16 Uhr 50 ab Ellingen (eBook) - Sigrun Arenz - E-Book

16 Uhr 50 ab Ellingen (eBook) E-Book

Sigrun Arenz

0,0

Beschreibung

Schreittänze, Männer in Kniebundhosen und verrückte Jane-Austen-Fans – Reporter Markus Wieland ist wenig begeistert, als er erfährt, dass seine nächste Reportage ihn in ein altes fränkisches Schlosshotel führen wird, in dem ein historischer Winterball im Stil der englischen Regency-Zeit stattfinden soll. Aber zwischen Pompadour, komplexen Schrittfolgen und Kutschfahrten im Schnee kristallisieren sich jede Menge Spannungen heraus: Eifersucht, Konkurrenzkämpfe und Lügen verbergen sich hinter Fächern und Small Talk, und bald kommt es ihm vor, als ob fast jeder ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt. Und als dann auch noch eine Leiche gefunden wird, sieht sich der Reporter mit der Frage konfrontiert, welches dieser Geheimnisse tödliche Folgen hatte – und ob es ihm gelingen wird, die Fäden zu entwirren, ehe eine weitere Tragödie droht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 406

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franken meets Agatha Christie

Markus Wieland ist wenig begeistert, dass ihn seine neueste Reportage in ein altes fränkisches Schlosshotel führt, in dem ein Winterball im Stil der englischen Regency-Zeit stattfinden soll. Aber zwischen verrückten Jane-Austen-Fans, Männern in Kniebundhosen und Kutschfahrten im Schnee kristallisieren sich schnell Spannungen heraus: Eifersucht, Konkurrenzkämpfe und Lügen verbergen sich hinter Fächern und Small Talk, und bald kommt es ihm und seiner Kollegin Elif Aydin so vor, als hätte jeder ein dunkles Geheimnis. Als dann eine Leiche gefunden wird, sehen sich die beiden mit der Frage konfrontiert, welches dieser Geheimnisse tödliche Folgen hatte – und ob es ihnen gelingen wird, die Fäden zu entwirren, ehe eine weitere Tragödie geschieht …

Sigrun Arenz

16

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage November 2021)

© 2021 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Lektorat: Tanja Böhm

Covergestaltung: © Dorina Tessmann

Datenkonvertierung eBook: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach

eISBN 978-3-7472-0303-3

16Uhr

Prolog

Aufforderung zum Tanz

»Ich betrachte einen Tanz als Sinnbild für die Ehe. Treue und Verbindlichkeit sind in beiden Fällen die wichtigsten Pflichten beider Parteien; und diejenigen Männer, die sich entscheiden, selber nicht zu tanzen oder zu heiraten, sollten nichts zu schaffen haben mit den Partnerinnen oder Ehefrauen ihrer Mitmenschen.«

»Aber es handelt sich um so unterschiedliche Dinge! Zwei Menschen, die heiraten, können sich nie wieder trennen und müssen im selben Haus wohnen. Wenn man miteinander tanzt, steht man sich lediglich eine halbe Stunde lang in einem großen Saal gegenüber.«

»Sie müssen aber doch zugeben, dass in beiden Fällen der Mann das Privileg der Wahl hat, die Frau nur die Freiheit, nein zu sagen; dass es sich in beiden Fällen um eine Verbindung handelt, die zum gegenseitigen Nutzen eingegangen wird und dass man verpflichtet ist, dem anderen keinen Grund zu dem Wunsch zu geben, sich für jemand anderen entschieden zu haben.«

Jane Austen, Northanger Abbey

Schon die Aufforderung zum Tanz bietet Gelegenheit zu einer Menge Chaos.

Und da ist von Konkurrenz, Geheimnissen und Mord noch nicht einmal die Rede.

Die Musiker spielten auf, und die Dame im langen Kleid sank in einen eleganten Knicks, während der Mann, der ihr gegenüberstand, sich verbeugte. Die beiden reichten sich die behandschuhten Hände und schritten zwischen dem nächsten Paar hindurch. Unter ihren zierlichen Schuhen glänzte das alte Parkett des großen Tanzsaals wie neu.

»Fuck, Johannes, das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!«, rief Markus Wieland aus.

Sein Kollege beugte sich nach vorn zum Bildschirm und drückte auf Pause. Die Musik verstummte, und die Tänzer erstarrten in der Bewegung.

»Warum nicht?«, gab Johannes ungerührt zurück. »Das passt super in die Reihe über Hobbys und Sportarten in Franken. Du nimmst Kontakt mit einer dieser Gruppen in der Gegend auf, schaust dir das Ganze an, und wir machen einen netten kleinen Beitrag darüber.«

Er ließ den Youtube-Film weiterlaufen. Auf dem Bildschirm »sprangen« gerade mehrere Leute im Kreis herum, ehe die Männer und Frauen wieder in die ursprünglichen Reihen zurückkehrten. »Netter kleiner Beitrag, na klar«, grummelte Markus. »Mittelalterliches Rumgehüpfe – das wird der Knaller!«

Johannes lachte auf. »Komm schon, hab dich nicht so, wir müssen alle Opfer bringen. Ich würde es selbst machen, aber ich bin leider mit dem Bouldern und der Splashdiving-Meisterschaft völlig ausgelastet.«

»Splashdiving?«, fragte Markus in der Hoffnung, dem Thema »Historischer Tanz« für ein paar Minuten zu entfliehen.

»Besser bekannt unter der Bezeichnung ›Arschbombe‹«, antwortete sein Kollege knapp und kehrte direkt zum unbeliebten Gegenstand zurück. »Bei deinem Ausflug in die galante Zeit des englischen Regency Dancing arbeitest du mit Elif Aydin zusammen. Sie macht die Filmsequenzen, du kümmerst dich um die Texte. Ich lasse euch alle Freiheiten, Hauptsache, es kommt etwas Sehenswertes dabei heraus.«

In diesem Moment lief die Praktikantin an ihnen vorbei, und ihr Blick fiel auf die Tänzer und Tänzerinnen. »Oh, wie cool«, rief sie aus. »Wie bei Jane Austen. Wie bei Bridgerton. Ich wusste nicht, dass es so was in echt gibt.« Sie sah die beiden Männer strahlend an. »Ich fänd’s super, wenn wir darüber was machen würden. Ist doch mal was anderes als immer nur Fußball oder Zumba!« Dann eilte sie weiter auf die Kaffeeküche zu. Der Sender versuchte zwar, seine Praktikanten sinnvoll in die Arbeit mit einzubinden, aber faktisch verbrachten sie trotzdem immer noch sehr viel Zeit mit Kaffeekochen. Oder waren die modernen Praktikanten vielleicht einfach überdurchschnittlich koffeinsüchtig? Markus wusste es nicht, und er hatte momentan auch wirklich andere Sorgen.

Johannes grinste ihn triumphierend an. »Siehst du? Das wird super ankommen … zumindest bei den Frauen. Ehrlich gesagt ist meine Frau ein riesiger Fan von Jane Austen. Als sie erfahren hat, dass es hier in Franken Tanzgruppen gibt, die genau diese historischen Tänze lernen, meinte sie, da müssten wir unbedingt was drüber bringen.« Er zuckte die Schultern. »Frauen halt. Hm …«, räusperte er sich. »Das habe ich jetzt natürlich nicht gesagt. Und was auch immer du tust, wenn du dich mit dem Thema befasst, lass die Fans nicht hören, dass du es ›mittelalterliches Rumgehüpfe‹ nennst. ›Regency Dancing‹ oder ›Jane-Austen-Tänze‹ heißt das, okay?«

Markus fügte sich in das Unvermeidliche und holte sein Handy aus der Tasche. »Ich ruf Elif an. Oder hast du ihr schon Bescheid gesagt?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Sie ist momentan unterwegs. Kannst du das mit ihr ausmachen? Ich verlass mich auf euch – ihr macht das schon«, sagte er noch und klopfte Markus auf die Schulter.

