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A.D. WiLK

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Beschreibung

Der zweite Roman der Bestseller-Autorin A.D. WiLK führt die Charaktere und den Leser in ein wackliges Flugzeug und schließlich auf eine einsame Insel in der Karibik. Die Protagonistin Marie wird vor immer wieder neu auftauchende Fragen gestellt und die einzigen Menschen, die ihr diese Fragen beantworten könnten, sind nicht mehr am Leben. Und dann verliebt sie sich, obwohl sie nicht einmal weiß, ob sie diesem Mann vertrauen kann. „Wirst du mir irgendwann verzeihen, Rie?“ „Das habe ich schon getan.“ „Und wirst du mir jemals wieder vertrauen?“ „Ich weiß es nicht.“ Marie befindet sich auf einem Transatlantikflug in die Karibik, um eine Freundin zu besuchen. Neben ihr sitzt Vincent. Er überredet ihren Sitznachbarn, die Plätze zu tauschen, erzählt von seinen Träumen und hält sie im Arm, als die Lichter erlöschen und sich das Flugzeug mit hoher Geschwindigkeit dem Meer nähert. Seine Nähe fühlt sich vertraut an. Sein Lächeln vertreibt ihre Angst. Dennoch hat sie das Gefühl, dass er etwas vor ihr verbirgt. Und warum reagiert er so feindselig auf Mika, der ihnen doch nur helfen will?

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Inhalt

Ohne Titel

Prolog

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

ZWEIUNDDREIßIG

DREIUNDDREIßIG

VIERUNDDREIßIG

FÜNFUNDDREIßIG

SECHSUNDDREIßIG

SEIBENUNDDREIßIG

ACHTUNDDREIßIG

NEUNUNDDREIßIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

Epilog

Rezensionen

Mein Podcast

Über die Autorin.

Vielleicht war es Liebe.

Vielleicht nur diese Nacht

Lu & Nik. Und Ben. Zwei Jahre später.

Lu & Nik. Drei Jahre später.

Nur für diesen Moment.

Laufe Lebe Liebe.

Siebzehn Jahre. Ohne mich. Mit dir.

LARA. Thriller Trilogie.

Ohne Titel

Danke Michi, Jona, Rike und allen, die ihre Zeit in die Entstehung dieses Buches investiert haben. Ohne euch würde der Geschichte um Marie und Vincent vieles fehlen und der Text hätte einige Kommata mehr.

Für meine Mama,

von der ich gelernt habe, wie stark Frauen sind.

Prolog

Papa, was machst du da?“

„Rie, wenn du deinen Kopf so über meine Hände beugst, dann mache ich gar nichts mehr.“

„Oh.“ Sie richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und grinste ihn schräg an. Dann sah sie wieder auf seine Hände, in denen sich zwei Seile befanden. Er hatte sie ineinander verschlungen und zog nun fest an ihnen, bis sich ein Knoten bildete.

„Das ist ein Weberknoten. Damit kannst du zwei Seile fest miteinander verbinden.“

„Aber warum? An die Seile ist doch nichts drangebunden.“

„Ah!“ Er hob den Zeigefinger der rechten Hand und sah sie erwartungsvoll an.

Sie legte den Kopf schief. „Was?“

Er stand auf und gab ihr eines der Enden der verknoteten Seile. Das andere hielt er fest in der Hand. „Komm mit.“ Gemeinsam gingen sie zurück zum Zelt. An einem jungen Baum, dessen Stamm den Durchmesser einer Laterne hatte, band er das Seil fest. Dann trat er neben sie, ging in die Hocke und wuschelte ihr durch die dunklen Locken. Sie kicherte, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. Für einen Moment sah er sie nur an, dann nahm er ihr das Seil aus der Hand und band es um die riesige Wasserflasche, die sie von zuhause mitgebracht hatten.

Noch immer blickte sie ihn ratlos an. „Papa, was tust du denn da?“

„Das Wasser ist zu warm. Deshalb hängen wir die Flasche in den Fluss.“

Ries Augen weiteten sich. „Aber dann schwimmt sie doch weg. Oder sie geht unter.“

„Hab keine Angst, Rie.“ Wieder sah er sie mit diesem intensiven Blick an. Dann drehte er sich in Richtung Fluss und ging die fünf Meter bis zum Ufer. Rie rannte ihm hinterher und blieb neben ihm stehen, als er sich mit seinen türkisblauen Turnschuhen auf einen flachen Felsen stellte und die Flasche ins Wasser gleiten ließ.

