113 Minuten Brasilien - Mark Scheppert - E-Book

113 Minuten Brasilien E-Book

Mark Scheppert

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Beschreibung

Was kann es für einen Fan der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Schöneres geben, als zu einer Weltmeisterschaft nach Brasilien zu fahren? Nichts! Es ist ein Traum mit Zuckerhut. Mark Scheppert hat sich genau diesen Traum im Jahr 2014 erfüllt, nicht nur, weil ihm geheimnisvolle Wahrsagungen und eine innere Stimme schon lange vorhersagten, dass Deutschland dort endlich wieder Weltmeister wird. Begleiten Sie den Autor auf seiner abenteuerlichen Reise in faszinierende Städte, zu den schönsten Stränden des Landes und in den einzigartigen Regenwald. Auf wilden brasilianischen Partys und bei epischen Stadionerlebnissen nähert er sich allmählich dem ultimativen Kick. Der Erlösung nach 24 titellosen Jahren. "Kompliment! Obwohl ich Fußball mag, waren das Drumherum, das Emotionale, das Brasilianische, kurz: war das Gefühl das Spannendste." Sebastian T. Vogel, Lesebühnenautor "Der Autor berichtet schonungslos ehrlich von seinen Erlebnissen in Brasilien und nimmt den Leser auf Partynächte, beeindruckende Naturschauspiele und strapaziöse Busfahren mit. Die Weltmeisterschaft rückt dabei fast schon in den Hintergrund, gibt dem Buch aber einen stimmigen Rahmen und lässt alte Erinnerungen aufleben ." 11FREUNDE Magazin für Fußballkultur 1/2022

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„Mein Gott ja, die deutsche Mannschaft hat den WM-Titel geholt. Das ist aber auch schon alles. Wenn ich nochmal irgendwo lese, wie deutsch alles ist und wie toll oder doof das ist, lasse ich auf den Schreiber einen deutschen Schäferhund los!“

— Agnieszka Debska, Juli 2014 —

Inhalt

Vorwort

TEIL 1 – Die Vorbereitung

Schwarz und bunt

Herren des Strandes

Vamos Alemanha

Komplett im Arsch

Großes Theater

Reinsch heißt

TEIL 2 – Die Vorrunde

Es geht los

Unsterblichkeit

Das Vorspiel

Das Spiel

Das Nachspiel

Das Faultier

Hausmeister Krause

Rote Vögel

WM-Fieber

TEIL 3 – Die Entscheidung

Belo Horizonte

Das Jahrhundertspiel

Truemans Kolumne

Rio de Janeiro

Das Finale

Nachwort

Vorwort

Das Buch beginnt, wie es endet: mit einem Schrei. Dazwischen liegen 20 Jahre Suche nach einer eigenen Identität. Am 8. Juli 1990 steht Mark Scheppert, aufgewachsen in der DDR, auf der Berliner Oberbaumbrücke, die noch wenige Monate zuvor die Stadt in zwei Teile trennte.

In den Wohnzimmern flimmern die TV-Geräte, doch die Straßen sind leergefegt. Dann ein Schrei. Deutschland wird gerade Weltmeister. Scheppert nimmt es gleichgültig hin: „Ich bin kein Deutscher. Ich möchte Punkte auf einer riesigen Weltkarte sammeln.“

Tatsächlich tut er von 1992 bis 2010 genau das, was ihm früher verwehrt war: Er reist, lernt die Welt kennen und schließlich sich selbst.

„90 Minuten Südamerika“ ist eine Sammlung von Reisereportagen, aber auch eine Art non-fiktiver Coming-of-Age-Roman, in dem der Fußball sukzessive stärker in den Fokus rückt. Noch Anfang der Neunziger sind ihm die Turniere nicht mehr als kleine Fußnoten wert, sie streifen wie zufällig seine Storys.

Als etwa das EM-Finale ’92 stattfindet, beobachtet Scheppert einen Schwertfisch im Golf von Mexiko. Doch je mehr es ihn in die Ferne treibt, desto stärker nähert er sich seiner neuen Heimat. Und am Ende, 2010, erklingt wieder ein Schrei, dieses Mal fühlt er sich gut an…

„Manchmal muss man weit reisen, um am Ende bei sich selbst anzukommen.“

Dabei sind Schepperts Berichte keine abgehangenen Weisheiten, sondern großartig geschriebene Momentaufnahmen einer riesigen Weltkarte.

