1984. Einer dieser Sommer - A.D. WiLK - E-Book

1984. Einer dieser Sommer E-Book

A.D. WiLK

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  • Herausgeber: adw
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ich fand Gefallen an seinem Spiel und legte auf jedes der Blätter eine Frage, einen Gedanken, eine Sorge. Der sanfte Strom nahm sie mit und nach und nach leerte sich mein Kopf. Die Ruhe kann den Sturm nicht aufhalten und doch verweilt sie in der Stille, bis der Ruf des Lebens so stark ist, dass sie sich entgegen aller Widerstände hinein ziehen lässt. Ost-Berlin, Sommer 1984. Seit fünf Monaten zieht es Kim an den schmalen Fluss, der an der neuen Hochhaussiedlung vorbeiführt. Es ist der einzige Ort, an dem sie Frieden zwischen ihren Gedanken findet. Als würden sie hier an dieser Stelle keinen Raum finden, um sich in Bilder und Worte zu wandeln. Und dann taucht der zwölfjährige Moritz mit den traurigen Augen am Fluss auf, wirft Kim zurück in die Realität und schlägt Risse in die Mauer, die verbergen soll, was sie nicht sehen will. Das Leben. Sie lässt es zu, erlaubt sich nach Monaten der Starre, dieses Leben wieder zu spüren und öffnet ihr Herz für Moritz und seinen Vater David. Sie geben ihr einen Grund zum Lachen, zum Lieben, Momente zum Glücklichsein. Und können doch an dem, was geschehen ist, nichts ändern … Die Serie „Einer dieser Sommer" erzählt sechs Geschichten, die sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren erstrecken und immer wieder zusammenfließen. Du kannst jedes Buch eigenständig lesen, doch zusammen ergeben sie ein großes Ganzes.

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INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

.

Kapitel 3

Kapitel 4

..

Kapitel 5

Kapitel 6

….

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

…..

Kapitel 12

……

Kapitel 13

…….

Kapitel 14

……..

Kapitel 15

Kapitel 16

………

Kapitel 17

……….

Kapitel 18

………..

Kapitel 19

Kapitel 20

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

…………

Dreiundzwanzig

………….

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

DReißig

EINUNDDREIßIG

Epilog

Möchtest du noch mehr?

Über mich.

Mein Podcast

Wenn du wieder gehst

Nur für diesen Moment.

Laufe Lebe Liebe.

Siebzehn Jahre. Ohne mich. Mit dir.

Vielleicht war es Liebe.

Vielleicht nur diese Nacht

Vielleicht du und ich

Ich schreibe auch Sachbücher

Schreib dein Buch jetzt.

LARA. Thriller Trilogie.

JOEY. du bist mein.

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Danke Mama, Petra, Vera, Marlies, Heide und ihr anderen. Die besten Nachbarn der Welt!

Für die Frauen,

die nicht mutig sein konnten.

PROLOG

NOAH

JANUAR 1984

Du wirst sehen, Liebling, schon bald ist alles anders.“ Ich streichelte ihr sanft über den Arm, spürte ihre weiche Haut unter meinen Fingerspitzen und lächelte.

„Noah …“ Kim flüsterte und senkte den Blick.

Ich legte meine Stirn auf ihre, strich mit der Nase über die ungeschminkte Wange und ließ meine Lippen auf ihren Mund treffen. Kim erwiderte meinen Kuss zaghaft.

„Und du bist morgen Abend zurück?“

„Morgen Abend.“ Ich umarmte sie. „Wenn ich ein Telefon finde, rufe ich heute Abend bei Frau Kowalkowska an. Aber ich kann es dir nicht versprechen.“

„Du könntest einfach in einem Hotel schlafen. Dort gibt es Telefone.“ Sie legte den Kopf schief.

„So sparen wir Geld, das weißt du doch. Wenn ich zurück bin, packen wir und in weniger als vier Wochen …“

„… beginnen wir unser neues Leben.“ Endlich lächelte sie und ich verliebte mich ein weiteres Mal in diese wundervolle Frau, die es nicht verdient hatte, so zu leben. Die Frau, mit der ich es nicht verdient hatte, mein Leben zu verbringen. Was für ein Idiot war ich in der Vergangenheit gewesen? Doch das würde sich nun alles ändern. Ich hatte es ihr versprochen. Und dieses Mal würde ich mein Versprechen halten.

