4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Wir handeln in unserem Leben oft nicht so, wie wir es uns hinterher wünschen würden. Immer wieder fühlt es sich an, als träfen wir falsche Entscheidungen, die uns an einen Ort führen, an dem wir niemals enden wollten. Uns und die Menschen, die wir lieben. Ein verschütteter Kaffee und ein verlorenes Handy zwingen Ella zu einem Wettlauf mit der dreizehnjährigen Milly. Dabei erwacht etwas in ihr, von dem sie glaubte, es vor acht Jahren verloren zu haben. Sie lässt das Mädchen zu einem Teil ihres Lebens werden, auch wenn ihre innere Stimme sie davor warnt. Und sie wird selbst ein Teil von Millys Welt, zu der auch Tom gehört, der wie ein Geist durch die Wohnung schleicht. Und dann ist da Lias, dessen Blick verrät, dass er Ellas Geheimnis kennt. Aber wie wird er reagieren, wenn er die gesamte Wahrheit erfährt? „Laufe Lebe Liebe“ ist der dritte Roman der Bild-Bestseller Autorin A.D.WiLK. Wenn du authentische und greifbare Charaktere magst, gern tiefgründige und berührende Liebesromane ohne Kitsch aber mit Happy End liest, und es genießt, wenn Worte Bilder in deinem Kopf entstehen lassen, wirst du Ellas bewegende Geschichte lieben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
8. Vor 22 Jahren
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
13. Vor 17 Jahren
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
21. Vor 16 Jahren
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
26. Vor 8 Jahren
Kapitel 27
Kapitel 28
29. Vor 8 Jahren
Kapitel 30
31. Vor 8 Jahren
Kapitel 32
33. Vor 8 Jahren
Kapitel 34
35. 1 Jahr Später
36. 2 JAHRE SPÄTER
37. GLOSSAR
Rezensionen
Über die Autorin.
Mein Podcast
Vielleicht war es Liebe.
Vielleicht nur diese Nacht
Wenn du wieder gehst
Lu & Nik. Dezember. Ein Jahr später
Lu & Nik. Und Ben. Zwei Jahre später.
Lu & Nik. Drei Jahre später.
Nur für diesen Moment.
Siebzehn Jahre. Ohne mich. Mit dir.
LARA. Thriller Trilogie.
Der blaue Kunststoff der Laufbahn quietschte leicht, als ich mit meinen nackten Zehenspitzen darüberfuhr. Ich spürte es mehr, als dass ich es hörte. An meinen Armen glänzte die Haut von der Feuchtigkeit, die der Schweiß bei dem Versuch, meinen Körper zu kühlen, auf ihr hinterließ. Die Hitze drang dennoch darunter und mein Kopf schmerzte unter dem hellen Basecap. Ich war einfach schon zu lange hier. Aber diese eine Runde wollte ich noch laufen. Ein letztes Intervall, bevor ich das Training für den heutigen Tag beendete. Ich starrte auf meine blauen Fingernägel und drückte die Kopfhörer tiefer in die Ohren. Thirty Seconds To Mars schrien mich an, ich sollte davonlaufen und ich wartete auf den Moment, in dem mein Herz das Blut wieder mit weniger als sechzig Prozent seiner Kraft durch meinen Körper pumpte, spannte die Muskeln an und rannte los.
Der Boden federte meine Schritte ab, ich baute mehr und mehr Geschwindigkeit auf und die Bewegung, die mich voranbrachte, fühlte sich immer weniger an, als würde ich laufen. Ich flog. Die grüne Fläche des Fußballfeldes raste links an mir vorbei und auf der rechten Seite nahm ich die Konturen der Tribüne nur verzerrt wahr. Ich achtete nicht darauf. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, hielt die Schritte kurz genug, um eine hohe Trittfrequenz zu erzielen, und weit genug, um die Länge meiner Beine optimal auszunutzen. Ich berührte den Boden nur für Sekundenbruchteile und trotzdem wusste ich, dass mich meine Fußsohlen für den Rest des Tages mit einem Brennen an jeden Kontakt mit dem rauen Gummi erinnern würden. Es störte mich nicht.
Ich konzentrierte mich auf den Bewegungsablauf und auf meine Atmung. Ich musste die Luft durch den Mund ein- und ausströmen lassen, um meinen Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgen zu können. Und nach der Hälfte der Strecke zog sich das vertraute Brennen durch die Muskulatur in meinen Waden und den Oberschenkeln. Ich stellte mich den nachlassenden Kräften entgegen und beschleunigte meinen Lauf ein wenig mehr. Ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk verriet mir, dass meine Geschwindigkeit dennoch zu niedrig lag, um damit einen Preis zu gewinnen. Es wunderte mich nicht. Ich trainierte schon eine Weile. Meine Beine waren müde. Die Hitze schwächte mich zusätzlich.
Kurz bevor ich die Distanz beendete, nahm ich eine Bewegung in meinem rechten Blickfeld wahr. Jemand rannte. Rannte auf mich zu. Das Lied endete und ich hörte diesen Jemand rufen. Nein, schreien. Meinen Namen schreien. Das Geräusch wurde durch die Kopfhörer gedämpft, aber die Intensität drang dennoch in jeden Winkel meines Körpers. Ich verlor die Fähigkeit, meine Beine zu kontrollieren, und fiel, als das nächste Lied begann. Aber das Kopfhörer-Kabel wurde aus meinem MP3-Player gerissen und eine tiefe Stille erfüllte die Umgebung. Meine Trainerin legte mir die Hand auf die Schulter.
Feuchtigkeit lag auf ihren Wangen und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es nicht der Schweiß war, der Tröpfchen auf ihrer Haut gebildet hatte. Ich ignorierte den Schmerz, den die Schürfwunden an meinen Beinen verursachten, zog die Kopfhörer aus den Ohren, richtete mich auf und wartete auf die Worte, mit denen sie ihre Aufregung erklären würde.
Sie schluckte. Ich erkannte es an ihrem Kehlkopf, der sich hob und senkte. Dann atmete sie tief durch und sagte: „Wir müssen ins Krankenhaus fahren. Sofort.”
Ich sprang auf. „Was? Warum? Was ist passiert?”
Sie schüttelte den Kopf, griff meine Hand, rannte los und zog mich hinter sich her über den Platz. Mein Blick fiel auf die Digitalanzeige, die über der Südkurve hing. Dort stand 15:28. Mein Bewusstsein schien Minuten zu brauchen, um die Zahlen in eine für mich verständliche Uhrzeit umzuwandeln. Und als sie zu mir durchdrang und ich erkannte, was ich vergessen hatte, wen ich vergessen hatte, stoppte mein Herz und es drang keine Luft mehr in meine Lungen.