Markus verdrehte die Augen und ging ein paar Schritte, um Elif Aydin anzurufen. Sie arbeitete seit zwei Jahren beim Sender, und er hatte schon ein paar Sendungen mit ihr zusammen gemacht. Sie war eine exzellente Kamerafrau und Fotografin und, was in diesem Moment fast noch wichtiger war: eine Frau. »Gut, dass ich dich erwische, Elif«, begann Markus ohne Umschweife, als sie sich meldete. »Johannes hat einen Job für uns. Und ich habe eine Frage: Wer in aller Welt ist Jane Austen?«

Sie hatten ihre Hausaufgaben gemacht, als er und Elif zehn Tage später an einem regnerischen Novembertag in Erlangen aus dem Auto stiegen, um an Magda Schneiders Workshop »Historische Tänze der englischen Regency-Ära« teilzunehmen. Beide hatten sich über die englische Schriftstellerin Jane Austen informiert, deren sechs berühmte Gesellschaftsromane zur Weltliteratur gehörten und unzählige Male verfilmt worden waren. Tatsächlich hatte er sich während seiner Recherchen wieder daran erinnert, dass seine Exfrau Sarah solche Filme angesehen und ihn zu seinem Nachteil mit Alan Rickman oder Colin Firth verglichen hatte. Überhaupt war er durch seine Nachforschungen zu dem Schluss gekommen, dass anscheinend sogar bei den vernünftigsten und emanzipiertesten Frauen der Verstand aussetzte, wenn sie Mr.Darcy mit nassem Hemd aus dem See steigen sahen. Es war fast eine Erleichterung gewesen, dass Elif, als er vom Studio aus angerufen hatte, mit völligem Unverständnis reagiert hatte: »Jane Austen? Sagt mir nichts.«

»Ich wette, bei dem Workshop werden lauter Frauen sein, die alle hoffen, hier ihren ›Mr. Darcy‹ zu finden«, grummelte Markus, als sie die Treppe zum Tanzstudio hinaufstiegen. Immerhin hatte er es sich verkniffen, »verrückte Weiber« zu sagen. Ob Mann wollte oder nicht, seit der #MeToo-Debatte achtete auch er ein bisschen mehr auf seine Wortwahl – eine Tatsache, die seine Exfrau wohl gar nicht bemerkt hätte.

Elif hatte gerade die Tür zum Tanzsaal aufgeschoben, schaute hinein und begann zu lachen. »Ich würde mal sagen, da stehen die Chancen schlecht«, antwortete sie amüsiert.

Magda Schneider verfügte trotz ihres fortgeschrittenen Alters über die gerade Haltung und Körperspannung einer professionellen Balletttänzerin. Ihr Haar war in einem strengen Dutt zusammengefasst, der bestimmt auch nach der anstrengendsten Tanzstunde noch immer so akkurat aussah. Mit kühlem Adlerblick musterte sie die Eingetroffenen kritisch, und Markus musste plötzlich an seine strenge Französischlehrerin aus seiner Schulzeit denken.

Der Raum war ein typischer Ballettsaal einer Tanzschule: verspiegelte Wand und ein strapazierfähiger Kunststoffboden voll schwarzer Streifen. Mit dem Youtube-Video vom Jane-Austen-Festival, das Johannes ihm vorgespielt hatte, oder dem glänzenden Ball in der Romanverfilmung, die sie sich zu Recherchezwecken angesehen hatten, hatte er nichts gemeinsam.

»Bequeme Sportkleidung« hatte in der Anmeldung gestanden, und so fanden sie hier auch keine historischen Kleider, sondern T-Shirts und Gymnastikschuhe vor. Elif hatte im Vorfeld sehr deutlich gemacht, dass jede Kooperationsbereitschaft auf ihrer Seite in dem Moment zu Ende sein würde, wenn jemand von ihr erwartete, sich historisch korrekt in Schale zu werfen.

»Willkommen zu diesem Workshop über historische Tänze«, begann die Tanzlehrerin, sobald alle aus den Umkleiden in den Saal gekommen waren. Sie klang auch genau wie seine ehemalige Französischlehrerin, und Markus wettete, dass ihnen erst einmal eine Vorlesung bevorstand, ehe es mit der Praxis losgehen würde. Er fand sich bestätigt, als sie begann: »›Regency Dancing‹ ist streng genommen eine falsche Bezeichnung«, erklärte Magda gerade, »und was ›Jane-Austen-Tänze‹ angeht, so wird diese Formulierung nur verwendet, weil es das ist, womit die meisten Laien gerade noch etwas anfangen können. In den Verfilmungen ihrer Romane finden wir meist die sogenannten Country Dances, aber die entstammen nicht unbedingt der Regency-Epoche, die im engeren Sinn als die Regentschaft des späteren Königs George IV. ohnehin nur die Zeit von 1811 bis 1820 umfasst.« Neben Markus stieß Elif einen hörbaren Seufzer aus.

Die junge Frau, die zu seiner Linken stand, unterbrach die Dozentin: »Magda, ich glaube, du überforderst die Leute hier gerade mit den historischen Feinheiten. Die meisten sind zum ersten Mal hier. Lass sie doch erst tanzen, bevor sie sich mit der Theorie beschäftigen.«

Die übrigen Kursteilnehmerinnen setzten ausdruckslose Gesichter auf und vermieden es, irgendwen anzuschauen. »Wie in der Schule«, flüsterte Elif Markus zu.

Er grinste. »Genau wie in der Schule«, wisperte er zurück.

Magda, die ihn gehört hatte, warf ihm einen strengen Blick zu, aber der Rest der theoretischen Einführung fiel trotzdem erheblich kürzer aus.

»›Kotillon‹, ›Country Dances‹ und ›Scotch Reel‹ im ersten Teil der Ära, dann kamen nach 1810 der ›Walzer‹, der aber noch eine ganze Weile als eher unanständig galt, und die ›Quadrille‹ auf«, wiederholte Markus das Gelernte, als sich die Truppe ein paar Minuten später zum Aufwärmen aufstellte. »Die ›Quadrille‹ ist eine Art vereinfachter ›Kotillon‹.«

Elif zog die Augenbrauen hoch. »Erwartest du eine Prüfung?«

Die junge Frau, die Magda zuvor unterbrochen hatte, schmunzelte. »Das kann man bei Magda nie so genau wissen«, erklärte sie. »Hi, ich bin Anna. Und ihr seid die Reporter, die was über den historischen Tanz machen, richtig? Find ich super, dass ihr nicht nur zuschaut, sondern auch mittanzt. Sorry, ich hoffe, es ist okay, wenn wir du sagen? Die meisten Leute in dieser Szene sind nicht sehr förmlich.« Sie schmunzelte. »Wobei das auf Magda weniger zutrifft.« Sie vereinte die ausdrucksvollen Augen und die gewellten lichtbraunen Haare der Frauen auf den Bildern der Präraffaeliten mit einem koboldhaften Lächeln.

Auf den zweiten Blick schätzte Markus sie auf Mitte dreißig und fragte sich, wann er angefangen hatte, Leute unter vierzig mit dem Adjektiv »jung« zu versehen. So viel älter war er nun schließlich auch wieder nicht. Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, wie heißt es gleich noch? Was ist noch langweiliger als angeln? – Beim Angeln zuschauen. Da mache ich doch lieber mit.« Magdas Anweisungen folgend stellte er sich vor dem Spiegel auf und streckte die Arme in die Luft.

