu prüfenden Akten für den Abtransport vor, Mr.
Hamilton. Bitte überzeugen Sie sich, daß alles seine Ordnung
hat.«
»Das werde ich, G-man, das werde ich. Ich erwarte meinen
Anwalt jede Minute.«
Der Jurist kam, während ich dem Geschäftsführer zeigte, welche
Dokumente wir mitnehmen wollten. Oder besser gesagt das, was davon
noch übrig war. Triumphierend stolzierte Scott Hamilton auf und ab
wie ein Gockel. Er versuchte nicht, seine Verachtung für das FBI zu
verbergen. Annie Franceso und ich standen daneben wie begossene
Pudel. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Aber es gab nichts zu beanstanden. Der Hausdurchsuchungsbefehl
war korrekt. Wir hatten eine Quittung über alle mitgenommenen Akten
unterschrieben. Hamiltons Anwalt mußte uns zähneknirschend mit dem
Material abziehen lassen.
»Wir sehen uns bald wieder, Mr. Hamilton«, knurrte ich und
stemmte einen Umzugskarton hoch.
Unsere Blicke trafen sich. Ich wußte, ich hatte einen Feind
fürs Leben gewonnen…
***
Die gebräunte Haut des Radkuriers hob sich stark ab von der
leicht kränklichen Blässe von Dorene Esterhazys Körper. Die beiden
Leiber waren in leidenschaftlicher Umarmung miteinander
verschlungen. Das Kokser-Schätzchen bewegte sich mit ausge- buffter
Raffinesse. Sie wußte, wie sie einen Mann in den Wahnsinn treiben
konnte.
Die Adern auf den muskulösen Armen des Texaners traten hervor
wie Starkstromkabel. Seine Hände glitten über ihre aufgerichteten
Brustwarzen. Dorene bog ihren Kopf zurück. Und dann explodierte
plötzlich die Welt im Kopf des Radboten.
Keuchend blieben der Mann und die Frau eine Weile übereinander
liegen, bis sie wieder sprechen konnten.
»Kriege ich nun mein Päckchen?« fragte die Blondine mit einer
Kleinmädchenstimme.
Der Texaner war nach den Erlebnissen der letzten halben Stunde
in Geberlaune. Er nestelte an seinem Gürtel herum, der irgendwo
mitten auf dem Fußboden des luxuriösen Schlafzimmers lag. Dorene
grabschte gierig nach dem Kokainbrief und schüttete seinen Inhalt
auf eine Glasplatte.
Mit gemischten Gefühlen sah der Muskelmann ihr zu, wie sie
ihren formvollendeten nackten Körper über das Pulver beugte und die
scheußliche Droge in ihre Nasenlöcher sog.
Seit Monaten schon hatte er alle paar Tage eine Sendung von
Software Services hierher an den Central Park West gebracht. Diese
tolle Frau war ihm gleich bei seiner ersten Fahrt aufgef allen.
Schon damals war er scharf auf sie gewesen. Doch nie war ihm eine
Möglichkeit eingefallen, an sie heranzukommen. Bis letzte Woche. Da
war das Päckchen zufällig aufgegangen. Und er war nicht von
gestern. Er wußte, daß es kein Scheuerpulver sein konnte, was der
saubere Mr. Hamilton da grammweise an diese blonde Schönheit
schicken ließ.
Nachdem das letzte Stäubchen in ihrer Stupsnase verschwunden
war, schien Dorene Esterhazy wie ausgewechselt zu sein. Der Texaner
kannte das. Er hatte schon oft genug mit Koksern zu tun gehabt.
Solange das Drogenfeuer in ihrem Gehirn brannte, glaubten sie,
Bäume ausreißen und sich die Welt untertan machen zu können. Doch
wenn die Wirkung nachließ, paßten sie problemlos in jede
Streichholzschachtel.
»Hast du eigentlich auch einen Namen?« fragte die junge Frau.
Sie wirkte nun cool, unnahbar. Dabei hatte sie vorhin alles getan,
um an ihren Stoff zu kommen. Aber auch wirklich alles.
»Ich heiße Henry. Henry Dillon. Aber alle nennen mich
Tex.«
»Ich brauche wohl nicht zu fragen, weshalb.« Dorene ahmte
dabei seinen schleppenden texanischen Tonfall nach.
Tex stand auf und ließ seine große Hand über ihren Rücken
hinunter bis auf ihren Po gleiten. »Ich muß weiter, mir noch ein
paar Dollar erstrampeln.«
»So long, du Großstadt-Cowboy. Ich bin sicher, das wir uns
bald Wiedersehen.«
»Das könnte passieren.«
Tex Dillon schlüpfte in seine Kleidung, zog die Nikes an,
stülpte den Helm auf den Kopf und nahm die Umhängetasche. Die
Eingangstür fiel hinter ihm ins Schloß. Bevor der Aufzug kam, mußte
er seine Stirn erst einmal gegen das kalte Blech der
Liftverkleidung lehnen.
Nun war er auch süchtig. Seine Droge hieß Dorene
Esterhazy.
***
Mein Büro glich einem Lagerraum für Altpapier. Überall türmten
sich die Akten von Software Services. Halb ausgepackte Kartons
standen herum. An Milos Schreibtisch saß Annie Franceso. Sie hatte
vor der FBI-Akademie Jura studiert und war mir eine wertvolle Hilfe
bei der Suche nach dem winzigen Detail, das Scott Hamilton das
Genick brechen sollte.
Nach dem katastrophalen Einsatz bei Software Services waren
wir beide schnell nach Hause geflitzt und hatten uns trockene
Kleidung angezogen. Nun saßen wir scheinbar hilflos vor den
riesigen Papierbergen. Doch dieser Eindruck täuschte.
Annie und ich waren nur winzige Rädchen in der gigantischen
Fahndungsmaschinerie des FBI, die sich durch die anonyme
Beschuldigung gegen Software Services in Gang gesetzt hatte.
Während wir die Unterlagen prüften, knöpften sich unsere
Verhörspezialisten die gesamte Belegschaft der pleitegegangenen
Firma vor. Jeder mußte ein wasserdichtes Alibi für den Mord und die
Brandstiftung vorweisen können. Wer nicht glaubhaft machen konnte,
was er in der Zeit getan hatte, zog sich besser schon mal warm
an.
Anhand der Würgemale am Hals von Aaron Jones würden wir
erfahren können, wie groß die Hände seines Killers waren. Das
schränkte den Kreis der Verdächtigen schon mal ein.
