Commissaire Marquanteur
und die Leiche im Étang de Berre: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Wer ermordete den Toten im Étang de Berre, dem bei Marseille
gelegenen größten Binnensee Frankreichs? Archäologen entdecken bei
Grabungs- und Taucharbeiten Leichenteile eines Mannes. Es handelt
sich um Grand-Armand Lafontaine – aber der sollte seit Jahren
sicher vor Auslieferung in Marokko leben. Die Leiche lag bereits
längere Zeit im Étang de Berre, die Spur scheint kalt zu sein, als
Commissaire Marquanteur mit der Aufklärung betraut wird.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Jack Raymond,
Robert Gruber, Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet
Farell.
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Professor Dr. Richard Melliere unterdrückte ein Gähnen,
während er den Taucheranzug zum Trocknen aufhängte. Dann ließ er
den Blick kurz über das Ufer des bei Marseille gelegenen Étang de
Berre schweifen. Dieser größte Binnensee Frankreichs war eine
ehemalige Meeresbucht, die bis heute über einen Kanal mit dem
Mittelmeer verbunden war. Einst war der Étang de Berre um ein
Drittel kleiner gewesen als heute. Und dort, wo der Archäologe
Melliere und sein Team seit Wochen täglich auf Tauchgang war, hatte
sich einst das prähistorische Lager einer Gruppe von Jägern und
Sammlern befunden.
»Ich frage mich, ob eines fernen Tages sich auch mal jemand
unseren Müll so penibel vornimmt, wie wir das mit den
Hinterlassenschaften dieser Jäger tun«, grinste Eric Clavieux, ein
Student.
»Tja, für Archäologen der Zukunft wären auch die Müllkippen
von Marseille sicher ein Paradies!«
»Professor Melliere! Kommen Sie mal her! Das müssen Sie sich
ansehen!«, rief jemand aus einem der Zelte, die in Ufernähe einen
Halbkreis bildeten. Das war Jean-Pail Roebergé, der Assistent von
Professor Mellier. Es waren große Zelte mit festem Boden und
Standhöhe. Melliere ließ Clavieux stehen und ging die wenigen Meter
zum ersten Zelt und trat ein.
Ein Mann mit dicker Brille stand vor einem Tapeziertisch, auf
dem mehrere Dutzend, vom Schlamm nur notdürftig gereinigter
Fundstücke zu sehen waren – darunter auch ein Totenschädel. »Also
entweder stehen wir hier vor einer archäologischen Sensation und
die Jäger hatten bereits vor 13 000 Jahren ihre Zähne überkront
oder dieser Tote stammt aus unserer Zeit!«
2
Roebergé hatte den Schädel notdürftig gesäubert und hielt ihn
Dr. Melliere entgegen.
»Ziehen Sie sich aber erst Latexhandschuhe an, bevor Sie etwas
anfassen! Sonst sind die DNA-Tests, die wir machen wollen, nachher
nichts mehr wert.«
Melliere grinste.
»Wenn sich dann herausstellt, dass die Jäger von damals von
den Israeliten abstammen, hat unsere Zunft wenigstens mal wieder
eine Sensation – und die können wir dringend brauchen. Es wird
nämlich immer schwieriger, für Projekte wie dieses die nötigen
Mittel zusammen zu bekommen!«
»Sie haben Ihre Sensation, Professor Melliere!«, stellte
Roebergé klar. »Nur wird das wahrscheinlich bedeuten, dass uns die
Polizei die Grabungsstätte in einen Tatort umdefiniert. Ich habe
übrigens noch etwas gefunden.«
Melliere folgte ihm zu einem weiteren Tisch, auf dem sich eine
Plastikwanne befand. Darin lagen ein paar halbwegs gereinigte
Knochen.
Roebergé nahm einen Oberschenkelknochen, an dessen Ende sich
ein verfärbtes Stück Metall befand. Er grinste.
»Direkt aus der Steinzeit!«, lachte er. »Damit meine ich
allerdings nicht das Spätpaläolithikum der Horde von Jägern und
Sammlern, sondern die Steinzeit des künstlichen Hüftgelenks – und
die liegt maximal fünfundzwanzig Jahre zurück.«
Melliere nickte leicht. Sein Gesicht war sehr ernst
geworden.
»Unter den Teppich kehren können wir das wohl nicht.«
»Nein, jedenfalls nicht, wenn wir ohne größeren Ärger aus der
Sache herauskommen wollen.«
»Der Ärger wird so oder so noch groß genug. Ich darf gar nicht
daran denken, dass da ein paar Banausen vom Erkennungsdienst eine
einmalige archäologische Fundstätte zerstören.«
3
Der Geländewagen vom Typ Ford Maverick hielt vor dem Boulevard
Tampic 32 in Bompard. Dieser eher bürgerlich geprägte Teil von
Bompard wurde durch schmucke Bungalows und Einfamilienhäuser
geprägt. Für Marseiller Verhältnisse waren die Grundstücke recht
großzügig gehalten.
Der Fahrer des Maverick blickte durch das Fenster auf der
Beifahrerseite. Eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern bedeckte die
Augenpartie. Sein Gesicht war kantig. Die harten Linien wirkten wie
geschnitzt. Er schien nervös. Daumen und Zeigefinger der rechten
Hand spielten mit einem goldenen Kruzifix herum, das ihm an einem
Kettchen um den Hals hing. Das glänzende Edelmetall bildete einen
starken Kontrast zu der stark gebräunten Haut.
In der Einfahrt von dem Haus mit der Nummer 32 stand ein
gelber Lamborghini.
Der Wagen von Roland ‘Rolly‘ Patesse, wusste der Grauhaarige
und musste grinsen. Auch wenn dieser Patesse wahrscheinlich
Millionen auf der hohen Kante hatte – sein Geschmack in Sachen
Autos war immer noch der eines neureichen Emporkömmlings, der allen
zeigen wollte, wie dick seine Brieftasche war.
Jedenfalls weiß ich jetzt, dass du zu Hause bist, dachte der
Grauhaarige.
Er stellte den Motor ab und stieg aus. Der helle Blouson
beulte sich unter der linken Schulter etwas aus.
Der Grauhaarige ging geradewegs zur Haustür und
klingelte.
Eine junge Frau öffnete ihm: maximal dreißig Jahre alt,
schlank, zierlich und mit langem, dunkelblondem Haar. Sie trug ein
eng anliegendes blaues Kleid und war höchstens halb so alt wie der
Besitzer des Hauses.
»Ich nehme an, Sie kommen vom Maklerbüro Zidane & Partner.
Wir hatten vorhin telefoniert.«
»Ich möchte mit Monsieur Patesse sprechen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Der ist nicht zu Hause. Tut mir leid. Sie sind nicht Monsieur
Zidane?«
»Wollen Sie das Haus verkaufen? Ist doch ganz nett
hier?«
Die junge Frau versuchte, die Tür wieder zu schließen, aber
der Grauhaarige war schneller. Sein Fuß war dazwischen.
Blitzschnell trat er vor, griff nach ihrem Hals und schleuderte sie
gegen die Wand. Auf ihren hohen Schuhen verlor sie den Halt.
Der Grauhaarige kickte mit dem Absatz die Haustür ins
Schloss.
Die junge Frau war kurz benommen. Als der Grauhaarige
erkannte, dass sie schreien wollte, versetzte er ihr einen
gezielten Schlag, der sie bewusstlos zusammensinken ließ. Sie
rutschte an der Wand herab und blieb regungslos legen.
Patesse, du Ratte!, ging es dem Grauhaarigen durch den Kopf.
Da komme ich wohl noch gerade rechtzeitig, bevor du dich auf
Nimmerwiedersehen davonmachen willst.
Er nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die
Seitentasche seines Blousons. Dann holte er eine Automatik mit
Schalldämpfer hervor. Er nahm sich nun systematisch Zimmer für
Zimmer vor. Auf ungefähr hundert Quadratmeter schätzte der
Grauhaarige die Wohnküche des Bungalows. Von Rolly Patesse gab es
nirgends eine Spur. Schlafzimmer und Bad sahen aus, als hätte hier
nie jemand gewohnt.
Er muss die Lunte gerochen haben, dachte der Grauhaarige.
Einem Mann wie Patesse machte man eben nichts vor.
Der Grauhaarige durchsuchte noch Keller und Dachboden. Das
Haus enthielt so gut wie keinerlei persönliche Habe mehr. Das
Telefon war abgemeldet.
Schließlich kehrte der Grauhaarige in den Flur zurück. Er
fasste die am Boden liegende Frau unter den Achseln und schleifte
sie ins Bad. Dort hob er sie in die Wanne und ließ kaltes Wasser
laufen.
Die junge Frau schreckte mit einem Schrei hoch. Ihre Augen
waren angstvoll geweitet. Blut lief aus einer Platzwunde an der
Schläfe.
Der Grauhaarige stellte das Wasser ab.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er. »Es liegt ganz bei
dir, wie schmerzhaft das wird!«
4
Ich bog von der Avenue de Channale in Marseille in den Rue de
Boissons ein.
»Hier muss es gleich sein«, meinte mein Kollege François
Leroc. »Fahr langsamer! Zurück können wir nicht!«
Der Rue de Boissons war eine Einbahnstraße und gewisse Regeln
dürfen auch Polizisten nur im Notfall brechen. Allerdings nicht,
wenn sie kein Aufsehen erregen wollen – und das war im Augenblick
der Fall.
Der Anruf eines gewissen Roland ‘Rolly‘ Patesse hatte unser
Büro erreicht. Patesse glaubte, dass ein Killer hinter ihm her sei
und hatte sich in einem billigen Hotel verkrochen. Dort saß er
jetzt und wartete darauf, dass wir ihm halfen.
Der Polizei traute Patesse nicht. Er war der Überzeugung, dass
sie von seinen Mafia-Feinden durchsetzt wäre. Einzig und allein die
FoPoCri besaß bei ihm genug Vertrauen, um sich in dieser Situation
mit der Bitte um Hilfe an sie zu wenden.
Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn vor wenigen
Jahren hatte er unser Kommissariat als seinen schlimmsten Gegner
betrachtet. Rolly Patesse war der Überzeugung der Justiz nach Teil
des Lafontaine-Syndikats gewesen. Allerdings hatte er gewusst, wann
es genug war und rechtzeitig aufgehört. Es war nie möglich gewesen,
Patesse vor Gericht etwas anzuhaben, und inzwischen hatte er seine
Millionen irgendwo auf der hohen Kante sicher angelegt und sich zur
Ruhe gesetzt.
Aber unsere Aufgabe ist es, das Verbrechen zu bekämpfen – und
dabei spielt es auch keine Rolle, ob das Opfer möglicherweise
selbst einmal auf Seiten der Gangster gestanden hatte. Wir waren
verpflichtet, das Leben eines Mannes wie Rolly Patesse genauso zu
schützen wie das jedes anderen Bürgers.
Ich bremste den Sportwagen etwas ab und bog nach links auf
einen Parkplatz, der die lange Reihe von ehemaligen Lagerhäusern
unterbrach. Wir hatten Glück und fanden einen freien
Parkplatz.
Das Hotel Lazáre lag auf der linken Hand. Es handelte sich um
ein fünfstöckiges Gebäude, das ursprünglich wohl als Unterkunft für
Hafenarbeiter gedient hatte. Inzwischen war es zu einem Hotel
heruntergekommen, dessen Zimmer auf Wunsch auch stundenweise
vermietet wurden.
Wir passierten den Eingang und betraten das Foyer. Der Portier
schreckte hoch. Ich hielt ihm meinen Dienstausweis entgegen.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri.«
»Wir sind sauber!«, zeterte der Portier. »Und wenn sich hier
möglicherweise Frauen für Geld anbieten, die nicht angemeldet sind,
hat unser Hotel nichts damit zu tun.«
Der Mann sprach mit einem starken Akzent.
»Wir auch nicht«, sagte François. »Sie können ganz beruhigt
sein. Wir sind nämlich nicht von der Stadtverwaltung, sondern von
der Kripo.«
Ich ergänzte: »Und einen Durchsuchungsbeschluss brauchen wir
nicht. Einer Ihrer Gäste hat uns nämlich eingeladen.«
»Ach, ja?«
Wir fragten nach der Zimmernummer, die Rolly Patesse uns
angegeben hatte. Der Portier beschrieb uns den Weg.
»Die Treppe hoch, dann links den Gang runter ganz am
Ende.«
»Danke.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie Monsieur Dupont
ankündige?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ganz und gar nicht.«
5
Wir stiegen die Treppe hinauf. Einen Aufzug gab es im Hotel
Lazáre nicht. Zumindest keinen, der funktionierte.
Wir erreichten wenig später die Zimmertür von Monsieur
Dupont.
»Ehrlich gesagt, hätte ich jemandem wie Rolly Patesse etwas
mehr Fantasie bei der Auswahl seines Künstlernamens zugetraut«,
grinste François.
»Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat!« Ich klopfte. Es
erfolgte keinerlei Reaktion, daher versuchte ich es noch einmal.
»Monsieur Patesse? Hier spricht Commissaire Pierre Marquanteur von
der FoPoCri. Sie haben vor wenigen Minuten mit Monsieur Jean-Claude
Marteau, Commissaire général de police, dem Leiter unserer
Sonderabteilung gesprochen.«
Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss los. Ein
großkalibriges Projektil stanzte kurz hintereinander zwei
daumengroße Löcher durch das Holz. Die Kugeln gingen dicht an uns
vorbei. Es war pures Glück, dass wir nicht verletzt wurden.
François sprang nach rechts, ich nach links. Wir postierten uns
neben der Tür und zogen unsere Dienstwaffen. Ein dritter und ein
vierter Schuss krachten.
Diesmal hielt der Schütze seine Waffe etwas höher. Die Löcher
der Durchschüsse waren ziemlich genau in unserer Augenhöhe.
Auf der anderen Seite der Tür waren jetzt Geräusche zu hören.
Irgendetwas wurde umgestoßen. Ein Stuhl, schätzte ich. Ein
schabendes Geräusch sprach dafür, dass gerade ein Fenster
hochgeschoben wurde.
Ich schnellte vor, die Dienstwaffe vom Typ SIG Sauer P 226 in
beidhändigem Anschlag. Ein Tritt und die Tür flog zur Seite.
Das Zimmer war schätzungsweise fünfzehn Quadratmeter groß.
Rechts stand ein Doppelbett. Links war ein Waschbecken. In der
Mitte lag ein Stuhl auf dem Boden, und am Fenster bemühte sich ein
etwa sechzigjähriger Mann darum, aus dem Fenster zu steigen. In der
Linken hielt er dabei eine großkalibrige Automatik, Kaliber 45.
Ich erkannte den Mann sofort wieder. Unser Kollege Maxime
Valois aus der Fahndungsabteilung hatte uns eine Bilddatei auf den
Bordrechner des Sportwagens gemailt, die Patesse bei dessen letzter
Verhaftung zeigte. Seitdem waren sieben Jahre vergangen.
Patesse saß rittlings auf der Fensterbank.
»Monsieur Patesse, die Waffe weg! Wir sind hier, um Ihnen zu
helfen«, rief ich.
Rolly Patesse blickte aus dem Fenster. Offenbar sah er keine
Chance unbeschadet unten anzukommen.
Er zögerte. Seine Finger krallten sich so fest um den Griff
der Automatik, dass die Knöchel weiß wurden.
»Wenn Sie wirklich von der FoPoCri wären, könnten Sie
unmöglich so schnell hier sein!«, keuchte er. »Wer schickt Sie?«
Schweißperlen standen auf Patesses Stirn.
»Wir waren in der Nähe. Sofort, nachdem Ihr Hilferuf unser
Büro erreichte, bekamen wir die Order, hierher zu fahren«,
versuchte François etwas Ruhe in die Situation zu bringen.
Aber unser Gegenüber war vollkommen außer sich. Er musste
furchtbare Angst haben.
»Machen Sie keine Dummheiten, Monsieur Patesse!«, forderte ich
ihn auf. Ich griff vorsichtig in meine Jackettinnentasche und zog
meinen Dienstausweis hervor. Patesse bedachte mich mit einem
misstrauischen Blick. Ich schaffte es schließlich, meinen Ausweis
herauszuholen. Er schluckte, als er seinen Irrtum erkannte.
»Das Ding sieht echt aus«, gab er zu.
»Es ist echt.«
Er senkte die Waffe. François näherte sich von der Seite.
Patesse ließ sich die Automatik widerstandslos aus der Hand nehmen.
Ich steckte meine SIG ins Holster zurück und zog Patesse vom
Fenster weg.
»Wenn Sie wirklich in Gefahr sind, sollten Sie sich nicht so
frei am Fenster bewegen«, erklärte ich ihm.
Patesse ging zum Bett und ließ sich wie ein nasser Sack darauf
fallen. Ich blickte unterdessen hinaus. Man hatte den Blick auf
einen sehr schmalen Hinterhof. Die Bäume, die dort angepflanzt
worden waren, bekamen nicht viel Licht. Es war erstaunlich, dass
sie überhaupt gediehen. Ich konnte jedenfalls nichts Verdächtiges
entdecken und schloss das Fenster.
»Und jetzt der Reihe nach, Monsieur Patesse«, begann François.
»Sie sagen, dass ein Killer Ihnen auf den Fersen wäre.«
Er nickte.
»Bringen Sie mich hier weg! Meinetwegen in eine Ihrer
Gewahrsamszellen – aber nicht ins Gefängnis. Bis dahin reicht
nämlich ihr Arm …«
»Wessen Arm?«, hakte ich nach.
Er blickte auf und sah mich an.
»Ich sage Ihnen alles, was ich weiß. Und das ist eine Menge,
kann ich Ihnen flüstern! Aber erst bringen Sie mich hier weg, sonst
hören Sie keinen Ton von mir!«
»Ist ja schon gut!«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
»Sie müssen mich ins Zeugenschutzprogramm nehmen.
Bitte!«
»Darüber haben wir nicht zu entscheiden«, erklärte ich. »Aber
wir können Sie erst mal zur Dienststelle bringen. Und dort sehen
wir weiter. Ich denke, das ist auch in Ihrem Sinn.«
Er atmete tief durch. Der Griff seiner rechten Hand ging in
die Herzgegend. Schließlich nickte er.
»Ja«, murmelte er. Und dieses eine Wort hörte sich so an, als
wäre ihm in diesem Augenblick eine Zentnerlast von der Seele
gefallen. Er packte sehr schnell seine Sachen zusammen. Nur mit
einem Handkoffer war er hier im Lazáre.
Wenig später verließen wir das Zimmer. François nahm den
Koffer. Ich ging voran – die Hand immer an der Dienstwaffe. Wie
real die Gefahr tatsächlich war, von der Patesse bei seinem Anruf
im Kommissariat berichtet hatte, konnten wir nicht einschätzen.
Wenig später durchquerten wir das Foyer des Hotels Lazáre. Der
Portier beobachtete uns.
»Wieso haben Sie sich ausgerechnet das Lazáre ausgesucht?«,
fragte François, als wir ins Freie traten.
»Ich weiß, es ist nicht die beste Adresse. Aber hier kennt
mich garantiert niemand.«
»Im Fond unseres Sportwagens ist nicht viel Platz.«
»Das macht nichts, Monsieur …«
»Marquanteur.«
»Ah, ja, richtig.«
Er war so nervös, dass er sich noch nicht einmal meinen Namen
hatte merken können. Unruhig streifte sein Blick über die etwas
heruntergekommenen Fassaden der Umgebung. Manche der umstehenden
Lagerhäuser wurden noch immer zu dem Zweck benutzt, zu dem sie auch
gebaut worden waren. Andere dienten einfach als Abstellfläche für
Waren aller Art. Eine dritte Gruppe hatte man in teure
Eigentumswohnungen verwandelt, was so manchen störte, der seit
Jahren in der Gegend wohnte. Aber Marseille veränderte sich im
Augenblick stark.
»Ich kann mich klein machen, wenn es sein muss«, murmelte er
und blickte dabei auf die Uhr.
Wir gingen auf den Sportwagen zu.
Plötzlich tanzte ein Laserstrahl eines Zielerfassungsgerätes
durch die Luft. Das konzentrierte Licht brach sich irgendwo und
ließ eine gerade Linie erahnen.
Eine Schusslinie.