Und dann geschahen zwei Dinge auf einmal: Die Flasche wurde von einer Welle erfasst und riss an dem Seil. Und im selben Moment verlor Ries Vater das Gleichgewicht, rutschte auf dem nassen Stein aus und stürzte ins Wasser. Der Fluss war an dieser Stelle nur etwa einen Meter tief, aber sein Grund war übersät von scharfkantigen Steinen.

Und auf einen dieser Steine fiel Ries Vater. Sein Kopf traf eine spitze Kante und das Wasser um ihn herum färbte sich für den Bruchteil einer Sekunde rot, bevor es von der Strömung davongetragen wurde. Sie schrie auf, wollte nach ihm greifen. Aber ihre Arme waren zu kurz, ihr Körper zu schwach. Hilflos sah sie dabei zu, wie die Strömung auch den leblosen Körper davontrug. Als er hinter der Biegung verschwand, die der Fluss an dieser Stelle machte, fand sie endlich ihre Stimme wieder und schrie, so laut sie konnte: „Papa!“

EINS

Tag 1

Ich saß direkt am Flügel. Eine Freundin meiner Mutter hatte mir einmal gesagt, ich solle diesen Platz buchen. Man hätte dort mehr Beinfreiheit. Ja, und außerdem säße man direkt am Notausgang. Das war lange, bevor ich überhaupt jemals ein Flugzeug betreten hatte. Mich überhaupt getraut hatte, es zu tun. Inzwischen war ich häufig durch piepsende Sicherheitsschleusen gegangen, hatte mich unzählige Male in die Schlange auf das Boarding wartender Menschen gereiht und viel zu oft darüber geärgert, dass ich meine Beine zwar frei bewegen konnte, aber wegen des Flügels keine wirklich gute, manchmal gar keine Sicht auf die Welt unter mir hatte.

Ich folgte trotzdem noch immer der Empfehlung. Denn, so sehr ich es liebte, an anderen Orten zu sein, an Orten, die weiter als eine Bahnfahrt entfernt lagen, saß ich noch immer den gesamten Flug über wie erstarrt in meinen Sitz gepresst und wartete darauf, wieder festen Boden unter meinen Füßen zu haben. Vielleicht wartete ich aber eher auch darauf, dass ich das nie mehr tun können würde.

Ich hätte es gern vermieden. Aber dann hätte ich meinen Traum, als Fotografin durch die Welt zu reisen, nicht leben können. Und außerdem fragte mich meine Freundin Lydia bei jedem unserer Telefonate, ob ich mich meinen Ängsten stellte. Sie hatte drei Semester Psychologie studiert, und obwohl sie sich dagegen entschieden hatte, die Psyche der Menschen beruflich zu ergründen, konfrontierte sie jeden mit dem Halbwissen, das sie in diesen anderthalb Jahren erlangt hatte. In ihrer Frage schwang die Aufforderung, es zu tun, und ich wusste, dass sie recht hatte.

Deswegen saß ich immer wieder in einem Flugzeug. Dieses Mal sogar aus rein privaten Gründen. Ich würde Lydia besuchen. Sie hatte vor einiger Zeit einen Buchladen auf einer kleinen Karibikinsel eröffnet. Der Laden lief gut. Offenbar hatten die Menschen auch in Zeiten von Smartphone und E-Book-Reader das Bedürfnis, im Urlaub ein Buch in die Hand zu nehmen, dessen Seiten man anfassen und umblättern konnte. Ich verstand es nicht. Das letzte richtige Buch, das ich gekauft hatte, war ein Geschenk für meine Mutter gewesen. Es war ein Kochbuch. Ich liebte den Luxus, hunderte Bücher zu haben, ohne mir die Wohnung damit vollzustellen. Es gab natürlich Bücher in meinen Regalen, aber es war eine ausgewählte Sammlung, die sich schon jahrelang in meinem Besitz befand, und die nur sehr selten um ein neues Werk erweitert wurde.