Außerdem lief eine Großfahndung nach dem Radkurier, der mich
angerempelt hatte. Er stand ebenfalls unter dringendem Verdacht,
den Buchhalter umgebracht zu haben. Jedenfalls war er zur Tatzeit
im Büro gewesen. Blacky und Clive Caravaggio hatten schon
herausbekommen, daß er für die Radkurier-Firma City Speeds
arbeitete und Henry Dillon hieß. Es war nur noch eine Frage der
Zeit, bis er von uns oder von der City Police aufgegriffen werden
würde.
Ganz besonders verdächtig war natürlich auch der Unbekannte,
der meinen Freund Milo Tucker bei seiner Flucht niedergeschlagen
hatte. Über ihn wußten wir nichts. Keiner der Angestellten konnte
sagen, wer um diese Zeit das Büro verlassen hatte. Es konnte
jedenfalls keiner der dort Beschäftigten gewesen sein, denn die
waren alle jetzt im FBI-Building versammelt.
Wir mußten also nach einem Phantom fahnden. Unsere einzige
Hoffnung war, daß Milo bald wieder aus seiner Ohnmacht erwachte,
und uns eine Täterbeschreibung geben konnte.
Ich machte mir schlimme Sorgen um meinen Freund und Partner,
obwohl der Arzt versucht hatte, mich zu beruhigen.
Ich klappte meine Akte zu und stand auf. »Kaffeepause!«
Annie hob den Kopf. »Das erste vernünftige Wort, was ich heute
höre, Jesse.«
Wir gingen in die Kantine. Ich lud meine Kollegin zu einem
Becher Kaffee und einem Schokoladen-Donut ein. Mit gesundem Appetit
biß Annie in die Kalorienbombe. Im Gegensatz zu vielen anderen
jungen Frauen scheint sie sich keine Sorgen um ihre ›schlanke
Linie‹ zu machen. Vielleicht, weil sie durch ihr tägliches
stundenlanges Kampfsporttraining gar keine Gelegenheit hatte, Fett
anzusetzen. Wegen ihrer Begeisterung für Kung Fu und den
unvergessenen Bruce Lee wird Annie von uns anderen G-men
liebevoll-spöttisch ›Miss Lee‹ genannt.
»Wir können Akten wälzen, bis wir schwarz werden«, sagte ich
und nahm einen großen Schluck Kaffee. »Der Schlüssel zu diesem Fall
liegt bei Scott Hamilton selbst.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Annie mit vollem Mund.
»Als wir mit unserer Razzia angefangen haben, wußte Hamilton
sofort Bescheid. Ich konnte förmlich riechen, daß er dunkle Flecken
auf seiner angeblich so weißen Weste hat. Noch wissen wir nicht,
was genau das für Flecken sind. Aber er muß auf jeden Fall versucht
haben, seine Verbrechen zu vertuschen. Ob allein oder mit Komplizen
- das wird sich zeigen. Vielleicht hat der Unbekannte für ihn
gearbeitet, der Milo niedergeschlagen hat? Und Aaron Jones ist ihm
wohl auch in die Quere gekommen.«
»Du meinst…?«
»Ich meine, daß Jones' Tod direkt mit unserem Einsatz zu tun
hat, Annie. Er mußte sterben, weil er zuviel wußte. Oder weil er
uns vielleicht sogar helfen wollte.«
»Und was ist mit diesem Radkurier?«
»Er hat die Firma fluchtartig verlassen. Ich kenne die
Burschen, die haben es immer eilig. Aber dieser schien von allen
Furien der Hölle gehetzt zu werden. Ich sage dir…«
Mein Handy unterbrach meinen Satz.
»Trevellian!« meldete ich mich. »Ja, machen wir. Sofort! In
Ordnung. Danke, Doktor.«
Ich unterbrach die Verbindung. Meine Kollegin sah mich fragend
an.
»Das war das Bellevue Hospital«, sagte ich und strahlte. »Milo
weilt wieder unter den Lebenden.«
***
Die junge Frau konnte nicht älter als höchstens 21 sein. Sie
trug hautenge Biker-Shorts in Pink und ein schwarzes Top. Auf ihren
rechten Oberarm war ein Katzenkopf mit Teufelshörnern tätowiert.
Mehr konnte Blackfeather nicht von ihr erkennen, denn sie nahm drei
Stufen auf einmal, als sie an ihm und Clive Caravaggio vorbei die
Treppe erklomm.
Die beiden Special Agents waren auf dem Weg zu dem
Radkurierdienst City Speed, der in einem ehemaligen Fabrikgebäude
an der East 26th Street untergebracht war. Das Unternehmen, für das
sich der verdächtige Henry Dillon durch den New Yorker
Straßenverkehr kämpfte.
In der Zentrale herrschte Streß und Hektik. Fahrerinnen und
Fahrer eilten umher, riefen sich Anweisungen zu, empfingen
Sendungen oder warteten einfach. Die G-men drängelten sich zum
Schreibtisch eines frühzeitig ergrauten Mannes mit
Heavy-Metal-T-Shirt durch, der hier der Boss zu sein schien.
»G-men?« fragte er, als unser indianischer Kollege ihm seinen
Ausweis präsentierte. »Was kann ich für euch tun?«
»Es geht um einen Ihrer Angestellten«, begann Clive
Caravaggio. Doch der Graukopf schnitt ihm das Wort ab.
»Hier gibt's keine Angestellten, capito? Wir sind hier in
Amerika. Alle diese Girls und Boys sind freie Unternehmer.«
»Aber die arbeiten doch für Sie, oder?« hakte Blacky nach.
»Wie funktioniert das?«
»Ganz einfach. Wenn ein Kunde eine Sendung transportiert haben
will, ruft er hier an. Ich besorge ihm einen Fahrer, der die Ware
von Punkt A nach Punkt B bringt. Der Fahrer wird dann von mir
angefunkt. Das Funkgerät hat er von mir gemietet. Ich bekomme eine
Vermittlungsprovision für jeden Auftrag. Den Rest behält der
Fahrer.«
»Deshalb also die ständige Eile Ihrer Leute«, erkannte Clive
Caravaggio.
»Genau.« Der grauhaarige Metal-Fan grinste.; »Wer fix ist,
kann ganz schön was verdienen.«
»Wir kommen jedenfalls wegen Henry Dillon. Er arbeitet in
Ihrem Auftrag und…«
»Henry? Sie meinen Tex!« grölte der Graukopf. »Der steht da
hinten, bei der Abrechnung.«
Und er wies mit großer Geste auf eine kleine Schlange von
Radkurieren, die sich vor einem Tisch gebildet hatte. Dort gab es
bare Greenbucks auf die Hand.
Ein hoch gewachsener drahtiger Kerl mit rotem Helm warf den
Kopf herum, als er die beiden G-men im Gedränge auf sich zukommen
sah. Blacky und Clive Caravaggio vielen unter all den bunt
gekleideten Bikern natürlich auf. Henry Dillon war auf
geheimnisvolle Weise klar, daß sie was von ihm wollten.
