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Das Hildegard-von-Bingen-Gymnasium steht Kopf: Der doppelte Abiturjahrgang legt die Nerven blank, über Nacht tauchen rätselhafte Graffiti an den Schulwänden auf, Kruzifixe verschwinden aus den Klassenzimmern, und das Lehrerzimmer ist Schauplatz hitziger Debatten im gespaltenen Kollegium. Da liegt eines Morgens die Leiche des Biologielehrers Christopher Köhler auf der Bühne der Schulaula. Sailers und Schatz' dritter Fall führt die kratzbürstige Kommissarin und ihren Kollegen mitten hinein in den turbulenten Alltag einer G8-gebeutelten Schule. Nachforschungen über das Opfer führen aus dem Gymnasium in die Chefetagen hochangesehener Wirtschaftsbetriebe in der Metropolregion. Ist der Ermordete womöglich im Zuge der Öffnung der Schule für die Wirtschaft in gefährliche Fahrwasser geraten?
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Seitenzahl: 433
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Sigrun Arenz
Nicht vom Brot allein
Kriminalroman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2012)
© 2012 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Stephan Naguschewski
Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von Jean Cazals
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-339-3
1. Sapere aude!
Pfarrer Herwig Römer musste schmunzeln, als er den Lehrerparkplatz des Weißenburger Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums verließ und das großflächige Graffito an der Wand des Neubaus sah. Nicht, dass er solche Schmierereien gutgeheißen hätte, aber …
»Mal was anderes, meinen Sie nicht?«, fragte eine trockene Stimme hinter ihm. Ein alter Lateinlehrer, den Römer seit Jahren kannte, gesellte sich zu ihm und richtete seinen Blick beinahe anerkennend auf den schwarz-gelb-blauen Schriftzug. Das obere Ende des kühnen Ausrufezeichens reichte fast bis zum Fenster des ersten Stocks hinauf, der die Physiksäle beherbergte. »Meinen Sie, das ist eine spezielle Aufforderung an die Physikfachschaft?«
»Haben die es denn besonders nötig?«, witzelte der Pfarrer zurück. Der grauhaarige Lateiner zog die Brauen hoch. »Die, die es nötig hätten, werden die Botschaft sicher nicht verstehen«, grummelte er. »Das war schon zu Sokrates’ Zeiten so und ist heute auch nicht anders.« Ein gedämpfter Ton drang vom Hauptgebäude her zu ihnen herüber – der erste Gong. Die beiden Männer setzten sich in Bewegung und betraten den schönen, etwas heruntergekommenen Altbau durch den hellen, aber klobigen Betonanbau an der Rückseite.
Römer nahm gleich den ersten Treppenaufgang, um zu seiner 10. Klasse zu gelangen, während der andere noch etwas von Kopien murmelte und in Richtung Lehrerzimmer schlurfte.
Die 22 Evangelischen der 10 a und b waren ein bunter Haufen. Neben dem üblichen Anteil tödlich gelangweilter Teenager gab es ein Mitglied der Neuapostolischen Kirche, einen trotzigen Atheisten, ein Geschwisterpaar, das sich aus Prinzip immerzu widersprach, und einen genialen und außerordentlich belesenen Exzentriker. Das hatte zur Folge, dass Pfarrer Römer oft nach maximal zehn Minuten in eine Grundsatzdiskussion verstrickt war, die außer den Beteiligten niemand spannend fand – aber die anderen hörten sowieso nur selten zu.
Überraschenderweise war es an diesem Morgen Marius, der die Diskussion ins Rollen brachte. Normalerweise hing er eher, als dass er saß in der letzten Reihe, wo er einen Ausdruck geradezu aggressiven Desinteresses zur Schau trug. »Das ist doch Quatsch, was man alles glauben soll«, brach es auf einmal aus ihm heraus. »Dass der Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat, und dass die Erde nur sechstausend Jahre alt ist, und deswegen soll man die Zehn Gebote einhalten.«
Pfarrer Römers Nasenflügel blähten sich entnervt über die unausrottbare Angewohnheit seiner Schüler, den Herrn als »der Gott« zu bezeichnen.