Elif schüttelte amüsiert den Kopf und wandte sich an Anna: »Seine Exfrau stand auf Jane-Austen-Filme«, erklärte sie. »Sein männlicher Stolz erlaubt es ihm wohl nicht, hier jetzt Spaß zu haben.«

Markus streckte das rechte Bein nach hinten aus und war zumindest dankbar, dass Elif neben ihm stand und die gleichen peinlichen Dehnübungen durchführte wie er, anstatt ihn dabei zu filmen, wie er sich zum Affen machte. »Quatsch«, brummte er zurück. »Ich kann nur nicht nachvollziehen, warum man für so ein paar Schreittänze ein Aufwärmprogramm brauchen soll.« Elif war ihm lieber gewesen, als sie noch auf seiner Seite war.

Anna ging ungeniert in eine tiefe Beuge, ohne sich darum zu kümmern, dass gerade alle ihre Hintern in die Luft streckten, ihre T-Shirt-Säume nach oben rutschten, den Blick auf winterlich blasses Rückenfleisch freigaben und ihre Gesichter wahrscheinlich rot anliefen. »Das wirst du schon noch sehen«, behauptete sie, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Und wer weiß, vielleicht macht es dir ja doch Spaß.«

»Bitte paarweise aufstellen, wir fangen mit einem einfachen ›Long Dance‹ an«, sagte Magda schließlich.

»Die Herren sind auf der Seite«, erklärte Anna, als sie Markus und Elif etwas ratlos herumstehen sah. Markus war dankbar für den Hinweis, denn von ihm abgesehen unterschied sich die Herrenreihe nicht von der Damenreihe: Er war der einzige anwesende Mann. Wenn es Frauen gab, die vorhatten, bei diesem Workshop ihren Mr.Darcy kennenzulernen, würden sie sich an ihn halten müssen. Die Vorstellung bereitete ihm ein wenig Magenschmerzen, und er verzog sein Gesicht.

»Zu spät zum Wegrennen«, raunte Elif, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Eine halbe Stunde später kam Markus sich nicht mehr doof vor, weil er der einzige Mann im Saal war. Jetzt kam er sich doof vor, weil er keine Ahnung hatte, was er da tat, während die anderen Neuen sich erstaunlich gut schlugen.

»Set zur anderen Dame«, rief Magda, oder »rechte Mühle« oder »cast down und dann diagonal auf die andere Seite«, und wenn ihn nicht gerade eine hilfreiche Hand in die richtige Richtung schob, bestand die ernste Gefahr, dass er zum Geistertänzer mit dem Potenzial, das ganze Set zu sprengen, wurde. Nach eineinhalb Stunden war er schweißgebadet und sehr dankbar, als Magda eine Pause ankündigte.

»Puh«, lachte Elif, die rot im Gesicht war, aber sichtlich Spaß an der Sache gewonnen hatte, während sie ihre Wasserflasche auspackte. »Ich hab gedacht, bei diesen Tänzen schreitet man ein bisschen vornehm in der Gegend herum, aber das ist ja richtig anstrengend.«

Anna grinste. »Ja, wenn man es gescheit macht, kann man dabei ganz schön ins Schwitzen kommen. Aber ihr habt das echt ganz ordentlich hinbekommen, wenn man bedenkt, dass das komplett neu für euch ist.«

»›Ganz ordentlich‹ war es nicht«, widersprach Magda, die gerade an ihnen vorbeilief. »Es braucht Konzentration, Haltung und Aufmerksamkeit. Außerdem würde es einigen Damen nicht schaden, das Ganze mit dem nötigen Ernst zu betrachten. Von korrekter Fußarbeit gar nicht erst zu reden.«

Anna lächelte schief. »Das galt wohl mir«, verriet sie, sobald die Tanzlehrerin nicht mehr in Hörweite war. »Ich möchte eine gute Zeit haben und nicht bierernst durch die Gegend schreiten.«

»Wie viel Ernst ist denn nötig?«, wollte Elif wissen.

Anna zuckte die Schultern. »Kommt drauf an, wen du fragst. Die historische Tanzszene ist wie jeder andere Verein auch: Es gibt Konkurrenzkämpfe, unterschiedliche Ansichten über die einzig richtige Methode und Auseinandersetzungen, die umso verbitterter geführt werden, je unwichtiger die Sache ist, um die es geht.«

Markus nickte. »Ich habe mal einen Beitrag über einen Kaninchenzuchtverein gemacht«, erinnerte er sich. »Man hätte glauben können, die Zukunft des Abendlandes hängt davon ab, dass eine bestimmte Richtlinie eingehalten wird.«

»Aber die Sache ist die«, fuhr Anna fort, »auf Workshops wie diesem wollen die Leute historische Tänze lernen, weil sie Jane-Austen-Fans sind oder weil sie die Epoche faszinierend finden. Manche planen ihre Hochzeit im historischen Stil und wollen die Tänze dafür lernen. Den meisten geht es nicht um historische Perfektion.«

»Die Pause ist vorbei«, verkündigte Magda in diesem Moment laut. »Jetzt tanzen wir eine Quadrille. Bitte im Viereck aufstellen.«

»Im Viereck?« Markus hatte sich gerade erst an das Set der Long Dances gewöhnt, und jetzt sollte er schon wieder etwas anderes machen? Anna lächelte aufmunternd. »Komm, du tanzt jetzt mit Tanja, die weiß, was sie machen muss. Elif, du kommst zu mir.«

Annas vorherige Tanzpartnerin Tanja ergriff prompt Markus’ Hand und schob ihn sanft auf ihre andere Seite. »Bei der Quadrille steht der Herr links. Wir sind Paar 1 A, uns gegenüber steht Paar 1 B, die anderen sind Paar 2 A und Paar 2 B. Das Ganze ist nichts anderes als eine Abfolge von geometrischen Figuren, bei der man am Ende wieder da ankommt, wo man gestartet ist. Überhaupt kein Problem, wenn man das Prinzip einmal verstanden hat.«

»›Überhaupt kein Problem‹«, grummelte Markus, als Elif, Anna und er nach dem Ende des Workshops beim Abendessen im Thailänder saßen. »Abgesehen von dem Teil, wo man sich die Abfolge von mehreren aufeinanderfolgenden Strophen samt Refrain merken muss.« Er nahm einen langen Schluck von dem Bier, das ihm die Bedienung gerade auf den Tisch gestellt hatte. Die Quadrille hatte seinem männlichen Ego nicht gutgetan.

Elif versuchte ohne allzu großen Erfolg, ihr Lächeln zu verbergen. »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie neckend. »Wir finden bestimmt eine Lösung, vielleicht sticken wir dir ein ›R‹ und ein ›L‹ auf die Handschuhe, damit du dir mit rechts und links leichter tust?«

Anna schlug ihr spielerisch mit der Speisekarte auf die Finger. »Sei nicht gemein, Elif. Du hast doch selbst gesagt, dass die Quadrille gar nicht so einfach ist.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber als Markus nicht nachvollziehen konnte, in welche Richtung ›rückwärts umdrehen‹ stattfinden sollte, war das schon lustig.«

Markus wollte sich gekränkt fühlen, musste aber ebenfalls lachen. »Ja, stimmt, das war kein glanzvoller Moment«, räumte er ein. »Ich muss sagen, an der Sache mit dem historischen Tanz ist zumindest etwas mehr dran, als ich erwartet hatte. Aber richtig gute Bilder bietet so ein Workshop in einer Tanzschule jetzt nicht«, fügte er hinzu und wandte sich an Anna. »Wir haben auf Youtube Filme von Tänzen in wunderschönen Sälen und mit historischen Kostümen gesehen. Macht Magda nicht auch solche Veranstaltungen?«