Der Flug hatte unspektakulär begonnen und wir waren schon ein paar Stunden in der Luft. Ich hatte Glück mit meinem Sitznachbarn. Vincent war in meinem Alter und attraktiv. Blonde Strähnen hingen ihm in die Stirn und unter seinem T-Shirt zeichneten sich trainierte Muskeln an der Brust und an den Armen ab. Ich legte keinen großen Wert auf das Äußere eines Mannes. Ein paar gut aussehende Charmeure hatten mir unmissverständlich klar gemacht, wie sinnlos es war, sich von einem schönen Äußeren leiten zu lassen, und dass dieses nicht zwangsläufig zum Glück führte. Vincent hatte kein typisches Modelgesicht. Ihm fehlten die markanten androgynen Wangenknochen, die viele Designer bei der Auswahl der Gesichter für ihre Kampagnen suchten. Trotzdem hatte sein Gesicht etwas Markantes, sein Blick war auch durch die Gläser seiner Brille intensiv und sein Lächeln hatte mich meine Aufregung in den letzten Stunden schon ein paar Mal vergessen lassen. Ich hätte ihn gern fotografiert.

Wir hatten uns bereits am Flughafen vor und während des Boardings unterhalten. Er hatte mich angesprochen. Wir hatten über unser Reiseziel geredet und er hatte mich trotz meiner Nervosität zweimal zum Lachen gebracht. Im Flieger hatte er meinen eigentlichen Sitznachbarn davon überzeugen können, den Platz mit ihm zu tauschen. Als die Flugbegleiterin mit ihrem Getränkewagen durch die Reihen fuhr, hatte er mir einen Kaffee spendiert. Und den tranken wir gerade, während die Dunkelheit vor meinem Fenster jedes Detail verschluckte. Im Innern des Flugzeugs brannten nur hier und da ein paar Leselichter und die Sicherheitsbeleuchtung wies den Flugbegleitern und Passagieren mit einem dringenden Bedürfnis den Weg.

Vincent rührte in seinem Kaffee und erzählte, dass er schon lange davon träumte, in die Karibik zu reisen. Es war ein unspektakuläres Gespräch. Zu mehr war ich sowieso nicht in der Lage, denn, obwohl mein Kaffee koffeinfrei war, stand ich seit dem Start unter der mir so vertrauten Anspannung, die mir die stetige Adrenalinproduktion meiner Ganglien und Nebennieren bescherte. Als ob es etwas nützen würde. Im Falle eines Absturzes würden mir auch die beste körperliche Grundeinstellung und Wachsamkeit nicht helfen. Weder Flucht noch Angriff würden den Aufprall auf den Atlantik verhindern können. Und der würde sich nach einem Fall aus zehn Kilometern Höhe ähnlich hart anfühlen wie der Asphalt auf dem Time Square in New York City.

Also hörte ich Vincent zu, der darüber sprach, dass er seit zwei Jahren ein Bild von diesem einen Strand in seinem Portemonnaie mit sich herumtrug und zu Gunsten seiner Reisekasse genauso lange fast alle Kosten vermied, die über Miete, Nahrung und die Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr hinausgingen. Ich beobachtete ihn fasziniert und konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Mann für ein paar Wochen Urlaub darauf verzichtete, ein Leben zu führen.

Als das Flugzeug das erste Mal ruckte und die Leselichter für den Bruchteil einer Sekunde ausgingen, sank mein Herz zwar in die Hose, aber mein Verstand redete mir dieselben beschwichtigenden Worte ein wie immer, wenn wir durch ein Luftloch flogen oder ein Sturm das Flugzeug durchschüttelte. Ich hatte unzählige Momente dieser Art erlebt. Es war sicher vollkommen normal. Aber dann, nach zehn Minuten, kam der zweite Ruck. Er war deutlich stärker und mein Verstand schaffte es diesmal nicht, mein Herz wieder hochzuhieven. Es blieb tief in meinem Bauch liegen und pochte so aufgeregt, dass mir davon schlecht wurde.

Vincent sah meine Panik und versuchte, mich zu beruhigen. Doch es hatte keinen Zweck, denn nach wenigen Minuten ruckte die Maschine erneut. Noch heftiger als die zwei vorhergehenden Male. Diesmal fühlte es sich an, als sänke das Flugzeug um ein paar Meter in die Tiefe. Wieder fiel die Beleuchtung aus und als sie sich wieder einschaltete, sah ich für die Dauer eines Wimpernschlags den panischen Gesichtsausdruck einer Flugbegleiterin. Vincent bemerkte ihn auch. Aber dann wurde ihr bewusst, dass die Beleuchtung ihre Gefühlswelt nun nach außen trug, und sie setzte ihrem Gesicht wieder das professionelle Lächeln auf, das sie während ihrer Ausbildung trainiert hatte. Die meisten Passagiere waren durch die Unruhen geweckt worden und schauten sich, wie wir, mehr oder weniger besorgt um. Natürlich gab es im Passagierraum keine Anzeichen für irgendwelche Probleme. Es brannte nicht und es gab keine beunruhigenden Geräusche, die auf einen Triebwerkschaden hinwiesen. Aber die meisten Menschen deuten eine nicht einwandfrei funktionierende Technik in dieser Höhe als Gefahr. Ich auch.