Jana rollte die Augen. Sie gehörte der seltenen Spezies Schüler an, deren Erinnerungsvermögen in so neblige Fernen wie eine Unterrichtsstunde vor drei Wochen zurückreichte. »Das ham wir doch schon hundert Mal besprochen – das sind nur so ein paar Fundamentalisten in Amerika, die das sagen.«
»Stimmt nicht«, widersprach ihr Bruder erwartungsgemäß. »Fundis gibt’s hier auch, sogar an unserer Schule … der eine Typ in der Zwölften zum Beispiel, der ist doch in so ’ner Sekte und glaubt jedes Wort, das in der Bibel steht. Wortwörtlich.«
»Ich habe kürzlich gelesen, dass der alte Streit zwischen Wissenschaft und christlichem Glauben eigentlich gar nicht mehr aktuell ist«, brachte sich Olgierd ein. Er hatte die 9. Klasse übersprungen, und der allgemeine Konsens unter seinen Mitschülern war, dass er die zehnte besser auch gleich ausgelassen hätte. »Positivistische Wissenschaft ist längst überholt, und wenn man sich den Stand der Quantenphysik heute anschaut, da werden …«
»Verschon uns, Olg«, grummelte Marius, der das Interesse schon wieder verloren hatte. Wenn er seinem Pfarrer und Religionslehrer nur gelegentlich seine Aufmerksamkeit schenkte, so hörte er Olgierd niemals länger zu, als es dauerte, eine abfällige Bemerkung zu machen. Julius, der Klassenatheist, hingegen nahm Olgierds Aussage auf, um seine eigene Agenda zu vertreten: »Die Wissenschaft hat das Alter der Welt errechnet und bewiesen, dass es Moral und den ganzen Scheiß bloß gibt, weil das einen evolutionären Vorteil bietet, und die Kirche will die Leute bloß weiter unter ihrer Fuchtel halten, das ist alles. Das sieht man schon daran, dass alle Priester Pädophile sind, und die andern sollen nicht mal Kondome benutzen.«
Pfarrer Römer zog die Brauen hoch. »Es ist immer wieder schön, festzustellen, welchen Erfolg meine Versuche haben, euch zu differenziertem Denken anzuhalten«, mokierte er sich. »Die Aufnahmeprüfung für Stammtischplattitüden nach vier Halben bestehst du jederzeit.«
»Sie wollen doch bloß nicht, dass jemand Ihre Meinung kritisiert«, gab Julius angriffslustig zurück.
»Julius!«, rief eines der Mädchen in der ersten Reihe einigermaßen schockiert, doch der Pfarrer sah seinen Kontrahenten gelassen an. »Keineswegs, Julius. Ich will nur, dass du vernünftig argumentierst – und erst mal Bescheid weißt über das, was du bekämpfst. Deine Vorstellung vom christlichen Glauben ist nämlich hauptsächlich durch alte und neue Vorurteile und enorme Unwissenheit geprägt.«
»Ich weiß genug über die Kirche und ihre Machenschaften!«
»Wohl von Dan Brown«, amüsierte Olgierd sich mit sehr überlegenem Gesichtsausdruck. Manchmal konnte Römer direkt nachvollziehen, warum die anderen genervt reagierten, wann immer er sich ins Gespräch mischte.
»Sie interessieren sich doch eh nicht für meine Argumente.«
»Julius«, fragte Pfarrer Römer freundlich, »hast du das Graffito draußen an der Schulmauer gesehen?«
»Gesehen ist gut«, kicherte Franzi mit einem vielsagenden Blick auf den Angesprochenen, der zu implizieren schien, dass er selbst für die Schmiererei verantwortlich war.
»Franziska«, mahnte Römer geduldig und wandte sich Julius wieder zu. »Was hat uns der Sprayer da für eine Botschaft hinterlassen? ›Sapere aude.‹ Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – hat wer gesagt?«, fragte er in die Klasse hinein.
»Kant«, kam ein dumpfes Murmeln aus mehreren Kehlen zurück. Der Pfarrer nickte. Wenigstens das wussten sie noch … »Also: Wage es, selbst zu denken. Nichts weiter will ich von dir. Das gilt für den Gläubigen« – sein Blick streifte kurz Barbara, die strenge Neuapostolikerin, und kehrte dann zu dem trotzigen Gesicht in der letzten Reihe zurück – »ebenso wie für den Ungläubigen. Alte Klischees und von anderen übernommene Meinungen ungeprüft zu vertreten, ohne die andere Position richtig zu kennen und zu verstehen, das ist bei einem Atheisten genauso unaufgeklärt wie bei dem nächstbesten Christen.« Er machte eine kurze Kunstpause und fügte dann hinzu: »Es gibt nämlich auch so was wie atheistischen Fundamentalismus. Jetzt aber zurück zum Thema. Wir waren eigentlich bei der Frage nach der Ethik, nach dem richtigen Verhalten, nach Wahrheit und …«
»Durchsage«, rief Jana, und Römer verstummte, um der Stimme des Direktors zu lauschen, die aus dem Lautsprecher über der Tafel erklang. »… bitte alle Lehrkräfte in der Pause zu einer kurzen Dienstbesprechung ins Lehrerzimmer. Zweitens: Sachbeschädigung an der Schulwand. Wer einen Hinweis darauf geben kann, wer für die Schmiererei an der Wand unseres Physiktrakts verantwortlich ist, der soll sich mit mir in Verbindung setzen. Ich habe die Sache zur Anzeige gebracht, und gemeinsam mit der Polizei werden wir hoffentlich den oder die Schuldigen bald finden. Ich appelliere an den Verantwortlichen, sich zu stellen, und an alle Schülerinnen und Schüler, die vielleicht etwas über den Vorfall wissen, sich zu melden. Ende der Durchsage.«
Die Klasse blieb einen Moment ziemlich still, nachdem Dr. Kneißl geendet hatte. Pfarrer Römer nickte bedächtig. »Wahrheit und Lüge«, murmelte er. »Wie passend.«
»Da sehen Sie’s!«, rief Julius patzig. »Tut, was euch die Erwachsenen sagen und verpetzt alle, die ihre eigene Meinung haben. Sapere aude! Dass ich nicht lache!«
Das Lehrerzimmer des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums lag im Erdgeschoss des Altbaus und wurde von den Kollegen mit der gleichen selbstironischen Resignation betrachtet, die man einer Ehe entgegenbringt, die sich eigentlich längst ad absurdum geführt hat, aber steuerliche Vorteile bringt und deshalb nicht zur Disposition steht.
