13 und 3 Sommerflieder - Max-Erich Sommerfeld - E-Book

13 und 3 Sommerflieder E-Book

Max-Erich Sommerfeld

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Beschreibung

In der vorliegenden Geschichte, die zum großen Teil auf wahren Begebenheiten basiert, verknüpft Max-Erich Sommerfeld die Welt des Lean Manufacturing mit seinen beruflichen Erfahrungen. Er erzählt die Geschichte einer Reise, einer Reise durch die letzten 16 Jahre seines Berufslebens. Es ist die Geschichte eines Lean-Befürworters, der sich in einer Welt des Wandels und der ständigen Verbesserung zurechtfinden musste. Es ist die Geschichte von Höhen und Tiefen, von Begegnungen und Erkenntnissen, von kleinen Schritten und großen Sprüngen auf dem Weg zum Lean Sensei. Das Buch richtet sich an all jene, die sich auf ihrer eigenen Reise der Veränderung befinden, unabhängig, ob es sich um junge Ingenieure, erfahrene Führungskräfte oder einfach neugierige Geister handelt. Es zeigt, dass es nicht immer einen festen Plan gibt und dass wir uns manchmal einfach vorwärtsbewegen müssen, um zu wachsen und zu lernen. Die Reise in die Lean-Welt beginnt hier. Möge sie euch inspirieren, euch bewegen und euch daran erinnern, dass Bewegung und Veränderung guttut.

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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Vorwort

Einleitung

2004

2005, Berlin

2005, Bergisches Land

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

Zusammenfassung

Schlusswort

Quellenverzeichnis

Über den Autor

Max-Erich Sommerfeld wurde am 14. August 1957 geboren und hat in Berlin Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften studiert. Seit 1989 ist er verheiratet und konnte während seiner langjährigen beruflichen Laufbahn umfassende Erfahrungen in der Industrie sammeln.

Er begann seine Karriere in verschiedenen Unternehmen in Berlin, bevor er sich auf langjährige Engagements bei zwei renommierten Firmen konzentrierte. In diesen 32 Jahren erwarb er umfassendes Wissen und Fachkompetenz in der Fertigung und im Lean-Manufacturing.

Im März 2020 trat Max-Erich Sommerfeld in den Ruhestand und nutzt seither seine Zeit für Reisen und dazu, sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen.

In der vorliegenden Geschichte, die zum großen Teil auf wahren Begebenheiten basiert, verknüpft er die Welt des Lean Manufacturing mit seinen beruflichen Erfahrungen. Um die Privatsphäre der Beteiligten zu wahren, wurden Namen und Orte im Sinne einer respektvollen Darstellung der Ereignisse geändert.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf das Gendern bewusst verzichtet. Selbstverständlich sind alle Leserinnen und Leser gleichermaßen angesprochen und eingeladen, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen.

Vorwort

Bewegung tut gut, ein einfacher Satz, der in unserem Leben eine tiefgreifende Bedeutung trägt. Er erinnert uns daran, dass Bewegung nicht nur physisch ist, sondern sich auch auf Veränderung und Entwicklung bezieht.

Wir sehen es in der Natur, wenn der Löwe die Gazelle jagt, ein ewiger Tanz zwischen Jäger und Beute, der das Gleichgewicht in der Savanne aufrechterhält. Manchmal gewinnt der Löwe, manchmal ist die Gazelle schneller. Aber egal, wer siegt, es geht immer ums Bewegen und Überleben.

Wir sehen es in unseren eigenen Leben, wenn wir uns neuen Herausforderungen stellen und uns weiterentwickeln. Und wir sehen es in Organisationen, die in einer sich ständig verändernden Welt bestehen müssen.

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Reise, einer Reise durch die letzten 16 Jahre meines Berufslebens. Es ist die Geschichte eines Lean-Befürworters, der sich in einer Welt des Wandels und der ständigen Verbesserung zurechtfinden musste. Es ist die Geschichte von Höhen und Tiefen, von Begegnungen und Erkenntnissen, von kleinen Schritten und großen Sprüngen auf dem Weg zum Lean Sensei.

Die Erzählung startet mit meinem Eintauchen in die Welt des Lean Manufacturing – einer Welt, die nicht nur von Produktionsprozessen, sondern auch von tiefen Einsichten in die menschliche Natur geprägt ist. Auf dieser Reise gibt es immer wieder ungeahnte und überraschende Ereignisse, die diese 16 Jahre ohne weiteren Firmenwechsel sehr abwechslungsreich gestalten. In dieser Geschichte betone ich den Fokus auf die Entwicklung von Mitarbeitern, um die Identifikation von Verschwendung und kontinuierliche Verbesserung zu erzielen.

Während dieser Reise habe ich gelernt, dass Bewegung nicht nur körperlich, sondern auch geistig und organisatorisch sein kann, mehr noch: sein muss! Die Prinzipien des Lean-Managements sind wie ein Leitfaden, der uns hilft, die Herausforderungen des Wandels anzunehmen und in Chancen zu verwandeln.

Dieses Buch richtet sich an all jene, die sich auf ihrer eigenen Reise der Veränderung befinden, unabhängig, ob es sich um junge Ingenieure, erfahrene Führungskräfte oder einfach neugierige Geister handelt. Es zeigt, dass es nicht immer einen festen Plan gibt und dass wir uns manchmal einfach vorwärtsbewegen müssen, um zu wachsen und zu lernen, aber auch, um nicht gefressen zu werden.

Die Reise in die Lean-Welt beginnt hier. Möge sie euch inspirieren, euch bewegen und euch daran erinnern, dass Bewegung guttut.

Einleitung

Als Kind mit zehn Jahren, ab dem Jahr 1967, verbrachte ich nach der Schule manchmal ein paar Stunden allein zu Hause. Mein Vater besaß ein eigenes Taxiunternehmen und kam meist erst am Abend nach Hause. Meine Mutter arbeitete in einem Restaurant bei Woolworth. Gelegentlich ging ich dorthin, um etwas zu essen. Oft sah ich dort einen großen Mann mit Vollbart und seine Frau. Sie aßen eine Kleinigkeit am Nachmittag, tranken etwas und gingen wieder. Es waren sehr ruhige Menschen, stachen aber mit ihrem Aussehen ein wenig aus der Masse hervor. Meine Mutter bat mich immer, niemals so auszusehen wie dieser Mann. So jemand sollte nie ein Vorbild für mich sein. Die langen Haare, so ein Vollbart; das sah ungepflegt und liederlich aus. Ich traf ihn später noch einmal in meinem Leben.

Nach dem Essen ging ich nach Hause und erledigte meine Hausaufgaben. Wenn ich damit fertig war, spielte ich draußen oder hörte bei schlechtem Wetter gelegentlich im Fernsehen die Vermisstenanzeigen. Obwohl der Krieg nur 22 Jahre zurücklag, erschien mir diese Zeitspanne unvorstellbar. Ich war ja erst zehn Jahre alt. Doch für die Menschen, die ihre vermissten Angehörigen suchten, musste es sich anfühlen, als wäre es erst gestern gewesen. Nach den Vermisstenmeldungen folgten stets die Aktienkurse auf dem schwarz-weißen Testbild im Ersten Programm. Ich hörte zu, obwohl mir die Namen und Zahlen wenig sagten: Gelsenwasser, Hamborner, Haus der Aussicht, Harpener. Diese Namen fand ich immer faszinierend. Ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser Namen mich später in meinem Leben immer wieder begleiten würde.

Im Jahr 1971 hatte ich die Grundschule absolviert und kam auf das Gymnasium. Das Bertha-von-Suttner-Gymnasium lag nur zwei Querstraßen von unserer Wohnung entfernt. Es hatte auch einen richtigen großen Sportplatz. Ich war gespannt und freute mich tatsächlich auf diese neue Schule. Am Tag der Einschulung waren viele Leute in der Aula versammelt: die neuen Schüler mit ihren Familien, alle Lehrer und ein paar ältere Schüler. Die Klassen wurden eingeteilt, ich kam in den „b“-Zug. Einige Klassenkameraden kannte ich bereits von der Grundschule. Als der Lehrer genannt wurde, sah ich in der Aula plötzlich einen großen Mann mit einem Vollbart aufstehen. Es war der Mann, der bei Woolworth immer mit seiner Frau etwas gegessen hatte, und den ich mir auf keinen Fall als Vorbild nehmen sollte. Er war nun mein Klassenlehrer auf dem Gymnasium. Meine Mutter konnte es nicht fassen, während ich es irgendwie witzig fand.