Ich warf mich auf Patesse und riss ihn zu Boden.
François zog seine Waffe, ließ dabei den Koffer fallen und
ging hinter einem parkenden Fahrzeug in Stellung.
Die Schüsse des Angreifers waren lautlos.
Das Blut rann mir zwischen den Fingern hindurch. Erst einen
Moment später begriff ich, dass es nicht mein Blut war. Rolly
Patesse blickte mich mit offenem Mund und starren, toten Augen an.
Eine Kugel hatte seine Schläfe durchschlagen und war direkt in sein
Gehirn gefahren.
»Der Killer ist im fünften Stock, andere Straßenseite!«, rief
François. Er spurtete los.
Offenbar waren Patesses Befürchtungen keineswegs aus der Luft
gegriffen gewesen.
François überquerte den W. Ein Lieferwagen bremste stark ab.
Der Fahrer zeigte François einen Vogel, aber mein Kollege kümmerte
sich nicht weiter darum. Er rannte unbeirrt weiter.
Ich setzte per Handy eine kurze Meldung ans Büro ab, damit
Verstärkung geschickt wurde und folgte François dann über die
Straße.
Das Gebäude, aus dem geschossen worden war, wirkte verlassen.
Einige der Fenster waren mit Spanplatten vernagelt worden. Offenbar
handelte es sich um ein Gebäude, das kurz vor der Sanierung stand.
In diesem Teil von Marseille La Villette gab es zurzeit viele
davon.
Der Eingang war offenbar zur anderen Seite ausgerichtet.
Ich folgte François durch die enge Gasse von etwa zwei Meter
Breite, um zur Rückfront des Gebäudes zu gelangen.
Augenblicke später erreichten wir einen Hinterhof. Ein
Geländewagen vom Typ Ford Maverick startete gerade mit
durchdrehenden Reifen und fuhr in einem Höllentempo auf die schmale
Ausfahrt zu. Vom Fahrer war kaum etwas zu sehen. Nur einen kurzen
Moment blinkte etwas auf. So als ob er eine Brille mit spiegelnden
Gläsern trug.
François zielte mit seiner Dienstwaffe auf die
Hinterreifen.
Aber in diesem Moment tauchte ein Fahrradkurier auf, der die
Ausfahrt in entgegengesetzter Richtung passierte und dabei ein
hohes Tempo drauf hatte. Wahrscheinlich nahm er den Weg über dieses
Grundstück einfach als willkommene Abkürzung, um schneller zum Ziel
zu gelangen.
Der Maverick hielt rücksichtslos auf ihn zu. Mit einem Sprung
versuchte sich der Kurier zu retten. Er knallte auf die Motorhaube,
während das Fahrrad vom Kuhfänger erfasst wurde.
Der Kurier rutschte seitlich vom Kotflügel des Maverick
herunter und knallte mit dem Helm gegen die Hauswand. Der
Geländewagen brauste inzwischen weiter, zermalmte das Rad aus
ultraleichter Karbonfaser unter seinen hohen Rädern und fädelte
sich dann ziemlich brutal in den Verkehr ein.
François senkte die Waffe. Ich ebenfalls.
Ich spurtete los, während François bereits das Handy am Ohr
hatte, um dafür zu sorgen, dass möglichst schnell ein Ambulanz-Team
eintraf.
Augenblicke später hatte ich den Verletzten erreicht.
Er rührte sich. Blut sickerte unter seinem Helm hervor, der
ihm aber dennoch wohl das Leben gerettet hatte. Er lag in seltsam
verrenkter Haltung da.
»Ganz ruhig«, sagte ich. »Es kommt gleich jemand.«
François spurtete an mir vorbei bis zur nahen Hauptstraße.
Aber er kehrte rasch zurück und schüttelte den Kopf. Das hieß wohl,
dass uns der Flüchtige erst einmal durch die Lappen gegangen
war.
In der Ferne waren bereits die Sirenen von der Polizei und der
Notfallambulanz zu hören.
6
Der verletzte Kurier hieß Georges Bourgois, wie aus dem
Ausweis seines Kurierdienstes hervorging. Er bestätigte uns, den
Weg über diesen Hinterhof oft als Abkürzung zu nehmen. Ansonsten
beteuerte er immer wieder nur, dass der Maverick ganz plötzlich
aufgetaucht sei und er ihn erst im letzten Moment gesehen hätte.
»Wieso hat der Kerl noch Gas gegeben?«, keuchte Bourgois. »Ich
höre das immer wieder in meinem Kopf. Wie der Motor aufheult. Warum
hat er nicht gebremst?«
»Wir werden den Fahrer kriegen«, versprach ich. »Ganz
bestimmt.«
»Das hoffe ich! So einer sollte nicht mehr den Verkehr
unsicher machen!«
»Haben Sie den Fahrer sehen können?«, hakte François
nach.
»Nein, tut mir leid. Das ging alles so schnell …«
Die Diagnose des Notarztes war trotz des erschreckenden
Bildes, das sich uns zunächst geboten hatte, recht ermutigend.
Schürfungen, Quetschungen, Stauchungen und wahrscheinlich zwei
gebrochene Beine und eine starke Gehirnerschütterung lautete die
erste Bilanz. Ob es vielleicht noch Schäden an Schädel und
Wirbelsäule gab, mussten die Röntgenbilder erweisen.
»Immerhin ist er ansprechbar«, erklärte der Arzt.
Die Tatsache, dass Georges Bourgois einen guten Helm und
Protektoren trug, hatte ihm das Leben gerettet.
Kollegen der Polizei sicherten den Tatort vor dem Hotel
Lazáre. Mitarbeiter des Erkennungsdienstes waren unterwegs,
brauchten um diese Zeit aber sicher noch eine gute Stunde, bis sie
es von ihrem Labor bis nach La Villette geschafft hatten.
François und ich sahen uns in dem Gebäude um, aus dem
geschossen worden war.
Es gab eine zum Hinterhof ausgerichtete Laderampe. Das
dazugehörige Tor war fest verschlossen, aber der Personaleingang
zehn Meter weiter nicht. Jemand hatte die Tür aufgebrochen.
Im Erdgeschoss befand sich ein Lagerraum, den man im Moment
wohl eher als Sondermülldeponie bezeichnen musste. Halb verrostete
Fässer standen dort, ein Geruch, der an faule Eier erinnerte, hing
in der Luft.
Es gab einen großen Lastenaufzug in die oberen Etagen – aber
da der Strom abgeschaltet war, funktionierte der nicht.
Wir nahmen eine Treppe.
In den oberen Geschossen lagerten vornehmlich
Verpackungsabfälle. Vor allem Kunststoff, aber auch vor sich hin
rottende Pappe. Ratten huschen über den Boden.
François‘ Vermutung, dass aus dem fünften Stock heraus auf
Rolly Patesse geschossen worden war, stellte sich als richtig
heraus.
In eine der Fensterscheiben war ein Loch geschlagen worden,
dessen Ränder dunkel verfärbt waren. Schmauchspuren, so nahm ich
an.
Der Boden davor war von einer grauen Staubschicht bedeckt, in
der frische Fußspuren zu sehen waren. Außerdem Abdrücke, die von
ausgeworfenen Patronenhülsen stammen konnten. Offenbar hatte der
Täter Zeit genug gehabt, sie einzusammeln.
»Ich bin sicher, dass von hier aus geschossen wurde«, sagte
François Leroc. Wir hielten Abstand von dem Bereich vor dem
Fenster, um den später eintreffenden Kollegen des
Erkennungsdienstes nicht die Arbeit zu erschweren.
»Jedenfalls hatte Rolly Patesse mit seinen Befürchtungen
recht«, stellte ich fest. »Jemand hat alles daran gesetzt, ihn
umzubringen.«
»Dieser Mann und seine Mafia-Vergangenheit sind mir alles
andere als sympathisch, aber ich frage mich, weshalb gerade jetzt
jemand seinen Tod wollte«, sagte François. »Schließlich hatte er
sich längst aus dem Geschäft zurückgezogen.«
»Wissen wir das so genau, François? Vielleicht war er nur
besonders clever.«
»Patesse war doch ein Handlanger von Armand Lafontaine und
seiner Familie.«
Der Name sagte mir natürlich etwas, auch wenn ich selbst weder
mit den Ermittlungen gegen Lafontaine noch gegen Patesse zu tun
gehabt hatte. Lafontaine hatte sich vor zehn Jahren der Verhaftung
durch Flucht entzogen und lebte nach unseren Erkenntnissen
wahrscheinlich in Marokko – einem Land, mit dem Frankreich
seinerzeit kein Auslieferungsabkommen hatte. Der Fall war in den
letzten Jahren immer wieder einmal in Besprechungen unseres
Kommissariats erörtert worden, weil es je nach außenpolitischer
Lage Bemühungen des Justizministeriums gegeben hatte, vielleicht
doch noch an Lafontaine heranzukommen.
»Vielleicht ist da irgendeine uralte Rechnung aus der Zeit
offen, als Patesse noch für Lafontaine aktiv war«, vermutete ich.
»Aber Patesse hat sich doch meines Wissens nie versteckt«,
wandte François ein.
Ich zuckte mit den Schultern.
7
Die Ermittlungen am Tatort ergaben zunächst keine
weitergehenden Erkenntnisse. Immerhin wurden ein Reifenprofil des
Maverick und ein Schuhsohlenabdruck des Täters sichergestellt. Nach
der Schuhgröße und der Höhe des Schussloches zu urteilen, suchten
wir nach einem Mann, der mindestens 1,90 m groß war.
Der Ford Maverick war natürlich auch in der Fahndung. François
und ich hatten uns das Kennzeichen merken können. Es stammte aus
aus der Nordstadt, aber eine Halterüberprüfung ergab, dass es
eigentlich zu einem Toyota aus Saint Victoire gehörte.
Unsere Kollegen Stéphane Caron und Boubou Ndonga suchten zur
selben Zeit Rolly Patesses Privatadresse in Bompard auf. Sie wurden
von unseren Erkennungsdienstlern Pascal Montpierre und Jean-Luc
Duprée begleitet. Zwar verlassen wir uns normalerweise auf die
Arbeit, des für alle Marseiller Polizeieinheiten zuständigen
Erkennungsdienstes, aber bei personellen Engpässen oder wenn
Ermittlungen besonders aufwändig sind, können wir auch unsere
eigenen Erkennungsdienstler hinzuziehen.