Die üblichen Sachzwänge bei der Renovierung und dem Neubau der Turnhalle vor einigen Jahren (einem Projekt, das von bösen Zungen als »Osterweiterung« bezeichnet wurde) hatten zur Folge, dass es zwar mit einer prächtigen Fensterfront im Jugendstil aufwarten konnte, diese aber nur den Blick auf die fensterlose Außenmauer der Sporthalle bot. Für über sechzig Kollegen, wie sie sich jetzt in der Pause darin versammelten, war es außerdem definitiv nicht groß genug. Pfarrer Römer gesellte sich zu einer kleinen Gruppe von Lehrern, die in der Nähe der Tür zur Teeküche herumstanden, weil es nicht genügend Sitzplätze für alle gab.
In der Mitte des Raumes stand Direktor Dr. Kneißl, ein eher kleiner, agiler Mann mit sorgfältig frisierten Haaren und einem gutsitzenden, dunklen Anzug. Mit den Direktoren, die Römer aus seiner eigenen Schulzeit und teilweise von später kannte – feine, rhetorisch versierte Altphilologen die einen, joviale alte Männer mit Schmerbauch und schlecht sitzenden, karierten Jacketts oder knorrige Despoten die anderen – hatte er keine Ähnlichkeit. Kneißl war unter fünfzig und damit für einen Schulleiter ziemlich jung, und man konnte ihn sich recht gut als Manager oder Vorstand eines großen Unternehmens vorstellen: »Ich gebe die Anwesenheitsliste durch«, erklärte er, während er ein Blatt Papier weiterreichte. »Zwei Dinge möchte ich heute mit Ihnen besprechen. Das erste ist das bevorstehende G9-Abitur.«
Ein ungeduldiges Aufseufzen, kaum mehr als ein Hauch, ging durch die Lehrerschaft. Der letzte Jahrgang des alten, neunstufigen Gymnasiums stand kurz vor seinen Abschlussprüfungen, und alle wussten, dass ihnen arbeitsreiche Wochen bevorstanden, weil nur zwei Monate später der erste Jahrgang des neuen, des achtstufigen Gymnasiums Abitur machen würde. Doppelte Arbeit zum gleichen Preis, schon das alleine war ärgerlich. Aber das große Doppelabitur war mit zusätzlichen Komplikationen befrachtet.
»Die Oberstufenkoordinatoren haben bereits einen Zettel ausgehängt, aber ich möchte noch einmal allen die Modalitäten des letzten G9-Abiturs ganz klar vor Augen führen«, erklärte Kneißl. Seine Stimme klang angenehm, aber das Kollegium schien diese Tatsache nicht zu würdigen.
»Modalitäten«, wiederholte ein Lehrer, der neben Römer stand, leise, aber im Tonfall tiefster Verachtung. »Alleine das Wort!«
»Wie Sie alle wissen, befinden sich die letzten Schüler des neunstufigen Gymnasiums in einer prekären Situation«, fuhr der Schulleiter fort, und auch diese Äußerung wurde von dem Kollegen neben Römer im Flüsterton kommentiert: »Wie wahr«, murmelte er. »Die einen haben kein Hirn und die anderen benutzen es nicht – wenn das nicht prekär ist!«
»Da die jetzige K13 die letzte ihrer Art ist, gibt es für Schüler, die im Abitur nicht die erforderliche Punktzahl schaffen, keine Möglichkeit, das letzte Jahr zu wiederholen.« Römer nickte grimmig. Jeder wusste das; seit Jahren hatte das Problem bestanden. Sie waren die Letzten ihrer Art – das G8 war so anders strukturiert, dass Durchfallen einfach keine Option war. Wiederholende Schüler würden nicht den gleichen Stoff noch einmal durchnehmen, sondern größtenteils einen ganz anderen und somit jeden Vorteil des Wiederholens verlieren. Was machte man mit denen, die das Jahr trotzdem nicht schafften? Offiziell hatte die Möglichkeit bestanden, in eine tiefere Jahrgangsstufe des G8 zu gehen, aber damit hätte der betroffene Schüler gleich zwei Jahre verloren. Aus diesem Grund waren schlechte Schüler des letzten G9-Jahrgangs meist irgendwie durchgeschleift worden. Der Pfarrer vermutete, dass Dr. Kneißls heutige Neuigkeiten in dieselbe Richtung gehen würden.