Das Lernen war nicht mehr so einfach wie auf der Grundschule. Meine Eltern hatten keine höhere Schulbildung und konnten mich dabei nicht mehr unterstützen. Es wurde ein Jahr später noch schwieriger, denn meine Mutter starb früh. Sie war nicht groß und ihr Herz war schwach. Sicher eine Folge der Kriegserlebnisse, vielleicht auch des Rauchens. Aber mein Vater und ich haben es irgendwie geschafft. Er arbeitete, fuhr sein Taxi, und ich lernte und machte Sport. Bewegung tut gut, hatte ich von meinem Vater gelernt. Er war vor und nach dem Krieg ein erfolgreicher Radrennfahrer und auch mit Mitte sechzig noch sehr fit. Ich bestand das Abitur, fand keine Ausbildungsstelle und entschied mich für ein Studium des Maschinenbaus und ein anschließendes Studium der Wirtschaftswissenschaften. Die Vorlesungen gingen von morgens bis zum späten Nachmittag. Für die Pausen besorgte ich mir Brötchen und nahm Butter, Belag und Marmelade mit zur Hochschule. Ich hielt jeden Morgen an der Bäckerei um die Ecke an und kaufte Brötchen. Meine Kommilitonen bestellten auch irgendwann bei mir, es wurde immer mehr. Es war mir auch sehr recht, mir gefiel die junge Verkäuferin mit ihren dunklen Haaren sehr. Irgendwann fasste ich Mut und fragte sie, ob wir etwas Essen gehen wollten. Wir sind noch heute zusammen. Seit 45 Jahren sind wir ein Paar und seit 34 Jahren verheiratet.

Deutschland war zu dieser Zeit noch geteilt, und in Berlin gab es nur wenige Industrieunternehmen. Unsere Professoren boten uns im Jahr 1981 eine Exkursion ins Bundesgebiet an. Wir besuchten zahlreiche große Unternehmen in Essen, Duisburg, Mülheim und anderen Orten. Eines dieser Unternehmen trug den Namen FR-HDA. Das HDA stand für Haus der Aussicht. Dort wurden uns moderne Fräs- und Schleifmaschinen sowie neue Technologien für die Bearbeitung von hochkomplizierten Drehteilen für komplexe Industrieprodukte vorgestellt. Der Maschinenpark war das Neueste vom Neuesten. Endlich erfuhr ich, was bei der Firma „Haus der Aussicht“ hergestellt wurde – der Firma, dessen Namen ich als Kind oft bei den Börsennachrichten gehört hatte. Es waren hochwertige Getriebe. Mein Studium schloss ich sehr erfolgreich ab. Es war jedoch keine Option, nach dem Studium die Stadt Berlin zu verlassen.

Während meines zweiten Studiums der Wirtschaftswissenschaften war ich im Rahmen der Diplomarbeit in einem Lebensmittelbetrieb tätig. Hier wurden Instantprodukte hergestellt und Kakao abgefüllt. Das Thema der Arbeit war „Vorbeugende Instandhaltung“. Zu Beginn hatten wir ein Vorbereitungstreffen mit unserem Professor. Er lebte in einem großzügigen Haus mit einem wunderschönen Garten in Berlin-Hermsdorf. Unmittelbar, bevor wir in die Firma aufbrachen, pflückte er frische Blumen aus seinem Garten und hüllte sie in Papier. Wir waren neugierig und fragten, für wen diese Geste sei. Seine Antwort war einfach: „Warten Sie ab, meine Herren!“

In der Firma angekommen, empfing uns die freundliche Sekretärin des Geschäftsführers, Frau Ballauf. Als sie die Blumen erhielt, erstrahlte sie vor Freude und bedankte sich mehrmals.

Anschließend führte sie uns in das Besprechungszimmer, in dem Herr Müller, der Geschäftsführer, bereits auf uns wartete. Wir präsentierten uns, und nach nur wenigen Minuten betrat Frau Ballauf erneut das Zimmer, diesmal mit einer Tasse Kaffee. Herr Müller fand, dies sei eine gute Idee, und fragte, ob sie nicht auch eine Tasse Kaffee für unseren Professor mitbringen könne. Ihre Antwort überraschte uns alle, auch Herrn Müller: „Diese Tasse ist für den Herrn Professor. Möchten Sie auch eine, Herr Müller?“

Die Botschaft war klar: Halte stets ein gutes Verhältnis zu den Sekretärinnen, Empfangsmitarbeitern oder Pförtnern! Denn wenn du ihre Wertschätzung gewinnst, öffnen sich Türen und Tore für dich. Nach Abschluss des Studiums trat ich gemeinsam mit meinem Freund und Studienkollegen dort meine erste Stelle als Ingenieur in einem Lebensmittelbetrieb an.

Ich wechselte in den ersten Jahren einige Male das Unternehmen, die Zeit verging schnell. Im Jahr 1988 fing ich in Berlin bei einem Unternehmen an, welches im Maschinenbau tätig war. Es war meine erste langjährige Stelle nach dem Abschluss des Studiums. Wir planten ein neues Werk auf einer grünen Wiese in Berlins Süden. In Berlin war damals kein leichtes Unterfangen, aber wir fanden ein passendes Grundstück. Das Werk wurde nach den Prinzipien des Materialflusses geplant und erbaut, was zu dieser Zeit nicht alltäglich war. Nicht alle Bereiche in dem neuen Werk waren mit einem Kran erreichbar, auch das war erstaunlich im Jahr 1990. Wir setzten CAD-Planung bei der Layoutgestaltung ein. Viele Gruppenleiter konnten diese Darstellungen jedoch nicht so richtig interpretieren. Sie wollten die Dinge lieber sehen. Also entschieden wir uns, ein legoähnliches Bauteilset im Maßstab 1:25 zu verwenden. Mit diesen Bausteinen konnte man das Gesamtbild gut erkennen, aber sie ermöglichten keine schnellen Änderungen oder die Simulation des Materialflusses.

Viele Beteiligte stimmten Dingen zu, die sie nicht vollständig verstanden hatten. So startete das Werk trotz aller Beteiligung der Mitarbeiter und Gruppenleiter etwas holprig. In den folgenden Jahren hatten wir viele Unternehmensberatungen vor Ort. Alle bestätigten, dass wir gut vorgegangen sind, empfahlen jedoch, Lean-Elemente wie Value Stream Analysis, Kanban, Supermärkte, 5S usw. intensiver oder überhaupt anzuwenden. Zu dieser Zeit verstand ich diese Konzepte nicht vollständig und dachte, sie seien nur für Großserien im Automobilbereich geeignet. Einer der Berater legte mir Wertstromanalysen sehr ans Herz und gab mir Unterlagen zum Selbststudium.

Lean-Manufacturing, kurz erklärt

Nun, vielleicht wäre es an dieser Stelle sinnvoll, ein paar Worte über Lean Manufacturing zu verlieren und einige Begriffe zu erklären, also die Dinge, auf die mich die vielen Berater im Unternehmen neugierig gemacht hatten. Die in den nächsten Jahreskapiteln folgenden Erklärungen von Instrumenten und Verhaltensweisen erscheinen dann im Gesamtbild deutlicher. Es sind sozusagen Puzzlesteine, die das Bild ergeben.