Die Stimme des Piloten beruhigte zwar die aufgebrachten Gespräche zunächst, er konnte aber niemandem die Angst nehmen. Er sprach von technischen Störungen und davon, dass er bei nächster Gelegenheit eine Notlandung einleiten würde. Wo diese nächste Gelegenheit sein würde, sagte er nicht. Es war auch nicht notwendig, denn wir alle wussten, dass es in unmittelbarer Nähe keine gab. Unter uns war Wasser, egal, in welche Richtung wir weiterflogen.

Ich hatte mich immer gefragt, wie ich wohl mit einer solchen Situation umgehen würde, und war überrascht, dass die Panik mich nicht dazu veranlasste, die Flugbegleiterin anzubetteln, meine Bordkarte nachträglich doch nicht anzuerkennen oder heulend in Vincents Armen zu liegen. Ich tat nichts dergleichen. Stattdessen übernahm eine Ruhe in mir die Kontrolle, die ich von mir selbst nicht kannte. Es war, als hätte ich schon immer auf diesen Moment gewartet und nun, da er gekommen war, war ich in gewisser Weise bereit für was auch immer folgen würde.

Ich sah zur Seite. Vincent wirkte weder bereit noch ruhig. Unsere Rollen hatten sich vertauscht. Ich fand es interessant, dass die Gewissheit den einen Menschen völlig aus der Bahn wirft, während sie den anderen erdet. Vincent hatte Schweißperlen auf der Stirn und sein Blick war starr auf den kleinen, grauen Riegel gerichtet, der die Tischplatte an der Rückseite des Sitzes vor ihm festhielt. Ich versuchte, ihn anzusprechen, aber er schien mich nicht zu hören. Ich probierte es weiter, stellte ihm alle möglichen Fragen und irgendwann schaffte er es, seinen Kopf zu mir zu drehen. In seinen Augen lag nicht mehr das blanke Entsetzen, auch wenn ich die Angst noch immer sehen konnte. Ich strich ihm über die linke Wange, was angesichts unserer kurzen Bekanntschaft vielleicht etwas zu intim war, aber er beantwortete die Berührung mit einem Lächeln, was mich wiederum zum Lächeln brachte.

Als der nächste Ruck die Beleuchtung wieder erlöschen ließ, war er etwas entspannter. Wir redeten nicht, wir warteten. Wir warteten auf eine weitere Ansage des Kapitäns, auf die Panik der anderen Passagiere, auf den Ausfall der gesamten Technik. Wir warteten auf den Absturz. Aber nichts davon geschah. Wir flogen weiter, hin und wieder von einem Ruck geschüttelt. Irgendwann griff Vincent nach meiner Hand und strich sanft mit seinen Fingerspitzen über meine Haut. Er entspannte sich. Und ich genoss seine Berührung, die wie das Streicheln seiner Wange zu intim war, aber trotzdem irgendwie in die Situation passte und sich seltsam vertraut anfühlte.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir an Flughöhe verloren, aber ich war mir nicht sicher. Letztendlich spielte es auch keine Rolle. Ich war der Situation ausgeliefert und konnte nur abwarten, was geschah. Ohne zu wissen, was am Ende des Wartens sein würde oder nicht mehr sein würde. Ich konnte nicht rennen, niemanden um Hilfe bitten. Ich konnte nichts tun, um mich selbst oder einen der anderen Passagiere zu retten.

Und dann wurde mir etwas bewusst. Vielleicht waren dies die letzten Stunden, vielleicht auch nur Minuten meines Lebens und ich saß in einem dunkelblauen Ledersitz, hatte viel Beinfreiheit, hielt die Hand eines Fremden und wartete darauf, was das Schicksal für mich bereithielt. Dabei glaubte ich nicht einmal an Schicksal, an ein vorgezeichnetes Leben, in dem ich nur eine Rolle übernahm, die jemand anderes für mich geschrieben hatte. Eine schreckliche Vorstellung. Ich entschied selbst darüber, wie mein Leben verlief. Und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, lehnte ich mich zu Vincent und küsste ihn.