Stéphane parkte den Chevrolet aus den Beständen der
FoPoCri-Fahrbereitschaft vor Patesses Haus. Stéphane und sein
Kollege stiegen aus. Wenig später trafen Jean-Luc und Pascal ein.
»Der gelbe Lamborghini in der Einfahrt ist auf Patesses Namen
zugelassen«, stellte Boubou fest. »Das habe ich überprüft.
Allerdings besaß Patesse seit drei Jahren keinen gültigen
Führerschein mehr und hätte wegen einer ganzen Latte von
Verkehrsdelikten wohl auch Schwierigkeiten bekommen, eine neue
Lizenz zu bekommen.«
Pascal deutete auf die Reifenspuren in der Einfahrt, die recht
frisch wirkten.
»Der Wagen muss aber vor Kurzem bewegt worden sein.«
»Ärger mit der Autobahnpolizei gehört sicherlich nicht zu den
größten Problemen, die Patesse hatte«, warf Stéphane ein.
Jean-Luc Duprée öffnete fachmännisch die Tür.
Eigenartigerweise war bei der Leiche von Rolly Patesse kein
Schlüsselbund gefunden worden.
Stéphane ging voran.
Schon nach einem Schritt griff er zur Dienstwaffe.
An der Wand im Flur klebte Blut. Boubou nahm jetzt ebenfalls
seine Pistole in die Rechte. Sie sicherten sich gegenseitig ab und
folgten einer Blutspur bis zum Bad.
Eine junge Frau lag dort mit starrem, toten Blick in der
Wanne, die voller Blut war.
Stéphane musste unwillkürlich schlucken. Selbst für einen
abgebrühten Polizisten, der täglich mit dem Verbrechen in Kontakt
kam, war dies ein besonders scheußlicher Anblick.
8
Eine Viertelstunde später traf Dr. Bernard Neuville, ein
Gerichtsmediziner im Dienst des Erkennungsdienstes am Tatort ein.
»Die junge Frau wurde zweifellos gefoltert«, stellte Dr.
Neuville fest. »Der Täter wusste, wie man größtmöglichen Schmerz
zufügt, ohne Gefahr zu laufen, dass das Opfer an den Verletzungen
stirbt oder bewusstlos wird. Ich muss natürlich erst eine Obduktion
vornehmen, um wirklich etwas Abschließendes sagen zu können, aber
…«
»Ich verstehe schon«, murmelte Stéphane. »Aber sagen Sie uns
trotzdem, was Sie denken!«
»Ein sexuelles Motiv würde ich ausschließen. Das war auch kein
Triebtäter oder die Tat von jemandem, der seine Impulse nicht zu
kontrollieren vermag. Hier ist jemand eiskalt vorgegangen.«
»Um Informationen zu erpressen?«, vermutete Boubou.
Dr. Neuville nickte.
»Ich denke, ja. Und am Ende wurde sie mit einem aufgesetzten
Schuss durch die Stirn getötet. Die Mündung hat ein Hämatom
gebildet.«
»Ich vermute, dass ein Schalldämpfer benutzt wurde, sonst
hätten die Nachbarn alles mitbekommen«, sagte Stéphane.
»Die Schreie der Frau haben sie offensichtlich auch nicht
gehört«, gab Boubou zu bedenken.
»Aber der Durchmesser des Hämatoms auf der Stirn spricht auch
für einen Schalldämpfer. Wenn es der Abdruck der Mündung wäre,
ließe das auf ein größeres Kaliber schließen, als die
Eintrittswunde vermuten lässt.«
Pascal Montpierre fand wenig später im Wohnzimmer eine
Handtasche, die ein paar aufschlussreiche Utensilien enthielt.
Unter anderem Führerschein und Kreditkarte. Die Tote hieß Vera
Rivage und hatte eine Adresse in Stade angegeben. Sie war
siebenundzwanzig Jahre alt und über das Datenverbundsystem SIS war
zu erfahren, dass sie wegen Drogendelikten vorbestraft war.
In ihrer Handtasche befand sich außerdem die Visitenkarte
eines Maklerbüros. Stéphane rief dort an und erfuhr, dass sich Vera
Rivage offenbar mit Moses Zidane, einem der Inhaber des Maklerbüros
hatte treffen wollen.
»Stellen Sie mich doch bitte zu Monsieur Zidane durch«,
verlangte Stéphane.
»Das geht leider nicht, er ist in einer Konferenz«, behauptete
die Mitarbeiterin am Telefon.
»Ich nehme an, es ist ihm lieber, wenn wir uns im
Polizeipräsidium treffen.«
»Einen Moment.«
Wenig später war Zidane doch zu sprechen. Er gab an, gegen elf
Uhr am Vormittag bei Patesses Haus eingetroffen zu sein.
»Der Verkehr hatte mich aufgehalten. Sie wissen ja, wie das
ist.«
»Haben Sie mit Madame Rivage sprechen können?«
»Nein. Vor dem Haus stand zwar ein gelber Sportwagen, aber es
hat niemand geöffnet. Schon ziemlich ärgerlich für mich!
Schließlich ist in meinem Business Zeit Geld, und ich bin extra
ihretwegen nach Bompard rausgefahren.«
»Worum sollte es bei dem Gespräch gehen?«
»Das Haus sollte verkauft werden, und Madame Rivage gab an,
die Bevollmächtigte des Eigentümers zu sein.«
»Kam Ihnen das nicht etwas seltsam vor?«
»Leider kam ich nicht dazu, das zu überprüfen. Das Haus ist
jedenfalls ein schönes Objekt in guter Lage, das wäre ich leicht
losgeworden.«
9
Stéphane und Boubou nahmen sich die Nachbarschaft vor, in der
Hoffnung, dass jemand etwas bemerkt hatte.
Das Haus nebenan war derzeit unbewohnt. Später erfuhren unsere
Kollegen, dass sich die Besitzer auf einer längeren Reise
befanden.
Gegenüber wohnte ein Pensionär der Polizei mit seiner Frau.
»Mein Name ist Albert Jabon, und ich war fünfunddreißig Jahre
Commissaire – zuerst bei der Drogenfahndung, später bei der
Mordkommission im Rang eines Kriminaloberkommissars«, stellte er
sich vor, nachdem Stéphane ihm seinen Dienstausweis gezeigt hatte.
Jabon sah sich den Ausweis nur flüchtig an.
»Kannten Sie Ihren Nachbarn von gegenüber – Monsieur Roland
Rolly Patesse?«
»Ehrlich gesagt, habe ich ihn nicht besonders gemocht, und ich
war auch überhaupt nicht begeistert davon, als er hierherzog. Aber
im Grunde hatte ich nichts mit ihm zu tun. Ein Mann mit bunter
Vergangenheit, würde ich sagen.«
Stéphane lächelte.
»Sie haben über SIS nachgeforscht?«
»Wenn ich zu den Kollegen aufs Revier gehe und etwas wissen
will, schauen die weg, wenn ich an den Computer gehe.«
»Monsieur Patesse wurde heute in Marseille La Villette
erschossen.«
»Verstehe und die Durchsuchung der Opfer-Wohnung gehört zur
Routinevorgehensweise.«
»Kennen Sie diese Frau?« Stéphane hielt ihm den Führerschein
von Vera Rivage unter die Nase.
Albert Jabon nickte.
»Natürlich. Sie hat das letzte Jahr bei ihm gewohnt. Eine
Prostituierte, aber Patesse schien genug Geld zu haben, um sie
exklusiv für sich zu haben. Sie hat ihn auch immer mit dem gelben
Lamborghini herumkutschiert, weil er selbst doch nach diversen
Verfahren nicht mehr fahren durfte.«
»Wir haben sie ermordet in der Badewanne gefunden.«
Jabon zog die Augenbrauen zusammen.
»Wann ist das geschehen?«
»Vermutlich heute Morgen.«
»Da stand für eine Weile ein Ford Maverick vor dem Haus. Ich
habe leider nicht gesehen, wer drin saß. Schließlich sitze ich ja
nicht den ganzen Tag am Fenster und beobachte Leute.«
»Natürlich nicht.«
»Und dann ist noch etwas merkwürdig. Vor zwei Tagen kam ein
Transporter, und es wurde jede Menge persönlicher Besitz
weggeschafft. Keine Möbel oder dergleichen – nur Kleidung, Bücher –
der ganze Kleinkram eben.«
»Wer hat den Leuten die Tür aufgemacht?«
»Madame Rivage. Da bin ich mir sicher.« Er grinste. »Die
übersieht man nicht. Von Monsieur Patesse war schon seit Tagen
nichts mehr zu sehen. Ich wette, der wollte untertauchen, weil er
befürchten musste, dass schließlich doch noch jemand einen
juristischen Dreh findet, um ihn dahin zu bringen, wo er schon
lange hingehört hätte – ins Gefängnis nämlich!«
10
Am nächsten Morgen trafen sich alle Kollegen, die zurzeit an
dem Fall arbeiteten, im Büro unseres Chefs zur Besprechung.
Außer uns waren das die Kollegen Stéphane Caron und Boubou
Ndonga sowie die Erkennungsdienstler Jean-Luc Duprée und Pascal
Montpierre.
Kollege Maxime Valois aus der Fahndungsabteilung unseres
Innendienstes verspätete sich etwas, da er offenbar mit der
Vorbereitung eines Dossiers für die beteiligten Kollegen nicht
rechtzeitig fertig geworden war.
Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police,
der Leiter unserer Sonderabteilung, der FoPoCri Ermittlungsgruppe
der Sûreté in Marseille, informierte uns über neue Erkenntnisse im
Mordfall Patesse.
»Der Ford Maverick, den dieser pensionierte Commissaire
gesehen hat, ist identisch mit dem Fahrzeug, das der Mörder von
Patesse benutzt hat«, erklärte unser Chef. »Das beweist die
Auswertung der Reifenspuren. Außerdem hat sich Commissaire Jabon
die Nummer aufgeschrieben. Das Kennzeichen ist falsch. Maxime und
seine Abteilung gehen im Moment die Liste der als gestohlen
gemeldeten Fahrzeuge dieses Typs durch. Es könnte durchaus sein,
dass wir da fündig werden.« Monsieur Marteaus Gesicht wurde sehr
ernst. Er wandte sich an Maxime Valois. »Der Fall Patesse könnte
durchaus in einem größeren Zusammenhang stehen. Maxime hat ein
Dossier für Sie vorbereitet und wird Sie jetzt über alles Weitere
informieren. Bitte, Sie haben das Wort!«
Maxime nickte.