Mit einem Satz setzte er sich in Bewegung und rannte auf den
Ausgang zu.
»Die Bullen wollen mich kassieren!« kreischte er.
Plötzlich sahen sich die beiden G-men einer aggressiven Meute
gegenüber. Tex’ ›Kollegen‹ wollten seine Flucht decken. Ihnen war
egal, weshalb die Polizei ihren Kumpel suchte. Viele von ihnen
hatten eine selbstgeschneiderte Philosophie, sahen sich als
Großstadt-Cowboys, freie Desperatlos, für die keine Gesetze galten.
Und die Ordnungsmacht war deshalb ihr natürlicher Feind.
»FBI!« brüllte Blacky und stieß einen Biker beiseite. »Lassen
Sie uns vorbei!«
Doch die Lücke hatte sich sofort wieder geschlossen. Zwischen
dem Ausgang und den Special Agents befanden sich mindestens
fünfzehn murrende und pöbelnde Radkuriere, die sichtlich froh
waren, dem verhaßten Staat mal eins auswischen zu können.
Clive Caravaggio warf sich in die Menge.
»Der Mann steht unter Mordverdacht!« rief er. Aber es war
sinnlos. Mit einigen blitzschnellen Schlägen schaffte er sich etwas
Platz, aber die Männer und Frauen, mit denen er es zu tun hatte,
waren alle durchtrainiert und wütend.
Das konnte ja heiter werden.
»Clive! Paß auf!«
Doch der italienischstämmige G-man hatte schon den Angreifer
aus den Augenwinkeln registriert und schickte ihn mit einem
unsanften Kick in die Magengegend ein paar Yard zurück. Der
Getretene stolperte gegen einige seiner Kumpane, und drei davon
stolperten zu Boden.
Blacky packte einen Angreifer im Adidas-Outfit und hob ihn
einige Inches vom Boden hoch. Die Nebenstehenden keuchten
überrascht auf. Anscheinend hatte keiner von ihnen dem Indianer
eine solche Kraft zugetraut. Dann stieß der G-man seinen Gegner in
die Menge. Ein halbes Dutzend Biker ging schreiend zu Boden. Es
entstand eine Lücke.
Leider nur für Sekunden. Schon waren andere Buntgekleidete da,
um den Platz ihrer Kameraden einzunehmen.
Ein Schuß dröhnte durch den weitläufigen Raum, und sofort
griff Blacky nach seinem .38er in der Gürtelhalfter. Doch der
Graukopf hinter dem Schreibtisch hatte mit seinem schweren Colt
Peacemaker nur in die Decke gefeuert.
»Wollt ihr wohl die G-men nicht von ihrer Arbeit abhalten!«
raunzte er seine Radkuriere an. »City Speed ist ein anständiges
Unternehmen!«
Die Girls und Boys traten jetzt murrend zur Seite. Sie alle
waren abhängig von City Speed. Wenn ihnen der Graukopf keine
Aufträge mehr gab, waren sie erst mal pleite, denn Hunderte von
Bewerbern warteten schon sehnsüchtig darauf, ihre Plätze einnehmen
zu können.
Zeeiy und Clive Caravaggio rasten die Treppe hinunter. Doch
von ›Tex‹ Dillon fehlte inzwischen natürlich jede Spur.
***
»Sehen Sie?« sagte der alte Mann. »Das ist Al Bundy!«
»Ja, ich hab's mitbekommen, Grandpa«, rief mein Freund und
Kollege Milo Tucker mit lauter Stimme. Und dann flüsterte er Annie
und mir zu: »Dieser Oldie macht mich wahnsinnig. Der Fernseher
läuft ununterbrochen, seit ich aufgewacht bin.«
Wir saßen am Bett meines verletzten Freundes. Er lag in einem
Zweibett-Zimmer des Bellevue Hospital. Sein Köpf war mit einem
dicken Verband versehen. Doch momentan sah es so aus, als würde er
weniger unter seiner Verletzung als unter dem TV-Konsum seines
Zimmergenossen leiden.
»Heute ist ein guter Tag!« griente der Senior. »Gleich kommt
noch ›Califomia Clan‹. Danach ›L.A. Law‹. Und dann ›Wunderbare
Jahre‹. Und dann…«
»Ich kann es kaum erwarten!« stöhnte Milo. Dabei verzog er das
Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. »Der Alte
kann einem leid tun«, raunte er. »Kennt nichts von der Welt als
seine verflixten Serien. Aber mich nervt es trotzdem.«
»Du wirst sicher bald entlassen werden«, tröstete ihn Annie
und tätschelte seine Hand, die auf der Bettdecke lag.
»Und inzwischen darf Jesse mit dir Dienst tun, mein Schatz«,
entgegnete Milo mit gut gespielter Entrüstung. »Da könnte man ja
glatt eifersüchtig werden!«
Wir lachten alle drei. Annie und ich freuten uns, daß Milo
anscheinend nicht ernsthaft verletzt war. Und vor allem seinen
Humor nicht verloren hatte.
Der Alte hielt entrüstet den Finger an den Mund und zischte.
Auf dem Bildschirm nahm gerade ein Schönling eine Frau mit großen
Kuhaugen in seine starken Arme.
»Hast du deinen Angreifer sehen können?« wollte ich von meinem
Freund wissen.
Er nickte. »Ich habe mit ihm gerungen. Dabei hatte ich sein
Gesicht direkt im Blickfeld.« Ich zückte meinen Notizblock.
»Der Täter ist zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt«,
fuhr Milo fort. »Ein Latino. Schwarze Haare, ein bleistiftdünner
Schnurrbart. Nase spitz und leicht nach links gebogen. Sehr kurze
Koteletten. Direkt unter dem linken Auge eine sichelförmige Narbe.
Die Figur ist mager und drahtig. Größe etwa 5 foot, 3 Inch. Er war
mit einem etwas abgetragenen Nadelstreifenanzug bekleidet. Die
Krawatte…«
»Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische«, rief der Alte
herüber. »Aber der Mann, den Sie beschreiben, sieht haargenauso aus
wie Don Diego aus ›Verfluchte Schönheit‹.«
Wir starrten ihn alle drei mit offenen Mündern an.
»Ich… ich dachte, Sie wären schwerhörig«, brachte Milo
schließlich hervor.
»Bin ich auch.« Der anderen Patient lächelte. »Aber nur, wenn
mein Hörgerät nicht eingeschaltet ist. Ich habe hier neulich ein
Foto von Don Diego gesehen.«
Er blätterte in einer Ausgabe der Programmzeitschrift ›TV
Guide‹. Endlich hatte er die passende Seite aufgeschlagen und warf
das Magazin auf die Bettdecke meines Freundes.