Das Kernziel von Lean-Management ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem Mitarbeiter eigenständig denken und handeln, Probleme erkennen und lösen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es zunächst entscheidend, die Mitarbeiter zu entwickeln, bevor man Prozesse oder Produkte verändert. Das Wissen der Mitarbeiter ist das wertvollste Gut des Unternehmens. Dieser Ansatz führt letztendlich zu verbesserten Prozessen und Produkten, indem die Wertschöpfungskette optimiert wird. Die Mitarbeiter decken selbstständig Verschwendung auf und reduzieren sie durch die Umsetzung ihrer Ideen. Wertstromanalysen und die Anwendung spezifischer Lean-Instrumente erleichtern das Aufdecken der Verschwendung. Ich möchte es aber an dieser Stelle zunächst nur erwähnen. Eine ausführlichere Erklärung erfolgt an geeigneter Stelle, um das Interesse der Leser nicht zu verlieren.

Ernüchternd ist die Tatsache, dass ein Anteil von weniger als ein Prozent wertschöpfender Zeiten an der Durchlaufzeit eines Produktes nicht ungewöhnlich ist. Denken Sie nur an Ihren letzten Arztbesuch: Sie rufen an, bekommen einen Termin in zwei Tagen, fahren eine Stunde in die Praxis, warten noch mal dreißig Minuten und sind dann zehn Minuten mit dem Arzt zusammen. Davon gehen sicher noch mal drei Minuten für Gespräche und Notizen ab. Dann fahren sie zurück nach Hause. Es gab sieben Minuten Wertschöpfung im Sinne des Kunden bei einer Durchlaufzeit von circa fünfzig Stunden. Das sind 0,23 Prozent! So ähnlich ist das in der Produktion leider auch. Es gibt einiges an Verschwendung, was in diesem Prozess vermieden werden könnte. Die acht Arten von Verschwendung sind die folgenden:

Überproduktion, Herstellung von Produkten ohne Auftrag des Kunden

Wartezeit von Maschinen, Material und Personen

Prozessübererfüllung – genauer, als der Kunde es erwartet

Unnötige Bewegung im Prozess

Transport durch die Fertigung

Material Bestände

Fehler, Ausschuss und Nacharbeit

Nicht genutztes Mitarbeiterwissen.

Solche Verschwendung zu vermeiden bzw. Probleme und Abweichungen zu eliminieren ist eine Veränderung zum Besseren; und genau das heißt im Japanischen Kaizen, Kai (=Veränderung), Zen (zum Besseren), nicht zu verwechseln mit dem bayrischen Ausdruck Koi Sinn, „Koi (=kein) Sinn (Sinn)“!

Ein Kaizeni-Prozess beginnt mit dem Erkennen einer Abweichung von einem Standard oder eines Problems. Mitarbeiter verschiedener Ebenen kommen als Team zusammen, um das Problem zu analysieren und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Dann wird ein Aktionsplan erstellt, wobei das Prinzip des PDCA (Plan-Do-Check-Act) genutzt wird. Was wird wann, wo, von wem ausgeführt. Während der Umsetzung werden Fortschritte kontrolliert und gemessen. Funktioniert die Verbesserung, wird sie in den vorhandenen Standard eingebettet und stellt den neuen Standard dar. Nach einem festgelegten Zeitraum wird der Erfolg des Prozesses überprüft. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen in die ständige Anpassung und Verbesserung des Prozesses ein. Kaizen fördert eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung, bei der kleine Schritte zu anhaltenden Effizienzsteigerungen führen.

Die Methoden zur Identifizierung und Eingrenzung von Verschwendung und Problemen sind vielfältig. Hier sind einige, die später noch näher erläutert werden:

Wertstromanalyse

Pareto Analyse

Spaghetti Diagramm

5-mal-warum Analyse (die Kindermethode)

Fischgräten Diagramm

Swimlane Darstellung

Ebenso vielfältig sind die Instrumente, um das Problem dann zu lösen. Auch dies sind nur einige, die im weiteren Verlauf noch erläutert werden:

Kanban

Supermarkt

Andons (Signale, die zum Beispiel eine Materialnachlieferung, also einen Mangel, anzeigen)

5S (Sortieren, Systematisieren, Säubern, Standardisieren, Selbstdisziplin)

SMED (Single Minute Exchange of Die)

TPM (Total-Productive-Maintenance)

Standard Work

Shadowboards

Mixed-Model-Line

Die Anwendung dieser Instrumente wird durch Prinzipien und Verhaltensweisen unterstützt, auch das ist nur ein Auszug:

Entwickle zuerst die Mitarbeiter, dann die Prozesse – „People-Centric Lean“

PDCA (Plan, Do, Check, Act)

Go Gemba, geh zum Ort der Wertschöpfung

9-Step-Problem-Solving

A3

Hoshin Kanri

3P (Production-Preparation-Process)

MDI (Manage Daily Improvements)

Managen bedeutet Verbessern, nicht Verwalten

Use the brain of the factory

Servant Leadership

Damit Sie es gut in Erinnerung behalten, kommt jetzt am Ende der Aufzählungen das Wichtigste. Es ist der kulturelle Wandel.

Wenn sie mit der Anwendung ausgewählter Methoden und Instrumenten beginnen, müssen sie auch den Cultural Change im Unternehmen einleiten und parallel dazu vorantreiben. Der kulturelle Wandel in einem Unternehmen ist ein langwieriger Prozess und kann Jahre dauern, während sie die von ihnen als nützlich erachteten Instrumente bereits nach einigen Wochen oder Monaten anwenden können. Die Kategorie des Cultural Change bei der Lean Transformation bezieht sich auf die Veränderungen in der Unternehmenskultur, die notwendig sind, um die Prinzipien des Lean Management erfolgreich zu implementieren. Lean konzentriert sich nicht nur auf Prozesse und Effizienz, sondern es ist eine Philosophie, die eine tiefgreifende Veränderung in der Art und Weise erfordert, wie Menschen arbeiten, kommunizieren und Probleme angehen.

Hier sind einige Aspekte des Cultural Change im Zusammenhang mit Lean:

Die

Ausrichtung auf den Kunden

und die Schaffung von Werten für den Kunden stehen im Mittelpunkt. Mitarbeiter verstehen, wie ihre Arbeit den Kunden beeinflusst und dass es das Geld des Kunden ist, welches am Ende des Monats den Lohn sichert.

Ein Kernelement von Lean ist die

kontinuierliche Verbesserung

. Im Rahmen des Cultural Change müssen Mitarbeiter ermutigt werden, fortlaufend nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Prozesse und ihrer Arbeit zu suchen.

Lean ermutigt dazu, Fehler als Chancen zur Verbesserung zu sehen. In dieser

positiven Fehlerkultur

werden Probleme als gemeinsame Herausforderungen betrachtet, die angegangen und gelöst werden müssen. Eine Schuldzuweisung unterbleibt.

Eine

offene und transparente Kommunikation

wird gefördert. Mitarbeiter sollen sich frei äußern können, ihre Ideen teilen und Bedenken ansprechen, um eine lernende Organisation zu schaffen.

Durch Lean wird

Zusammenarbeit und Teamarbeit gefördert

. Um gemeinsame Ziele zu erreichen, arbeiten Mitarbeiter verschiedener Ebenen im Team zusammen. Hierarchien werden aufgebrochen.

Die

Achtung und Wertschätzung

gegenüber den Mitarbeitern sind entscheidend. Lean-Prinzipien unterstreichen, dass Menschen nicht nur als Ressourcen gesehen werden, sondern die entscheidende Rolle im Verbesserungsprozess spielen.

Cultural Change ist tatsächlich einer der anspruchsvollsten Aspekte der Lean Transformation. Er erfordert tiefgreifende Veränderungen in den Denk- und Verhaltensweisen der Vorgesetzten aller Ebenen, aber auch der Mitarbeiter. Das Ziel ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der kontinuierliche Verbesserung und Anpassung zum Normalzustand werden.

Ohne eine dauerhafte Veränderung dieser oben beschriebenen Aspekte wird es keine nachhaltige und erfolgreiche Unternehmenstransformation geben.

Dieses insgesamt sehr komplexe Thema habe ich für mich auf einige zentrale Fragen bzw. Statements reduziert und als Leitfaden meiner Tätigkeit gewählt:

Der Kunde bezahlt die Gehälter und Löhne, nicht die Firma. Denn haben wir keine Kunden, gibt es auch kein Geld.

Lösen unsere Produkte die Probleme bzw. Aufgaben des Kunden?