Anna zögerte, ehe sie antwortete. »Ja, schon«, sagte sie. »Sie gibt regelmäßig kleine, sehr exklusive Bälle. Exklusiv nicht nur im Hinblick auf die Preise, sondern auch auf die Durchführung. Ich war ein- oder zweimal dabei. Wenn ihr auf Eleganz und absolut historische Korrektheit steht und kein Problem mit Leuten habt, die auf euch herabsehen, weil ihr unter euren Kostümen moderne Unterwäsche tragt – ich vermute, ihr tragt moderne Unterwäsche? –, dann ist das genau das Richtige für euch.«

Elif sah sie ungläubig an. »Es gibt Leute, die bei so was antike Unterwäsche anziehen?«

Anna musste lachen. »Vielleicht nicht antik. Aber viele nähen ihre Kleider und alles Zubehör selbst. Aus historisch korrekten Stoffen. Was auch völlig okay ist, aber es wäre halt schön, wenn sie akzeptieren würden, dass es auch Menschen gibt, die in erster Linie tanzen wollen.«

»Sorry, Markus«, sagte Elif mit Nachdruck. »Aber ich bin schon beim Kleid raus. Antike Schlüpfer gehen mir nicht nur einen Schritt, sondern einen ganzen Kilometer zu weit.«

»Wenn es nur die napoleonische Unterwäsche ist, die euch abschreckt, hätte ich einen Alternativvorschlag.« Anna zog eine Grimasse. »Ich wollte eigentlich nicht während Magdas Workshop Werbung für die Konkurrenzveranstaltung machen, aber …« Sie zuckte die Schultern und kramte einen Flyer aus ihrer Handtasche. »Ein Freund von mir – eigentlich ein Freund von meinem Freund – hat kürzlich auch mit Regency-Dancing-Kursen begonnen. Er organisiert Ende November einen Ball in einem Schlosshotel bei Ellingen.« Sie lächelte Elif zu. »Historische Gewandung beim Ball selbst ist für die Teilnehmer natürlich auch Pflicht, aber ansonsten soll der Spaß im Mittelpunkt stehen.«

Markus nahm ihr den Flyer aus der Hand. »Fränkisches Seenland, Ellingen, das wäre nicht schlecht«, sagte er zu Elif. »Die ganze Gegend ist im Kommen, Ellingen selbst ist unglaublich malerisch, und wir könnten das vielleicht mit dem Thema Tourismus im Fränkischen Seenland verbinden. Johannes wäre begeistert.«

Elif verschränkte die Arme vor der Brust. »Solange niemand von mir erwartet, so ein Kleid anzuziehen«, sagte sie. Sie warf einen Blick über Markus’ Schulter. »›Schlosshotel, Workshops vor dem Ball, Kutschfahrt und englischer afternoon tea‹« las sie laut. »Würde schon mehr hermachen als ein paar Filmaufnahmen aus einer Tanzschule«, musste sie zugeben.

Anna strahlte. »Super, das wäre toll, wenn ihr da hinkommen würdet. Mein Freund und ich werden auch da sein, schon ab Donnerstag – er kann nämlich noch überhaupt nicht tanzen. Wenn ihr Sandor – er ist der Veranstalter, ehemaliger Balletttänzer, er war früher einmal Magdas Schüler – anruft, sagt ihm, dass ich euch an ihn verwiesen habe.«

»Konkurrenzveranstaltung, hm?«, sinnierte Markus, als Anna ein paar Minuten später zur Toilette gegangen war. »Was meinst du, Elif, graben sich die beiden gegenseitig das Wasser ab, oder ist es vielleicht sogar ein Vorteil, wenn es mehr als einen Anbieter für historischen Tanz in der Gegend gibt? Und glaubst du, Anna hat uns extra hierhergelotst, um genau das zu machen, nämlich uns zur Konkurrenz zu schicken?«

Elif schnaubte. »Wenn Magda und ihre Freunde darauf bestehen, bei ihren Veranstaltungen in historisch korrekter Unterwäsche aufzuschlagen, dann ist es vielleicht ganz gut, wenn es eine rivalisierende Gruppe gibt. Dieses Hotel sieht wunderschön aus«, bemerkte sie und deutete auf den Flyer. »Und Anna ist mir definitiv sympathischer als Magda.«

Markus schnaubte. »Dass die Frau früher entweder Balletttänzerin oder Gefängniswärterin gewesen ist, war jedenfalls nicht zu übersehen.« An Anna gewandt, die gerade wieder an den Tisch zurückkehrte, sagte er: »Wir rufen da mal an. Wir können uns vorstellen, bei den Workshops mitzumachen und dann einen Beitrag über das Ganze zu drehen.«

»Sofern eins klar ist«, warf Elif ein. »Ich bin bereit, bei den Workshops mitzutanzen, aber auf dem Ball bin ich zum Arbeiten. Ich stehe da hinter der Kamera, und zwar in Jeans und Turnschuhen.« Elif trug keine Kleider. Nie. Es war ihre einzige unumstößliche Moderegel.

Anna lächelte. »Na, falls du es dir anders überlegst, leiht dir bestimmt jemand ein Kleid. Aber ich bin sicher, auch so freut sich Sandor, wenn ihr kommt. Es ist der erste Ball, den er organisiert, und so was ist natürlich eine gute Werbung. Und es wird sich für euch bestimmt auch lohnen: Einige Ballgäste kommen aus England angereist. Die historische Tanzszene ist zwar nicht riesig, aber sie ist gut vernetzt. Ich war schon mal auf dem Jane-Austen-Festival in Bath, und auch die englischen Gruppen reisen durchaus mal ins Ausland, um woanders zu tanzen. Mein Freund wird auch da sein – und ein paar weitere Männer haben sich auch angemeldet. Ganz so frauenlastig wie heute wird es also nicht werden.«

Elif grinste Markus an. »Das beruhigt mich.«

Markus zog die Brauen hoch. »Wieso, suchst du jetzt auch deinen persönlichen Mr.Darcy auf der Tanzfläche?«

»Nein, aber es ist wahrscheinlich leichter, sich zu merken, wer Herr 1 und Herr 2 ist, wenn du nicht der einzige Mann im Raum bist«, entgegnete sie trocken.

Erster Teil

Aufstellung

Im »Longway-Set«:

Damen und Herren stehen sich in einer Gasse aus beliebig vielen Paaren gegenüber. Es sei denn, es handelt sich um einen Tanz, der ein Set aus drei oder vier Paaren erfordert. Ist das »Longway-Set« nicht auf drei oder vier Paare beschränkt, wird es unterteilt in »Minor-Sets«, die je nach Tanz aus zwei oder drei Paaren bestehen.

In der »Quadrille«:

Vier Paare stehen sich in einem Quadrat gegenüber. Die Herren befinden sich links von ihrer Dame, der sie die rechte Hand reichen.

Stimmt.

Es ist kompliziert.

Aber spätestens bei der Aufstellung beginnt man zu ahnen, mit wem man es zu tun hat. Wer steht einem gegenüber? Wie gut beherrschen die Mittänzer das Spiel? Wer kann sich nicht ausstehen, und wer tanzt ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal miteinander?

Historischer Ball

Ellingen, Samstag, 30.11., 20.35Uhr

Der Schauspieler öffnete die Schatulle. Der Schein von Lampen und Kerzen fiel auf den Lauf der beiden Pistolen.

Mit behandschuhten Fingern umschloss er den Griff der einen Waffe, bevor er einen Schritt zurücktrat. Die zweite Duellpistole glänzte auf, als Sandor sie in die Höhe hob.