»Deshalb hat das Ministerium folgende Entscheidung getroffen«, fuhr der Direktor fort. »Wenn ein Schüler der K13 das Abitur nicht besteht, hat er die Möglichkeit, an einem Nachholabitur im September teilzunehmen. Die Betroffenen können das dritte und vierte Abiturfach neu wählen, und – jetzt kommt’s: Sie werden von den entsprechenden Fachlehrern bis zum Nachholtermin im September gecoacht, damit sie dann eine echte Chance haben.«
Der eine oder andere Kollege schnaubte verächtlich bei diesen Worten. Dr. Kneißl nickte ernst. »Natürlich ist das keine erfreuliche Neuigkeit, aber leider gibt es in diesem Fall keine ideale Lösung, und wir wissen alle, dass es den Schülern gegenüber unfair wäre, wenn sie keine andere Chance mehr bekämen. Bedenken Sie aber bitte, dass Sie als Kursleiter in den Abiturfächern unter Umständen auch in den Sommerferien zur Verfügung stehen müssten, wenn …« – er machte eine Kunstpause und musterte das Kollegium – »… ja, wenn die Abiturergebnisse der letzten Kollegstufe dies nötig werden lassen. Ich glaube, wir wären alle glücklicher, wenn es nicht dazu kommen würde. Als ob uns mit dem G8-Abitur nicht noch genug Arbeit ins Haus stehen würde.«
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Kneißl«, unterbrach ein Lehrer, der erst eine Minute zuvor in den Raum gekommen war, mit sorgsam neutraler Stimme, die nichts verriet über das, was er dachte. Er war um die Vierzig, dunkelhaarig, und er wirkte wie jemand, der alles todernst nahm. »Müssen wir das als indirekte Aufforderung verstehen, das Abitur so zu korrigieren, dass alle durchkommen? Und wäre das dann eine Aufforderung seitens des Ministeriums oder seitens der Schulleitung?«
»Natürlich ist das keine solche Aufforderung«, gab der Schulleiter scharf zurück. »Die Abiturnote ist ein Verwaltungsakt, das wissen Sie so gut wie ich, Herr Köhler. Selbstverständlich geben Sie die Noten, die Sie vertreten können und die fachlich berechtigt sind.«
»Dann erschließt sich mir der Sinn Ihres Hinweises nicht«, begann der andere, doch Kneißl ließ ihn nicht weitersprechen. »Es geht lediglich um zweifelhafte Fälle. Fälle, in denen man so oder so entscheiden kann. In solchen Fällen sollten Sie angesichts der schwierigen Lage alle sorgsam prüfen, ob die bessere Benotung und damit das Bestehen nicht doch möglich ist.«
An einigen Stellen vernahm Römer wieder leise Unmutsäußerungen ebenso wie zustimmendes Gemurmel, doch es war der Kollege von vorhin, der – noch immer betont sachlich – erwiderte: »In Zweifelsfällen, in denen es um Bestehen oder Nichtbestehen geht, prüft doch wohl ohnehin jeder Lehrer seine Notengebung besonders sorgfältig. Da bedarf es keines gesonderten Hinweises, wenn nicht mehr als das gemeint ist.«
»Können wir die Diskussion beenden und zum nächsten Punkt kommen?«, schlug die Schulpsychologin vor, eine hochgewachsene Frau um die Vierzig mit weiten, weich fallenden Kleidern, die im Kontrast zu ihrem resoluten Gesicht standen. »Das bringt uns schließlich nicht weiter. Wir wissen jetzt wohl alle, was gemeint ist.« Sie nickte Dr. Kneißl unterstützend zu.
»Ja, Maul halten und weitermachen«, murmelte Römers Nachbar sardonisch.