Andreas Bock; 11freunde-Magazin, Heft 116

Mit den Ereignissen rund um die Fußball-WM 2010 endete damals mein Buch „90 Minuten Südamerika“. Doch das Erwachsenwerden war damit noch nicht beendet. Es fehlte der ultimative Kick. Die Erlösung. Der WM-Titel.

2006 hatte mir Sylvie die Pistole auf die Brust gesetzt: Weltreise! Jetzt! Sofort! Ohne Rücksicht auf eine Fußball-WM im eigenen Land.

Die einjährige Tour wird wohl die schönste Reise meines Lebens bleiben und seither bemitleide ich Menschen, die immer mit aller Härte auf ihre Träume eintreten, die stets Zweifel plagen und eine Ausrede finden, sämtliche Vorhaben ins Rentenalter zu verschieben. Kennt ihr jemanden, der auf dem Sterbebett bereute, nicht noch mehr Zeit in seinen eigenen vier Wänden verbracht zu haben?

2014 kann ich mich endlich revanchieren und Sylvie eine Panzerfaust an die Schläfe drücken. Brasilien! Jetzt! Sofort!

Die Auslosung der Gruppen zur Fußball-WM hatte ergeben, dass Deutschland seine Vorrundenspiele im Nordosten des Landes austragen wird. Sylvie und ich haben noch drei Wochen Resturlaub, den wir bis Ende März nehmen müssen. Was macht man also in so einer beschissenen Situation?

Richtig, wir fliegen Anfang März 2014 nach Salvador da Bahia, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und die Gegend, rund um die Partien im Sommer, schon einmal zu erkunden.

Geheimnisvolle Wahrsagungen und eine innere Stimme sagen mir, dass Deutschland 2014 Fußball-Weltmeister wird. Brasilien, ich komme!

Mark Scheppert

TEIL 1 – Die Vorbereitung

Schwarz und bunt

Einer meiner besten Freunde in Berlin ist Pascal. Er ist ein Mischling, ein Schwarzer, Dunkelhäutiger, Mulatte oder eben Deutsch-Afrikaner. Er begreift diese Begriffe nicht als Schimpfwörter, da auch er seine Mitmenschen oftmals über Äußerlichkeiten beschreibt.

Vor vielen Jahren erzählte er mir folgende Geschichte: Bis zum Alter von acht Jahren realisierte er gar nicht, dass er anders aussah als die Kinder seiner Klasse.

Er sprach dieselbe Sprache (mit urigem Berliner Dialekt), hatte dieselben Hobbys und spielte den Erwachsenen die gleichen Streiche im Kiez. Er duldete keine Einschränkung seiner Freiheit.

Vielleicht war es auch eine Frage der fehlenden Eitelkeit in jungen Jahren, in denen man Spiegeln eine untergeordnete Rolle beimaß, einer Epoche, in der es vorwiegend Schwarz-Weiß-Fotos gab. Außerdem wuchs er bei einer Pflegemutter auf, die bis an ihr Lebensende für ihn sorgte und ihm nie das Gefühl gab, dass die Hautfarbe eines Menschen irgendeine Rolle spielt.

Eines Tages kam sein dunkelhäutiger Onkel über ein Tagesvisum aus Westberlin zu Besuch und fuhr mit Pascal mit der U-Bahn zum Alex. Genau während dieser Fahrt bemerkte Pascal erstmals, dass mit ihm „etwas nicht stimmte“. Unzählige Passagiere drehten sich nach den beiden um, tuschelten und kurz vor der Endstation zeigte ein Kind mit dem Finger auf ihn und rief laut zu seinen Eltern: „Guck mal, die Negerpuppe kann ja sprechen!“

Sicherlich muss man dazu wissen, dass es in der DDR eine Spielzeugpuppe gab, die tatsächlich unter dem sinnfreien Namen „Negerpuppe“ in den volkseigenen Läden verkauft wurde. Zwei „lebendige“ schwarze Menschen waren in jener Zeit in Ostberlin nicht nur für kleine Kinder eine echte Sensation.