Er spürte die Spannung in den Schultern des anderen Mannes, als sie einen Moment Rücken an Rücken standen.

»Los«, sagte eine Stimme, und er setzte sich in Bewegung, zählte die Schritte, sah die hohen, blank polierten Stiefelschäfte sich heben und senken.

»Umdrehen«, ertönte die Stimme erneut.

Der Schauspieler wandte sich langsam um. Blickte über die Distanz in das unbewegte Gesicht seines Freundes – seines Gegners.

»Eins, zwei …«, zählte die Stimme.

Der Schauspieler hob die Pistole und zielte sorgfältig.

»Drei!«

Ein lauter Knall ertönte. Und dann schrie plötzlich eine Frau.

1Charles Sinclair

Der Zug glitt durch die winterliche fränkische Landschaft; ein paar einzelne Schneeflocken wirbelten durch die Luft und schmolzen, noch ehe sie den Boden erreichten. Schon für den nächsten Tag war milderes Wetter angesagt. Charles Sinclair, der müßig aus dem Abteilfenster geblickt hatte, wandte sich wieder seinen Mitreisenden zu. Der Rest der Gruppe bestand nur aus Frauen. Jane Fullerton und ihre erwachsene Tochter Gemma waren mit demselben Flug angekommen wie er, und gemeinsam waren sie von München nach Nürnberg gefahren, um dort in den Zug nach Ellingen zu steigen. Mutter und Tochter sahen sich sehr ähnlich, beide hatten die gleichen strawberryblonden Haare, wässrigblaue Augen und ein paar Sommersprossen. Neben Gemma saß ihre Freundin Frances. Sie war das genaue Gegenteil von Gemma. Ihre wilde braune Mähne umrahmte ein rundes Gesicht; sie hatte eine kräftige Figur, und ihr Lachen war immer eine Spur zu forsch und zu laut.

»Wären Sie so freundlich, mir etwas über Ellingen zu berichten, MissB.«, wandte er sich auf Deutsch an Karoline Behrens, die auf der anderen Seite des Mittelgangs saß. Er konnte sich nicht daran erinnern, wer ihr auf dem Jane-Austen-Festival letztes Jahr den Spitznamen gegeben hatte, aber jetzt nannten sie alle so. Die veraltete Anrede hätte andere Frauen wahrscheinlich beleidigt, aber sie schien es nicht zu stören. Und er wollte nicht derjenige sein, der sie auf den Unterschied zwischen Miss und Ms. aufmerksam machen wollte. So gut war ihr Englisch vermutlich nicht, dass sie ihn hören würde. Sie war eine unscheinbare, dunkelhaarige Frau in ihren Vierzigern, die Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte und besser ins frühe neunzehnte als ins einundzwanzigste Jahrhundert zu passen schien.

»Es ist eine kleine Stadt«, antwortete sie. Die anwesenden Engländer verstanden alle recht gut Deutsch, sodass sie nur gelegentlich auf ein englisches Wort zurückgreifen musste. »Wir sollten an einem der nächsten Tage einen Stadtrundgang veranstalten. Es gibt ein Schloss des Deutschen Ordens und viele historisch interessante barocke Gebäude.«

»›Historisch interessant‹«, mokierte sich Verena Wagner, die ihr gegenübersaß. »Ich habe vor Jahren mal eine sehr interessante Nacht in Ellingen verbracht, und die hatte weiß Gott nichts Barockes oder Historisches an sich.« Sie grinste anzüglich in die Runde. Verena war die Älteste ihrer Gruppe und die Einzige, die nicht mindestens zehn Jahre jünger war als Charles. Soweit er wusste, hatte sie bis zu ihrer Pensionierung in einem recht öden Job gearbeitet, aber sie ließ keine Gelegenheit aus, durchblicken zu lassen, dass ihr Privatleben alles andere als langweilig gewesen war.

»Well«, erklärte er, »jetzt können Sie sich auf ein paar weitere interessante Nächte in Ellingen freuen.« Der Blick, dem sie ihm zuwarf, sobald er den Mund zugemacht hatte, war der einer Katze beim Anblick eines unvorsichtigen Vogels, der direkt vor ihren Pfoten aufflattert. Charles erwiderte ihn liebenswürdig, aber scheinbar verständnislos, ehe er sich wieder MissB. zuwandte. In der Konstellation Verena Wagner und Charles Sinclair wäre er der Toyboy, und das war schon vor dreißig Jahren nicht die geeignete Rolle für ihn gewesen.

»Kennen Sie den Organisator unseres Winterballs?«, wollte er wissen. »War er im September auf dem Festival in Bath dabei?«

MissB. schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Sandor Keresch in Bath war. Ich bin sehr auf ihn und das Hotel gespannt. Die neue Besitzerin soll ein Schmuckstück daraus gemacht haben. Es liegt ein wenig außerhalb der Stadt, ich glaube, es war ursprünglich das Schloss eines kleinen Landadligen. Der Tanzmeister Sandor war früher ein Schüler von Magda Schneider, die Sie von der Veranstaltung damals in München noch kennen müssten.«

Ihre Unterhaltung ging kurz darauf im Lachen der beiden jungen Frauen unter, deren Gespräch immer lauter geworden war. »Ihr hättet das Gesicht des Zollbeamten sehen müssen!«, rief Gemma. Sie warf Charles einen beinahe koketten Blick zu. »Frances und ich sind am Flughafen zur Gepäckkontrolle gerufen worden, wissen Sie?«

»Und der hat unsere Koffer aufgemacht und so was von dämlich geschaut«, ergänzte Frances noch lauter. »›Was ist das?‹«, fragte sie in überzeichnetem deutschen Akzent.

»Ich glaube, der hat im richtigen Leben noch nie einen Pompadour gesehen«, kicherte Gemma. »Wir haben ihm erzählt, dass wir in einem historischen Film mitspielen!«

»Und dass wir da drin unsere Schönheitswässerchen und Tampons aufbewahren«, überbot Frances ihre Freundin. »Danach wollte er dann nicht mehr reinschauen. Wir hätten wer weiß was da drin über die Grenze schmuggeln können!«

Charles zog eine Augenbraue hoch. »Außer vielleicht, wenn die Polizei Suchhunde eingesetzt hätte«, bemerkte er trocken. Gemma warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu, ehe sie die Augen weit und unschuldig aufriss und sagte: »Was denken Sie von uns, Charles? Wir sind tugendhafte junge Damen auf dem Weg zu einer Tanzveranstaltung!«

»Um dort einen passenden Ehemann zu finden, wie es üblich ist«, ergänzte Frances mit sittsam im Schoß gefalteten Händen.

Charles bezweifelte die eine wie die andere Behauptung, aber er gab den beiden im Stillen recht, ein Koffer voll historischer Gewandung stellte nicht das schlechteste Versteck dar. Kein normaler Zollbeamter schaute zweimal, was sich zwischen Kniebundhosen, Schuhschnallen und Mantelknöpfen verbarg, solange es nicht gerade große Mengen von Päckchen mit weißem Pulver oder funktionierende Schusswaffen waren. (Er besaß ein paar historische Duellpistolen, die er, anders als Siegelring, Spazierstock und Krawattennadel, in seinem Haus in Kent zurückgelassen hatte. Keine gute Idee, mit so etwas im Gepäck durch die Sicherheitskontrollen im Flughafen zu spazieren.)

»Will you excuse me for a moment?«, bat er die Damen und ging durchs Abteil in Richtung Toilette. Sie würden bald in Ellingen ankommen, aber der Rest des Tages würde ihm wahrscheinlich wenig Zeit für Geschäftliches lassen. Er verschloss die Tür, nahm sein Smartphone aus der Tasche, überflog die neu eingetroffenen E-Mails, verschickte ein paar Nachrichten und versuchte, seinen Kontaktmann in Deutschland anzurufen, erreichte aber nur die Mailbox. Er hinterließ keine Nachricht.