„Ganz genau. Unser neues Leben.“ Wieder küsste ich sie, zog sie etwas näher an mich und flüsterte: „Und wer weiß, vielleicht sitzen wir zum nächsten Weihnachtsfest zu dritt unter unserem Baum in Berlin.“ Meine Hand glitt liebevoll zu ihrem Bauch.

Sie erwiderte nichts, sah mich jedoch aus großen, traurigen Augen an.

„Kim.“ Meine Hand fuhr um ihre Taille. „Ich bekomme immer, was ich will, das weißt du doch.“ Noch einmal küsste ich sie. „Und das hier will ich mehr als alles andere.“

EINS

KIM

JULI 1984

Der schmale Fluss schlängelte sich inmitten kleinerer Bäume und verschiedener Sträucher durch das Tal, dessen Berge künstlich aus Beton erschaffen worden waren. Ich sah sogar ein paar Fische und Maria hatte mir erzählt, dass man weiter hinten im Wald Rehe und Hasen beobachten konnte. Ich hielt nicht nach den Tieren Ausschau, sondern verweilte am gleichen Platz.

Mein Platz, unterhalb der Brücke, wenn es regnete, direkter an der Straße, wenn es trocken war. Heute verhängten weiße Wolken den Himmel.

Seit vier Monaten kam ich täglich und verharrte für eine Stunde oder zwei. An Wochenenden länger. Im Frühling hatte ich ganze Tage damit verbracht, dem Lauf des Wassers dabei zuzusehen, wie dieses unaufhörlich seinem Strom folgte.

Ich vergaß Durst und Hunger und die meisten anderen meiner Bedürfnisse. Die Verantwortung dafür trug nicht der Fluss. Er schwemmte auch meine Gedanken nicht davon, überspülte sie aber und ließ mein Bewusstsein in einer friedlicheren Leere zurück.

Ich hatte versucht, diese Leere an anderen Stellen zu finden. Tiefer im Gestrüpp, dort, wo die Rehe sich versteckten. Doch Unstetigkeit und Unruhe hatten mich nach wenigen Minuten eingeholt und ich war zurückgefallen.

Gefallen.

Seit Monaten fiel ich. Ich prallte nicht auf, ich hielt mich nirgendwo fest. Ich befand mich in einem freien Fall, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn aufhalten wollte. Was würde dann geschehen?

Ein Knacken ließ mich aufblicken. Es kam vom anderen Ende der Brücke, der anderen Straßenseite. Und dann hörte ich die Schritte, die sich am Rand des Wassers auf dem schmalen, matschigen Uferstreifen entlang bewegten. Sekunden später tauchte ein etwa zwölfjähriger Junge in der Tunnelöffnung auf.

Mit einem Runzeln auf der Stirn sah er mich an, ging weiter und blieb etwa zehn Meter entfernt erneut stehen. Er suchte den Boden ab, beugte die Knie und setzte sich.

Was sollte das denn? War es nicht eindeutig, dass ich hier saß und allein sein wollte?

Für einen Moment drängte mich ein innerer Widerwille, mich zu erheben. Doch was dann? Nein, ich war zuerst hier gewesen. Und ich würde es aushalten, dass er hier war, bis er wieder ging. Vermutlich würde es nicht lange dauern. Verstohlen musterte ich ihn. Er beobachtete das Wasser, legte zunächst ein Stöckchen, dann mehrere Blätter nacheinander auf die winzigen Wellen und ließ alles davonschwimmen.

Dunkle, glatte Haare fielen ihm ins Gesicht. Er war kleiner als ich.

Als er zu mir sah, konnte ich den Kopf nicht schnell genug abwenden und war von seinem Anblick gefesselt. Dunkle Augen betrachteten mich aufmerksam. Er lächelte nicht. Stattdessen fand sich in seinen Zügen eine tiefe Traurigkeit, die jener, die ich in mir spürte, so ähnlich war. Eine Traurigkeit, die nicht auf dieses junge Gesicht gehörte.