Ich zog die Tür des Chapleenes hinter mir zu. Ein Klingeln ertönte und dann, als die Tür schloss, das typische Klacken von zwei aufeinandertreffenden Holzelementen. Ich hielt einen Moment inne und schloss die Augen, um das Geräusch nachhallen zu lassen. Es verkündete meinen Feierabend oder den Beginn meines freien Nachmittags, denn es war erst halb drei. Und auch wenn ich ihn nicht unbedingt genießen würde, hatte ich doch diesen Teil des Tages hinter mich gebracht. Ich würde in den Park gehen, mein Buch in die Hand nehmen und darauf warten, dass auch die kommenden Stunden irgendwie vergingen. Aber schon nach wenigen Sekunden verpuffte das Gefühl in den lauten Stimmen zweier Personen. Ich seufzte, öffnete die Augen und trank einen Schluck von dem Milchkaffee, den ich mir jeden Tag nach der Arbeit mit auf den Weg nahm. Ich wollte die Stimmen ignorieren, doch aus dem Augenwinkel sah ich, wie fünfzehn Meter von mir entfernt ein Mann, der mindestens 45 Jahre alt war, ein Mädchen festhielt, das höchstens dreizehn Jahre alt sein konnte. Ich hätte weitergehen können, aber ich wollte sie nicht mit ihm allein lassen.
Ich dachte darüber nach, einzugreifen, aber sie riss sich von ihm los und rannte in meine Richtung. Und bevor ich ausweichen konnte, rammte sie ihre Schulter gegen meinen Arm. Gegen den Arm, in dessen Hand ich meinen Kaffeebecher hielt. Ich hatte meinen eigenen Becher zuhause vergessen und eine der Pappvarianten aus dem Café nehmen müssen. Um der Umwelt zumindest etwas Plastik zu ersparen, verzichtete ich auf den Deckel. Für die Natur war das gut. Für mich in diesem Fall nicht. Die Wucht des Aufpralls schleuderte meinen Arm zu meinem Oberkörper, der Becher kippte und die warme Mischung aus Kaffee crema, Milchschaum und Kakao-Pulver ergoss sich über mein hellblaues Shirt. Und da ich bisher nur einen Schluck getrunken hatte, beinhaltete der Becher ausreichend Kaffee, um meine Hose ebenfalls zu tränken und sich auch den Weg zu meinen Beinen zu bahnen.
Das Mädchen sah mich für einen Moment erschrocken an, warf dann einen Blick über meine Schulter zu dem Mitvierziger, formte mit den Lippen eine Entschuldigung und lief weiter. Die Tränen in ihren Augen erstickten die in mir aufkeimende Wut sofort und ich verwarf den Gedanken, ihr hinterherzurennen.
Stattdessen blickte ich an mir herab, um das Ausmaß der Kaffeetränkung einzuschätzen und zu entscheiden, ob ich in diesem Zustand weiter durch die Straßen gehen konnte. Und da erblickte ich neben meinen Schuhen ein schwarzes Rechteck. Ich tastete von außen meine Jackentasche ab, um sicherzugehen, dass es nicht mein Telefon war, das dort am Boden lag, bückte mich und hob es auf. Ich sah dem Mädchen hinterher, öffnete den Mund und rief „Hey, warte!“ Aber sie hatte schon etwa fünfzig Meter und eine Straße zwischen uns gebracht und entweder hörte sie mich nicht oder sie ignorierte den Ruf.
Also steckte ich das Handy in meine andere Jackentasche, stellte meinen Kaffeebecher auf den Boden, spannte den Beckenboden an und rannte ihr hinterher. Sie war schnell, aber ich hielt ihr Tempo problemlos. Meine Beine, mein gesamter Körper führten ein vertrautes Programm aus, setzten einen Fuß vor den anderen und verringerten den Abstand Meter für Meter. Sie bog um eine Ecke und ich folgte ihr den gepflasterten Fußweg entlang, vorbei an einem kleinen Buchladen. Dann bog sie ein weiteres Mal ab und rannte in den Park, an dessen anderem Ende das Café lag. Der Park, in dem ich jetzt eigentlich auf einer Bank sitzen wollte. Sie steuerte auf den See zu und ich raste hinter ihr her. Zwischendurch drehte ich mich immer wieder um, aber der Mann schien uns nicht zu folgen.
Als sie den Park durchquert hatte und auf die Straße zusteuerte, wandte sie den Kopf das erste Mal zurück. Uns trennten noch etwa vierzig Meter und sie sah mich nicht sofort. Aber als sie erkannte, dass ich ihr folgte, legte sich ein erschrockener Ausdruck auf ihr Gesicht und sie beschleunigte ihr Tempo, ohne wieder nach vorn zu sehen. Was glaubte sie, was ich von ihr wollte?
„Vorsicht!” Mein Ruf kam zu spät. Sie konnte nur noch schwach abbremsen und prallte gegen die Metallstange, die ein Schild hielt, auf dem sich die Stadt dafür bedankte, dass der Besucher den Park verließ, ohne seinen Müll auf Wegen und Grünflächen zu hinterlassen.
Ich rannte weiter, bis ich sie erreichte, blieb stehen und musterte sie. „Ist alles okay?“
Sie nickte langsam, rieb sich die Stirn und sah mich an. Ich erwartete, dass sie zu mir aufblickte, denn normalerweise erreichten nur Männer oder Frauen in Schuhen mit sehr hohen Absätzen eine Höhe, von der aus sie mir ohne aufzusehen in die Augen blicken konnten. Aber das Mädchen war fast genauso groß wie ich. Das nahm ich erst in diesem Moment wahr. Sie sah an mir vorbei und suchte den Weg ab. Ich folgte ihrem Blick, hielt Ausschau nach dem Mitvierziger, konnte ihn aber nicht entdecken.
„Ich glaube, er ist dir nicht gefolgt. Was wollte er von dir?“
Sie schüttelte den Kopf und dann musterte sie mein T-Shirt und meine Hose. „Entschuldigung.” Ihre Stimme war so leise, dass die Worte erst nach ein paar Sekunden bei mir ankamen.
„Hm?“ Ihr Zusammenstoß mit der Laterne hatte mich für einen Moment vergessen lassen, warum ich ihr überhaupt hinterhergerannt war.
„Ihr Shirt.” Sie senkte den Kopf. „Und die Hose.” Sie hielt den Blick weiter gesenkt, aber ich hatte das Grinsen in ihren Worten gehört.
„Das ist nicht witzig.” Plötzlich stieg Wut in mir auf. Machte sie sich tatsächlich lustig über mich?
Sie schüttelte den Kopf und hob ihn wieder. „Nein, tut mir leid. Das ist es echt nicht.” Es gelang ihr nicht nur nicht, das Grinsen zu unterdrücken. Nein, sie versuchte es nicht einmal mehr länger und lachte so laut auf, dass auch die ältere Dame auf der Bank fünfzig Meter hinter uns es gehört haben musste.
„Hey! Das ist deine Schuld.”
„Ich weiß.” Sie lachte weiter. „Aber witzig ist es trotzdem.”
„Nein, das ist es nicht. Die Klamotten kann ich wegschmeißen.“ Natürlich könnte ich es erst einmal mit Waschen versuchen, aber wirklich gut war ich darin nicht und ich rechnete mir die Chancen, die Flecken herauszubekommen, nicht besonders hoch aus.
Sie räusperte sich und versuchte nun endlich, das Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht und ich spürte, wie auch meine eigene Wut wich und einem Auflachen Platz machen wollte. Ich schluckte dagegen an, hob die rechte Augenbraue und ließ meine Hände vor meinem Körper auf und ab gleiten. „Außerdem schuldest du mir einen Kaffee.” Der Satz kam weniger bestimmt aus meinem Mund, als ich es gehofft hatte.