Dann drückte er die Spülung, wusch sich die Hände und trat wieder hinaus in den Fahrrad- und Kinderwagenbereich, der an diesem Donnerstagnachmittag fast leer war. Der Zug wurde langsamer und hielt am Bahnhof Roth; die Tür öffnete sich mit einem Zischen, eine junge Frau mit Handy am Ohr stieg ein und blieb in seiner Nähe stehen, ohne ihn zu bemerken.

»Ja, ja, natürlich mach ich das«, sagte sie. Sie hatte eine bemerkenswert angenehme Stimme – vielleicht blieb Charles deswegen kurz stehen, um ihr zuzuhören. Immerhin war es eine gute Gelegenheit, sein Deutsch weiter zu üben, sagte er sich selbst. Wie die Leute hier in Franken sprachen, hatte mit dem, was er in diversen Deutschkursen gelernt hatte, manchmal nur vage Ähnlichkeit. Die junge Frau schob eine lange Haarsträhne hinter ihr Ohr, während sie ihrem Gegenüber konzentriert zuhörte. »Ich schaff das schon, mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Aber ich bin heute Nacht noch nicht dort, ich bin bei Bekannten eingeladen worden … nein, keine Freunde, einfach nur Bekannte«, versicherte sie, und die schöne Stimme klang jetzt ein wenig angespannt. »Nein, keine alleinstehende Frau, es ist ein Paar. Ab morgen bin ich dort, dann … ja, sicher kriege ich das hin, aber … warum bittest du sie nicht einfach, es für dich zu holen? … Was heißt das, es darf nicht in die falschen Hände geraten?« Sie hörte eine Weile zu, und während er beobachtete, wie sie ihre Schultern hochzuziehen begann und ihre Haare nach vorn fielen, als ob sie vermeiden wollte, dass jemand ihr Gesicht sah, kam Charles der Gedanke, dass dies ein Telefonat war, das nicht für fremde Ohren bestimmt war. Er hätte ihr aus seiner langjährigen Erfahrung den Rat geben können, dass es für solche Gespräche Zugtoiletten gab, aber jetzt war wohl nicht der geeignete Moment, sie zu unterbrechen, und weggehen konnte er auch nicht, ohne ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; also blieb er, wo er war, und zog sein Handy wieder aus der Tasche, um wenigstens nicht auszusehen wie einer, der lauschte.

»Ich verstehe«, sagte sie jetzt leise. »Aber bist du sicher, dass das die richtige Entscheidung war? … Nein, ich bin dir natürlich nicht böse … Ja, das verstehe ich. Ich schaue mich um, ja. Du weißt, dass ich das gern mache.« Der Zug wurde langsamer; sie hatten George … Georgemüms … Georgensgmünd – Heavens, what a name! – erreicht, und Charles wusste, dass es nur noch zwei Stationen bis zu ihrem Ziel waren, also schlug er Neugier und Diskretion gleichermaßen in den Wind und machte Anstalten, sich an der jungen Frau vorbeizuschieben. Sie hatte ihr Telefonat gerade beendet, bemerkte ihn aber offensichtlich erst jetzt und zuckte erschrocken zusammen. Sie war sehr hübsch und gutaussehend auf eine Art, die leise, aber unüberhörbar »Geld« zu sagen schien. Früher hätte er unweigerlich den Versuch unternommen, sie zu beeindrucken, aber mittlerweile sah er die Notwendigkeit nicht mehr im selben Maße. Charmant und höflich war er natürlich trotzdem, ohne sich anstrengen zu müssen. Als sie ihn mit großen bernsteinfarbenen Augen ansah, setzte Charles ein beruhigendes Lächeln auf. »Good afternoon«, sagte er, ohne nachzudenken. Sie schien sich zu entspannen und lächelte zurück. »Sorry, you gave me quite a start«, erwiderte sie prompt und fast akzentfrei. Charles war beeindruckt: Sein Deutsch war keinesfalls so gut wie ihr Englisch. Sie fragte ihn, ob er geschäftlich hier in Franken unterwegs sei. »Only for pleasure«, nur zum Vergnügen, antwortete er zur Hälfte wahrheitsgemäß, als Karoline auf ihn zukam. »Kommen Sie, Charles«, sagte sie. »Wir werden bald in Ellingen ankommen. Die Inhaberin wird uns dort abholen und zum Hotel bringen.«

»Right you are, MissB.«, antwortete er. »Ich komme sofort.«

Er lächelte der jungen Frau noch einmal zu, die plötzlich wieder unruhig wirkte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und starrte darauf, als ob sie es vermeiden wollte, ihn anzusehen. Ihre langen Haare fielen wieder nach vorn, und sie erwiderte seinen Abschiedsgruß nicht.

Charles war froh, dass er nicht versucht hatte, sie zu beeindrucken, denn offensichtlich hätte er damit ohnehin keinen Erfolg gehabt. Er ging mit Karoline zurück zu ihrem Abteil. Frances und Gemma hatte begonnen, den Inhalt ihrer Handtaschen wieder einzupacken. Wie sie es auf einer so kurzen Reise geschafft hatten, den Tisch des Vierersitzes unter diversen Gegenständen zu begraben, war ihm ein Rätsel.

Verena unterhielt sich mit Jane, die nebenbei in einer Zeitschrift blätterte. »Wir sind gleich da«, bemerkte sie mit einem Blick aus dem Fenster.

»Wir werden an der Bahnstation empfangen; es sind wohl noch ein paar Kilometer bis zum Hotel.«

Die Durchsage verkündete ihre bevorstehende Ankunft, und alle Reisenden wurden gebeten, ihr Gepäck nicht zu vergessen. Charles stellte sich vor, Bahnbeamte würden ihre zurückgebliebenen Taschen öffnen und Kleider, Hüte, Bänder und dergleichen mehr finden, während er die Koffer für Verena und Karoline aus der Gepäckablage herunterhob. In den historischen Kostümen steckten viel Zeit, Geld und Mühen – von schönen Erinnerungen an vergangene Veranstaltungen ganz zu schweigen. Wer sich nicht in den entsprechenden Kreisen bewegte, würde das alles nicht zu würdigen wissen. Wobei – jemand, der Charles’ antike Ledertasche samt Inhalt in die Hände bekam, würde das unter Umständen anders sehen, sobald er seine erste Überraschung überwunden hatte. Nein, alles in allem stimmte er der Durchsage zu, dass es bei Weitem besser war, sein Gepäck nicht aus den Augen zu lassen.

Frances hatte ihren Rollkoffer bereits neben sich stehen, und ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie keine männlichen Höflichkeitsgesten von seiner Seite akzeptieren würde; da war sie aber die Einzige aus der Gruppe. Mutter und Tochter Fullerton strahlten ihn gleichermaßen an, als er ihnen ihre Koffer reichte.

Der Bahnsteig von Ellingen war von Bäumen gesäumt und wies nur einen einsamen Unterstand auf. Charles sah sich um und entdeckte die junge Frau von vorhin wieder, die sich mit raschen Schritten entfernte. »This way, I daresay«, sagte er und deutete in die Richtung, in der die junge Frau verschwunden war. Die Gruppe bewegte sich mit ihrem Gepäck auf einen kleinen Parkplatz zu, wo ein Empfangskomitee aus drei Leuten und eine Kutsche auf sie warteten.

Ein Taxi, das vermutlich die junge Frau aus dem Zug enthielt, entfernte sich gerade.