Meine Lippen öffneten sich ohne mein Zutun und auch die Worte, die zwischen ihnen hervorsprudelten, hatte ich nicht in Auftrag gegeben. „Ich bin Kim. Hallo.“

Wieder runzelte er die Stirn. Vielleicht hatte er noch weniger als ich damit gerechnet, meine Stimme zu hören. Nach einigem Zögern sagte er: „Moritz.“

Ich überging seine Einsilbigkeit. „Hallo, Moritz.“

Er wandte den Kopf ab und ich kam mir dämlich vor. Andererseits hatte er sich zu mir gesetzt. „Was machst du hier?“ Ich sah auf meine Armbanduhr. Ein Geschenk. Es war später Nachmittag.

Er schüttelte die langen Strähnen. „Nichts Besonderes.“

Mehr sagte er nicht und ich saß wieder unschlüssig da. Der Frieden war mit seinem Auftauchen verschwunden und ich hatte das Gefühl, eine Unterhaltung mit dem Eindringling führen zu müssen, um zumindest zu erfahren, warum er meine Ruhe gestört hatte. Unsere Ruhe.

„Ist heute nicht der letzte Schultag?“ Maria hatte mir davon erzählt. „Willst du das nicht mit deinen Eltern feiern?“

„Geht nicht.“

Ärger stieg in mir auf. Was wollte er hier? Hockten irgendwo im Gebüsch seine Freunde und warteten kichernd darauf, wann er mich vertrieben haben würde? Vielleicht hatten sie sogar Wetten abgeschlossen.

„Hör zu, Moritz, ich komme hierher, um allein zu sein.“

Endlich sah er mich wieder an. „Ja, ich auch.“

Ich presste die Lippen aufeinander. „Warum setzt du dich dann zu mir?“

„Das habe ich nicht.“ Er streckte den Arm aus, wie, um mir zu bedeuten, dass sich zwischen uns jede Menge Platz befand.

Gern hätte ich ihn weggeschickt. Gern hätte ich ihm gesagt, warum ich allein, richtig allein sein wollte. Doch das würde ich nicht tun, konnte es nicht. Er würde es ohnehin nicht verstehen. Ich tat es ja selbst nicht.

Ich sah zur anderen Seite, in die Richtung, aus der er gekommen war. Der kurze Tunnel war dunkel, doch am anderen Ende strahlte das Tageslicht umso deutlicher. Es wirkte heller als auf dieser Seite, was sicher dem Kontrast geschuldet war, den der Schatten der schmalen Unterführung hervorrief. Noah würde den Kopf schütteln, wenn ich ihm von so einer Beobachtung erzählen würde. Aber auch das würde ich nicht tun.

Langsam erhob ich mich.

„Wo gehst du hin?“ Er war alt genug, um zu wissen, dass es unhöflich war, eine erwachsene Frau zu duzen, doch andererseits hatte ich mich mit meinem Vornamen vorgestellt. Warum hatte ich das getan?

Ich wandte den Blick zu ihm. Wieder war da dieses Runzeln auf seiner Stirn.

„Ich sagte doch, ich möchte allein sein. Wenn du hier sein willst, gehe ich auf die andere Seite.“

Ein paar Sekunden sahen wir einander an. Dann nickte er und senkte den Blick wieder auf das Wasser vor ihm.

Ich war etwas enttäuscht, konnte mir nicht erklären, warum, und setzte einen Fuß auf einen der Steine, die am Rand des Ufers lagen. Sofort rutschte ich ab und landete mit der Ledersandale im Wasser. So ein Mist! Schmutziges Wasser umspülte mein Bein bis knapp unter das Knie. Ich trug einen kurzen Rock, obwohl es noch immer zu kalt war für einen Sommertag Anfang Juli.

„Die Sohle ist zu glatt. Du solltest die Schuhe ausziehen.“

Er hatte recht. Ich zog den Fuß aus dem Wasser, entledigte mich der Sandalen, raffte den Rock und trat vorsichtig in das Flussbett. Kleine Steine bohrten sich in meine Fußsohlen und Algen umspülten glitschig meine Knöchel. Widerwillig trat ich voran und hoffte, dass im Dunkel unter der Brücke keine Glasscherben verborgen lagen.