»Mein zweites Anliegen an diesem Tag«, fuhr der Direktor fort, als sei nichts gewesen, »ist der Fall des Graffitos an der Wand zum Physiktrakt. Ich habe die Sachbeschädigung angezeigt, und ich möchte Sie bitten, Augen und Ohren offenzuhalten. Die Polizei ist bereits informiert und wird versuchen, Licht in die Angelegenheit zu bringen, aber wenn Sie eine Idee haben, wer von Ihren Schülern eventuell dahinterstecken oder etwas wissen könnte, dann geben Sie mir umgehend Bescheid. Wie schnell wir die Schmiererei entfernen lassen können, müssen wir sehen, das ist auch eine finanzielle … Ja, Herr Witteck?«
Der alte Lateinlehrer, mit dem Römer am Morgen gesprochen hatte, war von seinem Platz an einem der hinteren Tische aufgestanden und räusperte sich. »Ich will da gar nicht drum herumreden, Wände besprühen ist illegal, und natürlich müssen wir reagieren. Aber ich finde, wir sollten uns auch mit dem Inhalt des Graffitos auseinandersetzen, nicht nur mit seiner Existenz als solcher. ›Sapere aude‹ schreibt uns da einer an die Wand, das ist doch nicht ganz das Gleiche wie irgendwelche unsinnigen Bilder oder hässlichen Parolen.« Der Gong erklang, aber niemand rührte sich. Bis zum Beginn der nächsten Stunde waren es noch immer fünf Minuten, und keiner hatte es so eilig, in seinen Unterricht zu kommen, wenn die Konferenz schon einmal einigermaßen interessant war. »›Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.‹ Im Grunde sollten wir uns doch freuen, wenn einer unserer Schüler sich den Wahlspruch der Aufklärung so zu Herzen genommen hat.«
Dr. Kneißl lächelte ironisch, während im Kollegium hier und da gelacht oder zustimmend gemurmelt wurde. »Was schlagen Sie denn vor, Herr Witteck? Das Graffito einfach zu lassen, wo es ist, und den Sprayer ungeschoren davonkommen zu lassen? Sollten wir uns seinen Spruch als Schulmotto wählen und den Schriftzug auf unsere offiziellen Briefe drucken?«
Ein paar Leute lachten, der Lateinlehrer schwieg mit gerunzelter Stirn, doch in Pfarrer Römers Nähe sagte eine energische Frauenstimme mit Nachdruck: »Und warum nicht? Immerhin hat dieses Gymnasium eine humanistische Tradition, die wir nicht noch weiter verraten sollten. ›Wage, selbst zu denken‹, das wäre schon ein Leitspruch, auf den man stolz sein könnte.« Die Sprecherin war die alte Maria-Clementia Dörner, seit vielen Jahren stellvertretende Schulleiterin am Hildegard-von-Bingen-Gymnasium, und eine Art Urgestein im Kollegium.
Ihre Äußerung wurde von einigen mit Applaus, von anderen mit Kopfschütteln aufgenommen, doch auf der fernen Seite des Lehrerzimmers bemerkte Römer ein Grüppchen ganz junger Lehrer, die offensichtlich Besseres zu tun hatten, als der Diskussion zu folgen. Eine kleine, rothaarige, lebhafte Referendarin flüsterte einer anderen etwas ins Ohr, und beide erzitterten vor unterdrücktem Gelächter. Der Gong zur vierten Stunde schlug fast unbemerkt.
Über Dr. Kneißls Gesicht glitt ein Ausdruck von Verärgerung, der gleich darauf einem professionellen Lächeln Platz machte, als er sich zu der Sprecherin umwandte. »Frau Dörner, Sie tun sicher gut daran, uns an die Tradition und Vergangenheit unserer Schule zu erinnern.« Römer hatte den Eindruck, dass der Schulleiter das Wort Vergangenheit besonders betonte. »Natürlich geht es uns immer darum, die Autonomie des Individuums, mit anderen Worten, seine Selbst- und Sozialkompetenz zu stärken. Gerade die neue Ausrichtung des achtjährigen Gymnasiums legt darauf besonderen Wert, das wissen wir beide.« Einige Lehrkräfte verließen nach einem Blick auf die Uhr leise das Lehrerzimmer, um in ihre Klassenzimmer zurückzukehren, während Kneißl noch sprach. »Aber auch Achtung vor dem Eigentum anderer und Verantwortung für das eigene Handeln gehören dazu, und unsere Schüler müssen lernen, diese Verantwortung zu übernehmen, das ist ein Teil der Werteerziehung, die wir zu leisten haben und die Sie selbst doch immer wieder zu Recht anmahnen.«
Die beiden Referendarinnen im Eck prusteten leise los, aber der Schulleiter beachtete sie nicht, sondern sah Frau Dörner an. Pfarrer Römer hatte in der Teeküche in Sicht- und Hörweite einen Sitzplatz gefunden und folgte dem Gespräch amüsiert.
»Werte«, wiederholte die Dörner nachdrücklich. »Allerdings. Ich finde, kreativer Protest gehört auch dazu.«
»Protest?« Dr. Kneißl zog die Augenbrauen hoch. »Ja, warum denn?«
»Noch jemand einen Kaffee?«, fragte die rothaarige Referendarin, die sich während der Konferenz durch ihr unpassendes Gelächter hervorgetan hatte. »Herr Pfarrer? Einen Cappuccino? Nutzen Sie doch unseren tollen Kaffeeautomaten aus, wenn Sie schon da sind.« Römer ließ sich nicht zweimal bitten und nahm die Tasse entgegen.
Das Lehrerzimmer blickte auf die Baustelle der Mensa hinüber. Wenn man sich allerdings seinen Platz geschickt wählte, konnte man sogar einen Blick auf den letzten Zipfel des Schulgartens erhaschen. »Wie steht es eigentlich mit den Plänen, das Lehrerzimmer und den ganzen Verwaltungstrakt in den ersten Stock zu verlegen?«, erkundigte sich Römer interessiert. »War da nicht mal was angedacht?«
»Vielleicht in hundert Jahren mal«, antwortete ein älterer Kollege griesgrämig. Es war der, der zuvor neben Römer gestanden war und die Bemerkungen des Direktors mit so viel Verachtung kommentiert hatte. »Der Kaffee ist auch scheußlich«, brummte er verärgert. »Ich bin im Physiktrakt, falls jemand nach mir fragt, hab gerade Sprechstunde.« Und er schlurfte hinaus, ohne die anderen Anwesenden eines weiteren Blicks zu würdigen. Die unverbesserliche Referendarin prustete schon wieder los.