„Als hätten Sie den selbst bezahlt. Sie arbeiten doch da, oder?“ Sie seufzte. „Entschuldigung. Natürlich haben Sie …“ Ihre Augen verengten sich und sie sah wieder an mir vorbei.
Ich folgte ihrem Blick und erkannte den Mitvierziger. Als ich mich wieder zu ihr wandte, sagte sie noch einmal „Entschuldigung“, drehte sich in die andere Richtung und rannte ein weiteres Mal los. Diesmal löste sich mein Körper nicht rechtzeitig aus der Starre und ich konnte ihr nur dabei zusehen, wie sie zwischen den Autos verschwand. Der Mitvierziger sah offenbar auch keine Chance, sie einzuholen, denn er stoppte in der etwa fünfzig Meter von uns entfernt, stemmte die Hände auf die Oberschenkel und atmete schwer ein und aus. Und dann schlug er mit der rechten Hand gegen sein Bein, richtete sich auf und trat den Rückweg an.
„Mann, Ella. Wie siehst du denn aus?” Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf. Dahinter wartete meine Schwester Sofi.
„Frag nicht!”
„Mach ich aber.”
Ich antwortete nicht, ließ die Tür ins Schloss fallen und ging in mein Schlafzimmer. Sofi folgte mir bis zur Tür.
„Nun sag schon.”
„Musst du nicht irgendwo anders hin?”
Sie blieb im Türrahmen stehen, lehnte sich dagegen und musterte mich grinsend. „Nein, muss ich nicht.”
„Aber ich. Und zwar raus aus diesen Klamotten.” Ich schloss die Tür und ließ Sofi dahinter stehen. Für einen Moment lehnte ich mich gegen das Holz, aber als mir der abgestandene Kaffeegeruch entgegenstieg, der sich mit meinem Parfüm vermischt hatte, schälte ich mich aus meinen Klamotten. Ich schmiss das T-Shirt achtlos durchs Zimmer. Es landete auf einer der unzähligen Kisten, die ich noch immer nicht ausgeräumt hatte. Seit vier Monaten wohnte ich schon hier und brachte es nicht fertig, die alten Sachen in den Kartons nach etwas zu durchsuchen, das ich gebrauchen könnte. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht auf etwas stoßen, das ich vor acht Jahren zwischen den Pappen versteckt hatte. Oder auf Dinge, vor denen ich mich in den vergangenen acht Jahren versteckt hatte.
Ich ging ins Bad, um den Kaffee von meiner Haut zu waschen und während ich mich danach abtrocknete, hörte ich ein fremdes Geräusch. Erst nach ein paar Sekunden erkannte ich, dass es sich um das Klingeln eines Handys handelte. Und da fiel es mir wieder ein. Ich hatte dem Mädchen das Telefon nicht zurückgegeben. Ich rannte aus dem Bad zu meiner Jacke, zog das Handy aus der Tasche und nahm das Gespräch an.
„Milly, wo steckst du?” Es war eine männliche Stimme.
Ich schwieg, zu überrumpelt, um zu antworten.
„Milly? Was ist los? Ist alles in Ordnung?”
Ich räusperte mich. „Ähm, hier ist nicht Milly. Hier ist Ella.”
„Hey Ella, gibst du mir mal Milly? Sie wollte vor einer Stunde zuhause sein.”
„Ähm, das geht nicht.” Wie hatte ich nur vergessen können, ihr das Telefon zurückzugeben?
Nun schwieg er, ich hörte Geräusche im Hintergrund und dann sagte er: „Oh, ich sehe schon, warum nicht.” Seine Stimme wurde leiser. „Hey Milly, sieht so aus, als hättest du dein Telefon bei Ella vergessen.” Die Stimme wurde wieder lauter. „Ella, bringst du es ihr morgen mit in die Schule?”
Er hielt mich für ein Schulmädchen. „Nein, ähm, ich würde es lieber jetzt vorbeibringen.” Es gab ein paar Stunden zu füllen.
„Oh, okay. Na gut. Aber es reicht wirklich, wenn …”
Ich unterbrach ihn: „Wo muss ich denn hin?”
Er nannte mir die Adresse und den Nachnamen der Familie und ich beendete das Gespräch, um zu duschen und mich in frischen Klamotten auf den Weg zu Millys Zuhause zu machen.
Sie wohnte nur zwei Kilometer von mir entfernt und ich ging die Strecke zu Fuß. Es gab keine direkte Busverbindung zwischen unseren Straßen und die viel zu warme Februarluft erinnerte mich an die Monate, die ich vor meiner Rückkehr in Australien verbracht hatte. Dort war der Frühling gerade dem Sommer gewichen, als ich das Flugzeug bestiegen hatte und hier hatten mich grauer regennasser Asphalt und ein verfrühter Kälteeinbruch empfangen. Die Kälte und die Tristesse hatten mich nicht gestört. Manchmal war ich ihr sogar hinterher gereist. Aber die Wärme erinnerte mich daran, wie viel leichter es war, nicht hier zu sein, weit entfernt zu leben. Und die Schuldgefühle, die ich deshalb meinen Eltern gegenüber hatte, konnten dieses Gefühl nicht aufwiegen.
Es war ein altes Haus, gebaut um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von der burgunderroten Fassade platzte der Putz ab und statt moderner Kunststoff-Isolierfenster ließen alte Holz-Doppelfenster Licht ins Innere des Hauses fallen und Blicke nach draußen schweifen. Ich stieg die sechs Stufen zur Haustür hinauf und drückte auf den Knopf neben dem Schild mit dem Namen ‚Meyer‘.
Als ich die Haustür aufstieß, hörte ich schnelle Schritte, die ebenfalls die Treppe hinter mir hocheilten. Ich wandte den Kopf und blickte in das Gesicht des Mitvierzigers. Er runzelte die Stirn, hielt mir die Tür auf und gemeinsam stiegen wir in die zweite Etage, wo bereits eine Tür offenstand, in der ein Mann wartete. Ich musste zu ihm aufsehen, um ihm in die Augen blicken zu können. Er wirkte ein paar Jahre älter als ich und nickte mir zu: „Sie sind sicher Ella. Kommen Sie doch bitte herein.” Er musterte mein Gesicht für einen Moment und ich wandte den Kopf von ihm ab, um diesen Moment so kurz wie möglich zu halten. So wie jedes Mal, wenn mich jemand zu genau ansah. Dann bemerkte er den Mitvierziger und musterte nun ihn. „Und wer sind Sie?”
In diesem Moment schob sich das Mädchen in den Türrahmen. „Was wollen Sie denn hier?”
„Oh, das weißt du genau.” Die Stimme des Mannes war aggressiv und er fixierte Milly mit einem Blick, der so feindselig war, dass ich ein weiteres Mal das Gefühl hatte, sie vor ihm beschützen zu müssen.
„Nein, das weiß ich nicht. Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, dass ich damit nichts zu tun habe. Lias, schick ihn weg.”
Der Mann in der Wohnung sah sie stirnrunzelnd an. „Was ist hier los?”