Entwickeln wir die Mitarbeiter zuerst, also vor den Prozessen?

Haben wir den Sollzustand so beschrieben, dass man Abweichungen schnell erkennen kann?

Managen bedeutet in erster Linie Verbessern. Verbessern wiederum bedeutet, Probleme zu erkennen und zu lösen.

Erkennen unsere Mitarbeiter Abweichungen, also Probleme, bei der Herstellung des Produkts und können sie sie lösen?

Bin ich ein Servant-Leader, helfe den Mitarbeitern im Betrieb bei der Umsetzung ihrer Ideen, nutze also ihr Wissen, das Wissen der Fabrik?

Wenn Sie diese Statements beherzigen, sich diese Fragen stellen und daran arbeiten, mit ja antworten zu können, sind Sie auf dem richtigen Weg der Transformation. Aber es wird ein langer Weg werden und sicher wird er nicht immer geradlinig sein. Die Lebensweisheit von Franz Kafka gilt auch in dieser Situation:

„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ii

Sie ist ein Plädoyer zum Handeln, zum Losgehen; denn Bewegung tut gut.

Ich las die von den Beratern empfohlenen Unterlagen sehr aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass sie der richtige Weg waren – egal in welcher Branche man tätig war. Leider hatte ich in meiner Position nicht die Möglichkeit, solche Projekte anzustoßen. Einige Versuche brachten mir Aussagen wie „Bringen Sie zuerst die Vorgabezeiten und Nacharbeitskosten runter, bevor Sie solche Projekte starten“ ein. Das langfristige Denken und der Glaube, dass Lean-Projekte und Verhaltensänderungen gemeinsam Probleme lösen können, fehlten bei den Vorgesetzten. Es dominierte das damalige REFA-Gedankengut in Zeitvorgaben und Leistungslohn, egal welche Ideen ich vorschlug. „Kanban? Das machen wir doch schon!“, „Wertstromanalysen werden von anderen durchgeführt, Sie kümmern sich um die Vorarbeit“ oder „Vorbeugende Instandhaltung sprengt unser Budget“ waren häufig zu hören. Es gab keine Möglichkeit, diese Ansätze in diesem konservativ denkenden Unternehmen umzusetzen. Lean, so dachte man, sollte nur in der Fertigung stattfinden, ohne den Mitarbeitern die erforderliche Entscheidungsgewalt über ihre Aufgaben zu geben. Selbststeuernde Systeme wurden als Bedrohung für etablierte Machtverhältnisse angesehen und waren daher keine Option für die Beteiligten.

Bis zu diesem Zeitpunkt in meiner Karriere hatte ich verschiedene Arten von Vorgesetzten kennengelernt. Es gab die väterlichen Figuren aus den ersten beiden Unternehmen, die die Richtung vorgaben, aber den Weg offenließen. Dann gab es die sachlichen Vorgesetzten, die sich streng an die firmeninternen Führungsrichtlinien hielten, Wert auf Pünktlichkeit legten, aber in der Umsetzung viel Freiraum gewährten. Und schließlich kannte ich den Visionär, dessen Ziel immer klar vor Augen stand und der alles förderte, was seiner Vision diente. Fehler wurden als Lernchance betrachtet, mit der Aufforderung, sie nicht zu wiederholen. Alle hatten ihren eigenen Stil, aber keiner von ihnen war so von Macht besessen, dass er seine Mitarbeiter unterdrückte oder schlecht behandelte.

Doch die Kultur, auf die ich in erwähntem Maschinenbau-Unternehmen traf, hatte ich nicht erwartet. Die monatlichen Sitzungen mit der Geschäftsführung waren für mich jenseits meiner Vorstellungskraft. Oftmals eskalierten sie zu einem wüsten Spektakel, wobei der Geschäftsleiter wütend herumschrie und Fäuste so kräftig auf den Tisch hämmerte, dass die Tassen auf den Tellern zitterten. In seinen Augen waren wir nichts weiter als Idioten, unfähig zu irgendetwas Brauchbarem. Manchmal gestand er sogar, dass er wohl der größte Idiot von allen sei, da er uns alle eingestellt hatte. In diesen Momenten überkam mich das Gefühl, dass im Sitzungsraum einvernehmliche, aber heimliche Zustimmung herrschte. Doch selbst diese gelegentliche gespielte Selbstreflexion führte nicht zu Besserung. Wer sich gegen das etablierte Regime auflehnte, fand nach einigen Monaten die Möglichkeit, sich extern anderweitig weiterzuentwickeln.

Weder durch das Studium noch durch bisherige Positionen war ich auf solches Verhalten vorbereitet. Meine Frau hatte ein soziales Studium absolviert und erklärte mir, dass dies ein Narzisst sei. Narzissmus in der Unternehmensführung kann gravierende Auswirkungen auf die Menschen und die Organisation haben. Unser Geschäftsführer war ein klassisches Beispiel für eine narzisstische Führung. Das sture Festhalten an eigenen Vorstellungen und das Unterdrücken abweichender Meinungen erzeugten eine toxische Arbeitsumgebung. In solchen Fällen leiden nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Unternehmensperformance.

Das Verhalten des narzisstischen Managers verunsicherte seine Führungskräfte. Diese hatten Angst vor seinen verbalen Angriffen und vertrauten nicht auf ihre eigenen Entscheidungskompetenzen, was zu einem Mangel an Eigeninitiative und Innovationsfähigkeit führte. Jüngere Führungskräfte oder Personen mit Eigeninitiative verließen die Firma rechtzeitig oder wurden entlassen. Einige ältere Manager tendierten eher zur Resignation. Sie befanden sich in der Endphase ihrer Karriere und steuerten auf die Rente zu. Drei von ihnen hatten gerade den Konkurs eines anderen Großunternehmens hinter sich gebracht. Sie hatten keine Option zum Wechsel, und die Furcht vor finanziellen Risiken hatte ihren Widerstand gebrochen. Dies wiederum behinderte die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens, was zu schlechteren Geschäftsergebnissen führte und die Wettbewerbsfähigkeit einschränkte. Ich erwähnte bereits die Aussage „Bewegung tut gut“. Diese Organisation war gelähmt und bewegte sich nicht. Das Scheitern war eine Frage der Zeit.

Ein weiteres Zeichen eines narzisstischen Führungsstils zeigte sich im Pausenverhalten, wenn er uns zehn Minuten nach den klirrenden Tassen und Tellern in der Teeküche die neuen Tanzschritte zeigte, die er am Wochenende gelernt hatte – als ob nichts passiert sei. Dieses Verhalten im Kontext der narzisstischen Führung kann als manipulativ angesehen werden. Narzisstische Führungspersönlichkeiten haben oft die Fähigkeit, ihr Verhalten gezielt einzusetzen, um bei den Mitarbeitern bestimmte Reaktionen hervorzurufen. In diesem Fall könnte das Zeigen von Tanzschritten in der Teeküche als Versuch interpretiert werden, von den eigentlichen Problemen und Herausforderungen im Unternehmen abzulenken. Andererseits wollte er uns auch wohlgesinnter stimmen, da er faktisch auf uns angewiesen war. Bis zur nächsten Sitzung folgten fast alle blindlings seinen Anweisungen, und das war ein Grund für den Misserfolg des Unternehmens. Bei der nächsten Sitzung brauchte er uns dann erneut – diesmal als Sündenböcke für die Misserfolge. Der Kreislauf begann von Neuem; und er war laut und schrecklich.

Rückblickend betrachtet, war dieses Verhalten eines Narzissten Mobbing an einer gesamten Gruppe. Damals konnte man sich über derartiges Verhalten natürlich beschweren, sei es beim Betriebsrat oder bei der Personalabteilung. Doch eines war klar: Man sollte stets einen neuen Arbeitsvertrag in der Tasche haben, bevor man solche Anschuldigungen erhob. Denn nie hatte ein Mitglied der oberen Führungsebene wegen solcher Vorwürfe das Unternehmen verlassen müssen. Es waren immer die kleinen Angestellten, die den Verlust einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu spüren bekamen. Der Betriebsrat achtete stets darauf, dass die Leute in der Fertigung möglichst viele Prozente im Leistungslohn erzielten. Mein Eindruck war, dass ihm die Ebene der Führungskräfte ziemlich egal war, denn sie waren nicht organisiert.