»Das ist er!« rief Milo verblüfft. »Dieser Schauspieler sieht
meinem Angreifer zum Verwechseln ähnlich.«
»Den übernehme ich«, entschied unsere Kollegin Annie Franceso,
die selbst puertoricanischer Abstammung ist. »Latinos sind meine
Spezialität. Hola, muchachos!«
***
Scott Hamilton fühlte sich wie ein König, als er das
FBI-Gebäude an der Federal Plaza verließ. Er wurde des
betrügerischen Bankrotts, der Brandstiftung und des Mordes
verdächtigt. Aber man konnte ihm nichts beweisen.
Der hoch gewachsene magere Mann war der festen Überzeugung,
die Verhörspezialisten des FBI wie Tanzbären am Nasenring
vorgeführt zu haben. Sein kriminelles Gehirn schmiedete
ununterbrochen an neuen aufsehenerregenden Plänen, mit denen er den
richtig großen Reibach machen wollte…
Die Gedanken des Verbrechers schweiften in die Vergangenheit,
während er mit den Händen in den Taschen und pfeifend Richtung
World Trade Center schlenderte, um irgendwo ein stilvolles spätes
Mittagessen einzunehmen. Seit den bescheidenen Anfängen seiner
Karriere hatte Hamilton immer mit mindestens einem Bein in der
Gesetzlosigkeit gestanden. Aber er war immer clever genug gewesen,
um nicht ertappt zu werden.
Schon auf der Universität hatte der gerissene Bursche einen
ganzen Stab von fleißigen - und ärmeren - Studienkollegen
beschäftigt, die ihm gegen gutes Honorar das Lernen abnahmen. Seine
Abschlußarbeit hatte in Wirklichkeit ein verarmter Ex-Professor
geschrieben.
Hamilton mußte grinsen, als er daran zurückdachte. Er selbst
hatte eine Belobigung für seine Leistung erhalten!
Und so war es weitergegangen. Besonders in den turbulenten
achtziger Jahren hatte es der Skrupellose verstanden, Gesetze so
lange zu biegen, bis sie brachen, ohne daß man ihm was nachweisen
konnte. Sein letzter Coup war der Bankrott von Software Services
gewesen. Eine feine kleine Firma. Mit Überweisungen an nicht
vorhandene Geschäftspartner hatte er daraus ein feines kleines
Vermögen für sich herausgezogen. Daß das FBI auf ihn aufmerksam
geworden war, störte Scott Hamilton eigentlich schon gar nicht
mehr.
Er hatte ein ganz großes Ding vor. Eine Sache, die ihn
unangreifbar machen würde.
Hamilton betrat ein gemütliches französisches Restaurant. Der
Kellner im Frack begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung. Der
Verbrecher ließ sich die Speisekarte und das Telefon bringen.
Orderte einen Martini als Aperitif.
Und dann wählte er die Nummer der New York Times.
»Spreche ich mit der Zentrale? Geben Sie mir bitte die
Anzeigenabteilung…«
***
Ich stand vor dem luxuriösen Apartmenthaus am Central Park
West. Dies war die Adresse, wo der Radkurier Tex Dillon einen
Umschlag von Software Services hatte hinbringen sollen. Ein
Auftrag, der von Scott Hamilton erteilt worden war. Soviel hatten
meine Kollegen Blacky und Clive Caravaggio aus dem Besitzer der
Radkurierfirma City Speed herausbekommen.
Vielleicht war ja auch der Inhalt des Umschlags verantwortlich
für die affenartige Eile des Asphalt-Cowboys, hatte ich mir
gedacht. Und deshalb drückte ich nun auf den Klingelknopf, unter
dem ›Dorene Esterhazy‹ stand. Laut City Speed war sie die Lady, die
die Sendung erhalten sollte.
»Wer ist da?« Eine blecherne Stimme aus der
Gegensprechanlage.
»Jesse Trevellian. FBI New York. Ich habe einige Fragen wegen
eines Umschlags.«
Für einen Moment hörte ich nur das Rauschen, das entsteht,
wenn jemand den Knopf der Sprecheinrichtung drückt, aber nichts
sagt. Vor Verwunderung oder vor Angst? Dann ertönte die weibliche
Stimme wieder: »Kommen Sie rauf.«
Ich fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. Innen im Hausflur
gab es einen Plan, der Besuchern verriet, welcher Mieter auf
welcher Etage wohnte.
Die Dame des Hauses erwartete mich. Ich hielt ihr meinen
Dienstausweis entgegen. Sie prüfte ihn, als wollte sie mit ihren
Blicken Löcher in das Metall des Abzeichens brennen.
Auf drei Meilen sah ich ihr an, daß sie völlig aufgekokst war.
Ich habe in meinem Job mehr als genug Süchtige gesehen. Mir kann
man nichts mehr vormachen. Okay, mit ihren Jil Sander- und
Armani-Klamotten trennten sie Welten von den minderjährigen
Heroinhuren an der 42nd Street. Aber nur äußerlich. Innerlich waren
sie alle gleich. Es gab in ihrem Leben nichts als die Gier nach dem
Stoff. Er mußte beschafft werden. Egal, mit welchen Mitteln.
»Wo brennt's denn, G-man?« Sie gab sich noch cool, als sie in
ihrem Designersofa Platz nahm. Dorene Esterhazy strahlte auf den
ersten Blick noch Erfolg und Selbstsicherheit aus. Aber ich
erkannte, daß sie schon auf ›Reserve‹ lief. Es würde nicht mehr
lange dauern, bis sie ›Nachschub‹ brauchte. Und wo bekam sie den
her? Sie sah nicht so aus, als würde sie hinter einem schmierigen
kleinen Koks-Dealer herlaufen, der irgendwo in einem Slum sein
Revier abgraste.
»Wir suchen einen Mann«, begann ich. Dabei ließ ich sie nicht
aus den Augen. »Sein Name ist Henry Dillon. Er wird auch Tex
genannt, wegen seiner Herkunft aus dem Lonestar-Staat. Er arbeitet
als Radkurier für die Firma City Speed.«
»So jemanden soll ich kennen?« höhnte sie eine Spur zu schnell
und abweisend. »Sehe ich aus, als ob ich mit solchen
Drahtesel-Cowboys verkehren würde?«
»Kennen Sie Henry Dillon?«
Ihr Blick flackerte. Lag es am Stoff oder an ihrer
aufkeimenden Nervosität? Ich hatte ruhig und eindringlich
gesprochen. Dabei war offen geblieben, wieviel das FBI schon wußte.
Das konnte nur vorteilhaft sein.
»Ich.’, ich habe heute ein Päckchen mit einem Radkurier
zugestellt bekommen«, rückte sie schließlich mit der Sprache
heraus. Die attraktive blonde Frau warf ihr Haar zurück und sah mir
in die Augen. Nach einigen Sekunden schlug sie den Blick
nieder.