»Der sehnt sich doch bloß nach den Champagnervorräten drüben in der Physik«, kicherte sie. »Da kann unser armer Kaffee natürlich nicht mithalten.«
»Gibt es diese legendären Alkoholvorräte bei den Physikern eigentlich wirklich?«, wollte der Pfarrer wissen.
Vera Zeitler, eine junge Deutschlehrerin, die Römer deshalb mit Namen kannte, weil ihr Vater ein Pfarrerskollege war, zog die Brauen hoch. »Ach, als ich hier als Referendarin im Zweigschuleinsatz war, haben die Physiklehrer mich fast jeden Freitag in der Pause auf einen Sekt eingeladen.« Sie nahm sich eine Tasse Kaffee, als wollte sie damit demonstrieren, dass ihre wilden Zeiten endgültig vorbei seien. »Du, äh …« Sie sah die rothaarige Referendarin mit einem forschenden Blick an, als suche sie etwas in ihrem Gesicht.
»Himmel, mach mir keine Angst!«, rief die und tat so, als bekreuzige sie sich entsetzt. »Weiche von mir! Was willst du?«
»Friederike«, fragte Vera zögernd, »hast du nicht jetzt Vertretung? Ich dachte, ich hätte deinen Namen auf dem Vertretungsplan gesehen.«
Die Referendarin stutzte, lief ins Lehrerzimmer hinüber, und dann hörte man sie laut »Verdammt!« rufen und ihre Schultasche ergreifen.
Die übrigen schmunzelten bloß und widmeten sich wieder ihrem Kaffee. Es gab praktisch niemanden unter ihnen, der nicht schon einmal eine Vertretung übersehen hatte und von den Kollegen darauf hingewiesen werden musste. Draußen an der Lehrerzimmertür klopfte es, aber das war ein weiterer Vorteil der Teeküche: Man konnte Schüler, die mit ihren diversen Anliegen vor der Tür standen, leichter ignorieren.
Der Lehrer, der stattdessen geöffnet hatte – es war derselbe, der in der Konferenz den Disput mit dem Direktor geführt hatte – schaute über die Schwelle. »Frau Kalb hier? Die Neunte fragt nach ihr. Sie hat jetzt Vertretung und ist noch nicht aufgetaucht.«
»Ist schon unterwegs«, versicherte Vera Zeitler. »Die hat bloß den Vertretungsplan nicht lesen können.«
»Ah.« Der Kollege informierte die Schüler und kam dann zurück. »Hast du noch keinen Tee für mich aufgesetzt, Vera?«, fragte er kopfschüttelnd. »Wirklich, der Service hier wird auch immer schlechter.«
»Ich bin doch für diese niederen Arbeiten nicht mehr zuständig, seit ich keine Referendarin mehr bin«, grinste die junge Frau zurück. »Aber weil du es bist, und weil die Friederike nicht da ist, setze ich dir ein Wasser auf.« Sie hantierte mit dem Wasserkocher und kramte im Schrank nach einem Teebecher. Das HBG verfügte über eine beachtliche Sammlung von Tassen mit allen denkbaren Motiven und Sprüchen darauf. »›World’s best English teacher‹«, murmelte sie, »nee, passt gar nicht. Was haben wir da? ›Schnuckilein‹ samt rosa Herz. Wow! Ich nehme an, damit möchtest du nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden. ›Gina – Klassefrau mit Herz‹, Gott behüte uns! ›Halbmarathon 2009‹, warst du da dabei? Egal, den kriegst du jetzt. Wenn ich mal einen Becher finde mit der Aufschrift ›Christopher – immer mit dem Kopf durch die Wand‹, bringe ich ihn für dich mit.«
Der andere lächelte schmal. »Hab ich mich heute wohl wieder mal unbeliebt gemacht?«
»Nur bei der Hälfte des Kollegiums«, meinte Vera schulterzuckend. »Reicht aber auch für einen Tag, die Woche hat schließlich erst angefangen. Hier, dein Tee.«
Pfarrer Römer hatte dem Gespräch mit seiner üblichen Neugier zugehört. Er fand den Mikrokosmos Lehrerzimmer faszinierend, diese Ansammlung von unterschiedlichen Menschen, die auf engem Raum zusammenarbeiteten, jeder für sich und doch als Gemeinschaft mit ihren Dynamiken und Reibungen. In seiner Pfarrei gab es nur eine Handvoll Personen, mit denen er regelmäßig eng zusammenarbeitete, und eine Lagerbildung, wie er sie im Lehrerzimmer gerade erlebt hatte, war dort in dieser Art nicht denkbar.