Eine weitere Tür öffnete sich und eine ältere Frau steckte den Kopf in das Treppenhaus. Lias nickte ihr zu. „Guten Abend, Frau Rose.“ Dann wandte er sich wieder an uns: „Bitte kommen Sie doch beide herein.”
Ich sah zu der älteren Frau, nickte ihr ebenfalls zu, sagte „Hallo”, und folgte dem Mitvierziger in die Wohnung.
„Also nochmal, was ist hier los?” Wir standen in der Diele zwischen Schuhen und Jacken und einem großen Koffer.
Da niemand etwas sagte, machte ich den Anfang: „Ihre Tochter hat mich heute Nachmittag angerempelt und mir dabei einen vollen Becher Kaffee über die Klamotten gekippt.” Was sagte ich denn da? Das war weder der Grund für meine Verfolgung gewesen, noch dafür, dass ich hier stand. Die Jeans und das T-Shirt hatte ich seit Jahren. Sie waren weder teuer gewesen, noch hatten sie einen immateriellen Wert, der durch ein paar Flecken geschmälert werden würde. Davon abgesehen konnte eine Reinigung sie höchstwahrscheinlich entfernen. Mein Gesicht wurde heiß und es wäre angenehm gewesen, wenn sich in diesem Moment die Dielenbretter unter mir gelöst hätten, um mich in die Erde sinken zu lassen. Oder zumindest in die unter den Dielen liegende Wohnung.
Ein Schmunzeln legte sich in Lias’ Mundwinkel.
Ich schluckte. „Und dabei hat sie ihr Handy verloren und ich wollte es zurückbringen.”
„Aha. Nun gut. Danke. Die Reinigung übernehmen selbstverständlich wir.” Er sah zu Milly. „Und ich nehme an, du hast dich bereits entschuldigt.”
„Ja, das hat sie. Es war auch überhaupt nicht schlimm und eigentlich konnte sie nichts dafür.”
Er hob eine Augenbraue. „Nicht?”
„Nein, Ihre Tochter ist …” Ich sah zu dem Mann, der mit mir die Wohnung betreten hatte. Was sollte ich sagen? Ich hatte keine Ahnung, worum es in ihrem Streit ging. Andererseits hatte ein Vater doch das Recht zu erfahren, wenn seine Tochter von einem fremden Mann festgehalten wurde, oder? Aber war er überhaupt ihr Vater? Abgesehen davon, dass er etwas zu jung dafür wirkte, hatte Milly ihn Lias genannt.
„Meine Nichte.” Lias durchschnitt meine Gedanken und beantwortete gleichzeitig meine unausgesprochene Frage, was mich aus dem Konzept brachte.
„Wie bitte?”
„Milena ist meine Nichte.”
„Oh.” Sie war tatsächlich nicht seine Tochter.
„Also, warum war es nicht ihre Schuld?”
Ich atmete tief durch. „Sie ist vor ihm weggerannt.” Ich deutete mit dem Kopf auf den Mitvierziger.
Lias’ Augen verdunkelten sich und er schien ein paar Zentimeter zu wachsen, als er sich vor dem anderen Mann aufbaute. „Und wieso ist meine Nichte vor Ihnen weggerannt? Wer sind Sie überhaupt?”
„Ron Becker.“ Ich hätte erwartet, dass er ihm die Hand reichte, aber das tat er nicht. „Ich bin Milenas Klassenlehrer.”
„Aha. Und warum rennt Milly vor Ihnen weg?”
„Ich habe sie dabei erwischt, wie sie mein Auto zerkratzt hat.”
„Das stimmt nicht.“ Milly schrie fast. „Sie lügen. Ich habe damit nichts zu tun. Diese Kratzer sind schon seit Tagen an Ihrem Auto. Sie suchen nur jemanden, der den Schaden bezahlt.” Milly stellte sich zu ihrem Onkel.
Lias sah zwischen den beiden hin und her und ich fühlte mich fehl am Platz.
„Und Sie haben sie dabei beobachtet?”
Ich zog das Telefon aus meiner Jackentasche und reichte es dem Mädchen, während Becker Lias erklärte, wann er Milly dabei beobachtet haben wollte, mit einem Taschenmesser den Lack seines Autos zerkratzt zu haben.
Sie lächelte zaghaft, formte ein Sorry mit den Lippen und ich wollte mich umdrehen und die Wohnung verlassen. In diesem Moment trat ein weiterer Mann in den Flur. Er trug eine ausgebeulte Jeans, ein graues T-Shirt und einen Bart auf Wangen und Kinn, der dort seit mindestens fünf Tagen wuchs. Seine dunklen Haare hingen ihm strähnig in die blauen, blassen Augen. Er wirkte, als hätte er seit Monaten nicht geschlafen. Es war ein vertrauter Anblick.
„Was ist denn hier los?” Seine Stimme war kratzig und trotz der Frage teilnahmslos. Es wirkte nicht, als würde ihn die Antwort tatsächlich interessieren.
„Ach nichts. Milly hat ein paar Leute eingeladen und wir haben uns spontan zu einer Stehparty entschlossen. Holst du mal die Häppchen und mixt ein paar Drinks?” Niemand würdigte Lias’ Witz. Milly sah noch einmal zu mir und verschwand dann hinter einer Tür, an die ihr Kosename mit fünf Holzbuchstaben geklebt war. Darunter hing ein mit Buntstiften gemaltes Bild, auf dem eine Frau, ein Mann und ein Mädchen mit langen dunklen Zöpfen, das etwa halb so groß war wie die Erwachsenen, zu sehen war. Milly wirkte zu alt für ein Zimmer hinter solch einer Tür, aber sie war es noch nicht sehr lange.
Ich wandte mich ebenfalls zum Gehen, aber Lias’ Stimme hielt mich auf: „Ella, warten Sie. Es tut mir leid. Ich werde die Reinigung bezahlen.” Er nahm sein Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete es und fluchte. Dann sah er zu dem Mann mit dem Fünf-Tage-Bart. „Tom, hast du Geld im Haus?”
Tom antwortete nicht und verließ den Flur durch eine weitere Tür. Lias atmete tief ein und wandte sich wieder zu mir. „Es tut mir leid. Geben Sie mir Ihre Nummer, dann klären wir das später.”
„Das ist wirklich nicht nötig.” Ich griff nach der Türklinke und wollte einfach nur noch raus, aber Lias’ Worte hinderten mich ein weiteres Mal daran.
„Doch, das ist es.”
Ich seufzte, sagte „Also gut”, und nannte ihm meine Telefonnummer. Es kam mir kurz in den Sinn, ihm eine falsche Nummer zu geben. Aber ich tat es nicht. Was, wenn er sie sofort auf ihre Richtigkeit überprüft hätte? Nachdem er die Zahlen in sein Smartphone getippt hatte, entschuldigte er sich noch einmal und ich verließ die Wohnung.
Als ich die sechs Stufen wieder hinunterstieg, dämmerte es bereits und ich beschloss, den Heimweg erneut zu Fuß zurückzulegen. Obwohl ich mir meinen Nachmittag anders vorgestellt hatte, war ich froh über die Ablenkung. Ich fühlte mich ein klein wenig lebendiger und die vergangenen Stunden hatten die Stille um mich herum mit Geräuschen gefüllt.