Ich hatte Glück. Ich erreichte die andere Seite unversehrt, trat ins Gras des Uferbereichs und setzte mich auf eine freie Stelle. Als ich die Augen schloss, kehrte die Ruhe zurück. Ich ließ die Bilder vom Plätschern des Wassers davontragen und wollte in den Frieden tauchen.

Doch stattdessen fand ich Moritz’ traurige Augen.

ZWEI

KIM

Er kam dienstags und donnerstags und manchmal, wenn frische Ware eintraf, stand er auch an anderen Tagen mit den Wartenden in der Schlange. Bisher war er immer allein gekommen und wir hatten uns über Belanglosigkeiten unterhalten. Er war nicht verheiratet. Zumindest trug er keinen Ring an seinem Finger. Heute war er in Begleitung. Das war doch nicht möglich.

„Wie war dein Wochenende? Ist es nicht herrlich, dass es endlich warm ist? Diese Kälte im Juli. Das hält doch niemand aus.“ Maria sah mich strahlend an. „Wir hatten einen wunderbaren Sonntag. Wir waren mit den Kindern am See und der Kleine hat endlich schwimmen gelernt. Ich sage dir, ich dachte schon, das wird nichts mehr.“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und nickte nur zustimmend, während ich ein Paket Mehl ins Regal sortierte und ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Er nahm sich einen Korb und begann die Runde durch den Laden.

„Auf jeden Fall waren die Kinder gestern Abend völlig erledigt und ich habe sie heute Morgen kaum aus dem Bett bekommen.“

„Ich dachte, es wären Ferien.“ Ich sah sie noch immer nicht an.

„Ja, es sind ja auch Ferien. Aber sie gehen beide in den Hort.“

„Ach so.“ Ich erhob mich. „Sind wir fertig?“

„Ja, es ist alles eingeräumt. Gehst du an die Kasse? Dann wische ich mal unsere Ecke.“ Sie deutete in einen Teil des Ladens, in dem wir die Milchtüten ausstellten. Immer wieder platzte einer der Schläuche auf oder war von vornherein undicht und Maria wischte täglich mehrfach über den Boden, damit sich der Geruch nach saurer Milch nicht festsetzte.

„Sicher.“ Ich klatschte die Hände gegeneinander, um das Mehlpulver loszuwerden, und ging auf den Tresen zu, auf dem sich die Registrierkasse befand.

Es war Montagvormittag. Die Leute kamen, um die am Wochenende geleerten Kühlschränke wieder aufzufüllen und für die Woche einzukaufen.

„Guten Morgen.“ Er sah mich erst jetzt, wie es schien. Sein Lächeln ließ mein Herz ein bisschen höher schlagen. Wie jedes Mal unterdrückte ich meine Reaktion, schenkte ihm nur ein halbherziges Lächeln und erwiderte: „Guten Morgen.“

Dann sah ich zu Moritz. „Hallo.“

„Hallo, Kim.“ Er musterte mich, ohne zu lächeln.

Auf die Stirn seines Vaters legten sich ein paar Falten. Er sah zu Moritz. „Woher kennst du ihren Namen?“

Moritz zuckte mit den Schultern und ging zu dem Regal mit den Süßigkeiten. „Können wir Knusperflocken kaufen?“

Sein Vater sah zu mir, zögerte, sagte jedoch nichts und ging weiter.

Ich hätte ihm erzählen können, dass Moritz und ich uns vor ein paar Tagen am Bach getroffen hatten. Doch dies wäre keine Belanglosigkeit gewesen. Nicht nur deshalb, weil ich Moritz´ tieftraurigen Blick gesehen hatte.

„Gibt es schon wieder keine Bohnen?“ Eine andere Kundin sah mich so vorwurfsvoll an, als wäre ich persönlich dafür verantwortlich, dass das Gemüse nicht vorrätig war, weil ich sie am Wochenende aufgebraucht hatte, um kleine Bohnen-Männchen zu basteln.

Moritz’ Vater schaltete sich ein. „Versuchen Sie es doch mal auf der anderen Straßenseite. Vorhin habe ich die Kleingärtner dort gesehen.“

Die Kundin, sie mochte Mitte dreißig und nur etwas älter als Moritz’ Vater sein, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Oh, daran habe ich gar nicht gedacht. Vielen Dank, David. Wie geht es euch denn? Wir haben dich schon so lange nicht mehr zu sehen bekommen.“ Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und tätschelte seinen Arm, als sie ihn erreicht hatte.