»Darf ich fragen, was in dem Päckchen war, Miss
Esterhazy?«
»Das dürfen Sie nicht!« platzte sie heraus. »Das wird ja immer
schöner! So was ist ja wohl meine Privatsache, oder? Und überhaupt
- geht es nun um diesen Dillon oder um mich?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. In
diesem Moment ging die Türglocke.
»Entschuldigen Sie mich bitte.«
Hüftschwingend stolzierte sie an mir vorbei zur
Wohnungstür.
Sie betätigte die Gegensprechanlage.
»Du?« Ihre Stimme klang etwas schrill, wurde aber sofort
leiser. »Hast du noch nicht genug? Ich kann jetzt nicht, hörst du!
Ich…«
Plötzlich hatte ich eine Erleuchtung. Wie die Steinchen eines
Mosaiks fügten sich die Dinge zusammen. Auf dem Weg von der Tür zum
Wohnzimmer hatte ich durch eine nur halb geschlossene Zimmertür auf
ein zerwühltes Bett gesehen. Was, wenn Dillon ihr den Stoff
gebracht hatte? Was, wenn er sich mit Sex hatte bezahlen lassen?
Was… wenn er nun schon wieder vor der Tür stand?
Ich sprang auf und lief hinaus. Die Süchtige rief mir entsetzt
etwas nach, doch ich hörte schon nicht mehr hin. Wenn ich den
Überraschungsmoment nutzte, konnte ich den Vogel einfangen wie
einen liebeskranken Papagei.
Der Fahrstuhl war unterwegs. Ich rannte die Treppen hinunter,
nahm immer drei Stufen auf einmal. Ein Stockwerk, dann das
nächste…
Erdgeschoß.
Durch die Milchglasscheibe der Außentür sah ich eine lange
Gestalt, die anscheinend weiterhin erfolglos auf den Klingelknopf
von Dorene Esterhazy drückte.
Mit Schwung riß ich die Tür auf. Das war der Mann, der mich
bei Software Services vor wenigen Stunden angerempelt hatte. Roter
Radhelm, hageres Gesicht, dunkle Sonnenbrille.
Wir sahen uns an.
»FBI! Sie sind verhaft…«
Er reagierte mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit. Bevor ich
den Satz beenden konnte, hatte er seinen Kopf gesenkt und mir den
Helm gegen das Kinn gerammt.
Ich flog gegen die Hauswand. Aber zum Glück war ich nicht
ausgeknockt. Er hatte den ›Punkt‹ nicht getroffen.
Sterne sah ich trotzdem.
Der Radkurier schwang sich auf sein Bike und düste in den
dichten Verkehr, der sich auf dem Central Park West südlich in
Richtung Eighth Avenue quälte. Reifen quietschten. Empörte
Autofahrer hupten. Aber da war der Kerl schon ein paar Wagenlängen
vor ihnen.
Es gab nur eine Möglichkeit, ihn noch zu kriegen. Ein
Highschool Kid auf einem Mountain Bike kam mir gerade Recht. Ich
sah den Teenager heranrollen und hielt meine FBI-Marke hoch. Er war
schlau genug, sofort anzuhalten.
»Hab' ich gegen 'ne Regel verstoßen?« quäkte er. Der Stimme
nach schien er gerade im Stimmbruch zu sein.
»Das wollen wir nicht hoffen«, stieß ich hervor.
»Polizeieinsatz! Gib mir dein Rad. Kannst es dir an der Federal
Plaza abholen!«
Der Junge reagierte flott. Er kannte solche Szenen wohl aus
der Flimmerkiste. Ich schwang mich in den Sattel, duckte mich tief
über die Lenkstange und trat kräftig in die Pedale.
Milo hätte jetzt vielleicht gelästert und mir keine Chance
gegen den routinierten Radkurier eingeräumt. Aber ich bin ja auf
dem flachen Land aufgewachsen, in Harpersvillage. Dort leben
Jugendliche praktisch auf dem Fahrrad, bevor sie sich mit Tausenden
von Stunden Rasenmähen und Erntemithilfe ihr erstes Auto
zusammengejobbt haben. Das war mein Vorteil. Ich wußte, wie man das
letzte aus einem Drahtesel herausholen konnte.
Tex Dillon schien zunächst nicht zu bemerken, daß er verfolgt
wurde. Er hielt es wohl für ausgeschlossen, daß ein New Yorker
G-man ihm auf einem Rad nachjagen würde. Ich holte gewaltig
auf.
Aber dann warf er doch einen Blick über die Schulter nach
hinten. Sein Gesicht verzog sich zu einer haßerfüllten und
überraschten Visage.
Mit einem lebensgefährlichen Manöver riß er sein Gefährt herum
und nutzte eine Lücke auf der Gegenfahrbahn. An der 86th Street
verließ er die Straße und bog durch einen der vielen Eingänge in
den Central Park ab. Bei der nächsten Gelegenheit folgte ich ihm in
das Gelände der grünen Lunge New Yorks.
Auf 340 Hektar breitet sich hier inmitten Manhattans eine
wunderbare Natur-Oase aus. Leider hatte ich im Moment keinen Sinn
für diese friedliche Atmosphäre. Ich war vollauf damit beschäftigt,
den rücksichtslos dahinrasenden Tex Dillon einzufangen.
Die Spaziergänger stoben auseinander, als er zwischen ihnen
hindurchbretterte. Der Radkurier schnitt auch eine der
Pferdekutschen, mit denen sich japanische Touristen durch den Park
spazieren fahren ließen. Die Gäule scheuten. Der Texaner zog einige
fernöstliche Verwünschungen auf sich.
Die Straßen im Central Park sind deutlich unterteilt. Es gibt
Spuren für Autos, Kutschen, Inline-Skater und Radfahrer, doch darum
kümmerte sich Dillon einen Dreck.
Meine Oberschenkelmuskeln schmerzten inzwischen, doch trotzdem
schaffte ich es, den Abstand zwischen uns stetig zu verringern. Ich
holte alles aus mir raus, damit mir der Bursche nicht mehr durch
die Lappen ging.
Dillon verließ nun das breite Asphaltband und fuhr
querfeldein. Dabei rammte er wieder einen Spaziergänger, und mit
einem Schmerzenslaut fiel der junge Mann zu Boden. Ich preßte die
Zähne aufeinander. Es wurde Zeit, daß ich Tex Dillon aus dem
Verkehr zog!
Doch der Zusammenprall hatte Dillon aus dem Gleichgewicht
gebracht. Er und sein Bike schwankten, er bekam den Drahtesel nicht
mehr unter Kontrolle - und stürzte scheppernd um.