»Vor ein paar Tagen wurde im Étang de Berre bei
archäologischen Grabungen Überreste einer Leiche aus dem Sumpf der
Uferregion geborgen, die zweifelsfrei nicht von einem Menschen aus
der Zeit des Spätpaläolithikum stammt, sondern eine Zahnbehandlung
bekommen hat und außerdem ein künstliches Hüftgelenk besaß, wie man
es vor etwa zwanzig Jahren verwendete. Über die Seriennummer des
Hüftgelenks konnten die Kollegen der örtlichen Polizei schnell
herausbekommen, dass es sich bei dem Toten um niemand anderen als
Armand Lafontaine handelt – der Mafia-Boss, von dem wir alle
annahmen, dass er seit zehn Jahren an einem sonnigen Plätzchen
seine illegal erwirtschafteten Reichtümer genießt. Was den
Todeszeitpunkt angeht, so steht im gerichtsmedizinischen Gutachten,
dass der Grad der Verwesung nahe legt, dass Armand Lafontaine
bereits starb, kurz nachdem er vor zehn Jahren untertauchte – und
nicht etwa später inkognito zurückkehrte.«
»Patesse hat sich kurz nach Lafontaines Untertauchen aus dem
Geschäft zurückgezogen«, gab Stéphane zu bedenken. »Gibt es da
vielleicht irgendeinen Zusammenhang?«
»Das liegt nahe«, erklärte Maxime. »Lafontaine war die Justiz
wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Verabredung zum Mord auf
den Fersen. Entscheidend war dabei der letzte Anklagepunkt.
Lafontaine hätte lebenslänglich hinter Gitter kommen können, und da
hat er es vorgezogen zu verschwinden. Diese Anklage beruhte
hauptsächlich auf der Aussage von Tom Beltoire, einem im Gefängnis
einsitzenden Mafia-Killer. Beltoire gab zu, in Lafontaines Auftrag
einen Konkurrenten im Drogengeschäft aus dem Weg geräumt zu
haben.«
»Könnte es sein, dass da vor zehn Jahren im
Lafontaine-Syndikat eine Palast-Revolution vonstatten ging und der
große Boss ins Abseits gedrängt werden sollte?«, fragte Monsieur
Marteau.
»Das ist zumindest nicht ausgeschlossen«, nickte Maxime.
»Wer hat die Geschäfte von Lafontaine damals übernommen?«,
fragte ich.
»Sein Neffe Jacques Briand. Wenn jemand vom Tod – oder dem
Verschwinden – Lafontaines profitiert hat, dann war er es.«
»Ich wette, Rolly Patesse wusste genau darüber Bescheid, was
damals abgelaufen ist«, war Stéphane überzeugt. »Aber leider ist er
nicht mehr dazu gekommen, es uns zu verraten.«
Monsieur Marteau wandte sich an Stéphane: »Ich möchte, dass
Sie und Boubou in Patesses Umfeld herumstochern. Dass es einen
Zusammenhang mit Lafontaines Tod gibt, liegt nahe – aber im Moment
sind das alles nur Vermutungen.«
»Patesses private Sachen wurden ja schließlich vor Kurzem
abtransportiert. Ich werde mich mal darum kümmern, wo das alles
geblieben ist.«
»Vielleicht finden wir da ein paar Hinweise«, ergänzte
Boubou.
»Und vergessen Sie das Umfeld von Vera Rivage nicht!«, gab
Monsieur Marteau zu bedenken. »Rolly Patesse hat ihr zumindest
soweit vertraut, dass er sie beauftragte, sein Haus zu verkaufen.
Es kann also gut sein, dass sie noch viel mehr über ihn wusste und
das anderen gegenüber auch geäußert hat.«
»Wenn Sie mich fragen, hat Patesse die Kleine wie einen
Minenhund vorgeschickt, weil er genau wusste, dass seine Feinde bei
ihm zu Hause in Bompard auftauchen würden«, vermutete Pascal
Montpierre. »Ein skrupelloser Typ!«
»Für uns aber im Moment in erster Linie ein Mordopfer«,
stellte Monsieur Marteau klar. »Und das bedeutet, wir werden mit
derselben Energie und Sorgfalt ermitteln wie in jedem anderen Fall
auch.« Unser Chef wandte sich an François und mich. »Für Sie beide
habe ich einen Termin im Gefängnis gemacht. Monsieur Beltoire will
nur in Begleitung seines Anwalts befragt werden, was die Sache
etwas komplizierter macht.« François und ich nickten. »Und dann
möchte ich, dass Sie sich Jacques Briand vornehmen! Ich bin
gespannt, was er dazu zu sagen hat, dass sein Onkel plötzlich im
Étang de Berre aufgetaucht ist.«
11
Der Grauhaarige lenkte mit der linken Hand den Maverick durch
den Autobahntunnel. Die Rechte spielte mit dem Goldkreuz auf seiner
Brust.
Es gibt keinen Grund, nervös zu werden, versuchte er sich
einzureden. Alles lief doch wie geschmiert!
Rolly Patesse war gerade noch rechtzeitig ausgeschaltet
worden, bevor er sich ausführlich mit der FoPoCri unterhalten
konnte.
Im Radio lief Country Musik.
Mit französischen Texten.
Der Grauhaarige summte mit. Seine Singstimme verfügte
allerdings nur über einen tiefen und einen ganz tiefen Ton. Das
Ergebnis war ziemlich dissonant.
Nachdem er den Tunnel passiert hatte, fuhr er Richtung Süden.
Nach ein paar Kilometern erreichte er einen Parkplatz, bog ab und
stoppte den Wagen. Auf dem Beifahrersitz lag eine Golftasche, in
der er ein Spezialgewehr mit Laserzielerfassung verstaut hatte. Das
nahm er an sich, stieg aus und schloss ab.
Eigentlich schade um den Wagen!, dachte er. Ich hätte ihn
gerne länger behalten …
Aber das Risiko war einfach zu groß.
Er nahm die Tasche mit der Linken über den Rücken, zupfte an
dem Goldkreuz herum und ging auf einen unscheinbaren Toyota zu, der
ein paar Meter entfernt geparkt war. Die Tasche mit dem Gewehr
verstaute er im Kofferraum. Dann setzte er sich ans Steuer und
griff nach seinem Handy. Natürlich ein Prepaid-Gerät, damit sich
der Gesprächskontakt später nicht nachweisen ließ.
»Alles erledigt«, sagte er einfach, als am anderen Ende der
Leitung jemand abnahm.
12
Inzwischen lag der ballistische Bericht vor. Marcel Hollande,
unser Chefballistiker, schneite in das Dienstzimmer, das François
und ich uns teilten.
»Patesse und die Frau sind mit demselben Kaliber, aber mit
verschiedenen Waffen getötet worden«, sagte Marcel. »Vera Rivage
wurde mit einer Automatik mit Schalldämpfer in den Kopf geschossen.
Es gibt zweierlei Riefen, also besteht an der Verwendung eines
Schalldämpfers kein Zweifel. Das Projektil, das Rolly Patesse
getötet hat, wurde jedoch mit Sicherheit aus einem Gewehr
abgefeuert. Vermutlich eine Spezialanfertigung. Beide Waffen sind
leider bisher nicht aktenkundig.«
»Ein Profi!«, lautete François‘ Schluss. »Aber das haben wir
ja ohnehin schon vermutet.«
»Zwei Morde an einem Tag – und er hat immer die richtige Waffe
dabei. Das ist auch nicht alltäglich«, meinte ich.
Eine halbe Stunde später erfuhren wir von unserem Kollegen
Maxime Valois, dass der Ford Maverick höchstwahrscheinlich einem
Mann aus La Plaine gestohlen worden war. Allerdings konnte dieser
keine weiteren sachdienlichen Angaben machen.
Unser Termin im Gefängnis ließ uns Zeit genug, um in der
Mittagszeit noch einen Snack zu nehmen. Wir kauften uns einen Hot
Dog ganz in der Nähe der Dienststelle. Zurück schlenderten wir
jeder mit einem Hot Dog in der Hand durch den Park.
»Ich bin mal gespannt, ob Beltoire heute den Mund aufmacht«,
sagte François.
»Und ich bin gespannt, wer sein Anwalt ist und ihn bezahlt«,
gab ich zurück.
»Du meinst, da hat jemand Angst, dass Monsieur Beltoire etwas
Verkehrtes sagt?«
»Natürlich! Monsieur Beltoire selbst hat doch nichts mehr zu
verlieren. Er ist an einer lebenslänglichen Haftstrafe nicht
vorbeigekommen und sitzt ohne Aussicht auf Bewährung. Wozu braucht
der einen Anwalt, wenn er mit uns redet?«
Zehn Minuten später saßen wir im Sportwagen und fuhren
Richtung Norden, um unseren Termin im Gefängnis wahrzunehmen.
Wir trafen Tom Beltoire in einem karg eingerichteten
Verhörraum. Er war ein Hüne von fast zwei Metern mit breitem
Gesicht und kurz geschorenen Haaren. Die Unterarme waren voller
Tätowierungen. Er trug Hand- und Fußfesseln.
»Ich denke, die können Sie abnehmen«, wandte ich mich an einen
der Wachleute.
»Der Letzte, der das gesagt hat, war sein Psychologe und der
liegt jetzt mit gebrochenem Rückgrat im Krankenhaus«, erwiderte der
Wachmann. »Monsieur Beltoire neigt nämlich zu einem aufbrausenden
Temperament.«
»Er wurde provoziert«, mischte sich ein kleiner,
dunkelhaariger Mann im kobaltblauen Dreiteiler ein, der sich als
Letzter in den Raum gedrängt hatte. Er gab mir die Hand und drückte
sie übertrieben fest.