Er war überrascht, so sehr wie ich. Aber nur für einen Moment. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Wange und den Druck seiner Lippen, die sanft die meinen öffneten und mit ihnen in einem Kuss versanken, der mein Herz wie einen Ball durch meinen Bauch hüpfen ließ. Denn dort hatte es trotz der neu gewonnenen Sicherheit noch immer gelegen. Seine Bartstoppeln kratzten über meine Oberlippe. Sie hatten gerade erst zu wachsen begonnen und waren noch besonders scharfkantig. Aber seine Lippen waren weich und sein Mund warm und er schmeckte nach Kaffee. Es war ein schöner Kuss und es wäre mir fast gelungen, zu vergessen, dass ich den Mann hinter diesen Lippen erst ein paar Stunden kannte und wir möglicherweise nicht viele Gelegenheiten haben würden, dieses Zusammenkommen zu wiederholen.

Ein weiterer Ruck beendete unseren Kuss. Dieses Mal fiel die Beleuchtung für mehr als eine Minute aus. Vincent löste die Armlehne zwischen uns, schob sie nach oben und legte mir den Arm um die Schultern. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Brust sinken und verspürte wieder die vertraute Nähe, die so gar nicht in diese Situation passte. Und dann begann er leise zu singen. Es war ein alter Song, den ich schon unzählige Male gehört hatte, aber nie hatte ich ihn so erlebt. Vincent sang ihn in einer ruhigeren Version als im Original. Seine Stimme war warm, tief und gefühlvoll und ließ eine Gänsehaut meine Arme bedecken.

Ich schmiegte mich tiefer in seine Umarmung und gemeinsam warteten wir darauf, dass das Licht wieder anging. Ich dachte über unseren Kuss nach, während seine leise Stimme in mein Ohr drang, spürte noch immer die Berührung seiner Lippen und der Ball in meinem Bauch nahm bei der Erinnerung wieder neuen Schwung auf. Dabei wollte ich keinen Mann in meinem Leben. Hatte noch nie einen gewollt. Zumindest nicht länger als für ein paar Wochen. Denn dann verpuffte die erste blinde Verliebtheit und ich stellte fest, dass der aktuelle Mann nicht in mein Leben passte. Oder ich in seins. Und jemand, der jahrelang für einen Traum darauf verzichtete zu leben, von dem er sich dann doch wieder verabschieden musste, konnte keinen Platz in meinem Leben finden.

Aber andererseits, was wusste ich schon? Ich kannte ihn erst seit ein paar Stunden. Und war es nicht eine ganz nette Abwechslung, wenn ein Mann nicht sein gesamtes Geld für Partys und Autos aus dem Fenster warf, sondern für etwas beiseitelegte, das ihm wichtig war?

Das Licht schaltete sich wieder ein, als sich meine Augen gerade soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass ich die Umrisse des Sitzes vor mir erkennen konnte. Vincent verstummte und die Stimme des Kapitäns verkündete, wir würden die Flughöhe reduzieren. Die nächste Möglichkeit für eine Notlandung wäre in Reichweite. Ich fragte mich, ob er nur versuchte, eine Panik zu verhindern oder ob er wirklich daran glaubte, dass wir hier lebend rauskommen würden. Ich war noch immer seltsam ruhig. Vincents Arm drückte mich fester an sich. Seine Angst wurde wieder stärker. Auch er hatte den Unterton des Kapitäns gehört.

Es dauerte nicht lange, bis die Flugbegleiter durch die Reihen gingen und uns, als reine Vorsichtsmaßnahme, aufforderten, unsere Schwimmwesten unter den Sitzen hervorzuholen und sie anzulegen. Sie baten uns, nicht an der Lasche zu ziehen. Es bestehe keine unmittelbare Gefahr und sollten wir die Westen tatsächlich brauchen, würden sie sich schnell genug aufblasen lassen. Außerhalb des Flugzeuges. Die meisten Passagiere folgten den Anweisungen umgehend und ruhig. Eine Dame mittleren Alters, die zwei Sitzreihen vor uns saß, ignorierte die Anweisung. Ich konnte die Panik nicht nur in ihren Augen deutlich erkennen. Tränen strömten ihr über die Wangen, verteilten Wimperntusche und Kajalstift auf ihrer Haut, wo beides verwischte und dunkle Flecken hinterließ. Sie blickte immer wieder um sich und als sie die Flasche Wasser an die Lippen hob, die ihr Sitznachbar ihr reichte, zitterte ihre Hand so stark, dass das Wasser überschwappte und den gelben Tweed-Stoff ihres Rocks dunkel färbte. Sie war nicht weit davon entfernt, die Fassung vollständig zu verlieren. Eine Flugbegleiterin strich ihr beruhigend über den Arm und sie schaffte es, ihr die Rettungsweste anzulegen.