So wie viele andere gehörte auch ich zu den Personen, die mehr oder weniger bedingungslos ausführten, was der Manager auftrug. Das Werk war nur wenige Kilometer von unserem neu erbauten Haus entfernt, und die Bezahlung der Firma war gut. Zwar hatte ich einige Male versucht, anderweitig Arbeit zu finden, und sogar Angebote aus Rendsburg, Hamburg, Bremen und Kassel erhalten. Doch meine Frau und ich entschieden uns dagegen. Wir wollten nicht pendeln und unsere gewohnte Lebensweise aufgeben. In Berlin hatten wir viele langjährige Freunde, die wir seit unserer Studienzeit kannten und mit denen wir zahlreiche Erlebnisse teilten und regelmäßig etwas unternahmen. Der Leidensdruck war nicht stark genug, und es bestand zu dieser Zeit keine ernsthafte Gefahr, dass die Firma geschlossen werden würde. Wir spürten nicht die brennende Plattform, sie war halt nur einmal im Monat sehr laut. Die Kunden wollten unsere Produkte, sie waren erstklassig aber teuer. Die Nachfrage war stabil, doch leider stieg sie nicht an.

Ich baute meinen Stress ab, indem ich ab 1997 mit Leichtathletik begann, genauer gesagt mit Zehnkampf. Egal, wer dort in welcher Position war: Die Leistung fand immer eine Anerkennung. Es half beim Abschalten, aber es löste das Problem nicht. Die lautstarken Sitzungen mit dem Geschäftsführer fanden weiterhin statt. Der Erfolg des Unternehmens blieb, man kann schon fast sagen, erwartungsgemäß, aus. Im Jahr 1998 wurde der marode Maschinenbau-Konzern, wie uns der Vorstand der Muttergesellschaft einmal bezeichnete, an eine Tochter-Gesellschaft eines ausländischen Konzerns verkauft.

Gewöhnlich leiden große Unternehmen unter maroden Zuständen aufgrund veralteter Werke, in denen ein effizienter Materialfluss nicht realisiert werden kann, oder aufgrund verschlissener Maschinen und Einrichtungen, die dringend kostspielige Investitionen zur Erneuerung erfordern. Keiner dieser Aspekte traf auf uns zu. Unser Werk und achtzig Prozent unserer Maschinen waren nicht älter als zehn Jahre alt. Doch offensichtlich mangelte es an ausreichendem Volumen, um diesen Millionen teuren Standort wirtschaftlich rentabel zu betreiben. Zusätzlich verlor Berlin durch die Wiedervereinigung Deutschlands seinen Sonderstatus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die sechzehnprozentige Berlinförderung der Gewerbesteuer wegfallen würde – ein weiterer Faktor, der den Standort finanziell benachteiligen sollte.

In der Folgezeit gab es zahlreiche Sitzungen mit den Managern der neuen Eigentümer, brachten aber kaum spürbare Verbesserungen der Gesamtsituation. Aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen blieb die Geschäftsführung im Amt. Innerhalb von lediglich zehn Jahren wandelte sich die einstige Aktiengesellschaft mit 6000 Mitarbeitern zu einer GmbH mit nur noch 800 Beschäftigten. Das Einzige, was wir noch besaßen, waren sehr gute Produkte, die sich am Markt aufgrund ihrer Qualität und Leistungsfähigkeit abhoben. Würden wir einen Vorteil durch die erweiterten Vertriebswege bekommen? Oder brauchte die neue Konzernmutter lediglich das Wissen darüber, wie man bessere Produkte herstellt? Wäre das Unternehmen ein „Käse“ gewesen, hätte man gesagt: Der fängt an zu stinken, lass uns gehen!

Im Sommer 2004 arbeitete ich bereits im sechzehnten Jahr in diesem Maschinenbauunternehmen in Berlin. Ich war fast schon auf dem Weg zu einem internationalen Leichtathletik-Wettkampf in Aarhus, Dänemark, als sich das Gerücht verbreitete, dass mein langjähriger Vorgesetzter und Protegé der Geschäftsführung durch einen neuen Werkleiter ersetzt würde. Das waren mehrere Signale auf einmal. Die Geschäftsführung wurde quasi überstimmt und musste ein Opfer bringen. Ihr Einfluss wurde geringer. Mein Chef, zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte und der mich immer in Schutz nahm, sollte jetzt etwas anderes machen. An seiner Stelle würde nun ein Manager kommen, den die neuen Eigner ausgewählt hatten.

2004

Kanban und Supermarkt

Mit einem Kanban, was im japanischen „Signalkarte“ bedeutet, kann man in einem Supermarkt Produkte entnehmen. Der Kanban entspricht dem Geld und ist das Signal, etwas nachzufüllen oder nachzuproduzieren. Hier sind die Basisregeln:

Kein Material ist ohne Kanban.Kanban-Karten sind gezählt und nummeriert.Ohne Kanban wird kein Material produziert / aufgefüllt.Es wird nur produziert / aufgefüllt, was auf der Karte steht, nicht mehr und nicht weniger.Es werden nur fehlerfreie Produkte weitergegeben.Keine Kanban Karte verlässt den Kreislauf und geht ins Büro.

„Supermarkt“ – jeder war schon einmal dort. Man geht hin, nimmt sich die Produkte, die man braucht, geht zur Kasse und bezahlt. Man gibt einen Schein ab. Wenn sie morgen wieder dasselbe benötigen, wird es da sein, denn die Regale werden aufgefüllt sein. Das, was verbraucht wurde, wird aus dem Lager nachgefüllt und dann auch für das Lager nachbestellt. Übersetzt in einen Fertigungsbetrieb läuft das sehr ähnlich, ohne Geld, dafür mit Kanban.

Berlin

Als ich vom Wettkampf in Dänemark Mitte August zurückkam, war mein bisheriger Chef tatsächlich abgesetzt und im Qualitätsbereich tätig. Mein neuer Chef war ein „Aufräumer“ der neuen Konzernmutter. Der Geschäftsführer sah jetzt seine Chance gekommen, mich loszuwerden. Mein Schutzschirm war weg! Er gab mir zu verstehen, dass ich ganz oben auf der Liste des neuen Chefs stehen würde, die er abarbeiten würde, und abarbeiten hieß: entlassen. Es war so ernst wie nie, es machte mir Angst und bedrohte unsere Existenz. Im September fand nach meinem Sommerurlaub eine Managementbesprechung statt, in der angekündigt wurde, dass bis zum Jahresende zwei Personen aus diesem Kreis und aus dem Unternehmen ausscheiden würden.

Mir war sofort klar, dass ich eine der beiden Personen sein würde. Eine Woche später erhielt ich dann auch eine Einladung von der Personalabteilung zu einem Gespräch. Die Leiterin der Personalabteilung, Frau T., verstand überhaupt nicht, warum ich ein Angebot bekommen sollte, womit ich die Firma verlassen sollte. Aber sie war gezwungen, es mir anzubieten. Es beinhaltete eine Abfindung und ein Coaching, das bis zum Ende der Probezeit bei einem neuen Unternehmen dauern würde. Frau T. konnte nichts weiter tun, als das Ganze erst einmal nicht weiterzuverfolgen in der Hoffnung, dass es im Sande verlaufen würde.

Es war ein netter Versuch, aber um es abzukürzen: Der Plan funktionierte bis Oktober, danach musste auch sie Ergebnisse vorweisen, um keine Probleme zu bekommen. Es kam zu den üblichen Vorgehensweisen. Sie sagte, das Unternehmen möchte mich loswerden, und riet mir, sofort zu einem Anwalt zu gehen. Ich begab mich zunächst zum Betriebsarzt, da ich ein Ohrensausen verspürte, dann zu einem Facharzt und schließlich zum Anwalt. Man drohte mir vertraulich, aber sehr direkt, mit Mobbing. Der Betriebsrat sagte: „Nimm das Geld und verschwinde am besten von hier. Wir können dir nicht helfen“. Der Anwalt empfahl mir ebenfalls, so viel wie möglich herauszuholen und die Angelegenheit so lange wie möglich hinauszuzögern.