»Fernand Revlain von Revlain, Cranmer & Partners,
Marseille. Ich vertrete Monsieur Beltoire.«
»Freut mich Sie kennenzulernen. Ich bin Pierre Marquanteur und
dies ist mein Kollege François Leroc. Für Ihren Mandanten steht
hier nichts auf dem Spiel, wie Sie bedenken sollten!«
Revlain grinste raubtierhaft und entblößte dabei zwei Reihen
weiß blitzender und völlig gleichmäßiger Zähne.
»Wollen Sie mir jetzt etwa vorschlagen, meine Arbeit nicht so
gut wie möglich zu machen …«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Dann ist es ja gut!«
Wir setzten uns.
»Hängen Sie mir ruhig noch etwas an, wenn Sie wollen!«,
knurrte Beltoire. »Früher dachte ich, es sei ein Erfolg meines
Anwalts, die verschärfte Haftstrafe abzuwenden – heute denke ich,
es ist sowieso egal.«
»Dieses Problem sollten Sie mit Monsieur Revlain besprechen«,
schlug ich vor. »Sie haben seinerzeit vor Gericht zugegeben, im
Auftrag von Armand Lafontaine einen Mord begangen zu haben.«
»Richtig. Die Kanaille, die ich niedergemacht habe, hieß Lee
Kim – ein mieser koreanischer Drogenbaron. Die Justiz hätte mir
eigentlich dankbar sein sollen, dass ich den aus dem Verkehr
gezogen habe.«
»Monsieur Marquanteur, ich weiß nicht, wohin diese Befragung
führen soll«, mischte sich Revlain ein. Es hielt ihn nicht auf
seinem Platz. Er stand auf, ging hin und her und verbreitete
dadurch eine nervöse Atmosphäre. »Wenn Sie versuchen wollen, meinen
Mandanten zu Aussagen zu provozieren …«
»Ich denke nicht, dass sich Ihr Mandant provozieren lässt«,
erwiderte ich und wandte mich Beltoire zu. »Monsieur Beltoire, Ihr
damaliger Auftraggeber wurde im Étang de Berre.«
Das Erstaunen in Beltoires Gesicht schien mir echt zu sein.
Sein breiter Kinnladen fiel herunter und er vergaß für einige
Augenblicke, den Mund wieder zu schließen.
»Ich dachte, Lafontaine hätte es geschafft und sich irgendwo
in den sonnigen Süden oder so abgesetzt. Hier im Gefängnis hört man
ja eine Menge Gerüchte. Und von Grand-Armand hieß es immer, dass er
gerade noch rechtzeitig das Land verlassen hätte. Marokko, glaube
ich! Genau, das war es!« Beltoire lachte heiser. »Ich habe mich oft
bei dem Gedanken schwarz geärgert, dass der feiste Sack seine
Millionen irgendwo am Strand mit einem Gläschen in der Hand
genießt, während ich hier lebenslänglich abbrummen muss. Aber wenn
ich jetzt überlege, dass er in Wahrheit die ganze Zeit in diesem
Wasserloch vor sich hin faulte …« Er verzog das Gesicht. »Will mir
noch gar nicht in den Kopf.«
»Ich denke, Monsieur Beltoire hat gesagt, was er zu dem Thema
zu sagen hat«, machte Revlain erneut einen Versuch, die Befragung
abzubrechen.
Es hing tatsächlich alles von Beltoire ab. Wir hatten keine
Möglichkeit, ihn zu einer Aussage oder gar zur Zusammenarbeit zu
zwingen – und mehr Vergünstigungen, als er schon bekommen hatte,
waren für einen wie ihn nach Lage der Dinge nicht drin.
Aber Tom Beltoire schien heute seinen redseligen Tag zu haben
und gar nicht daran zu denken, der Linie seines Anwalts zu
folgen.
»Hören Sie, Monsieur Commissaire, es ist alles so, wie ich es
damals ausgesagt habe! Armand Lafontaine hat mir 50 000 Euro für
den Mord an Lee Kim gegeben. Dessen Drogenring überschwemmte damals
Marseille mit billigem Stoff und drohte die alteingesessenen Bosse
aus dem Geschäft zu drängen. Ich brauche Ihnen doch wohl nicht zu
erzählen, wie das läuft! Man hat von Grand-Armand erwartet, dass er
etwas tut, bevor das Geschäft völlig ruiniert ist. Und Grand-Armand
ist zu mir gekommen – so war das!« Er lehnte sich zurück und
schüttelte den Kopf. »Ist schon seltsam, dass Sie jetzt nach all
den Jahren seinen Mörder suchen.«
»Wer käme denn da in Frage – Ihrer Meinung nach?«
»Ist das Ihr Ernst? Na, der Clan von Lee Kim natürlich! Diese
Koreaner halten viel auf Familienzusammenhalt. Ich hätte allerdings
nicht gedacht, dass Armand so unvorsichtig ist, dass sie ihn gleich
erwischen.«
»Hatte er weitere Feinde, von denen Sie wissen? Feinde in der
eigenen Organisation zum Beispiel?«
»Mein Mandant wird dazu nichts sagen«, erklärte Revlain.
»Natürlich sage ich was dazu«, rief Beltoire. »Armand
Lafontaine war für alle wie ein Vater! Ein echter Patron, auf
dessen Hilfe man sich verlassen konnte und der außerdem noch dafür
sorgte, dass die Geschäfte gut liefen. Wenn Sie denken, dass ihn
jemand aus den eigenen Reihen in der Versenkung verschwinden lassen
wollte, dann sind Sie auf dem völlig falschen Weg.«
»Ihre Zeit ist um, Monsieur Marquanteur«, brach Revlain das
Gespräch ab. »Wir haben Ihnen nichts mehr zu sagen!«
Monsieur Beltoire hob die Schultern.
»Tja, ich höre wohl besser auf, Monsieur Marquanteur, sonst
versuchen Sie mir am Ende noch irgendetwas anzuhängen und ich
bekomme noch mal lebenslänglich.«
»Ich dachte, das würden Sie bevorzugen – oder war das nur
Gerede?«, fragte François.
»Nein, das ist kein Gerede. Aber meine Schwester braucht mich
noch. Sie ist schwer krank und wird wahrscheinlich bald sterben.
Wie sähe das für sie denn aus, wenn ich mich in meiner Zelle
erhängen oder ein paar weitere Morde gestehen würde, damit ich noch
länger brummen muss? Ich muss ihretwegen am Leben bleiben, weil ich
ihr einziger Halt bin.«
»Sie haben regelmäßig Kontakt zu ihr?«, fragte ich.
»Wir telefonieren, und sie kommt mich besuchen. Krebs bedeutet
nicht unbedingt, dass man nicht mehr laufen kann – aber er bringt
einen trotzdem um.« Monsieur Beltoire erhob sich. »Wenn Sie Jimi
Kim sehen, dann grüßen Sie ihn von mir. Er war damals die Nummer
zwei bei den Koreanern und stand eigentlich auch noch auf meiner
Liste, wenn meine Verhaftung nicht dazwischen gekommen wäre … Sagen
Sie ihm: Tom Beltoire kriegt ihn jetzt doch noch – mit einer
Aussage vor Gericht!« Monsieur Beltoire lachte rau.
Revlain gab erst François und dann mir noch einmal die Hand.
»Sie haben gesehen, dass mein Mandant zu Ihrem Fall
substantiell nichts beitragen kann«, erklärte er. »Ich gehe daher
davon aus, dass dies das letzte Gespräch Ihrerseits mit ihm im
Rahmen Ihrer Ermittlungen ist und wir uns nicht wiedersehen.«
»Man sollte niemals nie sagen«, gab ich zurück.
13
Im Anschluss an das Gespräch ließen wir uns noch von der
Gefängnisleitung die Besucherlisten für Tom Beltoire zeigen. Es gab
darauf – abgesehen von seinem Anwalt – nur einen einzigen Namen:
Marie-Charlotte Beltoire.
»Sie kommt ihn regelmäßig besuchen«, berichtete uns Alexandre
Borne, einer der stellvertretenden Leiter des Gefängnisses.
»Ich sehe, dass auch sein Anwalt, Monsieur Revlain, regelmäßig
auf der Liste erscheint«, stellte François fest. »Bereitet Beltoire
irgendein Wiederaufnahmeverfahren oder dergleichen vor, oder
welchen Grund könnte das haben?«
Borne schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls nicht, dass ich davon wüsste. Das wäre in seinem
Fall wohl auch ziemlich aussichtslos, würde ich sagen.«
»Gibt es Mitgefangene, denen er vielleicht über seine früheren
Kontakte zu Armand Lafontaine etwas gesagt haben könnte?«, hakte
ich nach.
Borne schüttelte abermals den Kopf.
»Jedenfalls nicht seit ich hier bin – also in den letzten fünf
Jahren. Beltoire ist ein sehr schwieriger Gefangener. Sie haben
gesehen, welche Vorsichtsmaßnahmen nötig waren. Er ist vollkommen
unberechenbar und neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen.
Vielleicht gefällt er sich auch nur in der Rolle des Monsters, wer
weiß. Unser Psychologe hat eine Persönlichkeitsstörung
diagnostiziert, die sich im Verlauf der letzten Jahre verstärkt
hat. Aggressionen wechseln mit depressiven Phasen ab … Kurz und
gut: Den Kerl konnte man nur einzeln unterbringen.«
»Dann machen Sie uns trotzdem eine Liste der Zellengenossen,
die er in der Zeit davor hatte«, schlug François vor.
»In Ordnung.«
Nachdem wir wieder im Sportwagen saßen und bereits das Gelände
des Gefängnisses verlassen hatten, telefonierte François per Handy
mit dem Büro. Maxime Valois war am Apparat. Über die
Freisprechanlage konnten wir beide mithören.
»Wir brauchen alles, was es über einen Anwalt namens Fernand
Revlain gibt. Er vertritt Beltoire und wir möchten gerne wissen,
wen noch.«
»Kein Problem, François«, gab Maxime zurück.
14
Jimi Kim stand auf der Terrasse seiner Villa in Marseille La
Villette. Er rief ein scharfes Kommando in koreanischer Sprache.
Zwei Dobermänner, die sich bis dahin auf dem englisch kurz
geschnittenen Rasen um einen Golfball gebalgt hatten, kehrten
hechelnd zu ihrem Herrn zurück. Sie setzten sich einen Meter vor
Jimi Kims Fußspitzen und blickten ihn aufmerksam an. Jimi Kim trat
auf sie zu und kraulte die Hunde am Nacken.