David, das war also sein Name. Ich musterte ihn, überlegte, ob er zu ihm passte. Ich hatte ihn immer als einen Tom oder Paul gesehen. David …

„Wir kommen zurecht. Und ja, du weißt ja, wie das ist. Die Arbeit und dann ist da Moritz.“

„Hey, ich kann gut auf mich allein aufpassen“, rief dieser empört aus der Süßigkeitenecke.

„Natürlich kannst du das.“ David lächelte, als würde er keinen Zweifel an der Selbstständigkeit seines Sohnes haben.

Ein Stich durchfuhr mich und ich legte unwillkürlich eine Hand auf meinen Bauch.

„Wir würden dich auf jeden Fall gern sehen.“ Rasch fügte sie an Moritz gewandt hinzu: „Euch beide. Ihr könnt euch nicht ewig verkriechen.“ Es klang wie eine Drohung, doch David lächelte sie wohlwollend an.

„Wir sehen mal, wie es sich einrichten lässt.“

„Habt ihr denn einen Ferienplatz? Es würde euch so guttun, etwas Zeit außerhalb von Berlin zu verbringen.“

„Wir fahren in zwei Wochen an die Ostsee“, beantwortete Moritz die Frage freudestrahlend.

„Oh, das ist schön. Wo geht es denn hin?“

Ich wollte dem Gespräch weiter lauschen, doch Maria riss mich aus meiner schlechten Agentenimitation. „Hey, ich dachte, du gehst an die Kasse.“

„Hm?“ Ich wandte den Kopf langsam zu ihr, mein Blick haftete jedoch weiter auf David und der Frau.

„Ki-him. Dort steht eine Kundin und möchte ihren Einkauf bezahlen.“

„Was?“ Verwirrt sah ich mich im Laden um.

Maria hatte so laut gesprochen, dass auch die anderen sie gehört hatten, und das Gespräch zwischen David und der Frau war verstummt. Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich spürte Hitze in meine Wangen steigen, sah zu Boden und begab mich hinter den Tresen.

„Entschuldigen Sie bitte, ich war abgelenkt.“

Die Kundin war in meinem Alter und lächelte mich mit einem Blinzeln an. „Kein Problem, ich kann das schon verstehen.“ Sie beugte sich etwas zu weit vor, als sie ihren Korb ausräumte und die Waren auf den Tresen legte. Dabei ließ sie mich tief in ihren Ausschnitt blicken, doch ich sah nur das Kleid, den geschmeidigen roten Stoff und den Schnitt, der einem größeren Körper geschmeichelt hätte, für sie jedoch zu weit war.

„Für einen Blick auf so einen schönen Mann kann Frau schon mal den Rest der Welt vergessen.“

Erschrocken sah ich auf. So war es nicht gewesen. Ich schüttelte langsam den Kopf, meine Lippen formten ein Nein, doch die Frau vor mir grinste nur noch breiter.

„Ich bin übrigens Krissi. Wir sind letzte Woche neu hierhergezogen.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen.

Ich nahm sie, noch immer schockiert über ihre Vertraulichkeit, in meine und drückte sie. „Ich … hallo … ähm …“ Ich sammelte mich, atmete tief durch und erwiderte ihr Lächeln. „Ich bin Kim.“ Ich nahm den Margarinewürfel in die Hand, den sie soeben aus dem Korb geholt hatte, und musterte ihn, als würde er mir persönlich verraten, was er kostete. Dabei hatte ich mir die Preise der einzelnen Waren in den vergangenen Wochen so gut eingeprägt, dass ich sie problemlos im Schlaf hätte aufsagen können. 80 Pfennig für die Schlager Süßtafel, 2,50 Mark für eine Packung Juwel, 34 Pfennig für einen halben Liter Milch, 85 Pfennig für fünf Kilogramm Kartoffeln.