Und Milly und ihre Geschichte. Hatte sie wirklich das Auto ihres Klassenlehrers zerkratzt? Sie erschien mir nicht kriminell, aber taten Jugendliche nicht andauernd Dinge, die nicht zu ihnen passten? Gingen sie nicht häufig Risiken ein, um damit zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen? Und wer war der Mann, der wie ein Geist durch die Wohnung schlich? Aber es ging mich nichts an. Und ich wollte auch nicht, dass es mich beschäftigte. Dass sie mich beschäftigte. Und das Gefühl, das sich in den letzten Stunden in mir ausgebreitet hatte, würde wieder verschwinden. Sie war nur irgendein Mädchen und wahrscheinlich kam ich langsam in ein Alter, in dem mein Beschützerinstinkt automatisch geweckt wurde, sobald es um ein Kind ging.
Ich erreichte mein Haus viel zu schnell und entschied mich, weiterzulaufen. Die Luft wurde kühler, aber sie war noch immer zu warm für Mitte Februar. Bald würde der Frühling der Natur einen neuen Anfang schenken und auch ich steckte irgendwie inmitten eines solchen Neubeginns. Vor vier Monaten, zwei Monate vor Weihnachten, hatte ich einen Anruf meiner Mutter erhalten, hatte innerhalb weniger Stunden meinen Job gekündigt, meine Sachen gepackt, meine Affäre beendet und war in Sydney in ein Flugzeug gestiegen, um zurück nach Hause zu fliegen.
Es hätte zu spät sein können, aber als ich einunddreißig Stunden nach dem Telefonat das Krankenhaus erreichte, hatte mein Vater die Operation überstanden und konnte schon wieder leise Witze über meine Frisur reißen. Aber ihn in diesem Zustand zu sehen, schwach, grau und alt, und die Angst zu spüren, mich möglicherweise nie wieder in eine seiner Umarmungen fallenlassen zu können, hatten mir bewusst gemacht, was ich in den vergangenen Jahren verpasst hatte und was ich meine Eltern hatte verpassen lassen. Ich hatte diese Gefühle immer von mir schieben können, so lange ich sie nicht gesehen hatte. Aber nun hatten sie mich übermannt und ich beschloss, meiner Flucht ein Ende zu setzen. Ihr einen neuen Anfang folgen zu lassen.
Mein Telefon klingelte und unterbrach meine Gedanken. Ich kannte die Nummer nicht und ignorierte den Anruf. Nach einer Minute piepste es erneut. Eine Nachricht:
‚Hallo Ella, hier schreibt Milly. Die Sache mit dem Kaffee tut mir echt leid. Ich zahle die Reinigung selbst.’
Ich starrte auf die Nachricht, aber bevor ich darauf reagieren konnte, piepste es erneut: ‚Und ich habe kein Auto zerkratzt.’
Ich runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und antwortete auf die erste Nachricht: ‚Ist schon okay, das brauchst du nicht. Es war nicht deine Schuld.’
Milly: ‚Doch, das war es. Kann ich dich wenigstens auf einen Kaffee einladen?’
Nochmal Milly: ‚Oh, sorry. Ich meinte, kann ich Sie wenigstens zu einem Kaffee einladen?’
Ich schmunzelte und drückte auf das Hörersymbol, um sie anzurufen.
Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab. „Oh, hallo.”
„Hey. Ich muss mich bei dir entschuldigen.”
„Was? Wofür denn?”
„Ich habe dir dein Handy nicht zurückgegeben.”
„Ja, weil ich weggerannt bin. Du … ich meine Sie hatten …”
„Du.”
„Was?”
„Ich bin Ella und du kannst gern ‚Du’ sagen. Dann fühle ich mich weniger alt.”
„Sie sind … du bist doch nicht alt.”
Ich lächelte. „Stimmt.”
„Also, gehen wir einen Kaffee trinken. Vielleicht morgen?”
Ich runzelte wieder die Stirn. Warum hatte sie es so eilig? „Weiß dein Onkel eigentlich, dass du mich anrufst?”
„Ja, klar. Ich habe ihm gesagt, dass ich diese Sache kläre.” Sie betonte das Wort ‚diese’.
„Und er kümmert sich um die andere Sache?”
„Hm-hm.” Sie zögerte, als wollte sie mehr dazu sagen, tat es aber nicht. „Also morgen? Treffen wir uns vor diesem Café? Wir könnten ja dort …”
„Nein, ich arbeite dort.” Ich zögerte und suchte nach einer Ausrede. Mir fiel keine ein. „Aber wir können uns davor treffen und ein paar Schritte gehen, wenn du möchtest. Gleiche Zeit wie heute?”
„Okay, super! Dann bis morgen.”
„Bis morgen.”
Sie beendete die Verbindung. Ich war während des Gesprächs weitergelaufen und brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Inzwischen war es dunkel, die dünne Jacke wärmte mich nicht länger ausreichend und Milly hatte ein paar große Fragezeichen in meinen Gedanken hinterlassen. Warum wollte sie mich unbedingt wiedersehen? Sie hätte es ihrem Onkel oder ihren Eltern überlassen können, die Sache mit mir zu klären. Und warum war es ihr so wichtig, dass ich den Worten ihres Klassenlehrers nicht glaubte? Und warum hatte ich dem Kaffeetrinken zugestimmt?
Dreißig Minuten später saß ich mit einer Tasse Tee neben Sofi am Küchentisch. Sie lehnte mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl und sah mich herausfordernd an. „Du schuldest mir eine Antwort, Schwesterlein.”
„Das tue ich nicht.”
„Aber sicher tust du das. Du hast mir meine Frage nicht beantwortet.”
„Stimmt. Und ich will auch nicht darüber reden.”
„Ach bitte, erzähl es mir trotzdem. Wie hat es sich angefühlt?”
Ich trank einen Schluck Tee und seufzte. „Also gut.”
Sie klatschte in die Hände und lehnte sich nach vorne. Ganz so, als würden wir eine Märchenstunde beginnen. Als sie klein war, hatte ich ihr jeden Abend ein Märchen vorgelesen oder mir andere Geschichten ausgedacht. Geschichten, in denen Prinzessin Sofi und ihre große Schwester Helena das Schloss nach verloren gegangenen Schmuckstücken durchsuchten und sich vor dem bösen Berater ihres Vaters, dem König, versteckten. Aber das hier war etwas anderes.
„Ich hätte den Tag gern anders verbracht. Aber irgendwie … Ach, ich weiß auch nicht. Es war schön, die Zeit nicht alleine herumbringen zu müssen. Allerdings hätte ich auf die Kaffeedusche verzichten können.”
Ich grinste, aber sie erwiderte es nicht, sondern fragte: „Sie war schneller als du, hm?”
„Sofi.”
„Was? Ich kannte nie viele Mädchen, die schneller waren als du. Genau genommen keine. Und Jungs auch nur ein paar.”
Ich stand auf, um das Gespräch zu beenden. Über das Laufen wollte ich nicht reden. Vor allem nicht mit ihr. Ich ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. „Was esse ich denn nur zu Abend?”
„Heli!”