Ich machte eine Vollbremsung, sprang vom Sattel und war dann
bei ihm.
Dillon empfing mich mit einem gemeinen Tritt, dem ich gerade
noch ausweichen konnte. Ich tauchte weg und hieb ihm auf die kurze
Rippe. Da blieb ihm die Luft weg.
Viel Federlesens machte ich nicht mit ihm. Ich nahm nur kurz
Ziel und ließ dann meine rechte Faust auf sein Kinn krachen. Denn
ich weiß, wo der ›Punkt‹ liegt.
Als er zu Boden ging, klatschten einige Spaziergänger Beifall.
Ich zückte meine Handschellen.
***
Annie Franceso tauchte ein in eine Welt, die einmal die ihre
gewesen war. East Harlem wurde früher auch Spanish Harlem genannt,
heute sagen alle Leute nur noch El Barrio. Das spanische Wort für
Elendsviertel.
Diese Straßenzüge östlich der Fifth Avenue zwischen 103rd und
125th Street waren traurig und gefährlich zugleich. Außer in der
South Bronx fand man nirgendwo in New York so viele ausgebrannte
und leerstehende Häuser. 200.000 Menschen lebten hier, die meisten
aus südamerikanischen Ländern - Mexiko, El Salvador, Nicaragua,
Paraguay, Kuba Venezuela… und natürlich aus Puerto Rico, der Heimat
von Annie Francesos Eltern.
Unsere Kollegin fiel nicht auf zwischen den Massen von
Barrio-Bewohnern, die sich über den legendären Markt ›La Marqueta‹
unter den Hochbahn-Pfeilern schoben. Erstens ist sie selbst eine
Latina. Und zweitens hatte sie für ihren Besuch in diesem Slum ihr
seriöses FBI-Äußeres abgelegt und sich in eine abgetragene Jeans
und ein Lakers-T-Shirt geworfen, das über der Hose hing. So
verdeckte es den Smith & Wesson, den sie in der Gürtelhalfter
trug.
Es gab nichts, was es nicht gab auf dem La Marqueta. Alte
Peruanerinnen boten bunte gewebte Decken an, gerissene
Salvadorianer hatten Schmuggelzigaretten im Angebot, Mexikanerinnen
verkauften flamencotanzende Puppen und Heiligenbildchen, man konnte
Parfüm in Literflaschen kaufen und Kastagnetten…
Doch die FBI-Agentin war nicht zum Einkäufen hier. Sie war auf
der Jagd. Sie wollte den Kerl schnappen, der Milo Tucker
niedergeschlagen hatte und aussah wie der Serienschauspieler Don
Diego.
Doch allein würde sie lange suchen zwischen den 200.000
Latinos in El Barrio. Es gab einen Mann, der ihr helfen konnte.
Auch wenn er davon nicht sehr begeistert sein würde. Und El
Marqueta war sein Revier.
Annie Franceso lief eine Stunde lang herum, bevor sie ihn
aufstöberte. Sie beobachtete zufällig einen alten Mann, der gerade
einen Sixpack Bier der mexikanischen Marke Carta Bianca gekauft
hatte. Und seine Geldbörse wieder in die Hosentasche steckte. Einen
Sekundenbruchteil später hatte ein dünner junge Mann mit langen
Haaren und Dreitagebart seine gelenkigen Finger nach der Beute
ausgestreckt.
Doch bevor sich seine Hand um die Börse schließen konnte,
drehte ihm Annie Geraldö den anderen Arm schmerzhaft auf den
Rücken.
Der Langhaarige schrie auf und zog seine Finger von der
Geldbörse zurück. Er drehte den Kopf.
»A… Annie Franceso!« keuchte er überrascht.
»Paco Hernandez.« Unsere Kollegin grinste, wobei sie die Zähne
fletschte wie eine Pantherin. »Hast immer noch flinke Finger, wie
ich sehe.«
Der alte Mann trottete davon. Er hatte nichts von der Szene
hinter seinem Rücken mitgekriegt.
Der Taschendieb versuchte freizukommen. Aber die
Kung-Fu-Kämpferin hielt ihn in eisernem Griff.
»Warum so eilig, mi querido? Freust du dich gar nicht, mich
wiederzusehen?« höhnte die FBI-Agentin.
Annie Franceso kannte Paco Hernandez noch aus der McKee
School. Sie waren zusammen aufgewachsen. Irgendwann hatten sich
ihre Wege dann getrennt. Annie hatte ein Stipendium für arme, aber
begabte Slumkinder erhalten und Jura studiert. Und Paco war
Kleinkrimineller geworden. Annie Franceso war nur hin und wieder
auf seinen Namen gestoßen, wenn sie die Fahndungslisten der City
Police durchgesehen hatte. Mit dem FBI hatte er nie zu tun gehabt.
Die Bundespolizei befaßt sich nicht mit geklauten Geldbörsen und
aufgebrochenen Lagerschuppen…
»Du arbeitest für die andere Seite, chica!« stieß der Dieb
wütend hervor. »Du bist nicht mehr eine von uns!«
Annie zog die Augenbrauen hoch und machte mit ihrem freien Arm
eine ausladende Bewegung. »Willst du behaupten, daß alle diese
Menschen krumme Dinger drehen? Das stimmt nicht. Es gibt überall
faule Früchte -ob in El Barrio oder an der Wall Street. Aber mach
dir mal nicht in die Hosen. Ich will dich gar nicht verhaften,
hombre. Nur ein bißchen plaudern.«
Mißtrauisch zog der Taschendieb die Schultern hoch und ließ
sich von Annie zu einer kleinen schmierigen Cantina an der 110th
Street führen. Passanten hätten die beiden für ein Liebespaar
halten können. Doch Annie hatte nur ihren Arm um seine Hüfte
geschlungen, damit er nicht abhauen konnte.
Dann saßen sie sich bei fetttriefenden Tortillas und Kaffee
aus angesprungenen Tassen gegenüber.
»Was willst du denn nun, Miss FBI?« zischte Paco
Hernandez.
Annie Franceso zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Jeans
und reichte es ihm wortlos. Die Augen des Diebs quollen vor
Überraschung aus dem Kopf.
»Don Diego aus ›Verfluchte Schönheit‹? Willst du hier mit mir
über Seifenopern plaudern, chica?«
»Natürlich nicht, stupido. Kennst du einen nicht ganz
astreinen Latino, der diesem Schauspieler verdammt ähnlich
sieht?«
»Hm…« Paco Hernandez schien angestrengt zu überlegen. Dann
blitzte es in seinen Augen auf. Ein bauernschlauer Ausdruck
erschien auf seinem Gesicht. »Und was ist, wenn ja?«
»Wenn ja«, schnauzte Annie mit eiskalter Stimme, »dann legst
du besser die Karten auf den Tisch. Denn wir finden diesen Burschen
so oder so. Wenn du auspackst, geht es vielleicht schneller. Aber
wenn ich ihn allein auftreiben muß und rauskriege, daß du ihn
gekannt hast«, - sie machte eine Kunstpause - »dann hast du eine
Anklage wegen Beihilfe zum Mord am Hals, mein armer Jugendfreund.