Alles gute Selbstzureden konnte nichts ändern. Unser System, unsere Existenz, geriet ins Wanken. Normalerweise ruht eine stabile Situation auf vier Säulen: die Familie, die Finanzen, das Zuhause und die Freundschaften. Doch nun waren die Finanzen und damit unser Zuhause gefährdet. Familie und Freunde würden zwar bleiben, aber wenn wir das Finanzproblem nicht lösen konnten, würde sich unser Zuhause verändern. Wenn wir es lösen könnten, würde ich wahrscheinlich nicht mehr in Berlin arbeiten und von meiner Frau in der Woche getrennt sein, ebenso wie von unseren Freunden. Würde ich in Berlin bleiben, hätte ich mit Einbußen von dreißig Prozent im Gehalt rechnen müssen, was auch keine Lösung darstellte. Ein Dilemma zeichnete sich ab, und es war klar, dass wir an einer Stelle Abstriche machen mussten. Es fühlte sich anfänglich an, wie wenn das Meer nach einer Ebbe an der Nordsee nicht mehr zurückkommt und einfach weg ist. Es war unverständlich und unvorstellbar.

Ich stimmte dem Coaching im November zu, die Abfindung hatte mein Anwalt erfolgreich neu verhandelt. Mein Vertrag sollte nun am 30. Juni 2005 enden. Mit jedem Monat, den ich vorher ausscheiden sollte, würde ich noch einmal ein halbes Monatsgehalt extra bekommen. Es bestand die Option, diese Vereinbarung um weitere sechs Monate zu verlängern, also bis maximal zum 31. Dezember 2005. Regelmäßig nahm ich an den Coaching-Sitzungen bei der renommierten „Outplacement Agentur“ teil. Der Schwerpunkt der Betreuung lag zunächst darauf, wie man sich erfolgreich bewirbt, wie man prägnante Dreißig- oder Neunzig-Sekunden Präsentationen erstellt sowie auf einer psychologischen Unterstützung in dieser außerordentlichen Situation. Ich hatte einen tollen Coach und wurde wirklich sehr gut vorbereitet auf Interviews und eine neue Anstellung. Doch dann kam mir noch eine Idee. Ich nahm Kontakt zu meinem ehemaligen Studienkollegen Hans auf. Er leitete ein Werk im Bereich Automotive und war mit Lean-Prinzipien sehr vertraut. Zwar hatte er keine freien Stellen, doch er bot mir an, sein Werk zu besuchen.

Lean

Was ich dort sah, beeindruckte mich zutiefst: ein Supermarkt gefüllt mit Türverkleidungen für PKW, wobei jede Palette mit einem kleinen Schild ausgestattet war. An einer Tafel konnte man ablesen, in welcher Reihenfolge die Paletten auf die LKW geladen werden mussten. Es war der Sequenzer. Natürlich wurde der LKW in der umgekehrten Reihenfolge beladen, wie der Kunde die Teile benötigte. So war das erste abzuladende Teil auch das erste, was er ans Montageband liefern musste.

Im Betrieb gab es eine Fertigungslinie, an der die kleinen Schilder der Paletten, die von Stapler-Fahrern aus dem Supermarkt entnommen, auf den LKW geladen wurden, und an dünnen Stahlseilen aufgehängt waren. Das war die Reihenfolge der Aufträge, um das entnommene Material nachzuproduzieren und die Läger wieder aufzufüllen. Es war ein „Vollarbeitssystem“, die Läger wurden wieder vollgefüllt.

Das wurde nun mein Ziel. Ich wollte solch ein System ohne vorherige Genehmigung in Berlin in einem kleinen Bereich einführen. Ich führte eine kleine Wertstromanalyse durch und fand einen recht kurzen, intern ablaufenden Prozess des Schweißens und Lackierens, der trotzdem immer Fehlteile am Montageband erzeugte. Ideal für einen Versuch, denn die Komplexität der Teile war mit acht verschiedenen Baugruppen sehr überschaubar! Ich hatte auch nur einen Versuch, und alles musste perfekt sein. Am Computer simulierte ich die Herstellung der Baugruppe, den Lackiervorgang, die Vormontage und alle Transportprozesse im Fünfzehn-Minuten-Takt. Ich versuchte, das System durch einseitige Belastungen oder durch das Entnehmen von Kanban-Karten an seine Grenzen zu bringen, es zu blockieren. Kam es zu einem Blackout, optimierte ich es kontinuierlich, bis keine Probleme mehr auftraten. Erst dann erstellte ich einen Plan und lud die sechs Mitarbeiter der betroffenen Bereiche ein. Nicht eingeladen waren ihre Vorgesetzten. Dieses Risiko musste ich eingehen. Nie hätten sie einer Systemänderung oder auch nur diesem Versuch zugestimmt. Die betroffenen Mitarbeiter im Betrieb wussten über meine Lage Bescheid und unterstützten mich bei diesem Wunsch.

Zwei der Kollegen zeigten sich anfangs sehr skeptisch. Ich hörte: „Aber ich bin doch hier der Fertigungssteuerer und gebe die Aufträge vor!“ Andere waren für diese Idee eher offen und begrüßten sie. Es waren die Personen aus der Montage, denen regelmäßig das Material fehlte und die deshalb die Montagereihenfolge der gesamten Linie umplanen mussten. Ihr Antrieb war die Hoffnung auf Verbesserung. Einer von ihnen war neutral und ließ sich von der Mehrheit mitreißen. Schließlich einigten wir uns auf einen Testzeitraum von sechs Wochen mit wöchentlichen Gesprächen, um die Ergebnisse zu besprechen.

Bereits nach zwei Wochen war klar: Das System funktionierte. Selbst die beiden anfänglichen Skeptiker, die dagegen waren, hatten ihre Meinung geändert. Die übrigen Mitarbeiter waren ebenfalls dafür. In den darauffolgenden Wochen und Monaten kam es nie wieder zu Engpässen in der Montage durch dieses Bauteil. Die Anzahl der Kanban-Karten regelten den Umlaufbestand der Baugruppen und wir konnten diesen um beeindruckende 45 Prozent reduzieren. Zur Krönung des Ganzen fragten mich die vormaligen Skeptiker, ob ich nicht solch einen Prozess auch für andere Baugruppen einführen könne. Es gestaltete ihr Arbeitsleben einfacher und sie hatten nun mehr Zeit, sich um andere Probleme zu kümmern.

2005, Berlin

Während der Zeit der Trennung hatten mein neuer Chef und ich tatsächlich einen respektvollen Umgang miteinander gefunden. Er musste mich loswerden, das war seine Aufgabe und er gab es zu. Trotzdem sicherte ich ihm zu, weiterhin meine Leistung zu bringen. Er musste mich einige Male provozieren und in Fallen locken, um mir eine Abmahnung geben zu können, aber ich zeigte nie Fehlverhalten. Immer korrekt mit Sicherheitsausrüstung ausgestattet, erschien ich in der Fertigung, um zu einem Vorwurf Stellung zu nehmen. Immer wurde der Vorwurf entkräftet, vor allem durch die Mitarbeiter der Fertigung, zu denen ich ein sehr gutes Verhältnis hatte. Das Industrial Engineering war nie schuld. Nach drei Anläufen ließ er diese Versuche sein, es war ein kleiner Waffenstillstand, den wir unausgesprochen vereinbarten. Er musste ja auch ein ganzes Werk leiten und konnte nicht nur versuchen, mich zu belasten.

Irgendwann bemerkte ich, dass er sich etwas steif und behäbig bewegte. Er war sonst sehr agil in seinem Auftreten, zackig, forsch und schnell unterwegs. Angesprochen darauf, woran es denn lag, sagte er, dass er Rückenschmerzen hätte. Ich organisierte ihm einen Termin bei meinem Physiotherapeuten für Zehnkampfathleten. Die Behandlung war erfolgreich und seine Schmerzen waren nach einigen Sitzungen weg. Einige Wochen vor meinem geplanten Ausscheiden Ende Juni kamen wir in seinem Büro zu einem Gespräch zusammen. Sein Schreibtisch war stets akkurat aufgeräumt, und im Posteingang hielt ein kleiner Messingbriefbeschwerer in Form einer kleinen Kanone die wenigen losen Papiere fest.