Die Panik der Frau ließ mich wieder rational denken. Lydia wäre stolz auf mich gewesen. In meinem Kopf ging ich mein Handgepäck durch, das über mir hinter einer Klappe verstaut war. Ein weiterer Nachteil, wenn man an einem Notausgang saß. Es durfte kein Gepäckstück unter den Vordersitz geschoben werden. Ich hatte die Flugbegleiterin überzeugen können, meine Handtasche bei mir behalten zu dürfen, aber mein blauer Rucksack befand sich in der Gepäckablage über mir. Darin waren nicht viele Dinge, die sich im Falle eines Absturzes als hilfreich erweisen würden. Ein Notebook mitsamt Kabeln, meine Kamera mit einem weiteren Objektiv, ein paar Schmerztabletten, ein dünnes Mikrofaserhandtuch, Kosmetik, ein paar Nüsse, ein Stephen King Roman und Kopfhörer, ein Bikini, ein frisches T-Shirt. Schließlich wusste man ja nie, in welches Flugzeug die eigenen Sachen verladen werden würden. Außerdem hatte ich darin Tampons, die ich erst wieder in einem Monat brauchen würde. Vielleicht auch früher. Mein Zyklus war nicht besonders regelmäßig.

Ich löste meinen Gurt und stand auf. Vincent sah mich fragend an und auch der Passagier, der neben uns auf der anderen Seite des Gangs saß, beobachtete mich aufmerksam. Eigentlich tat er das schon den gesamten Flug über. Sofort kam eine rothaarige Flugbegleiterin auf mich zu, schob sich an Vincent vorbei und hob eine Hand, als würde sie mich zurück in meinen Sitz drücken wollen. Aber dann überlegte sie es sich anders und sagte: „Bitte setzen Sie sich wieder.“ Ihr Blick war streng, vielleicht auch ein bisschen mitfühlend, aber vor allem streng. Und ihr straff nach hinten gebundener Pferdeschwanz schwang, noch immer von der vorherigen Bewegung angetrieben, hin und her.

„Aber ich brauche meinen Rucksack.“

„Es tut mir leid. Das geht jetzt nicht.“

„Aber …“

Vincent schaltete sich dazwischen: „Es befinden sich Tabletten in diesem Rucksack, die sie alle vier Stunden einnehmen muss.“

Die Flugbegleiterin sah nicht sehr beeindruckt aus. Aber sie stellte Vincents Worte nicht infrage. „Gut, dann gebe ich ihnen den Rucksack herunter und sie können die Tabletten herausnehmen.“

Mist. Ich verzog das Gesicht und sie lächelte wissend. „Hören Sie, ich kann verstehen, dass Sie verunsichert sind. Aber bisher gibt es dafür keinen Grund. Und wenn ich Ihnen jetzt erlaube, ihren Rucksack an sich zu nehmen, fragt mich in zwei Minuten der nächste Passagier, ob er nicht vielleicht seine Fernbrille aus dem Handgepäck holen könnte.“ Sie sah sich um und senkte die Stimme. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir weitere Unruhe vermeiden möchten.“

Ich sah ihr direkt in die Augen und schätzte meine Chancen ab, sie umzustimmen. Sie lagen bei Null. Vielleicht sogar darunter. Also gab ich nach, rutschte zurück in meinen Sitz und legte den Gurt wieder an.

Vincent sah mich mitfühlend an. „Was ist denn so Wichtiges in dem Rucksack?“

Ich lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. „Nichts.“

Wir schwiegen. Wir schwiegen eine ganze Weile und so langsam kam mir diese ganze Weile sehr lang vor. Länger, als ich erwartet hatte, noch in den Genuss kommen zu dürfen, die Keime des hustenden Passagiers acht Reihen hinter uns, einzuatmen. Das Lüftungssystem verteilte sie seit Stunden im gesamten Passagierraum.

„Müssten wir nicht langsam mal abstürzen?“ Ich öffnete die Augen und sah aus dem Fenster. In das tiefe Schwarz hatte sich inzwischen etwas Helligkeit gemischt. Wir sanken noch immer, aber es wirkte kontrolliert. Das Meer lag weit unter uns und es hatte keinen weiteren Ruck oder Lichtausfall gegeben. Ich sah zu Vincent. Er erwiderte meinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen, die man hinter seiner Brille mit der groben Fassung kaum sehen konnte.