Ich scannte die Regalfächer und klappte die Tür wieder zu. „Ich denke, ich bestelle eine Pizza.”
„Heli!” Sie zog das ‚i‘ in die Länge.
„Oder weißt du was? Ich habe überhaupt keinen Hunger. Gute Nacht, Sofi.”
„Helena, es ist halb neun.”
„Genau, und ich muss morgen früh raus. Gute Nacht.”
„Du kannst dich nicht ewig davor verstecken. Und vor mir schon gar nicht.”
Ihre Worte hallten durch die Wohnung und noch länger durch meinen Kopf. Niemand wusste besser als ich, wie recht sie mit ihnen hatte. Aber das hinderte mich nicht daran, es immer wieder zu versuchen.
Und warum wirft er dir das mit dem Auto vor?” Milly und ich saßen auf einer Bank an dem kleinen See vor dem Chapleene. Ich hatte ihr einen Milchkaffee mitgebracht. Koffeinfrei. Irgendwie fand ich die Vorstellung falsch, ein so junges Mädchen mit dem Stress-Energie-Schub eines normalen Kaffees zu versorgen.
„Weil er keine Lust hat, den Schaden selber zu bezahlen. Meine Freunde glauben, dass es seine Ex war. Und dass sie einen Grund dafür hatte und er sie deshalb nicht anzeigt.”
Ich hob die Augenbrauen. „Und dann beschuldigt er dich?”
„Er mag mich nicht. Er ist erst seit ein paar Wochen an unserer Schule und …”
„Und was?”
„Ach, nichts.”
Sie schwieg, ich bohrte nicht weiter nach und sie wechselte das Thema: „Warum bist du so schnell?”
Ich antwortete mit der gleichen nichtssagenden und schlichten Erklärung, die ich immer anbrachte, wenn jemand mir diese Frage stellte: „Wahrscheinlich, weil ich so groß bin. Was ist mit dir? Warum bist du so schnell?”
„Na dann wohl auch, weil ich so groß bin.” Sie sprang auf. „Ich sollte nach Hause gehen.”
Ich nickte, langsam und irritiert. „Okay.”
„Musst du zufällig in dieselbe Richtung? Zuhause liegt noch das Geld für die Reinigung.”
Ich fragte nicht, warum sie es nicht bei sich trug, obwohl wir uns doch deshalb getroffen hatten. Ich wollte es ohnehin nicht. „Milly, ich will kein Geld von dir. Die Klamotten sind hundert Jahre alt, wertlos und wenn überhaupt müsste dein Lehrer die Kosten übernehmen.”
„Das wird er aber nicht tun. Also komm jetzt mit. Lias wird echt sauer, wenn ich es dir nicht gebe.”
Der Klang ihrer Stimme verriet, dass es noch einen anderen Grund gab, aus dem sie mich mitnehmen wollte, und ich wollte diesen Grund erfahren, wollte wissen, wer dieses Mädchen war. Auch wenn etwas in mir mein Handgelenk festhielt, um mich von all dem wegzuziehen. Aber ich ignorierte es und ging mit ihr.
Die Wohnung war heller als am Vortag. Der Nachmittag war nicht so weit fortgeschritten wie gestern und das Licht der untergehenden Sonne flutete die hohen Räume. Wir standen wieder im Flur.
„Kommst du kurz rein?”
Ich hob eine Augenbraue.
„Ach, bitte.”
Eine Tür öffnete sich und der Mann mit dem Fünf-Tage-Bart, der über Nacht zu einem Sechs-Tage-Bart gewachsen war, schlurfte mit einem Stapel Blätter in der einen und einer Brille in der anderen Hand durch den Flur. Er warf uns einen Blick zu und nickte kurz, als er mich sah. Er trug das gleiche T-Shirt und dieselbe Hose wie am Vortag.
„Papa, das ist Ella. Ella, das ist Tom, mein Vater.” Milly sah Tom erwartungsvoll an. Ich hatte vermutet, dass dieser Mann ihr Vater war, aber sein Auftreten passte auch heute nicht zu seiner Rolle.
Ich hob die Hand und winkte. Ich winkte? Schnell ließ ich die Hand wieder sinken, aber er hatte die Geste registriert und für den Bruchteil einer Sekunde hob sich sein rechter Mundwinkel. Aber er sank genauso schnell wieder. Dann nickte er noch einmal und ging weiter in eines der anderen Zimmer.
Milly seufzte lautstark, zuckte mit den Schultern und griff schließlich in ihre Jackentasche. Als sie die Hand wieder herauszog, hielt sie einen Geldschein. Ich hob erneut die Augenbraue. „Meintest du nicht …?”
„Ja ja, entschuldige. Ich dachte …” Sie beendete den Satz nicht.
„Was dachtest du?”
„Ach nichts. Ich muss noch Hausaufgaben für Beckers Unterricht machen. Danke für den Kaffee.”
Ohne meine Verabschiedung abzuwarten oder darauf, ob und dass ich die Wohnung wirklich wieder verließ, verschwand sie hinter der Tür mit dem Kinderbild, über dem ‚Milly‘ stand. Ein paar Sekunden lang blieb ich in der Diele stehen, unschlüssig, was ich nun tun sollte. Aber dann drehte ich mich zur Tür, öffnete sie und trat aus der Wohnung und schließlich nach draußen auf den Gehweg.
Als ich die Straße überqueren wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Eine männliche Stimme. Ich sah mich um und entdeckte die verwuschelten, dunklen Haare von Lias einige Meter von mir entfernt. Ich winkte ihm zu, schon wieder winkte ich, und wollte meinen Weg fortsetzen, aber er beschleunigte seinen Schritt und schloss zu mir auf.
„Hallo, Ella. Hat Milly Ihnen das Geld gegeben?”
„Ja, das hat sie.” Ich holte den Geldschein aus meiner Hosentasche und streckte ihm diesen entgegen. „Aber ich will es nicht haben.”
„So ein Unsinn.”
„Nein wirklich. Wer bringt denn schon eine Jeans und ein T-Shirt in die Reinigung?
Er zuckte mit den Schultern. „Ich wahrscheinlich. Zumindest hätte ich keine Ahnung, wie ich die Flecken wieder rausbekomme.“
Ich musterte ihn und sagte: „Okay, ja. Ich auch nicht. Aber trotzdem, ich will das Geld nicht.” Ich drückte ihm den Schein in die Hand und beschleunigte meinen Schritt. Er fiel zurück, aber dann holte er wieder auf.
„Also gut, aber dann schulden wir Ihnen etwas anderes. Wie wäre es mit einem Abendessen?”
Ich stoppte und er lief zwei Schritte weiter, bevor er darauf reagierte und ebenfalls stehenblieb.
„Ein Essen? Da ist eine Reinigung aber günstiger.“ Ich runzelte die Stirn. „Warum seid ihr beide denn so scharf darauf, mich wiederzusehen?” Das wurde er sicher nicht oft gefragt. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie langsam wieder. Wo kam denn diese Frage her?
Lias hob eine Augenbraue und atmete tief durch. „Milly spricht seit gestern ununterbrochen von Ihnen und …”
„Und warum siezt ihr mich? Können wir bitte zum ‚Du’ wechseln?”