„Wie schön, dich kennenzulernen, Kim. Wohnst du schon lange hier? Ich meine, so lange es eben geht.“

Die Wohnsiedlung war in den letzten Jahren errichtet worden. Noch in den Siebzigern hatte es hier nichts als Einfamilienhäuser, Feld und ein paar Straßen gegeben. Nun tummelten sich tausende Menschen, besonders Familien, zwischen vorgefertigten Platten.

„Seit Februar. Ich bin im Februar hierhergezogen.“ Mein Blick schweifte an ihr vorbei durch den Laden und blieb für eine Sekunde an David hängen. Als er den Kopf zu mir wandte, schnellte meiner zurück.

Krissi runzelte kurz die Stirn, lächelte dann aber wieder. „Ich habe meinen Wohnantrag erst vor einem Jahr gestellt. Max und ich konnten es kaum glauben, dass wir so schnell etwas bekommen haben. Wir haben alle unsere Freunde zusammengetrommelt, damit sie uns dabei helfen, die Arbeitsstunden zu leisten. Aber es hat geklappt. Wir haben zweieinhalb Zimmer und das halbe wird nicht lange ungenutzt bleiben.“ Sie strahlte wieder. „Wir heiraten im August.“

Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern, musste aber den Blick senken und die Preise der Produkte in die Registrierkasse tippen und konnte so meinen wahren Gesichtsausdruck verbergen. „Das klingt toll“, sagte ich nur und sah erst wieder auf, als die Kasse den Preis für ihren gesamten Einkauf errechnet hatte. „12,76 Mark macht das dann.“

„Oh, richtig.“ Sie kicherte und zog dabei ihr Portemonnaie aus dem Beutel. „Hier.“

Ich wechselte das Geld und lächelte nun doch. „Danke für Ihren Einkauf.“

Ein Schatten zog über ihr Gesicht, doch sie sammelte sich innerhalb weniger Sekunden, steckte Mehl, Margarine und den Rest ihres Einkaufs in den Beutel und fragte: „Hast du vielleicht Lust, mal einen Kaffee zusammen zu trinken?“ Sie hatte alles verstaut und sah mich erwartungsvoll an. Die Lippen aufeinandergepresst.

Ich konnte es nicht verhindern. Ein winziges Lächeln schob sich in meine Mundwinkel.

Sie interpretierte meine Mimikveränderung als Antwort auf ihre Frage und das Strahlen kehrte auf ihr Gesicht zurück. „Ist das ein Ja?“

Ich überlegte. Bisher hatte ich mich, abgesehen von Maria, mit niemandem länger als ein paar Minuten unterhalten. Das Aufeinandertreffen am Freitag mit Moritz war die erste Begegnung gewesen, die außerhalb von Hausflur oder Konsum geschehen war. Vielleicht war es an der Zeit, dass ich einen Menschen in mein Leben ließ?

„Ja?“

„Also, gut.“

Sie verzog das Gesicht. „Na toll, das klingt jetzt so, als würdest du mir einen Gefallen erweisen.“

In mir breitete sich ein Gefühl aus, das ich seit Monaten nicht gespürt hatte. Ich wollte nicht, dass sie schlecht von mir dachte. „Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich … ich würde mich sehr gern mal mit dir auf einen Kaffee treffen.“ Ich duzte sie nun selbst und lächelte sie offen an.

„Prima! Ich backe einen Kuchen. Wann hast du Feierabend?“

.

NOAH

Jena, Sommer 1981

Sie stand an der Straßenbahn-Haltestelle und las in einer Zeitschrift. Ich hatte sie schon oft hier gesehen, doch sie war immer vertieft in ihre Lektüre. Meistens waren es Mode-Magazine. Manchmal, eher selten, auch Bücher. Keine Romane, nein, es waren Bücher über Nähtechniken und Textilien.

Seit drei Wochen fuhren wir fast jeden Morgen mit derselben Bahn. Sie stieg drei Stationen vor mir aus. Dennoch hatten wir fünfzehn Minuten gemeinsame Fahrtzeit.

Heute würde ich sie ansprechen. Ich hatte es mir genau überlegt. Ich würde ihr einen Guten Morgen wünschen und sie fragen, was sie las. Doch als ich mich ihr näherte, verlor ich den Mut. Zwei Meter von ihr entfernt blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war heiß und ich schwitzte in meinem Anzug.