Wir sprachen über meine Situation und meinen bevorstehenden Abschied. Er nahm fast schon besorgt zur Kenntnis, dass ich noch keine neue Anstellung hatte. Dann sagte er etwas Unerwartetes: „Ich weiß, dass ich auf das falsche Ziel geschossen habe. Aber es ging nicht anders.“ In diesem Moment drehte er den Briefbeschwerer so, dass die Mündung seiner kleinen Messingkanone auf das Büro des Geschäftsführers zeigte. Wir beide mussten grinsen. Diese Stimmungslage nutzte ich auch sofort aus. Da ich noch keinen Vertrag unterschrieben oder in Aussicht hatte, bat ich meinen „Noch-Chef“, den Auflösungsvertrag um sechs Monate zu verlängern. Das war ja eine zulässige Option, die mein Anwalt erfolgreich verhandelt hatte. Nachdem er sich bei der Coaching-Gesellschaft erkundigt hatte, stimmte er meinem Wunsch zu. Wir hatten in dieser unfairen Situation einen fairen Umgang miteinander. Nun, das mit „nicht in Aussicht“ war zu diesem Zeitpunkt etwas geflunkert. Aber ich hatte keinen Vertrag!

Nach etwa dreißig Bewerbungen erhielt ich im Frühjahr 2005 die ersten Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Keines der Unternehmen befand sich in Berlin, sie waren alle weit im Westen. Es gab ein mittelständisches, familiengeführtes Unternehmen in Hattingen, welches Pressmaschinen für Pellets herstellte, ein größeres Unternehmen der Druckindustrie in Mönchengladbach und ein Unternehmen im Bergischen Land, das zu einem großen US-Konzern gehörte. Es war die Firma HDA-Edge, ehemals FRHDA bzw. Haus der Aussicht. Als ich am Tag des Interviews im Bergischen Land vom Bahnhof mit dem Taxi zu der Firma fuhr, kam mir einiges seltsam bekannt vor. Das kleine Schloss, die 360-Grad-Autobahnausfahrt und das Werksgelände. Gleich nach der Schranke bogen wir rechts ab und fuhren direkt zu der Halle, die ich nach dem Studium bei der Exkursion besichtigt hatte.

Während des Bewerbungsgesprächs bei HDA zeigten die Gesprächspartner mir bei einem Rundgang durch die Fertigung die Fräs- und Schleifmaschinen aus den achtziger Jahren, die zur Bearbeitung der Getriebewellen und Zahnräder verwendet wurden. Ich erinnerte mich sofort an die Exkursion während der Studienzeit. Das ehemals Neueste vom Neuesten war in die Jahre gekommen. Diese Maschinen sollten jetzt durch Neuinvestitionen ersetzt werden. Das wäre eines der Projekte, wenn ich den Job bekommen würde. Aber noch war es nicht so weit. Jetzt hatte ich eine Stelle in Aussicht, beim Haus der Aussicht. Das passte irgendwie.

Das Gespräch war im März gewesen, aber die Firma meldete sich nicht. Im Mai erkundigte ich mich über den Stand und teilte mit, dass ich zwei weitere Angebote hätte. Danach ging alles sehr schnell. Können Sie raten, wo ich gelandet bin? Nun, nach einem eilig angesetzten zweiten Interview war ich bei HDA, der Firma, deren Name mich seit der Kindheit begleitet hatte. Innerhalb weniger Tage erhielt ich den unterschriebenen Arbeitsvertrag und sendete ihn von mir auch unterschrieben als Fax zurück.

Zwei Wochen nach der Verlängerung meines Auflösungsvertrages um sechs Monate hatte ich einen neuen Arbeitsvertrag und kündigte zum 30. Juni – sechs Monate vor Ablauf des neu vereinbarten Termins. Dieser kleine Schachzug brachte mir noch einmal drei volle Monatsgehälter Abfindung als kleines Extra. Mein Noch-Chef grinste ein wenig. Es war nicht sein Budget und ich würde doch sehr schnell von der Pay-Roll des Unternehmens verschwinden. Also war er zufrieden. Jetzt musste alles auch für uns sehr schnell gehen. Am 1. Juli 2005 sollte mein erster Arbeitstag sein. Nie zuvor hatte ich außerhalb Berlins gearbeitet, und ich hatte auch noch nie eine eigene Wohnung. Meine Frau und ich mussten mir eine Unterkunft beschaffen, am besten möbliert und in der Nähe der Firma. Das klappte auch dank der „Mitwohnzentrale“ im Bergischen Land sehr schnell. Ab Mitte Juni hatte ich ein Appartement. Am 29. Juni reiste ich mit meinem vollgepackten Auto ins Bergische Land.

2005, Bergisches Land

„Entwickle zuerst die Personen, dann erst den Prozess.“ Dieses Konzept ist ein wichtiger Grundsatz im Lean Management und wird oft als „People First“ oder „People-Centric Lean“ bezeichnet. Es betont die Bedeutung der Mitarbeiter und ihres Engagements für den Erfolg eines Unternehmens. Ihre Mitarbeiter sind das Gehirn des Unternehmens, ihr wertvollstes Anlagegut auf dem Weg, das Geld der Kunden zu bekommen. Wenn man ein tolles Produkt hat und die Mitarbeiter haben keinen oder nur einen limitierten Zugang zu Fortbildungen oder Trainings, dann ist das wie ein Tiger ohne Zähne. Er sieht toll aus, eine Zeitlang macht man auch Eindruck damit, aber es dauert nicht lange, bis er verhungert.

Bergisches Land

Der 29. Juni war der Tag des Abschiednehmens von meiner Frau in Berlin. Am Morgen fuhr sie etwas später zur Arbeit und ich verließ mein Zuhause. Seit 22 Jahren wohnten wir nun zusammen und jetzt waren wir beide sehr traurig. Aber es war nicht nur dieser Moment – die ganze Reise ins Bergische Land war traurig und eine einzige Tortur. Mehrmals wollte ich umdrehen, aber das war keine vernünftige Option. Am Nachmittag kam ich im westlichen Bergischen Land an. Nach dem Ausladen des Autos ging ich erst einmal einkaufen. Die ersten Wochen der Trennung waren furchtbar. Meine Frau und ich waren uns einig, dass das Pendeln höchstens drei Jahre dauern würde. Das häufige Reisen wollte ich mir so angenehm wie möglich gestalten, also kaufte ich eine Bahncard 50 für die erste Klasse und fuhr jedes zweite Wochenende nach Berlin zu meiner Frau.

Zuerst ging es mit der S-Bahn nach Düsseldorf. Der ICE brachte mich dann zügig, wenn auch nicht immer pünktlich, nach Berlin-Hauptbahnhof, wo mich meine Frau auf dem Bahnsteig schon erwartete. An den anderen Wochenenden besuchte mich meine Frau im Bergischen Land in meinem möblierten Chippendale-Appartement. Es lag am Stadtrand, circa einen Kilometer vom Wald entfernt in einer gediegenen Einfamilienhaussiedlung. Eine gute Pizzeria war fußläufig in fünf Minuten zu erreichen. Neben den beruflichen Herausforderungen bot uns mein neuer Wohnort in dieser Region aber auch die Möglichkeit, eine neue Umgebung zu erkunden und mich dort einzuleben.

Ich entdeckte gemeinsam mit meiner Frau an den Wochenenden die überraschende Schönheit des Bergischen Lands und der Rhein-Ruhr Gegend. Eine Sauna am Stadtrand war nur zehn Autominuten entfernt. Wir besuchten lokale Veranstaltungen, gingen oft am Rhein entlang und trafen alte Urlaubsbekanntschaften. Sie kennen das sicherlich selbst. Im Urlaub lernen Sie beim Volleyball am Strand nette Leute kennen, trinken abends etwas zusammen und am letzten Tag werden die Adressen getauscht. In den meisten Fällen sieht man sich nie wieder. Jetzt war es aber so weit, man sah sich wieder. Ich wohnte dort, wo viele Urlaubsbekanntschaften ihre Heimat hatten, in Nordrhein-Westfalen.