Er lächelte und nickte. „Gern. Trinkst du einen Kaffee mit mir? Dann erkläre ich es dir.”
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Ich könnte nach Hause gehen. Aber wieder zog es mich nicht dorthin, sondern in Millys Welt. Ich biss kurz auf meine Unterlippe und gab dann dem Gefühl nach. Auch, wenn ich wusste, dass ich es vielleicht nicht tun sollte. „Könnten wir auch ein Bier draus machen?”
Er lächelte wieder, diesmal zeigte er dabei eine Reihe relativ weißer, nicht ganz gerader Zähne, und nickte noch einmal. „Klar.”
„Bist du Toms Bruder? Oder ist Millys Mutter deine Schwester?” Wir verließen den Kiosk, in dem wir unser Bier gekauft hatten, und traten auf die Straße zwischen die anderen Menschen, die entweder auf dem Heimweg waren oder in eine der Bars gingen, die sich auf beiden Straßenseiten aneinanderreihten.
„Nein, Tom ist nicht mein Bruder.”
„Ah.” Ich hätte gern gefragt, wo Millys Mutter war. Ich hatte sie noch nicht gesehen. Das war zwar nicht ungewöhnlich, schließlich war es möglich, dass sie nachmittags lange arbeitete. Aber ich hatte weder Damenschuhe noch -jacken, noch irgendeinen anderen Hinweis auf einen weiteren, einen erwachsenen, weiblichen Mitbewohner bemerkt.
Lias beantwortete meine Frage ein weiteres Mal, ohne dass ich sie stellen musste: „Millys Mutter war meine Schwester. Sie … sie hieß Rina und ist vor einem Jahr gestorben.”
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Unbewusst griff ich nach Lias’ Arm und drückte ihn. „Das tut mir sehr leid.“ Ich schwieg für einen Moment und fragte dann leise: „Was ist passiert?” Dann besann ich mich, schüttelte den Kopf und warf hinterher: „Entschuldige, du musst es mir natürlich nicht erzählen.“
„Nein, das ist schon okay.“ Wir standen an einer roten Ampel und er sah mir direkt in die Augen, aber als er weitersprach, senkte er den Blick. „Rina war immer stark. Sie war nie krank und wenn, dann erholte sie sich in wenigen Tagen wieder. Sie war wahnsinnig sportlich, hat auf ihre Ernährung geachtet und … und dann wurde sie zum zweiten Mal schwanger und verlor das Baby. Bei der Nachuntersuchung wurde festgestellt, dass sie Tumore in ihrer Brust hatte und ein paar Tage später fanden sie Metastasen im Rest ihres Körpers. Die Ärzte rieten ihr davon ab, eine Therapie zu versuchen.” Für einen Moment wunderte ich mich, dass er mit mir, einem fremden Menschen, so offen darüber sprach. Aber er ratterte den Text fast emotionslos herunter, so als hätte er diese Informationen schon oft mit anderen Menschen teilen müssen und als würde er es noch immer nicht langsamer können, weil jedes einzelne Wort zu schmerzhaft war, um es achtsam auszusprechen. Er schluckte. „Sie starb fünf Wochen später.”
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber jedes Wort, das meine Zunge erreichte, fühlte sich falsch, zu unbedeutend an und ich schluckte es wieder hinunter. Ich dachte an Milly. Sie hatte ihre Mutter in einem Alter verloren, in dem ein Mädchen sie am meisten brauchte.
Lias hob den Blick wieder. „Milly hat fast alles aufgegeben, nachdem Rina starb. Sie trifft sich nicht mehr mit Freunden, macht keinen Sport mehr und wenn wir telefonieren, ist sie fast immer zuhause. Eine Zeit lang hat sie versucht, Tom …” Er runzelte die Stirn. „Das ist der Geist, der gestern durch den …”
Ich nickte zur Bestätigung und dann in Richtung Ampel, die inzwischen auf Grün geschaltet hatte. Wir überquerten die Straße und schlugen den Weg zum Fluss ein.
„Sie hat versucht, ihn aus seiner Lethargie zu holen. Erst mit jeder Menge Aufmerksamkeiten. Sie hat gekocht, ihn zu Spaziergängen geschleppt und ständig die Wohnung geputzt und seine Lieblingsmusik aufgelegt. Und als all das nichts brachte, hat sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Sie hat schlechte Noten mit nach Hause gebracht, wurde beim Klauen erwischt und einmal hat sie sich sogar geprügelt. Aber er nimmt nichts davon wahr und Milly spielt nach außen hin die Starke.”
Ich dachte an den Mann mit den Bartstoppeln und den ausgebeulten Jeans. Es war offensichtlich, dass er in einer eigenen Welt lebte. In einer Welt, in der es keinen Platz für die Verantwortung für ein Kind gab.
„In den letzten Monaten hat sie es aufgegeben.”
„Wohnst du auch dort?”
Er zögerte und schüttelte den Kopf. „Ich konnte die Wohnung nicht mehr betreten und bin sofort nach ihrem Tod zurück nach London geflüchtet. Ich habe die zwei einfach allein gelassen.”
Ich nickte und verstand.
„Aber das will ich nicht länger. Seit ein paar Tagen schlafe ich auf der Couch. Milly tut es gut, glaube ich. Ob Tom es schon mitbekommen hat, kann ich dir nicht sagen.” Er lächelte schief, aber seine Mundwinkel senkten sich sofort wieder. „Als Milly gestern nach Hause kam, war sie wie ausgewechselt. Die Mutlosigkeit war aus ihren Augen verschwunden. Sie war wütend, ja, aber auch lebendig. So habe ich sie lange nicht mehr erlebt. Und seitdem du die Wohnung verlassen hattest, hat sie nur noch von dir gesprochen.”
Ich setzte meine Bierflasche an den Mund, hielt dann aber inne und sah ihn erstaunt an. „Warum?”
Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und sagte dann: „Du hast etwas in ihr geweckt.”
Ich bewegte die Flasche noch immer nicht und Lias richtete seinen Blick lächelnd darauf. Ich bemerkte meine erstarrte Haltung und ließ den Arm wieder sinken, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
„Ich glaube einfach … und ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber … Der Kontakt zu dir würde ihr guttun.”
„Sie kennt mich doch gerade mal seit einem Tag.”
„Ja, aber seither konnte ich das Funkeln der alten Milly wieder in ihren Augen sehen.”
Ich atmete tief durch und überlegte, was ich in ihr ausgelöst haben könnte. Ich hatte keine Ahnung. Oder vielleicht doch, denn sie hatte auch etwas in mir ausgelöst.
„Es war nur ein Gedanke. Du hast sicher viel zu tun. Es geht mir auch nur um dieses Abendessen.” Er zögerte und dann sackten seine Schultern nach unten. „Ich habe einfach keine Ahnung, was ich hier eigentlich mache. Ich würde ihr so gern helfen, aber ich bin vollkommen ratlos und verunsichert. Ich könnte einfach ein bisschen Starthilfe gebrauchen.“
Sein ausweichender Blick sagte mir, dass das nicht alles war. Aber abgesehen davon, spürte ich seine Hilflosigkeit.