Neger. Es fällt mir schwer, das Wort niederzuschreiben, denn ich komme aus einem Land der politischen Korrektheit, in dem man, zurecht, wohlüberlegt in seiner Wortwahl gegenüber Andersfarbigen sein sollte. In diversen Büchern musste diese Bezeichnung mittlerweile entfernt werden. Gleichzeitig lebe ich in einem Land alter, weißer Männer, in welchem unterschwelliger Rassenhass noch immer an der Tagesordnung ist.

Während des Fluges denke ich an Pascal, da ich gerade das Buch „Herren des Strandes“ von Jorge Amado lese. In Kürze werden wir Salvador da Bahia erreichen, die Stadt der Negerpriesterinnen, Negerheiligen und Negergöttinnen, wie der Autor sie in meiner Buchausgabe noch wortwörtlich nennt. Ein Ort mit dem seltsamsten Menschenschlag Brasiliens, in dem kräftige Mulatten und schwarze Vagabunden ihr Unwesen treiben und ihre Blicke kaum von den Brüsten und Schenkeln kleiner Negerinnen mit tänzelndem Gang wenden können.

In Reiseführern heißt es, dass 80 % der Bevölkerung Salvadors Afro-Brasilianer sind und die ehemalige Hauptstadt die kulturelle, religiöse und musikalische afrikanische Seele das Landes sein soll.

Als wir den Busterminal erreichen, bin ich dennoch geschockt. Alle sind dort schwarz und ich habe sofort das Gefühl, dass uns jeder anstarrt.

Sylvie, mit den dunklen Haaren und dem eher arabisch anmutendem Äußeren, fällt gar nicht so sehr auf. Doch ich, mit meinem flatternden Blondhaar und dem weißen Gesicht, fühle mich, als ob ich soeben in Westafrika abgeworfen wurde. Ein dunkelhäutiger Krakeeler zeigt mit dem Finger auf mich und brüllt etwas, was den halben Busbahnhof amüsiert. Ich vermute, dass er gerufen hat: „Guck mal, das Persil-Paket kann ja sprechen!“ Doch lieber ein Taxi nehmen?

Es gibt hier keine Harmonie und Ausgewogenheit der Rassen, dass einem augenblicklich ganz warm ums Herz wird, und zum allerersten Mal im Leben ahne ich, wie es ist, „anders“ zu sein. Wir sind hier umgeben von Mördern, Frauenschändern und Dieben, die uns mit fletschenden, weißen Zähnen beobachten.

Nein! Niemand krümmt uns ein Haar und mit großer Herzlichkeit erklären sie uns, mit welchem Bus wir ins Zentrum gelangen.

Auf dem Weg dorthin treffen wir den ersten weißen Brasilianer. Im Buch von Amado gab es ein Foto des Autors – mit weißem Haar und Oberlippenbart – und wenn ich nicht wüsste, dass er bereits 2001 gestorben war, würde ich denken, wir sitzen ihm nun direkt gegenüber.

Es ist ein Deutscher, der vor über 50 Jahren ausgewandert ist, um in der schönsten Stadt der Welt zu leben. Mit Wortwitz und Charme begleitet uns Bruno auf der Fahrt nach Pelorinho und stellt uns dabei seine Stadt vor.

Zu fast jeder Häuserzeile, aber auch zum Fußball-Stadion, das wir gerade passieren, kann er Geschichten erzählen. Das altehrwürdige Estádio Fonte Nova wurde 2007 Schauplatz einer Tragödie, da bei einem Spiel, nach dem Einsturz der oberen Tribüne, im mit 60.000 Menschen gefüllten Stadion, sieben Bahia-Fans 20 Meter tief in den Tod stürzten. In der, an gleicher Stelle, neu errichteten Arena Fonte Nova wird Deutschland am 16. Juni sein erstes WM-Gruppenspiel gegen Portugal austragen.

Schnell merken wir, dass Bruno die Stadt Amados über alles auf der Welt liebt. Die noch im 17. Jahrhundert größte Stadt der Südhalbkugel und ehemalige Hauptstadt Brasiliens ist mit ihren fast 3 Millionen Einwohnern heute die drittgrößte Metropole und das eigentliche kulturelle Zentrum des Landes.