„Was?“, fragte ich.

„Wie kannst du das so sagen?“

Ich atmete tief durch. „Ich hab mich halt darauf eingestellt.“

„Du hast dich darauf eingestellt, dass wir abstürzen?“ Er sagte es zu laut und von den Plätzen um uns herum drangen Geräusche der emotionalen Erschütterung.

Ich sprach leiser. „Ja, das habe ich. Wie sollte ich denn sonst mit so einer Situation umgehen? Und wozu hätte ich sonst meinen Rucksack gebraucht?“

Weitere Zweifel zeichneten sich in seinem Gesicht ab. „Marie, wenn wir abgestürzt wären, hättest du deinen Rucksack ganz sicher nicht mehr gebraucht.“

„Wenn wir eine Notwasserung gemacht hätten. Dann hätte ich ihn mir auf den Rücken geworfen, wir wären die Ersten gewesen, die diesen riesigen Sarg verlassen hätten und wenn wir auf einem Rettungsboot oder auf einer einsamen Insel ein paar Tage hätten ausharren müssen, dann …“

„Was? Dann hättest du zwischendurch die Unterwäsche wechseln können?“ Fast.

„Nein, Vincent. Da ist keine Unterwäsche drin.“ Genervt ließ ich mich in den Sitz zurückfallen.

„Ein Bikini?“ Woher wusste er das?

Ich schwieg.

„Und nenn mich bitte nicht Vincent. Das haben nur meine Lehrer getan und ich habe es gehasst.“

„Warum hast du es denn gehasst? Das ist doch ein wunderschöner Name.“

Er lächelte. „Du findest, ich habe einen wunderschönen Namen?“

Ich wich seinem Blick aus und räusperte mich. „Ähm, ja. Ich bin halt ein großer Kunstfan.“

Jetzt war er es, der schwieg.

„Wie möchtest du denn stattdessen genannt werden?“

„Vin. Meine Freunde nennen mich Vin.“

Ich drehte den Kopf wieder zu ihm. „Echt jetzt? Wie Vin Diesel?“ Ich musterte ihn.

„Nein, einfach wie Vin.“

„Das hast du wahrscheinlich schon ein paar Mal gehört oder?“

Er nickte und lächelte selbst.

Ich streckte ihm die Hand entgegen. „Okay, Vin. Dann zähle ich mich jetzt zu deinen Freunden.“

Er zögerte einen Moment, bevor er sie ergriff. Seine Hand fühlte sich warm und stark an. Wie sein Kuss. Ich strich das Bild schnell wieder aus meinem Kopf. Und ein Blick in Vins Augen nahm auch dem Ball in meinem Bauch, der bei der Erinnerung an die Berührung unserer Lippen zu hüpfen begonnen hatte, wieder seine Sprungkraft. Er sah mich ernst an. Zu ernst. Aber als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ertönte ein Kratzen in den Lautsprechern über uns und der Kapitän sprach erneut. Er erzählte etwas davon, dass die technischen Schwierigkeiten behoben seien, er das Flugzeug aber trotzdem bei nächster Gelegenheit landen wolle, um einen Defekt auszuschließen, den ihm seine Instrumente nicht anzeigten.

Vin lehnte sich zurück und atmete tief durch. Ich tat es ihm gleich und versuchte, die Erinnerung an seinen ernsten Blick und an das Gefühl seiner Lippen auf den meinen zu verdrängen. Beides passte nicht zueinander, aber ich wollte nicht darüber nachdenken.

ZWEI

Tag 1

Nicht mal ein Feldzug unter Ulysses S. Grant persönlich würde mich noch einmal in dieses Flugzeug treiben können, wenn ich hier irgendwann raus gekommen bin.“ Ich presste die Hände aufs Gesicht und meine Worte klangen selbst für mich dumpf. Dennoch merkte ich, wie mein Herz ganz langsam zurück in meine Brust schwebte, und ich wandte mich wieder zu Vin.

Auch in sein Gesicht war die Farbe zurückgekehrt und er lächelte. Zaghaft und kaum wahrnehmbar, aber er lächelte. Er nahm die Brille vom Gesicht und wischte sich mit den Fingern über die Augen. Dann sah er mich an.

„Du brauchst eine andere Brille.“ Warum hatte ich das gesagt?