»Ich bin die Inhaberin des Schlosshotels, Barbara Hartheim«, stellte sich die Frau mit den kurzen, dunklen Haaren vor, die einen Schritt vor den anderen stand. »Ich kann Sie entweder mit dem Wagen mitnehmen oder ich lade nur Ihr Gepäck ein und Sie fahren mit der Kutsche.«

»This is so cool!«, rief Gemma begeistert aus.

Frau Hartheim lächelte. »Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen. Die Kutsche ist erst kürzlich erneuert worden und soll eigentlich am Samstagnachmittag vor Ihrem Ball zum Einsatz kommen, wenn Sie alle Ihre Kostüme tragen. Aber unser Kutscher war ungeduldig und hat vorgeschlagen, schon heute zum ersten Mal auszurücken.«

Sie wandte sich an die beiden Personen, die neben ihr standen. »Möchten Sie auch mitfahren und die Gäste kennenlernen?« Zu den Neuankömmlingen von der Insel sagte sie auf Englisch: »Das sind Markus Wieland und Elif Aydin, zwei Reporter von einem lokalen Fernsehsender, die einen Beitrag über den Ball und die historische Tanzszene machen wollen. Die beiden sind schon vor einigen Stunden eingetroffen und werden ein paar Tage bleiben.«

Die Kamerafrau hob mit einem Grinsen ihre Tasche und versprach: »Ich hoffe sehr, Sie sind nicht kamerascheu, denn ich bin ständig auf der Jagd nach interessanten Aufnahmen.« Sie trug Jeans und eine unförmige dunkle Jacke. Ihr Kollege sah ein paar Jahre älter aus als sie und war mindestens einen Kopf größer.

»Für mich als Hotelbesitzerin ist das natürlich eine großartige Gelegenheit, mein Haus ins Fernsehen zu bringen, aber hoffentlich wird es auch dem Regency Dancing hier in der Gegend Auftrieb geben. Ich bin sehr gespannt, was ich in den nächsten Tagen alles zu sehen bekommen werde, denn das ist die erste Veranstaltung dieser Art bei uns.«

»Hoffentlich die erste von vielen«, sagte Charles, und Frau Hartheim lächelte ihm zu.

»Also, wer fährt mit mir mit?«, fragte der Kutscher, der auf sie wartete. Frances und Gemma meldeten sich sofort, und nach kurzem Zögern erklärte Elif, sie würde ebenfalls einsteigen, sofern sie niemandem den Platz wegnähme. »Das ist meine große Chance. Sobald der offizielle Teil des Balls beginnt, werden Sie mich nur noch hinter der Kamera sehen.«

Ihr Kollege grinste: »Noch kannst du es dir überlegen, Elif. Ich bin sicher, wir könnten ein Kleid für dich auftreiben, wenn du am Samstag doch lieber stilecht mittanzen möchtest.«

»Sehr witzig, Markus«, entgegnete sie. »Wenn Gott gewollt hätte, dass wir Frauen immer noch in langen Kleidern herumlaufen, hätte er Levi Strauss nicht die Jeans erfinden lassen.«

»MissB., steigen Sie ein?«, wandte Charles sich an Karoline. »Und für Sie, Jane, ist auch noch genug Platz. Die jungen Damen werden eine Chaperone brauchen, damit sie nicht anfangen, mit dem Kutscher zu flirten; Sie wissen ja, wie sehr das der Reputation einer jungen Frau schaden kann.«

Frances quittierte seine Bemerkung mit einem genervten Augenrollen, aber Gemma kicherte und fächerte sich mit einem imaginären Fächer Luft zu. Charles fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Frances ausgerechnet den historischen Tanz als Hobby gewählt hatte, wenn sie so allergisch auf die dazugehörigen Sitten reagierte. Sobald der Kutscher die Tür hinter den fünf Frauen geschlossen hatte, schwang er sich wieder auf den Kutschbock und warf einen Blick auf seine Uhr. »16Uhr50 ab Ellingen«, verkündete er. »Los geht’s.«

Markus, der ebenso wie die anderen aus der Gruppe der Kutsche hinterhersah, schmunzelte. »Aber nicht von Bahnsteig 9 ¾ aus«, erwiderte er gut gelaunt.

Historischer Ball

Ellingen, Samstag, 30.11., 20.40Uhr

Der Schauspieler richtete sich mit einer Grimasse auf. Er war ungünstig gefallen, abgelenkt von dem plötzlichen Aufschrei. »Was ist passiert?«, fragte er Sandor, der mit schnellen Schritten auf ihn zukam.

»Alles in Ordnung?« Sandor war blass geworden. »Ich dachte einen Moment lang …« Als er nicht weiterredete, zog Fabian eine Augenbraue hoch, während er seine schmerzende Hüfte rieb. »Das Bühnenduell, bei dem einer der Kontrahenten wirklich umkommt – meine Güte, Sandor, was für ein Klischee!« Er sah seinen Freund einen Augenblick lang scharf an. »Und du hast ja wohl keinen Grund, wirklich auf mich zu schießen, oder?«

»Was? Natürlich nicht«, antwortete Sandor ein wenig verwirrt. »Ich dachte … nichts … Was ist da hinten los?«

Die beiden bahnten sich einen Weg durch die Anwesenden, vorbei an langen Rocksäumen und polierten Herrenschuhen. Fabian merkte, dass er noch immer die Duellpistole in der Hand hielt. Dabei hatte doch auch er keinen Grund, jemanden zu erschießen. Oder? Der Raum roch nach Parfum, Wein und dem frischen Schweiß der Tänzer.

In der Nähe der Tür hatte sich eine Traube von Menschen gebildet. Jane richtete sich gerade auf, als Sandor und Fabian bei den anderen ankamen. Ein kalter Windzug drang durch die offene Tür der umgebauten Scheune herein.

»Es ist Frances«, sagte Jane zu ihnen. »Ich glaube, wir sollten einen Arzt rufen.«

2Barbara Hartheim

Als sie einige Monate zuvor eine Anfrage für einen historischen Tanzball im Schlosshotel erhalten hatte, war Barbara Feuer und Flamme gewesen. Ende November war nicht gerade Hauptsaison für Hochzeiten oder Touristen, die das Fränkische Seenland besuchten, und der Ball bedeutete ein volles Haus für ein ganzes Wochenende. Zwar würden vermutlich nicht alle Gäste hier übernachten, aber dennoch wären die meisten Zimmer belegt. Dazu kamen die Raummiete, das Abendessen der Gäste am Ankunftstag, der Workshop am Freitag und das große Dinner während des Balls. Es würden unzählige Fotos entstehen, die das Schlosshotel, bevölkert von historisch kostümierten Menschen, von seiner besten Seite zeigen würden, Fotos, die auf Facebook, Instagram und Twitter zu sehen sein würden – geteilt, gelikt und kommentiert; effektive, kostenlose Werbung für ihr Hotel. Als sich dann vor einigen Wochen auch noch die beiden Fernsehleute angekündigt hatten, konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Und jetzt betrieb sie seit Tagen nur noch Schadensbegrenzung. Sie hatte ihr professionellstes Lächeln aufgesetzt, als Sandor Keresch, der Veranstalter des Balls, am Morgen angereist war. Sie hatte sich vergewissert, dass die Zimmer im Haus perfekt waren, weil es keine, auch nicht die klitzekleinste Klage geben sollte. Sie hatte jeden Schritt, jede Dekoration, jedes Gericht, das in der Küche vorbereitet wurde, überwacht. Sie hatte den Weg zwischen Haupthaus und Eventscheune nach Hindernissen, glatten Stellen und Stolpersteinen abgesucht und die Beleuchtung überprüft, damit sich niemand die Zehen stoßen oder sein Kostüm ruinieren würde. Sie hatte die Saaltür im ersten Stock zugeschlossen und gegen den Impuls angekämpft, den Schlüssel in den Brunnen im Garten zu werfen. Sie hatte alles getan, was sie in den wenigen Tagen seit ihrer Rückkehr von der Beerdigung hatte tun können.