Wir sind ein wenig traurig, als wir das historische Altstadtzentrum in der „Oberstadt“ erreichen, da wir uns dort voneinander verabschieden müssen.

Leider vergesse ich Bruno zu fragen, ob die „Herren des Strandes“ noch immer in der „Capital da Alegria“ (Hauptstadt der Freude) ihr Unwesen treiben.

„Pelorinho“, so der Name des Stadtteils, den wir nun betreten, bedeutet übersetzt „Pranger“ und war einmal Teil des größten Sklavenmarktes Südamerikas, wo der Hauptteil der fünf Millionen Sklaven vor einigen Jahrhunderten aus Westafrika ankam und nicht wenige von ihnen an diesem ausgepeitscht wurden. Noch heute ist die bestimmende Hautfarbe hier „oben“ schwarz.

Doch das vormals heruntergekommene Viertel wurde weit vor der Fußball-WM 2014 aufwendig saniert und gehört seitdem zum UNESCO-Weltkulturerbe. Demnach sind die Menschen auch weiße Touristen gewohnt. Niemand beachtet uns bei der Suche nach einer Unterkunft.

Wir haben im Vorfeld keine Unterkunft gebucht, sodass wir lange herumirren. Die ersten vier Hotels sind ausgebucht, doch von der von uns schließlich gefundenen Behausung können wir direkt auf einen Platz mit futuristischem Springbrunnen schauen und das bunte Treiben auf den Straßen beobachten. Wir halten uns gar nicht lange am Fenster auf, sondern stürzen uns sofort ins Leben!

Die Menschen in Salvador sollen für ihre Lebensfreude, ihre Lust am Musizieren und am Tanzen bekannt sein. Bereits auf den ersten Metern über die Pflastersteine der beeindruckend hübschen Altstadt bekommen wir das zu spüren.

Überall erklingt Musik aus Bars und Cafés. Die Menschen tanzen spontan auf der Straße und das alles, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Direkt vor dem berühmten Art-Deco-Fahrstuhl „Elevador Lacersa“, mit dem man in 30 Sekunden die 72 Meter tiefergelegene „Unterstadt“ erreicht, zelebriert eine Gruppe dunkelhäutiger Jungs gerade eine Capoeira-Vorstellung. Wir sind beeindruckt, was man mit seinem Körper in dieser Mischung aus Kampf, Tanz, Geschicklichkeit und Spiel alles anstellen kann.

Vor der Aussichtsplattform, mit Herrscherblick auf das Hafenviertel mit seinem berühmten „Tor des Meeres“, steht eine große, schwarze und vollbusige Figur.

So viel weiß ich schon durch Amado: In Salvador werden vor allem die tapfersten Frauen von der schwarzen Bevölkerung nach ihrem Tode als Heilige verehrt.

Wir fühlen uns sicher, denn durch die Restaurierung des historischen Zentrums ist hier eine Gegend wiederbelebt worden, die zuvor als äußerst gefährlich galt.

Das hatten wir noch von Bruno erfahren. Als tapfere Touristen trauen wir uns bis tief in die Nacht auch in dunkle Seitenstraßen, wo vermeintliche Messerstecher lauern.

Viel zu spät bemerken wir, dass uns bei der Hotelwahl ein Fehler unterlaufen war, denn der Brunnen vor unserem Fenster beginnt alle halbe Stunde riesige Fontänen auszuspucken. Dazu erklingt unfassbar laute, klassische Musik. Am Tage hatte uns das noch verzückt, aber nicht nachts, halbstündlich und vor unserem Fenster!

Sylvie lehnt sich um 4 Uhr neben mir mit blanken Brüsten über die Brüstung, da sie das alles nicht glauben kann. Der Mond übergießt den Platz mit gelbem Licht. „Irgendwo in der Ferne singt jemand eine traurige Samba und das Schluchzen eines Mädchens ist zu hören“, hätte Amado dazu geschrieben.