»Aber hör mal, was der Chef heute gesagt hat, war doch nichts anderes als eine Aufforderung dazu, das Abitur zu schönen, damit es nicht zum Nachholabitur kommt. Der Ausverkauf unseres Selbstverständnisses als echte Bildungsanstalt. Und wenn er oder das Ministerium das will, dann möchte ich das gerne offen gesagt bekommen, nicht durch die Blume, damit sich wenigstens alle darüber klar sind, wenn dieses Abitur eine bloße Farce ist.«
»Das ist doch Unsinn«, protestierte ein anderer Lehrer, den Römer bisher nicht beachtet hatte, ein gutaussehender Mittdreißiger, der über seiner Jeans ein weißes Hemd trug, das allerdings über dem Bauch ein wenig spannte. »Niemand fordert uns dazu auf, Noten zu fälschen. Aber wenn es um einen oder zwei Punkte geht und die bessere Bewertung möglich ist, dann wären wir ja schön blöd, wenn wir uns zusätzliche Arbeit machen würden, indem wir extra streng korrigieren.«
»Da spricht doch wieder der pure Pragmatismus, Sebastian«, beschuldigte ihn Vera, aber sie lächelte dabei.
»Kant wäre so stolz auf uns«, bemerkte ihr Kollege Köhler kühl, während er seinen Tee austrank, ohne Sebastian einen Blick zu schenken. Seine Stimme klang ironisch, doch Pfarrer Römer fiel auf, dass er, anders als Vera, bei seinen Worten nicht lächelte.
Die Mitglieder des Projektseminars Kunst trafen sich ein letztes Mal im Zeichensaal, um ihre Skizzen und Materialien abzuholen. Franka Katteler betrat den schäbigen Raum mit den windschiefen Pulten nicht ohne eine gewisse Wehmut. In mancher Hinsicht war das Kunstseminar doch die beste Veranstaltung der letzten beiden Jahre gewesen. »Künstlerische Gestaltung des Schulgartens mit Vernissage« hatte der Titel gelautet, mit dem zunächst niemand so recht etwas hatte anfangen können, aber das war bei vielen Seminaren der Fall gewesen. Franka hatte es gewählt, weil sie recht gut in Kunst war und weil sie im begehrten Geschichtsseminar keinen Platz bekommen hatte. Sie hatte es nicht bereut. Zwar war es nicht die stressfreie Zeit geworden, die einige Schüler erwartet hatten – ganz im Gegenteil. Es hatte andere Projektseminare gegeben, in denen man für seine guten Noten nur sehr wenig tun musste. Frau Rosenberg war eine alte, knorrige Künstlerin, die sich nicht mit halben Sachen zufriedengab und gefürchtete Wutanfälle bekam, wenn ihre Schüler ihren Anforderungen nicht entsprachen. Aber trotzdem hatten die Stunden, im Kunstsaal und dann später auch im Schulgarten, wo sie ihre Skulpturen aufgebaut hatten, zu den besten Zeiten der vergangenen zwei Jahre gehört.
»Mann, bin ich froh, dass das vorbei ist«, stöhnte Johannes, der gleichzeitig mit ihr in den Raum geschlurft kam. »Dieses Kunstseminar war so was von für’n Arsch.«
»Wie willst du denn das wissen, du warst doch am Montagnachmittag eh nie da«, feixte sein Freund Georg.
Franka ignorierte die beiden und suchte die Saalwände nach ihren Skizzen und Bildern ab, die dort aufgehängt waren.
»Hast du die Entwürfe für mein Liebespaar gesehen?«, fragte ihre Freundin Marina sie auf einmal. »Ich kann die Zeichnungen nirgends finden. Wenigstens die will ich wiederhaben, wo die Figur schon geklaut wurde.«
»Die ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?« Franka zuckte ratlos die Schultern. »So was Bescheuertes, wer stiehlt denn ein Kunstobjekt? Ich meine, wenn es nicht ein Rembrandt ist, mit dem man viel Geld machen kann.« Sie merkte, dass ihre Worte nicht sehr schmeichelhaft klangen, und fügte hinzu: »Ich meine, ich finde dein Objekt toll, auch wenn es keine Millionen wert ist, und es ist total mies, es zu stehlen.«
Johannes hatte die Worte gehört und verzog das Gesicht. »Na klar, aber das Werk unserer Topkünstlerin weckt natürlich Neid. Wahrscheinlich taucht es in fünfzig Jahren wieder auf und wird dann für zehn Millionen Euro verkauft.« Er grinste und fügte verächtlich hinzu: »In fünfzig Jahren sind zehn Millionen Euro wahrscheinlich noch so viel wert wie ein Döner.«
Franka warf ihm einen zornigen Blick zu. »Mann, du bist echt so witzig. Bloß, weil du in dem ganzen Seminar nichts geleistet hast …« Sie drehte ihm betont den Rücken zu und wandte sich an ihre Freundin, die bedrückt aussah. »Frag die Rosenberg nach den Zeichnungen. Vielleicht hat sie die in Sicherheit gebracht, sie weiß, wie gut die Figur war. Wo ist sie eigentlich?«
»Sollen wir mal nachsehen?«
Die beiden Mädchen schlenderten durch den Vorraum zum Materialraum, wo sie Stimmen vernahmen, blieben aber abrupt stehen, als sie bemerkten, dass ihre Kunstlehrerin sich mit einem sehr jung aussehenden, uniformierten Polizisten unterhielt.