Als die Bahn in Sicht kam, trat ich noch einen Schritt näher an sie heran. Sie schloss die Zeitschrift, beachtete mich jedoch noch immer nicht. Außer uns befanden sich zwei Dutzend weitere Menschen an der Haltestelle. Ich war nur einer von ihnen.

Doch dann, als die Bahn hielt, die Türen sich öffneten und sie auf die Treppe trat, drehte sie den Kopf und sah mich an. Ein Lächeln schob sich auf ihre Lippen. Ich erwiderte es sofort, grinste in mich hinein und folgte ihr in die Bahn. Sie setzte sich ans Fenster. Derselbe Platz wie immer. Normalerweise nahm ich im Abteil daneben Platz, doch nicht heute. Ich nahm den Sitz ihr gegenüber, lehnte mich etwas vor und sagte: „Guten Morgen.“

Das Lächeln lag noch immer auf ihrem Mund. „Guten Morgen.“ Und dann fügte sie hinzu. „Warum beobachtest du mich?“ Kein Vorwurf formte ihre Worte. Sie war interessiert.

„Wie könnte ich nicht?“

Sie lachte leise auf und ich entspannte mich. Ja, sie war interessiert.

„Nun, es gibt genug andere Mädchen, die mit uns auf die Bahn warten.“

Uns. Sie sagte uns. „Ja, aber keine von ihnen zieht meinen Blick so an wie du.“

„Ach ja?“ Eine zarte Röte legte sich auf ihre Wangen. „Warum ziehe ich denn deinen Blick auf mich?“

Ich überlegte mir meine Worte genau, denn ich wollte nicht, dass sie dachte, ich würde nur ihr hübsches Gesicht und ihre langen Beine wahrnehmen. Das tat ich. Besonders in diesem Minirock, den sie heute trug. Aber da war noch mehr. „Zum Einen liest du immer. Ich habe dich noch nie ohne ein Buch oder eine Zeitschrift gesehen. Manchmal legt sich dabei eine kleine Falte auf deine Stirn und du hebst deine Lektüre näher ans Gesicht. Na, und dann bist du wunderschön.“

Erstaunt sah sie mich an, lachte jedoch sofort wieder auf. „Du bist ja ganz schön frech.“

Ich legte den Kopf schief und lehnte mich in meinem Sitz vor. „Warum?“

„Nun ja, erstens beobachtest du mich ziemlich genau.“

„Und zweitens.“

„Und zweitens bist du ganz schön direkt.“

„Ist das etwas Schlechtes?“

„Nein, das ist es nicht.“

Ein warmes Gefühl stieg in meinen Bauch. Das lief gut. „Würdest du dann heute Nachmittag einen Kaffee mit mir trinken gehen?“

Sie zögerte, überlegte und sagte schließlich: „Nein.“

Das warme Gefühl verschwand und meine Mundwinkel sackten nach unten. „Nein?“

Sie kicherte amüsiert. „Heute bin ich mit meiner Mutter zum Einkaufen verabredet. Aber morgen hätte ich Zeit.“

Erleichtert fand ich mein Lächeln wieder. „Das war fies.“

„Ein bisschen. Also, wie sieht es morgen aus?“ Die Bahn hielt. Sie sah nach draußen und dann erschrocken zu mir. „Ich muss raus. Wir treffen uns morgen früh an der Haltestelle, ja?“

„Ja, bis morgen. Und nachmittags trinken wir einen Kaffee.“

Sie war schon an der Treppe, als sie meine Worte erreichten. Mit einem Grinsen wandte sie sich noch einmal zu mir. „Gern.“ Dann stieg sie aus, die Türen schlossen sich und ich verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust.

„Ich heiße Kim.“ Die obere Klappe eines der Fenster war geöffnet, so konnte ich sie hören. Ohne darüber nachzudenken, stieg ich auf meinen Sitz und schrie, weil die Bahn sich schon wieder in Bewegung setzte, durch die Öffnung: „Noah! Ich bin Noah.“

DREI

KIM

Krissi wohnte in einem der Elf-Geschosser. Ich kannte die hohen Plattenbauten aus Jena, doch diese hier waren erst vor Kurzem fertiggestellt worden. Alles war neu und die Reste der Baustelle nicht vollständig beseitigt.