Nach wenig Schlaf tauchen wir erneut in das faszinierende Leben der Altstadt ein. Die Sonne überzieht die Straßen und seine pastellfarbenen Häuserfassaden mit sanfter Helligkeit. Schon nach kurzer Zeit spüren wir die einzigartige Freiheit, die Straßen dieser Stadt durchstreifen zu dürfen. Nach einem Cafezinho, den wir an einem rollenden Kiosk von einem frech grinsenden Jungen kaufen, der so schwarz wie der von ihm gereichte Kaffee ist, kommen wir an unzähligen Kunst- und Trödelläden vorbei. Die Kopfsteinpflasterplätze und alten Kirchen ziehen uns in ihren Bann. Besonders die mächtige Catedral Basilica, die barocke Igreja de Sao Francisco und die auffallend blau getünchte Igreja do Rosario dos Petros, aber auch der Terreiro de Jesus (ein Brunnen mit Figuren, welche die vier großen Flüsse Brasiliens symbolisieren) ergeben prächtige Fotomotive.

Salvador wird aufgrund seiner vielen Kirchen und der afro-brasilianischen Bevölkerung auch „Schwarzes Rom“ genannt.

Dann gelangen wir zur Bonfim-Basilika. Es ist eine beeindruckende Wallfahrtskirche im portugiesischen Barockstil mit weithin sichtbaren Türmen. In der Nähe gibt es eine Eisdiele, an der es Eissorten aus lokalen Früchten wie Umbu, Biribiri oder Jenipapo gibt. Wir entscheiden uns für Tamarinde und bereuen es nicht.

Wenig später entdecken wir das Wohnhaus Jorge Amados. Schräg gegenüber befindet sich ein Museum, wobei uns die ausgestellten Fotos und die Übersicht seiner Bücher nicht zu Begeisterungsstürmen veranlassen. Aber sagen wir es mal so: Salvador zu besuchen, ohne einem seiner bedeutendsten Bewohner zu huldigen, ist in etwa so, als verbrächte man erstmals einige Tage in Ostberlin und hätte zuvor nicht das Buch „Mauergewinner“ gelesen.

Vor der Museumstür gibt es eine Skulptur aus Stahl namens Exú, welche laut Amado ein Kind darstellen soll, das es liebt, sich vagabundierend auf den Straßen herumzutreiben, Streiche zu spielen und keine Einschränkung seiner Freiheit duldet. Ich muss schon wieder an meinen Freund Pascal denken.

Allerdings hat Exú in der hiesigen Kultur eine zwiespältige Rolle, denn die Nachrichten, die er übermittelt, sind nicht immer positiv. Deshalb werden ihm Dinge geopfert, um ihn milde zu stimmen. Wir sehen in vielen Straßen Opfergaben. Häufig sind es Blumen, Kerzen und Maniokmehl, aber auch halbe Hähnchen und Schnaps stehen herum. Ich kaufe an einem Straßenstand einen Strauß schwarz-weißer Blumen, die ein bisschen wie vier kleine Fußbälle aussehen, um Exú für unser Spiel am 16. Juni gegen Portugal zu besänftigen.

Nach einem Mittagsschlaf und ein paar unfassbar guten Bahia-Frikadellen (Bällchen aus braunen Bohnen, Salz, Zwiebeln – serviert mit einer Creme aus zermahlenen Krabben, Nüssen, Öl und Kokosmilch) stürzen wir uns in das lebendige Nachtleben.

Schon zuvor hatten wir erfahren, dass wir genau zur richtigen Zeit in der Stadt sind. Am Abend findet, wie jeden Dienstag, in „Pelo“ das Open-Air-Fest „Dia & Noite“ statt. Unglaublich, aber die Stadtverwaltung bezahlt allwöchentlich diverse Rhythmusgruppen, Trommler und Musiker, damit sich Touristen die Darbietungen kostenlos anhören können. In Berlin feiert man einmal im Jahr beim „Karneval der Kulturen“ das Miteinander aller Hautfarben – in Salvador da Bahia jeden Dienstag!

Eine ständig wachsende Menschenmenge wälzt sich rhythmisch durch die nun eng wirkenden Gassen der Stadt, denn nicht nur auf dem Hauptplatz des Viertels singen und tanzen Gruppen – die ganze Altstadt ist eine Bühne. Überall gibt es fliegende Händler, bei denen wir günstige Snacks und eiskaltes Dosenbier erwerben können.