»Ja, ja, hab ich schon gesagt«, hörten sie ihre ungeduldige Stimme. »Ich hab verschiedene Schüler, denen ich das rein künstlerisch zutrauen würde – und es heißt Graffito, nicht Graffiti, wenn es nur eine Zeichnung ist. Die grammatikalische Form nennt sich Singular, das sollten Sie eigentlich wissen. Ja, das Graffito ist recht gut, dazu braucht es einige Übung, sicher kein Anfänger.«
Sie konnten nicht verstehen, was der Polizist sagte – er setzte nicht dieselbe Stimmkraft ein wie die Rosenberg, die nicht gerne leise redete – aber die Antwort war deutlich genug: »Das muss deswegen noch lange keiner von den besten Leuten im Kunstunterricht sein. Graffiti sind eine eigene Kunstform … ja … wenn ich was weiß, sage ich es Ihnen, versteht sich. Habe ich schon vorhin versprochen, soll ich alles zehnmal sagen?«
Der Polizist verließ den Materialraum. Er zwinkerte Franka und Marina zu, als er sie erblickte. »Altes Schlachtschiff, was?«, murmelte er verschwörerisch und ließ sie stehen. Die Rosenberg kam gleich darauf ebenfalls heraus und sah dem Beamten unfreundlich hinterher. »Ignorant«, bemerkte sie ihrerseits, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Stimme zu senken. »So, ihr zwei, habt ihr eure Sachen geholt?«
Die beiden hatten die Arme voller Skizzen und Entwürfe, als sie die Treppe wieder hinunterstiegen. »Wie transportiere ich das bloß alles im Bus?«, sorgte sich Franka. »Ich hab nicht gedacht, dass das so viel sein würde.«
»Mein Dad holt mich ab«, erklärte Marina. »Der nimmt dich sicher auch mit.«
Auf dem Weg zum Parkplatz blieben sie, wie alle anderen an diesem Tage auch, vor dem Graffito stehen und blickten zu dem bunten Schriftzug hinauf. Ihr Mitschüler Tilman Färber schlenderte auf sie zu.
»Was meint ihr, wer das war?«, fragte er müßig. »Der Julius aus der Zehnten soll ein Sprayer sein, sagen alle.«
Marina zuckte die Schultern. »Ja, aber das würden sie auch sagen, wenn es nicht stimmen würde. So wie der rumläuft …«
»Stimmt auch wieder. Mit den Haaren! Was ist mit dieser Mädchengang aus der Neunten?«
»Bei uns gibt’s eine Mädchengang?« Franka sah so überrascht drein, dass Tilman lachen musste.
»Was weiß ich, aber da ist die eine dabei, die sie von den Besinnungstagen heimgeschickt haben, weil sie Alkohol dabeihatte – und die anderen sind auch ziemlich wild. Vielleicht waren die es.«
»Hallo, Herr Brand!«, rief Franka laut, als sie ihren Englischlehrer auf sich zukommen sah. Er musste nicht unbedingt hören, was Tilman über den möglichen Urheber des Graffitos spekulierte. Thomas Brand nickte und gesellte sich zu ihnen. »Die Farben sind schön«, bemerkte er, den Blick auf den Schriftzug an der Wand gerichtet. »Schwarz-Gelb, das könnte glatt eine politische Aussage sein, wenn das Blau nicht wäre.«
»Vielleicht für Bayern«, ulkte Franka, während sie ebenfalls die Worte musterte. Plötzlich wandte sie sich abrupt ab und ging weiter. »Lass uns gehen«, sagte sie zu Till. Sie wollte das Graffito nicht länger ansehen, denn auf einmal hatte sie das Gefühl, dass sie dann darin etwas entdecken würde, was sie lieber gar nicht wissen wollte.
2. Glückliche Hühner
Eva Schatz von der Ansbacher Kriminalpolizei ließ den Blick über den engen, gepflasterten Hinterhof gleiten, in dem sie stand, dann über die Häuserfronten ringsum. Das Backsteingebäude vor ihr, zu dem der Hof gehörte, war heruntergekommen und seit Langem unbewohnt, die Fenster mit Holz verbarrikadiert, doch dahinter und daneben erhoben sich modernere Bauten mit mehreren Stockwerken und viel Glas, die hauptsächlich Büros beherbergten.
Das einzige Grüne in diesem Teil der Stadt, den die moderne Stadtplanung bislang völlig ignoriert hatte, waren ein paar Grashalme in den Ritzen zwischen den Gehsteigplatten.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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