»Leider sind diese Dobermänner so ziemlich die einzigen in
unserer Familie, die noch koreanisch verstehen«, meinte er.
»Das ist der Lauf der Dinge, Monsieur Kim«, sagte der Mann um
die fünfzig, dessen Anzug nicht nur schlecht saß, sondern auch
fleckig und abgenutzt wirkte. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick
um den Hals. Seine Nase war rot, und er roch nach Alkohol.
Jimi Kim schickte die Hunde mit einem weiteren Befehl wieder
auf die Wiese.
»Meine Großmutter kam als junge Frau in den Fünfzigern nach
Marseille – kurz nach dem Korea-Krieg. Sie war schwanger. Meinen
Großvater hatte die Kommunisten in einem ihrer Umerziehungslager zu
Tode gequält, und jetzt musste sie hier ein neues Leben anfangen.
Sie begann als Näherin – unter Bedingungen, die Franzosen wie Sie
schon damals als Sklaverei bezeichnet hätten! Es war ein langer Weg
nach oben, Monsieur Montaigne. Das können Sie mir glauben.« Jimi
Kim drehte sich zu Montaigne um. Sie waren beide etwa fünfzig. Aber
da Kim jede graue Strähne sofort färben ließ, wirkten die beiden
Männer, als ob eine Generation zwischen ihnen liegen würde.
Montaignes Haare waren so grau wie seine Haut. Er wirkte
ziemlich heruntergekommen.
»Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind,
Monsieur Montaigne.«
Montaigne lachte auf.
»Einladung?«, höhnte er. »Sie sind gut! Ich komme morgens nach
durchzechter Nacht nach Hause, und da warteten Ihre Gorillas schon
auf mich und steckten mich kopfüber in eine Limousine! Eine
Einladung nenne ich was anders.«
»Die Begleitumstände, unter denen meine Leute Ihnen
begegneten, mögen etwas unerfreulich gewesen sein, Monsieur
Montaigne …«
»Das ist aber sehr nett ausgedrückt!«
»… aber das hat auch etwas damit zu tun, dass Sie nicht so
recht ansprechbar waren.«
»Ich hatte getrunken – aber noch ist das erlaubt, auch wenn
ich befürchte, dass es irgendwann so kommen wird wie beim Rauchen
und man sich in irgendeine Ecke zurückziehen muss, nur um ein Bier
zu trinken.« Montaigne gähnte.
Er hatte in einem von Jimi Kims luxuriös ausgestatteten
Gästezimmern seinen Rausch ausgeschlafen. Auf die Möglichkeit, eine
Dusche zu nehmen, hatte er allerdings verzichtet. Er wollte wissen,
was der Nachfolger des gtoßen Drogenbarons Lee Kim von ihm
wollte.
»Es war übrigens gar nicht so einfach, Sie aufzuspüren«,
gestand Jimi Kim. »Mir scheint, Sie haben sich aus dem Geschäft
zurückgezogen.«
»Das ist richtig.«
Jimi Kim hob die Augenbrauen.
»Sie waren mal ein Passfälscher mit einem legendären
Ruf!«
Montaigne lachte heiser.
»Ja«, bestätigte er. »Ich war ganz gut im Geschäft. Aber die
technische Entwicklung ist über mich hinweggegangen. Ich habe da
irgendwie den Anschluss verpasst. Aber ich denke nicht, dass Sie
mich haben kidnappen lassen, um mit mir über alte Zeiten zu
plaudern.«
»Kidnappen – was für ein hässliches Wort, Monsieur Montaigne.
Sie können gehen, wann immer Sie wollen. Aber ich dachte, es wäre
Ihnen angenehmer, wenn mein Fahrer Sie nach Hause bringt. Und da
Ihre finanzielle Situation im Moment nicht gerade die Beste ist,
dachte ich, Sie wären vielleicht daran interessiert, etwas
dazuzuverdienen.«
Montaigne wirkte sofort etwas wacher und aufmerksamer.
»Was muss ich dafür tun? Wenn Sie eine Fälscher-Arbeit von mir
haben wollen, kann ich Sie nur warnen. Die Qualität wäre miserabel.
Ich bekomme noch nicht einmal mehr einen dieser modernen
Führerscheine richtig hin.«
»Keine Sorge, ich will Informationen von Ihnen.«
»Alte Freunde verrate ich nicht.«
»Sie sollen niemanden verraten, und soweit ich weiß, war der
Mann, um den es geht, auch nicht gerade Ihr Freund.« Jimi Kim
deutete auf die Sitzecke. »Nehmen Sie Platz! Wir besprechen das in
aller Ruhe.«
Montaigne zögerte.
Ein drahtiger Leibwächter in dunklem Rollkragenpullover und
einer Automatik im Schulterholster rückte Montaigne einen Stuhl
zurecht.
»In Ordnung«, sagte Montaigne, setzte sich und schlug die
Beine übereinander.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen erst etwas zu trinken
anbiete, wenn unser Gespräch beendet ist«, sagte Jimi Kim mit einem
maskenhaften Gesicht, das vollkommen regungslos blieb.
Er schnippte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Der
Leibwächter verneigte sich, verschwand für kurze Zeit im Haus und
kam einen Augenblick später mit einer Zeitung wieder, die er vor
Montaigne auf den Tisch legte.
MAFIA-BOSS IM ÉTANG DE BERRE!, stand dort in großen Lettern
und etwas kleiner darunter: Die von Archäologen entdeckte Leiche im
Étang de Berre wurde identifiziert.
»Ich weiß nicht, ob Sie das bei Ihrem Alkoholpegel überhaupt
mitbekommen haben – aber unser gemeinsamer Feind Grand-Armand
Lafontaine ist aus der Versenkung gestiegen – und darüber sollten
wir uns vielleicht mal unterhalten.«
Montaigne war blass geworden. Er starrte auf die Schlagzeile
und eine tiefe Furche erschien dabei mitten auf seiner Stirn,
während er angestrengt zu lesen begann.
15
Jacques Briand bewohnte zwei Traumetagen in Malmousque mit
zusammen mehr als vierhundert Quadratmetern. Gleichgültig, ob er
Eigentümer oder Mieter war – diese Wohnung musste ein Vermögen
verschlingen.
Der Sicherheitsstandard war so hoch, wie man ihn sich in allen
Regierungsgebäuden gewünscht hätte. Es gab eine lückenlose
Kamera-Überwachung aller nicht-privaten Räume und einen zahlenmäßig
sehr gut besetzten Sicherheitsdienst, der überall im Haus ständig
Präsenz zeigte.
Jacques Briand empfing uns in seinem Wohnzimmer. Von der
Fensterfront aus hatte man einen traumhaften Blick auf das Meer und
den davor liegenden kleinen Strand.
Briand war 45, dunkelhaarig und schlank. Sein
maßgeschneiderter Anzug hatte mehr gekostet, als ein Polizist in
zwei Monaten verdiente. Am Handgelenk glitzerte eine Rolex.
Unseren Informationen nach hatte Briand vor zehn Jahren nach
Grand-Armand Lafontaines Verschwinden die Nachfolge seines Onkels
angetreten. Anscheinend gingen die Geschäfte nicht schlecht.
Wir stellten uns kurz vor und zeigten Briand unsere
Dienstausweise, aber daran war er nur mäßig interessiert.
»Ich nehme an, Sie sind wegen des Leichenfundes im Étang de
Berre hier«, sagte er. »Wie üblich gibt es undichte Stellen im
Polizeiapparat, die dafür sorgen, dass das Ganze in der Presse
breitgetreten wird.«
»Sie sagen das, als ob diese Leiche Sie gar nichts anginge«,
gab ich meiner Verwunderung Ausdruck.
Jacques Briand zuckte mit den Schultern.
»Ich persönlich bin noch lange nicht überzeugt davon, dass es
sich bei den Knochen, die dort gefunden wurden, tatsächlich um die
sterblichen Überreste meines Onkels handelt. Aber da wird sich die
Wahrheit sicher am Ende zweifelsfrei herausstellen.«
»In diesem Punkt gibt es keine Zweifel mehr«, korrigierte ich
ihn. »Die Seriennummer des Hüftgelenks ist eindeutig Ihrem Onkel
zuzuordnen. Das einzige, worüber es jetzt noch Spekulationen geben
kann, ist die Frage, wie und von wem Armand Lafontaine getötet
wurde.«
»Eigentlich müsste es doch auch in Ihrem Interesse liegen, den
Fall aufzuklären und mit uns zusammenzuarbeiten«, warf François
ein.
Briand atmete tief durch.
»Ich mache Ihnen persönlich keine Vorwürfe, Monsieur
Marquanteur, weil ich nicht weiß, ob Sie selbst überhaupt etwas
damit zu tun hatten. Aber es ist doch so: Jahrelang hat die Justiz
meinen Onkel wegen seiner völlig legalen Geschäfte grundlos
verfolgt. Ihm wurden Vorwürfe gemacht, die sich vor Gericht jedes
Mal als nicht haltbar erwiesen …«
»… weil Zeugen plötzlich Angst bekamen und es sich anders
überlegt haben«, warf François ein.
»Sie unterstellen, dass Onkel Armand die Justiz beeinflusst
hat – aber haben Sie schon mal in Betracht gezogen, dass hinter
diesen Machenschaften vielleicht Leute steckten, die Onkel Armand
einfach nur geschäftlich ins Abseits drängen wollten?«
»Es geht hier nicht um die Fehler der Justiz«, wandte ich ein.
»Die konnte Monsieur Lafontaine leider lange Zeit nichts
nachweisen, aber …«
»Und deshalb hat man dann in den Steuersachen herumgewühlt.