Noch immer gibt es keine Spur von den räuberisch-stolzen „Herren des Strandes“. Wir sehen auch nirgends verwahrloste Straßenkinder in Lumpen und Taugenichtse, die Klebstoff schnüffeln, stehlen oder Frauen belästigen. Der größte Barock-Slum der Welt – aus den Zeiten Amados – hat sich in dieser Hinsicht deutlich verändert. Lediglich ein schwarzgelockter Junge im Alter von etwa 10 Jahren, der gekonnt mit Kokosnüssen jongliert und dabei freudestrahlend seine blitzenden weißen Zähne zeigt, erinnert mich an die Jungs aus dem Buch, mit Namen wie Hinkebein, Kater, Joao Grande, Gottesliebling und Pedro Bala, die trotz allerlei Flausen im Kopf immer einen Stern an der Stelle des Herzens trugen.

Die Polizei läuft einige Runden, kontrolliert aber lediglich, ob alle Verkäufer auch Genehmigungen besitzen. Die leeren Dosen werden uns von Blechsammlern regelrecht aus den Händen gerissen. Sylvie kann von dem bunten Treiben gar nicht genug bekommen und will bis weit nach Mitternacht um die Häuser ziehen.

Auch ich kann die Blicke kaum von den Schenkeln und Brüsten der dunkelhäutigen Frauen abwenden, die ekstatisch und mit elegantem Hüftschwung Lambada und Samba tanzen. Doch die allerschönste Frau der Welt befindet sich an meiner Seite. In diesem Moment weiß ich, dass unter den abertausenden Sternen über Salvador da Bahia gerade nur einer für mich leuchtet.

Ich freue mich so sehr darauf, zur Fußball-WM mit dieser Frau zurückzukehren.

Herren des Strandes

Unkonventionell fahren wir von Salvador da Bahia nach Morro de São Paulo. Zunächst tuckern wir mit dem Stadtbus durch die komplette Stadt, um am „Tor des Meeres“ auf eine Fähre zu gelangen. Zum ersten Mal überqueren wir somit die gigantische Baia de Todos os Santos und bewundern noch einmal die Traumstadt im Hintergrund.

Die „Bucht der Allerheiligen“ ist die größte ihrer Art in Brasilien und wurde 1501 von Amerigo Vespucci entdeckt – immerhin Namensgeber des gesamten Kontinents. Auch der Bundestaat Bahia leitet sich von diesem Meeresbusen ab, in dem sich das Wasser in sanften Wellen kräuselt und graublaue Delfine fröhlich neben den Segelkuttern der Küstenschiffer springen.

Um 16 Uhr erreichen wir den Fähranleger von Valencia. Auf einer faszinierenden Bootsfahrt fahren wir zwei Stunden über Kanäle unserem Ziel entgegen. Rechts und links erblicken wir eine tropische Vegetation mit Palmen, Bananen-, Papaya-, und Mangobäumen, Mangroven, aber auch Hibiskus und Orchideen. Wir beobachten etliche Vogelarten und sehen sogar zwei Papageien und kleine Kolibris, die versuchten unsere Nasen zu küssen.

Am hölzernen Anleger stehen dunkelhäutige Jungs und erwarten die Ankommenden mit Schubkarren! Sie beknien uns regelrecht, unsere Rucksäcke damit durch den Ort zu transportieren. „Não! Nein!“

Bereits nach wenigen Metern bereuen wir die Entscheidung. Erstens geht es ständig bergauf und bergab und zweitens bestehen sämtliche Wege von Morro ausschließlich aus Sand. Es gibt weder Autos noch Motorräder, lediglich Esel oder eben die einheimischen Chicos mit ihren Karren, die den Transport für ein paar Real ins Dorf organisieren. Sind es die neuen „Herren des Strandes“?

Wir erreichen den Ortseingang von Morro und staunen ein zweites Mal, denn es fehlt etwas. Keine Horde von Schleppern begleitet uns auf den letzten Metern. Genau genommen, gibt es eine einzige, auffallend hässliche Person, die uns eine Unterkunft aufschwatzen will. Der schlaksige Typ sieht aus wie ein Abbild von Tingeltangel Bob aus den „Simpsons“. Er hat ein schmales Gesicht, eine spitze Nase, wirre Augen und vor allem rötliche Rasta-Haare, die unmöglich zu allen Seiten abstehen. Als der Kerl den Mund aufmacht und in schrägem Englisch, mit französischem Akzent, fragt, ob wir uns seine Pousada anschauen wollen, läuten bei mir die Alarmglocken. Mir kommt augenblicklich in den Sinn: „Déjà-vu“. Schon einmal erlebt!