Und dafür sitzt man etwas länger als für das Klauen von zwei
Wassermelonen!«
Der kleine Ganove senkte den Kopf. Er kannte seine ehemalige
Schulkollegin. Wenn sie etwas wollte, bekam sie es auch. Deshalb
war sie ja auch aus El Barrio rausgekommen. Paco Hernandez kniff
den Schwanz ein wie ein Straßenköter.
»Also gut, Annie. Aber ich schwöre dir bei der Madonna, daß
ich nichts von einem Mord weiß. Es gibt einen Mann, der fast
genauso aussieht wie Don Diego. Hier, mitten in El Barrio.«
Die FBI-Agentin trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf
die abgeschabte Tischplatte. »Weiter!«
»Dieser Mann heißt Jorge Ramirez. Er hat sich spezialisiert
auf Büros. Das heißt, er wirft sich in einen Anzug und verschafft
sich unter einem Vorwand Zutritt zu Bürogebäuden überall in
Manhattan. Und da treibt er sich dann herum. Wartet darauf, daß ein
Zimmer mal verwaist ist. Und dann wühlt er den Schreibtisch durch.
Oder klaut das Geld aus der Kaffeekasse.«
Annie ging ein Licht auf. Das paßte! Es würde auch erklären,
warum es dieser Bursche so eilig gehabt hatte.
»Muy bien, Paco«, sagte sie und lächelte freundlich. »Jetzt
brauche ich nur noch eins von dir. Seine Adresse…«
***
Owen Chambers' Gesicht war vom Kampf gegen den Krebs
gezeichnet. Jahrelang hatte er alles versucht. Vergeblich.
Chemotherapie, Tabletten, Bestrahlungen, Diät. Nichts hatte etwas
genutzt. Die Metastasen hatten sich weiter ausgebreitet. Und nun
stand er mit zitternden Knien vor diesem Mann. Dem Mann, der seine
letzte Hoffnung war.
»Da hätten wir also Mr. Owen Chambers«, sagte der Heiler. Er
war ein sehr großer schlanker Mann. In Chambers' Augen die
personifizierte Gesundheit. Der Krebspatient konnte sich nicht
vorstellen, daß dieser Mann selbst jemals krank gewesen war. Er
wollte es sich nicht vorstellen. Er wollte, daß dieser Heiler auch
ihm die Gesundheit schenkte.
»Die Ärzte haben Sie aufgegeben, Mr. Chambers«, sagte der
Hochgewachsene mit brutaler Offenheit. »Und nun kommen Sie zu
mir.«
»Ja, Sir«, erwiderte der Kranke unterwürfig. Er hatte Tränen
in den Augen.
Die beiden Männer saßen sich in einem Konferenzraum des
legendären Carlyle Hotels gegenüber. Der Heiler hatte hier einige
Räume für seine Behandlungen gemietet. Medizinische Geräte brauchte
er nicht. Er war ja kein Arzt, sondern ein Wundermann. Jedenfalls
glaubten das die Leute, die zu ihm kamen.
»Ich werde Sie heilen, Mr. Chambers«, sagte der Mann. »Aber
das wird nicht billig. Sie hätten schon viel früher zu mir kommen
müssen.«
»Ich zahle, was Sie wollen, Sir. Ich habe Ihre Anzeige leider
erst gestern in der New York Times gesehen. Wenn ich schon
früher…«
»Ihr Herz hätte Ihnen schon früher den Weg zu mir weisen
können«, schnitt der Wunderheiler seinem ›Patienten‹ das Wort ab.
»Sie müssen verstehen, daß ich das Geld nicht für mich will. Ich
brauche nichts. Aber wenn ich Sie heile, verbrauche ich damit
geistige Energie. Und diese Energie muß ich wieder aufladen,
verstehen Sie? Wie eine Batterie.«
»Und wie geht das?« fragte Owen Chambers, gläubig wie ein Kind
vor dem Weihnachtsmann.
»Das geht, indem ich Geld - Ihr Geld für arme Menschen spende.
Dadurch fließt die Energie ihrer Dankbarkeit in meinen Körper
zurück. Und ich habe wieder neue Kraft, um weiteren angeblich
hoffnungslosen Fällen zu helfen.«
Chambers züchte sein Scheckbuch. »Wieviel brauchen Sie?«
»Sie haben mich nicht verstanden.« Der Heiler tat überzeugend,
als wäre er beleidigt. »Ich brauche gar nichts. Sie geben mir, was
Sie erübrigen können. Sie müssen selber wissen, wieviel Ihnen Ihre
Gesundheit wert ist.«
Der Krebspatient überlegte nicht lange, sondern füllte mit
zitternden Fingern einen Scheck der Chase Manhattan Bank aus. Als
Summe trug er 50.000 Dollar ein. Dann überreichte er das Stück
Papier dem hoch gewachsenen Mann.
Dieser steckte es wortlos in die Tasche.
»Nun entspannen Sie sich«, schnarrte der Wunderheiler. Er
stand auf, ging um den Tisch herum und legte seine Hände auf den
Kopf des Kranken. Die Daumen ruhten auf der Stirn, direkt über den
Augen. »Fühlen Sie, wie meine gesunde Energie in Sie hineinströmt.
Spüren Sie, wie die freundlichen Kräfte des Kosmos den Dämon Ihrer
Krankheit vertreiben…«
»Ich spüre es!« rief Owen Chambers begeistert. »Ich spüre es
ganz deutlich, Mr. Hamilton!«
***
Tex Dillon hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Beleidigt
blinzelte er mich aus den Augenwinkeln an. Wir saßen uns in einem
Verhörraum an der Federal Plaza gegenüber.
»Ich habe nichts getan!« rief der Radkurier. »Ich will meinen
Anwalt sprechen!«
»Nichts getan?« wiederholte ich spöttisch. »Widerstand gegen
die Staatsgewalt, Angriff auf einen Bundesbeamten im Dienst. Wenn
Sie nichts getan haben, Mr. Dillon - wieso sind Sie dann vor meinen
Kollegen und vor mir geflüchtet?«
»Ich sage nichts, bevor nicht der Rechtsverdreher da ist!« Er
starrte verbissen die Wand an.