Ich drückte auf den Knopf neben ihrem Namensschild. Sie und ihr Verlobter Max wohnten in der obersten Etage. Der Summer ertönte, ich stieß die Tür auf und ging zum Fahrstuhl, entschied mich dann jedoch für den Treppenaufstieg. Ein einziges Mal war ich mit einem dieser Fahrstühle stecken geblieben und ich hatte kein Interesse daran, diese Erfahrung heute zu wiederholen. Ich hatte kein Buch dabei, um mir die Wartezeit zu vertreiben.

„Du bist aber sportlich.“ Krissi stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Rahmen ihrer Wohnungstür und grinste mich an. Sie trug ein anderes Sommerkleid, das ihre Figur wieder nur mäßig betonte.

„Was soll ich sagen?“ Ich war leicht außer Atem, erholte mich jedoch schnell.

„Sind die für mich?“ Sie deutete auf meine Hand, in der ich einen kleinen Strauß Blumen hielt.

„Ja, das sind sie.“

„Wo hast du die denn her? Ich habe heute bei euch im Laden gar keine gesehen.“

„Die sind von meinem Balkon.“ Ich reichte ihr den kleinen Strauß Geranien. „Stell sie am besten gleich ins Wasser.“

„Oh, sie sind wunderschön. Komm rein, der Kaffee läuft gerade durch. Max ist noch bei der Arbeit.“ Sie trat in ihre Wohnung und ich folgte ihr. Als ich die Schuhe ausziehen wollte, winkte sie ab. „Lass sie an. Wir gehen sowieso auf den Balkon.“

Sie ging voraus in die Küche. „Er repariert Autos.“

„Und du, was machst du?“

Krissi hatte die Hände auf die Arbeitsfläche gelegt und den Blick auf die Kaffeemaschine gerichtet, durch die das schwarze Getränk langsam in eine Glaskanne floss. Sie sah aus, als würde sie das Gerät beschwören, sich zu beeilen.

„Ich werde in ein paar Wochen auch wieder anfangen zu arbeiten. Ich bin Krankenschwester. Warst du schon immer Verkäuferin?“

Ich schluckte den größten Teil der möglichen Antwort hinunter und erwiderte nur: „Nein, ich arbeite das erste Mal im Verkauf.“

„Er ist fertig.“ Die Maschine gab ein ratterndes Geräusch von sich und Krissi nahm die Kanne von der Heizplatte. Ein letzter Tropfen löste sich und verdampfte zischend, als er das heiße Metall traf.

Krissi nahm den braunen Plastikfilterhalter von der Kanne, legte den Deckel darauf und lächelte wieder ihr Lächeln, das es irgendwie schaffte, mich selbst dazu zu bringen, meine Mundwinkel nicht länger hängen zu lassen. Es war lange her, dass jemand das geschafft hatte. „Gehen wir auf den Balkon und genießen diesen herrlichen Nachmittag.“

Wieder ging sie voraus, stellte die Kanne auf eine Keramikplatte auf den Tisch und trat an die Brüstung. „Jedes Mal, wenn ich hier rauskomme, muss ich die Aussicht genießen. Weißt du, wir haben vorher in einem Altbau gewohnt, zum Innenhof und mit Blick auf die unverhängten Fenster unserer ständig streitenden Nachbarn.“ Sie verzog das Gesicht und ich konnte ihr nachfühlen. Ich war selbst in einem Altbau aufgewachsen und froh gewesen, dass wir das letzte Jahr vor dem Umzug zum großen Teil in der Neubau-Wohnung von Noahs Eltern hatten verbringen können. Das Haus, in dem meine Eltern noch immer lebten, war seit über vierzig Jahren sich selbst überlassen worden. Die Fenster waren undicht, in den Wänden wuchs der Schimmel und jeden Winter hatte ich Kohlen die Treppen hinaufschleppen müssen, damit wir heizen konnten. Wir hatten keine eigene Toilette, sondern teilten sie uns mit dem Rest der Bewohner unserer Etage, und im Treppenhaus fiel ständig das Licht aus.

„Und zwar in einem Zimmer bei meinen Eltern. Das war was, sage ich dir.“ Sie flüsterte.

---ENDE DER LESEPROBE---