Auch die Zugfahrten von und nach Berlin waren irgendwann zu lang, und der Sonntag war immer am frühen Nachmittag vorbei. Um 16:15 Uhr fuhren wir zu Hause los, der ICE fuhr um 17:03 Uhr nach Düsseldorf ab, 21:10 Uhr kam ich an und nahm um 21:26 Uhr die S-Bahn. Dreißig Minuten später war ich an meinem Zielort und gegen 22:15 Uhr in meiner Wohnung. Im Herbst schlug meine Frau vor, dass ich auch mal von Düsseldorf aus fliegen könnte. Ich begann, nach Flugverbindungen zu suchen: 29 Euro mit der Deutschen BA, 55 Minuten Flugzeit – das war die Zukunftsperspektive. Außerdem gab es noch die grün-blauen Schokoladenherzchen beim Aussteigen, die später von der Air Berlin übernommen und rot wurden.

Der Neustart

Eingestellt war ich bei HDA-Edge wie in Berlin als Manager Industrial Engineering. Auch hier war mein Vorgesetzter der Fertigungsleiter. Mir wurde erklärt, dass meine Position auf Level 7 des gesamten Unternehmens war. Level 0 war der Vorstand und Level 3 der Manager für die Werke in Europa. Ich hatte noch keine Gedanken damit verschwendet, welchen Weg ich einmal gehen sollte und welches Level ich erreichen könnte. Ich konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt, auf den Start. Meine Verantwortung erstreckte sich über achtzehn Mitarbeiter. Mit ihnen gemeinsam und im Team mit anderen Abteilungen würde es unsere Aufgabe sein, die Fertigungsprozesse zu gestalten, mit allem, was dazugehört. Angefangen von der NC-Programmierung aller Maschinen im Werk, der dazugehörigen Vorbereitung der Bearbeitungswerkzeuge sowie deren Auslegung und Beschaffung. Auch Vorrichtungen und Hilfsmittel gehörten dazu. Wenn neue Produkte eingeführt werden sollten, war es auch unsere Aufgabe, die Prototypen und Vorserienfertigung zu koordinieren.

Eine Intensivierung der Lean-Gedanken stand erst einmal nicht auf der Tagesordnung, zumindest nicht oben. Aber die Firma hatte trotzdem ein Interesse daran. Sie hatten es bei den beiden Interviews erwähnt, aber keine Fragen zu dem Thema gestellt. Ich war noch fast am Beginn meines Lean-Weges, hatte aber zum Ende in Berlin Kanban ausprobiert. Es hatte funktioniert und ich wollte irgendwann mehr.

Am ersten Arbeitstag standen Blumen und ein Laptop auf meinem Schreibtisch. Beides sah ich erst später, denn nach den Formalitäten musste ich gleich in ein Meeting. Dort ging es schon um den Ersatz der Fräs- und Schleifmaschinen für die Fertigung. Es waren die, die ich nach dem Ende meines Maschinenbau-Studiums in genau dieser Halle im Rahmen der Exkursion ins Ruhrgebiet und den angrenzenden Regionen gesehen hatte. Nun sollte ich mithelfen, die nächste Generation zu beschaffen. Die ganze Zelle sollte auch mit einem Portalroboter automatisiert sein. Alles war sehr spannend und neu für mich. Wäre ich eine Maus gewesen, hätte ich gesagt: „Der Käse riecht gut!“

Ein weiteres Projekt lief schon, als ich Anfang Juli bei HDA-Edge begann. Neue Produkte waren konstruiert. Es ging jetzt um die Prototypenherstellung, die Arbeitsplatzgestaltung, die Vorrichtungskonstruktion und deren Beschaffung und die fristgerechte Fertigungseinführung der Getriebe. Meine Mitarbeiter waren sehr erfahrene und versierte NC-Programmierer, aber sie waren keine Projektmanager. Trotzdem hatten sie eine tolle Vorarbeit geleistet. Der Leiter der Abteilung, der dies immer übernommen hatte, war seit Monaten schwer krank. Niemand wusste, ob er jemals zurückkommen würde. Vorweggenommen sei: Er kehrte nicht zurück, und an den Reaktionen auf dem Friedhof konnte man erkennen, wie eng und vertraut ihre Beziehungen gewesen waren. Ein trauriges Kapitel gleich zu Beginn.

Für mich galt der Ausspruch „Der erste Schuss muss sitzen“, also setzte ich all meine Energie ein, um das Projekt erfolgreich fortzuführen und abzuschließen. Es funktionierte und ich hatte einen gelungenen Start in meinem neuen Job. Einige Wochen nach Beginn meiner Tätigkeit musste gleich der Urlaubsplan meiner Abteilung für das folgende Jahr erstellt werden. Zu meiner Überraschung meinten die Mitarbeiter, ich würde dies machen, so wie es in der Vergangenheit immer von ihrem Ex-Chef gemacht worden war. Wir unterhielten uns darüber, und schließlich sagte ich ihnen, dass sie alle „mehr als 3 mal 7“ seien. Sie waren in der Lage, NC-Programme für einen Maschinenpark mit einem Wert von über 100 Millionen Euro zu schreiben, und fast alle von ihnen hatten Familien mit Kindern. Also konnten sie als Team ihren Urlaubsplan auch selbst erstellen. Ich teilte ihnen die Kriterien aus meiner Sicht mit. Sie waren damit einverstanden: „Erstellt eine Matrix mit den Maschinen und den Namen der Programmierer. Dann markiert ihr, wer welche Maschinen programmieren kann. Alle Maschinen müssen während der Urlaubszeit durch mindestens einen Programmierer abgedeckt sein. Dann erstellt den Plan.“

Sie nahmen die Aufgabe selbst in die Hand und setzten sich in den folgenden vierzehn Tagen dreimal zusammen. Am Ende stand der Plan, und die Werkstatt bestätigte, dass dies für sie in Ordnung sei. Ich fand es großartig, aber am besten fanden es meine Mitarbeiter, weil sie es selbst gemacht und erfolgreich gemeistert hatten. Ich versicherte ihnen, dass sie in Zukunft weiterhin Dinge selbst entscheiden könnten, aber dass es auch Situationen geben werde, bei denen ich auf sie zählen würde, wenn etwas umgesetzt werden müsse. In solchen Fällen sollten sie die Aufgabe einfach ohne Diskussion erledigen. Das Wort „Chefsache“ fand ich nicht passend, also nannten wir es stattdessen: „Nicht fragen, nur machen!“ Ich hatte durch den Urlaubsplan ein gutes Stück Vertrauen der Mitarbeiter gewonnen. Eines der Lean-Prinzipen

„Entwickle zuerst die Personen, danach die Produkte und den Prozess“

hatte auch funktioniert. Sie stimmten dem Vorgehen zu. Das war ein ziemlich guter Anfang, sowohl für mich als auch für sie.

Meine Lean-Transformation

In meiner abendlichen Freizeit überlegte ich, wo und wie ich Lean-Ideen in dem neuen Unternehmen anbringen konnte. Dies war eine Lektion, die ich aus meiner früheren Firma mitgebracht hatte. Als Leiter des Industrial Engineering wollte ich es mir zur Aufgabe machen, Lean-Tools aktiv anzuwenden. Einen Schritt voraus zu sein, diese Ideen selbst umzusetzen und die Instrumente eigenständig zu nutzen, war nicht nur effizienter, sondern auch schneller, als darauf zu warten, dass ein Lean-Leader die Umsetzung vorantreiben würde. In Berlin wurde mir diese Vorgehensweise verwehrt, doch hier im Bergischen Land wollte ich nicht zulassen, dass es so weit kommt. Meine Abteilung sollte als Vorbild dienen und den Ruf der klassischen, altbackenen Arbeitsvorbereitung hinter sich lassen.