»Sie haben also mit dem Mord…«
»Mord?« Der Texaner bekam einen Wutanfall, sprang von seinem
Stuhl auf und wollte mich am Kragen packen. Ich hatte diese
Reaktion schon kommen sehen. Es war nicht mein erstes Verhör mit
einem Verdächtigen, der ein so unberechenbares Temperament hatte
wie Henry Dillon.
Meine Faust krachte gegen seinen Solarplexus. Pfeifend stieß
er die Luft aus.
Doch noch war seine Kampflust nicht gebrochen. Sein muskulöser
rechter Arm schoß nach vorne. Ich schlug ihn mit meiner flachen
linken Hand weg und packte ihn mit der rechten. Zog den Angreifer
zu mir heran.
»Okay, okay, G-man. Hab's nicht so gemeint.«
Ich atmete tief ein. »Wenn Sie sich mit dem Gesetz anlegen,
ziehen Sie immer den Kürzeren, Dillon. Merken Sie sich das.«
Murrend ließ er sich wieder auf seinen Stuhl nieder. Auch ich
hatte jetzt Platz genommen und begann das Spielchen von
neuem.
»Also - warum sind Sie geflüchtet?«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich sah einen
spöttischen Ausdruck in ihnen. Sollte er es statt mit den Fäusten
zur Abwechslung mal mit dem Kopf versuchen wollen?
»Ich habe letzte Woche eine Ampel bei Rot überfahren, Mr.
Trevellian. Ich dachte, Sie wollten mich deshalb abholen.«
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Meinen Sie,
das FBI jagt Sie wegen eines Verkehrsdelikts? Wollen Sie mich auf
den Arm nehmen?«
»Das würde ich mir nie erlauben!«
Sein Grinsen war wie das eines Kojoten.
Ich stieß die Luft aus. »Und was war in dem Päckchen, das Sie
heute morgen von Software Services zu Miss Dorene Esterhazy
befördert haben?«
»Das weiß ich nicht!« Man hätte seine Entrüstung beinahe für
echt halten können. »Es ist uns verboten, die Umschläge zu öffnen!
Strikte Anweisung von City Speed«
Ich preßte die Zähne aufeinander, daß es knirschte. Dieser
Kerl hatte irgend etwas zu verbergen. Aber noch kam ich nicht an
ihn heran.
»Kennen Sie einen gewissen Aaron Jones?«
»Nein, Mr. Trevellian. Wer soll das sein?«
»Ein Buchhalter bei Software Services. Er wurde heute morgen
ermordet. In der Zeit, als Sie ebenfalls dort waren!«
Für einen Moment sah es so aus, als wolle er wieder
explodieren. Aber dann beherrschte er sich. »Ich… ich kenne ihn
nicht. Weshalb sollte ich ihn umgebracht haben?«
»Vielleicht hat Sie ja jemand beauftragt!«
Der Radkurier senkte den Kopf. »Ich habe gesagt, was ich weiß.
Nun möchte ich mit meinem Anwalt sprechen.«
Als der Jurist eintrudelte, waren wir keinen Schritt
weitergekommen. Meine größte Hoffnung war die Obduktion der Leiche.
Die Würgemale am Hals konnten uns zum Mörder von Aaron Jones
führen.
***
»Zieh dich aus!«
Montserrat Rodriguez brauchte nicht lange, um dieser
Aufforderung von Jorge Ramirez nachzukommen. Erstens hatte der
Freier ein fürstliches Honorar auf den Tisch in dem schmierigen
Zimmer gelegt, in dem er hauste. Und zweitens trug sie außer ihren
Plateauschuhen und einem Tangaslip sowieso nur ein billiges
Minikleidchen auf dem Leib. Und das hatte sie sich in Windeseile
über den Kopf gezogen.
Sie dachte nicht an den mageren Körper des Mannes, der sie
dort auf dem Bett erwartete. Er war für sie wie die unzähligen
schwitzenden Leiber vor und nach ihm. Es machte keinen Unterschied
für Montserrat. Ihre Liebe und ihr ganzes Leben galt dem Crack. Und
von dieser teuflischen Droge würde sie sich eine gute Portion
leisten können - von dem Geld, das sie nun gleich verdienen
würde.
Jorge Ramirez stieß einen unterdrückten Schrei der Gier aus
und packte sie, zog sie zu sich herunter. Wollte den Tanga von
ihren Hüften fetzen.
In diesem Moment flog die Tür auf.
»FBI! Hände hoch!« Leichtfüßig wie eine Gepardin jagte Annie
Franceso in den Raum. Den ,38er hatte sie schußbereit im
Beidhandanschlag. Montserrat Rodriguez kreischte entsetzt auf und
sprang zur Seite.
Jorge Ramirez hingegen fletschte die Zähne und griff nach
einem Fünfundvierziger, der auf dem vollgemüllten Nachtschrank lag.
In seinen Augen glitzerte es verräterisch.
Annie Franceso fluchte innerlich. Nimmt denn jeder in dieser
verflixten Stadt Drogen? fragte sie sich. Und gab sich die Antwort
gleich selber. Nicht jeder. Aber fast jeder, der dauerhaft im Sumpf
des Verbrechens steckt.
Die FBI-Agentin hüpfte auf das Bett wie auf ein Trampolin.
Kurz bevor sich die Finger des Kriminellen um den Knauf des
Revolvers schlossen, traf ihn ein Kung-Fu-Tritt am
Schlüsselbein.
Ramirez schlug zurück, traf aber nicht. Es war ein Fleck auf
seiner südamerikanischen Mannesehre, daß er gegen eine Frau kämpfen
mußte. Daß er außerdem noch nackt war, machte die Sache nicht
einfacher.
Annie Franceso ahnte seinen Konflikt. Sie war schließlich in
dieser Kultur aufgewachsen. Aber sie hatte keine Hemmungen, seinen
Nachteil auszunutzen, um ihn schnell verhaften zu können.
Da brach das altersschwache Bett zusammen. Annie knallte mit
dem Kopf gegen die Wand. Der Smith & Wesson entfiel ihren
Händen.
Jorge Ramirez erkannte instinktiv, daß sich das Blatt gewendet
hatte. Er brauchte sich nur zu bücken, und schon hatte er seinen
guten alten Colt Marksman in den Fingern. Ein starkes Gefühl.
Annie faßte sich an den Kopf. Sie hatte einen harten Schädel,
aber für einen Moment war sie doch benommen gewesen. Einen Moment
zu lange, wie die auf sie gerichtete Waffe nun bewies.
»Keine Bewegung! Pfoten über den Kopf, puta!«
Unsere Kollegin erdolchte ihn mit ihren Blicken, weil er sie
puta, also ›Hure‹, genannt hatte. Normalerweise hätte sie ihn
sofort zusammengefaltet. Aber der Kerl war zu weit weg für einen
anständigen Tritt zwischen die Beine. Sie mußte für den Moment
gehorchen.