„Du hast geglaubt, es würde reichen, wenn du einfach für sie da wärst und sie unterstützt.“
„Ja, ich hatte es ihr gesamtes Leben lang geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Und vielleicht dachte ich auch, dass es meine Schuld ist, dass es bei den beiden nicht besser läuft. Weil ich sie allein gelassen hatte. Und dass ich nur meine Füße in ihre Wohnung setzen müsste, um ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen. Aber natürlich ist das Unsinn.“
Ich überlegte und suchte nach Gründen, ihm seine Bitte abzuschlagen, aber ich fand keine und er sprach weiter: „Aber dann bist du aufgetaucht und plötzlich war da dieses Strahlen in ihren Augen. Verstehst du, warum ich dich fragen musste?“
Ich nickte und sagte schließlich: „Okay.”
Seine Augen schnellten wieder zu mir. „Wirklich?”
„Ja.” Wie könnte ich bei so einer Geschichte ‚Nein‘ sagen, dachte ich, aber ich sagte es nicht. Und dann fragte ich mich, wie ich bei dieser Geschichte hatte ‚Ja’ sagen können. Aber ich hatte es getan.
„Wow. Danke! Wann kannst du? Morgen?”
Ich lächelte über seine Begeisterung und sah zum ersten Mal ein Leuchten in seinen Augen. Erhielt zum ersten Mal einen Blick auf den Mann, der er wahrscheinlich bis vor einem Jahr gewesen war.
Als ich zuhause eintraf, erzählte ich Sofi von der Begegnung mit Lias und dem Nachmittag mit Milly, aber sie hatte an diesem Abend keine Lust zu reden, und ich ging mit einem Gefühl ins Bett, das ich lange nicht verspürt hatte. Ich freute mich auf den nächsten Tag. Zumindest tat dies ein Teil von mir.
Zum dritten Mal stieg ich innerhalb von drei Tagen die sechs Stufen zu Millys Hauseingang hinauf. Sie öffnete mir sofort und als ich die Wohnungstür erreichte, stand sie bereits im Flur und umarmte mich, als wäre ich eine alte Freundin, die sie monatelang nicht gesehen hatte. Ich erwiderte die Umarmung unsicher und etwas steif.
„Komm rein. Es ist so schön, dass du da bist.” Sie zog mich in den Flur, nahm mir die Tasche und die Weinflasche ab, die ich mitgebracht hatte, und schob mich ins Wohnzimmer. Dort stand Tom am Fenster. Als ich den Raum betrat, drehte er sich zu mir. Er hatte sich rasiert. Ich vermutete, dass er es auf Millys Wunsch hingetan hatte. Vermutlich aus demselben Grund trug er eine gut sitzende Hose und ein hellblaues frisches Polo-Shirt. Die Haare waren noch immer zu lang, aber er hatte sie gewaschen und sie fielen ihm glatt auf die Schultern. Nur der Blick in seinen Augen hatte sich nicht verändert. Es war eindeutig, dass er weder seine Verwandlung noch Teil dieser Dinnergesellschaft sein wollte. Er nickte mir zu und ich erwiderte die Geste.
„Ella, schön, dass du da bist.” Lias tauchte neben mir im Türrahmen auf. Er reichte mir die Hand.
Ich ergriff sie. „Vielen Dank für die Einladung. Was gibt es denn? Es riecht wunderbar.”
„Milly hat darauf bestanden, eine Paella zuzubereiten.”
„Jaha, und die kann ich wirklich gut kochen.” Das Mädchen gesellte sich zu uns und reichte mir ein Glas Weißwein. Ich ergriff es, froh darüber, meine Anspannung etwas in Alkohol ertränken zu können.
„Danke. Es riecht auf jeden Fall toll.” Ich wiederholte mich, weil ich eigentlich keine Ahnung hatte, was ich hier tat. Warum hatte ich diesem Essen zugestimmt?
„Lias, hilfst du mir mal in der Küche?” Milly zog ihren Onkel am Ärmel und er folgte ihr in den Flur.
Ich blieb etwas verloren im Türrahmen stehen und sah wieder zu Tom. Er starrte noch immer aus dem Fenster. Ich schaute mich um, entdeckte eine gemütliche Fernsehecke mit einem großen Stapel Zeitschriften auf dem Couchtisch, gut gefüllte Bücherregale und eine Wand, an der dutzende Fotos hingen und vor der ein großer Lesesessel neben einer alten Bogenlampe stand. Ich ging auf die Bücher zu und las die Buchrücken, mehr, um mir die Zeit zu vertreiben, als aus wirklichem Interesse. Doch dann erregte ein Regalfach meine Aufmerksamkeit. Die Bücher stammten alle vom selben Autor: Tom Meyer.
Ich drehte mich zu Millys Vater, der seine Position nicht verändert zu haben schien. „Sind das Ihre?”
Er reagierte nicht und ich fragte mich, ob ich meine Frage zu leise gestellt hatte. Also setzte ich an, um sie zu wiederholen, aber er unterbrach mich: „Ja, das sind meine.”
„Sie sind Schriftsteller?”, fragte ich überflüssigerweise und fühlte mich unwohl und fehl am Platz. Ich hätte nicht kommen sollen. Es war seine Wohnung und vielleicht wollte er mich hier gar nicht.
Er nickte, noch immer das Gesicht zum Fenster gewandt.
„Und Journalist.” Milly betrat gefolgt von Lias das Wohnzimmer und stellte eine Pfanne so groß wie der Reifen eines Kinderfahrrads auf den Tisch zwischen die Teller. „Kommt, lasst uns essen.”
Die Paella war wirklich lecker. Ich hatte einige Zeit in Spanien verbracht und es gab nicht viele Restaurants, die mit Milly mithalten konnten. Eigentlich schafften es nur eine ältere Frau, die mich einmal in ihre kleine Wohnung zum Essen eingeladen hatte, nachdem ich ihr die Einkäufe nach Hause trug, und ein Pärchen, das ich auf einer Party kennengelernt hatte. Die beiden Männer führten ein kleines Restaurant in der Nähe vom Strand in La Pared.
„Und was machst du, Ella?” Milly verschränkte die Beine zum Schneidersitz und nahm einen Schluck von ihrer Cola. Über Koffein brauchte ich mir offenbar keine Gedanken zu machen.
„Ähm, was ich mache? Was meinst du?“
Sie grinste schief. „Na, beruflich.“
„Ich arbeite im Chapleene.”
Sie runzelte die Stirn und sah mich an. „Ist das alles?”
„Milena.” Lias warf ihr einen strafenden Blick zu. Tom sagte nichts. Die kleine Portion, die Milly ihm aufgetan hatte, lag noch immer nahezu unberührt auf seinem Teller.
„Nein, das ist schon okay.” Ich sah zu Milly, die meinem Blick standhielt, mir aufmerksam zuhörte. „Ich war in den letzten Jahren nicht hier und sehe mich noch nach einem anderen Job um.” Und nach irgendetwas anderem, das meinem Leben Sinn gab.
„Wo warst du denn?”
„Ähm, überall eigentlich.”
Sie hob eine Augenbraue und dann grinste sie. „Also warst du auch in Sibirien.”
Ich nickte und ihre Augen wurden größer.