Seien Sie doch mal ehrlich: Können Sie dafür garantieren, dass alle
Ihre Angaben richtig waren? Ich bin sicher, es gibt niemanden, in
dessen Steuerklärung man nicht irgendein Haar finden könnte. Das
grenzt doch alles an Schikane, und am Schluss glaubt man dann
bereitwillig der Aussage eines Lohnkillers, der nichts mehr zu
verlieren hat und wahrscheinlich um irgendwelcher Vorteile willen
einen Eid auf alles Mögliche ablegen würde!«
»Also erst mal ging es der Steuerfahndung nicht um
irgendwelche Kleinigkeiten, sondern um Geldwäsche – und die gehört
zum organisierten Verbrechen«, entgegnete ich ihm. »Wir verfolgen
die Schuldigen am Tod Ihres Onkels so wie jeden anderen Verbrecher,
aber wenn Sie uns dabei helfen wollen, dann geht das nur mit einem
Mindestmaß an Aufrichtigkeit. Sie schaden Ihrem Onkel Armand nicht
mehr damit, wenn Sie zugeben, dass er alles andere als ein Engel
war.«
»Tatsache ist, dass er damals in die Enge getrieben wurde, so
dass ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb, als ins Ausland zu
flüchten.«
»Wo er offenbar nie ankam!«, unterbrach François.
»Ja, weil ihn wohl einer seiner Feinde zuerst
erwischte.«
»Sprechen wir über die Feinde, die Ihr Onkel damals hatte!«,
forderte ich. »Wenn Sie darüber etwas wissen, dann ist jetzt der
Zeitpunkt, um es uns zu sagen.«
»Nur noch eins: Es konnte nie wirklich nachgewiesen werden,
dass dieser Killer tatsächlich in Onkel Armands Auftrag handelte,
als er Lee Kim umbrachte.«
»Jedenfalls wird Armand Lafontaine deswegen jetzt wohl niemand
mehr vor Gericht stellen«, wich ich aus.
»Es konnte noch nicht einmal schlüssig bewiesen werden, dass
dieser Monsieur Beltoire tatsächlich der Killer war, der Lee Kim
ermordete. Ich habe mir die Akten damals wieder und wieder
angesehen. Die materiellen Beweise waren höchst dürftig. Und wenn
es dieses Geständnis nicht gegeben hätte, wäre vielleicht damals in
eine andere Richtung ermittelt worden.«
Ich sah es als nicht besonders ergiebig an, mit Jacques Briand
weiter darüber zu diskutieren, ob es nun tatsächlich einen
Mordauftrag an Beltoire gegeben hatte oder nicht.
Die Heftigkeit, mit der er seinen Onkel verteidigte, wunderte
mich allerdings. Sie schien mir nicht ganz verhältnismäßig zu
sein.
»Sie sprachen von den Feinden Ihres Onkels.«
»Wenn er damals ermordet wurde, kommt in erster Linie Jimi Kim
dafür infrage. Ich meine, nach dem, was die Polizei für einen
Zinnober veranstaltet hatten, musste der doch glauben, dass Onkel
Armand tatsächlich für den Tod seines Vaters verantwortlich war.
Außerdem konnte er sich so unter seinen eigenen Leuten Respekt
verschaffen.«
»Andererseits hat Ihr Onkel doch wahrscheinlich alles getan,
um nicht gefunden zu werden«, wandte ich ein. »Gab es Verräter
unter seinen Leuten, die ihn vielleicht an Kim verraten
haben?«
»Da kann man nie sicher sein, Monsieur Marquanteur. Das wissen
Sie doch auch …«
»Was ist mit seinem näheren Umkreis?«, fragte ich. »Seine Frau
zum Beispiel?«
»Tante Ava? Wollen Sie diese herzensgute Frau wirklich des
Mordes verdächtigen? Sie sind verrückt!«
»Eigentlich wüsste ich nur gerne, wo sie geblieben ist,
Monsieur Briand. Unseren bisherigen Informationen nach ist sie
ihrem Mann ins Ausland gefolgt.«
Briand nickte. Er ging zum Fenster, blickte hinaus und
verschränkte die Arme vor der Brust. Dann drehte er sich abrupt um.
»Sehen Sie, ich hatte zu beiden ein sehr enges Verhältnis.
Meine eigene Mutter starb bei einem Verkehrsunfall, als ich
dreizehn war, und Tante Ava war für mich zeitweise so etwas wie ein
Ersatz.«
»Dann haben Sie Kontakt zu ihr gehalten?«, hakte ich
nach.
Er machte eine ruckartige Bewegung. Sein Blick fixierte mich.
»Nein, natürlich nicht. Genauso wenig wie zu Onkel Armand. Ich
meine, bis vor Kurzem ging ich ja davon aus, dass beide irgendwo
ein glückliches Leben führen.«
»In Marokko.«
»Ich sehe, Sie sind gut informiert, Monsieur Marquanteur.« Er
fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Blick zeigte jetzt
einen Ausdruck von Trauer. Eine Furche bildete sich mitten auf der
Stirn. Er presste die Lippen zusammen. »Wenn ich gerade etwas
unwirsch zu Ihnen war, dann liegt das daran, dass ich im Grunde
nicht wahrhaben will, dass diese beiden Menschen tot sind, die für
mich so viel bedeutet haben.«
»Die beiden?«, echote ich.
»Nachdem Onkel Armand eindeutig identifiziert wurde, muss ich
doch jetzt annehmen, dass auch Tante Ava ihren Zufluchtsort in
Marokko nie erreicht hat. Oder klingt das abwegig?«
»Leider nicht«, gab ich zu.
»Onkel Armand führte die Geschäfte unserer Familie in einer
anderen Zeit und mit anderen Methoden«, gab er schließlich
zu.
»Sie meinen: verbrecherische Methoden?«
»Sagen wir – mit harten Bandagen. Wir haben damals auch
deswegen ausgemacht, dass der Kontakt zwischen uns völlig
abgebrochen wird, um die beiden zu schützen. Vor dem Zugriff der
Justiz waren sie in Marokko sicher – aber nicht davor, dass jemand
sie verfolgt, um eine alte Rechnung zu begleichen.«
»Womit wir wieder bei den Kims wären!«
»Richtig. Nehmen Sie Jimi Kim und seine Sippe am besten sehr
genau unter die Lupe! Allerdings …«
»Ja?«
»Mir fällt da noch eine andere Sache ein, da wir gerade von
Onkel Armands Feinde sprechen. Er war damals ja ziemlich in
Bedrängnis und brauchte eine gefälschte Identität, um das Land
verlassen zu können. Dies ist doch kein offizielles Verhör
oder?«
»Es verlangt niemand von Ihnen, dass Sie sich selbst
belasten«, erwiderte ich.
»Gut, was ich nun sage, werde ich vor keinem Gericht
wiederholen und sofort abstreiten, wenn es diese vier Wände
verlässt.« Er trat auf mich zu, zögerte noch einen Augenblick und
sagte dann: »Ich bin bislang nicht einmal vorbestraft und möchte,
dass es so bleibt!«
»Reden Sie schon! Wir suchen einen Mörder.«
»Ich bekam den Auftrag, den besten Mann dafür zu engagieren.
Außerdem musste es jemand sein, der keinen Kontakt zu den Kims
hatte, und da die ihre Finger in fast jedem Geschäft haben, war das
schwierig. Ich sprach einen gewissen Marc Montaigne an. Aber der
wollte nicht für uns arbeiten. Die Sache war ihm zu heiß.«
»Was haben Sie getan?«
»Nichts weiter als ein persönliches Treffen zwischen den
beiden zu arrangieren. Ich war nicht dabei, aber anschließend war
Monsieur Montaigne plötzlich sehr kooperativ.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Sie meinen, Armand Lafontaine hat diesen Monsieur Montaigne
irgendwie unter Druck gesetzt?«
»Grand-Armand war der bestinformierte Mann Marseilles,
Monsieur Marquanteur. Der hatte Quellen, von denen Sie nicht einmal
etwas ahnen. Ich nehme also an, dass er etwas gefunden hat, mit dem
er Monsieur Montaigne erpressen konnte. Was das war, weiß ich
nicht. Aber es muss wichtig genug gewesen sein, um einem Mann zu
helfen, der von der Justiz gejagt wurde, und es wäre dann doch
logisch, wenn er Onkel Armand aus dem Weg geräumt hätte, um zu
verhindern, dass er selbst in den Fokus der Ermittlungen
gerät.«
Ich wechselte einen kurzen Blick mit François. Irgendetwas
brannte ihm noch auf der Seele, das konnte ich ihm ansehen.
»Wo finden wir diesen Monsieur Montaigne?«, fragte ich an
Briand gerichtet.
»Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er sein
Geld in eine Diamantenmine in Südafrika investiert hat und auch
dorthin gezogen ist. Aber das ist Jahre her.« Er zuckte mit den
Schultern. »Mehr kann ich leider nicht für Sie tun, aber ich wäre
Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich über den Fortgang Ihrer
Ermittlungen auf dem Laufenden halten würden.«
»Das werden wir ganz sicher«, erwiderte ich.
»Eine Frage noch«, mischte sich François ein. »An Ihrer Hand
sehe ich einen Ehering. Ist Ihre Frau zufällig gerade zu
Hause?«
»Sie hat mit der Sache nichts zu tun.«
»Seit wann sind Sie verheiratet?«
»Seit zwölf Jahren.«
»Dann nehme ich an, dass Sie mit Armand und Ava Briand auch
bekannt waren, wenn Sie sich so nahe standen. Damit ist Ihre Frau
eine Zeugin.«
Jacques Briands Gesicht veränderte sich. Es wurde dunkelrot.
Offenbar hatte François einen Nerv getroffen.
»Wir leben seit einem Jahr getrennt. Ich kann Ihnen die
Marseiller Adresse aufschreiben, aber Sie werden meine Frau dort
kaum antreffen. Dreiviertel des Jahres verbringt sie an der Côte
d’Azur in Nizza und Monte Carlo und gibt dort mein sauer verdientes
Geld aus.«
16
Wir kehrten zur Dienststelle zurück und trafen uns mit Maxime
Valois, der inzwischen alles zusammengetragen hatte, was es über
Fernand Revlain und die Anwaltskanzlei herauszufinden gab, der er
angehörte.
»Ich habe nach Verfahren gesucht, an denen diese Kanzlei in
den letzten zehn Jahren beteiligt war«, berichtete Maxime.
»Jedenfalls ist Revlain keiner dieser typischen Mafia-Anwälte. Die
Strafverfahren, in denen er die Vertretung übernommen hat, hatten
kaum Berührungspunkte mit der organisierten Kriminalität. Bis auf
einen Fall.«
»Worum ging es da?«