Gegen Mittag waren Markus Wieland und Elif Aydin eingetroffen, Reporter und Kamerafrau, ein angenehmes, interessiertes und kompetent wirkendes Team, ausgestattet mit Aufnahmegeräten, Fotoapparaten und Kameras. Barbara hatte ihnen die Hände geschüttelt, sie willkommen geheißen, im Haus herumgeführt und sich dabei gefühlt, als würde sie ihr eigenes Urteil unterschreiben – vielleicht kein Todesurteil, aber ein vernichtendes Urteil über ihre Existenz als Hotelbesitzerin und Geschäftsfrau.

Jetzt waren mit der Gruppe aus England und den beiden Frauen der Großteil der Gäste, die an diesem Abend erwartet wurden, anwesend. Barbara ließ sie einchecken, erklärte ihnen, wo sie den Speisesaal und die Bar finden konnten, wies auf die Sitzgelegenheiten und die Wege draußen auf dem Grundstück hin, die unsichtbar in der Dunkelheit lagen, und erklärte ihnen, wo die Eventscheune lag, in der der Ball am Samstag stattfinden würde. »Leider hatten wir einen Wasserschaden im großen Saal, in dem die Feier eigentlich geplant war«, sagte sie und hoffte, dass niemand ihr ansah, wie übel ihr bei den Worten wurde. »Zum Glück ist die Scheune gerade rechtzeitig fertiggeworden, und ich bin sicher, dass Sie dort einen wunderbaren Abend verbringen werden; wir sind sehr stolz auf die Renovierung. Ihr Ball wird das erste von vielen großartigen Events sein.« Ob sie selbst das noch miterleben würde, das war die große Frage. Aber das mussten, das durften ihre Gäste nicht erfahren.

Um neunzehn Uhr empfing sie alle im Speisesaal zum Abendessen. Die Kerzen auf den Tischen brannten, der Raum war warm und gemütlich, und die vertraute Atmosphäre ließ sie die nagende Sorge für den Moment vergessen. Es galt, Gäste zu versorgen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Das Hotel, in dem sie bis vor zwei Jahren als Managerin gearbeitet hatte, war sehr viel größer gewesen, hatte aber weniger Gelegenheiten geboten, die vielen Leute, die dort ein- und auscheckten, kennenzulernen. Es war einer der Gründe, warum sie das Schlosshotel gekauft hatte, als sich die Chance bot.

Charles betrat als Erster den Raum, die Frauen folgten ihm. Barbara nickte ihm höflich zu. »Mr.Sinclair, einen schönen guten Abend, ich hoffe, Sie sind zufrieden mit Ihrem Zimmer?«

Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie den Mann schon einmal gesehen hatte. Er sprach sehr gutes Deutsch; es war klar, dass er nicht zum ersten Mal in Deutschland war. »Ms. Hartheim«, erwiderte er ihren Gruß mit einem Nicken, das beinahe eine Verbeugung war. »Was für einen stilvollen dining room Sie hier haben.« Als er sie anlächelte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht ihn erkannt hatte, sondern seinen Typ. Vielleicht war es sogar ein Typ, den sie weniger aus dem echten Leben als aus Filmen kannte: attraktiver, wahrscheinlich recht gut situierter Brite mit weißen Haaren, einer charmanten, altmodischen Höflichkeit, ein Typ Mann, dem vermutlich Frauen aller Altersklassen zwischen zwanzig und sechzig verfielen. Ein Teil von ihr rebellierte gegen den Charme, den er verströmte, aber ein anderer fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt und beruhigt, als ob die Welt es in Anwesenheit von Charles Sinclair nicht wagen würde, sich nicht ebenso gut zu benehmen wie er. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Welt hatte es bereits gewagt. Und trotzdem gab sie der Illusion nach und tat so, als ob alles in Ordnung wäre. Schließlich blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig.

Barbara war stolz auf ihre Hotelküche. Sie hatte einen erstklassigen Koch und ein Konzept, das auf regionale, saisonale und möglichst nachhaltige Gerichte setzte. Natürlich gab es trotzdem immer wieder einmal Fragen, Beschwerden oder Sonderwünsche. Wenn man genügend Leute bei sich verköstigte und beherbergte, hörte man im Lauf der Zeit alles – das lag offensichtlich in der Natur des Menschen. Sie ließ den Blick über die Gruppe schweifen, die sich mittlerweile versammelt hatte, und versuchte Voraussagen zu treffen: Wer würde mit dem Essen nicht zufrieden sein? Wer würde ihren Versicherungen, die Soße sei laktosefrei, misstrauen, ein Haar in der Suppe finden, oder sich als Nichtvegetarier diskriminiert fühlen, weil sie an diesem Abend kein Fleischgericht auf der Karte hatten? Barbara konsultierte ihr Clipboard und näherte sich der schmaleren der beiden jungen Frauen. »Ms. Fullerton, nicht wahr?«

»Nennen Sie mich Gemma, Ms. Fullerton ist meine Mutter.«

»Ich finde die Anrede ›Ms.‹ ist eine moderne Unsitte«, beklagte Verena sich. »Wenn man schon das ›Miss‹ für ›Fräulein‹ abgeschafft hat, warum redet man dann nicht einfach alle Frauen mit ›Mrs.‹ an?«

Frances runzelte die Stirn. »Vielleicht, weil ›Mrs.‹ eigentlich eine verheiratete Frau bezeichnet und mein marital status niemanden etwas angeht!?«, fragte sie kampfeslustig.

»Pah!«, rief Verena wegwerfend. »Als ob so ein Kunstwort wie ›Ms.‹ zur Gleichberechtigung beitragen würde! Ist ja lachhaft!«

»Gemma, Sie haben uns informiert, dass Sie unter Glutenunverträglichkeit leiden, richtig?«, unterbrach Barbara den Wortwechsel, bevor er zu einer handfesten Diskussion wurde. »Ich habe mit dem Küchenchef gesprochen; er hat das Menü für Sie entsprechend angepasst. Und zum Frühstück haben wir für Sie glutenfreies Brot. Nur das Gebäck, das wir nachmittags im Wintergarten anbieten, sollten Sie meiden.«

Gemma nickte nur und wandte sich sofort wieder ihrer Freundin zu. Gleich darauf ertönte Frances’ tiefes, lautes und ein wenig schmutziges Lachen.

»Erzählen Sie mir mehr über dieses Haus, wenn Sie später noch Zeit haben sollten«, bat eine der anderen Frauen Barbara. Diese runzelte einen Moment lang die Stirn, bis sie dem Gesicht wieder einen Namen zuordnen konnte. »Frau Behrens, ja?«

»Das ist ein hochinteressantes Gebäude. Haben Sie Material über seine Geschichte? Ich habe mich vorhin schon ein wenig umgesehen und würde gern mehr erfahren.«

Es gab nichts, was Barbara an diesem Abend weniger wollte, als Fragen über ihr Hotel zu beantworten, aber sie setzte ein verbindliches Lächeln auf und erwiderte: »Ja, es war mein großer Traum, hier in der Gegend ein Hotel zu kaufen und selbst zu führen.« Das zumindest war die volle Wahrheit. »Ich hatte unglaubliches Glück, dieses Objekt zu finden.« Das wiederum blieb abzuwarten.