Ich sage zu Sylvie: „Ich habe echt keinen Bock auf so eine Backpackerscheiße!“ Urplötzlich macht sich „Tingeltangel Bob“ gerade. Ich sehe, wie seine Augen mit mörderischer Intensität zu funkeln beginnen. Er kommt auf mich zu, stellt sich vor mir auf und brüllt: „Das iis gaine Bagpagerscheeisse!“

Mist, Bob kann Deutsch! Laut fluchend beginnt er uns in deutsch-französischem Slang zu beschimpfen, was wir ungebildeten Deutschen eigentlich im Paradies zu suchen hätten. Sylvie versucht zu vermitteln, doch der Typ ist kaum zu bändigen. Nicht nur wegen der langen Anreise und der prallen Sonneneinstrahlung haben wir keine Lust auf Diskussionen, denn Freundlichkeit ist eine Tugend, an der mir viel liegt. Wir schnappen unsere Rucksäcke und gehen, ohne auf seine Frechheiten zu reagieren, einfach die Sandstraße hinauf in Richtung Ortskern.

Sylvie murmelt: „Das iis gaine Bagpagerscheeisse“. Wir lachen in Morro de São Paulo zum ersten Mal. Tränen!

Letztendlich lassen wir uns von einer deutschen Frau zu einer Unterkunft führen. Sie erklärt uns, dass sie die Pousada für ein Jahr gepachtet hat und nun die Kohle wieder hereinbekommen müsse. Wir buchen uns schuldpflichtig ein.

Was für eine dumme Idee! Denn wer ist ihr Geschäftspartner? Richtig, die dumme Hackfresse aus Frankreich, wie wir am Abend erfahren. Allerdings scheint der Typ mittlerweile so zugekifft zu sein, dass er uns gar nicht erkennt.

Außerdem ist das Hostel Backpacker-Scheiße. Das mückenverseuchte Zimmer ist schmutzig, lieblos eingerichtet und liegt direkt vor der Gemeinschaftsküche (wo besonders die Dumpfbacke ununterbrochen herumhantiert). Es gibt eine Hängematte für 20 Gäste und vor allem liegt die Pousada „Reggae“ am Arsch der Welt!

Denn beim Abendspaziergang stellen wir fest, dass es verschiedene Sandstrände mit fantastisch gelegenen Hotels gibt. Auf dem Weg schauen wir uns drei davon an, um zu unserem Bedauern festzustellen, dass alle wesentlich schöner und zum Teil sogar günstiger sind. Gleich morgen werden wir umziehen! Für eine Nacht ist das beim verstrahlten Franzmann wahrscheinlich zu ertragen.

An einem Strandabschnitt finden wir eine Churrascaria, wo es „Fleisch-mit-Fleisch“ vom Holzkohle-Grill gibt. Dazu servieren sie 15 verschiedene Salate. Somit rollen wir regelrecht zurück in unsere Unterkunft. Am lautesten brüllt bis tief in die Nacht mein geliebter Tingeltangel-Bob mit dem leichten Dachschaden.

Das Frühstück, zu dem wir mit einem „Bonjour“ geweckt werden, ist zwar inklusive, aber wir hätten lieber in einem der gemütlichen Cafés dafür bezahlt. Immerhin findet Sylvie beim Entfernen der in der Nacht zertretenen Kakerlaken einen eingeschweißten Beutel Marihuana unter dem Bett. Nach dem ganzen Stress mit Bob dampfen wir erst einmal einen, obwohl das sonst nicht unser Ding ist.

Und was ist die Konsequenz? Danach sind wir so hammerbreit, dass wir verpeilen umzuziehen und stattdessen beschließen – entgegen allen Vorsätzen – noch einen Tag in der plötzlich „so lustigen“ Bude auszuharren. Kiffen macht blöd!