„Wie bitte?“

„Der Rahmen ist zu breit für dein Gesicht. Deine Augenbrauen verschwinden komplett dahinter und deine Augen können überhaupt nicht richtig wirken. Hast du es mal mit Kontaktlinsen versucht?“ Was erzählte ich denn da? Ich mochte es, wie sein Gesicht mit der Brille zusammen wirkte.

„Zu teuer.“

„Aber …“

Er unterbrach mich: „Ich mag meine Brille.“

„Okay.“

Er setzte sie wieder auf und lehnte sich zurück.

„Aber …“

„Marie. Ich mag sie.“

„Hast du eine Freundin?“ War das der Grund, warum mein Gehirn sich dieses Thema ausgedacht hatte? Gab es meinem Mund deshalb ohne mein Zutun das Kommando, sich zu öffnen und zu schließen? Um Vin Fragen zu seinem Beziehungsstatus zu stellen?

Er richtete sich wieder auf und sah mich an. „Glaubst du, ich hätte dich geküsst, wenn ich eine Freundin hätte?“

Ich überlegte. Dann sagte ich: „Ja, das glaube ich. Außerdem habe ich dich geküsst und wir dachten beide, dass wir bald sterben würden und …“

Er lehnte sich wieder zurück und seufzte. „Ich habe keine Freundin.“

Ein kleiner Stich durchfuhr mich, weil er so genervt reagierte. Aber das Wissen, dass zuhause niemand auf ihn wartete, schwächte ihn ab und ich erwiderte grinsend: „Das liegt bestimmt an der Brille.“

Er wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment drehte das Flugzeug nach links und unter uns erschienen die Lichter einer Insel, deren Landebahn aussah, als wäre sie für Ein-Personen-Jets in Playmobil-Größe gebaut worden und nicht für eine Passagierflugmaschine eines Transatlantikfluges, in der echte Menschen saßen. Der Pilot beendete das Kurvenmanöver und nun steuerten wir mit sinkender Höhe auf winzige Positionslichter zu. Mein Herz rutschte zurück in die Gegend, in der mein Körper normalerweise damit beschäftigt war, mein Mittagsessen zu verdauen. Ich musste für einen Moment die Augen schließen, um die Kontrolle über seine Funktionen zurückzuerlangen.

Dann lag plötzlich ein Paar Lippen auf meinem Mund und ich ließ zu, dass Vin mich sanft küsste. Ließ zu, dass er mit seinem Mund über die Stelle strich, die meinen Lippen ihr herzförmiges Aussehen verlieh. Mein Mund öffnete sich wie von selbst und ich versank noch tiefer in seinem Kuss als beim ersten Mal. Mein Herz hüpfte zurück an seinen Platz, zumindest fast, und eine kleine Armada Schmetterlinge flatterte durch meinen befreiten Bauch.

Ein kräftiger Stoß riss unsere Lippen auseinander. Im nächsten Moment wurde Vins Kopf gegen meinen geschleudert und ein heftiger Schmerz nahm von meiner Stirn aus seinen Weg hin zu meinem Hinterkopf. Vin schien es ähnlich zu gehen, denn er rieb sich mit verzerrtem Gesicht die rechte Augenbraue. Erst jetzt bemerkte ich, dass er die Brille wieder abgenommen hatte.

Plötzlich begannen die Menschen um uns herum zu klatschen und zu jubeln. Die Ereignisse der letzten Minuten hatten meine Wahrnehmungskraft beeinträchtigt und mir war gar nicht aufgefallen, dass das Flugzeug immer langsamer geworden war und nun zum Stehen kam. Der starke Ruck musste vom Aufprall des Fahrwerks auf die Rollbahn ausgelöst worden sein. Ich sah aus dem Fenster. Da waren Palmen und Gebäude und Asphalt und Menschen und Autos. Und ein deutlich größerer Flughafen, als ich ihn aus der Luft erwartet hatte. Wir hatten es geschafft. Etwas Warmes legte sich auf meine Hand. Vin strich sanft über sie und verschränkte unsere Finger miteinander.

Ich blickte zuerst auf unsere Hände und dann in sein Gesicht. Er lächelte sanft und in mir brach die Haltung der letzten Minuten, oder waren es Stunden, zusammen. Ich begann zu zittern und meine Augen füllten sich mit Tränen. Vins Blick verfinsterte sich. Er löste seinen Gurt und rückte zu mir. Als er mich an sich zog, schluchzte ich bereits heftig und auf seinem T-Shirt bildeten sich innerhalb weniger Sekunden dunkle Flekken. Aber er hielt mich fest und ich wollte nicht, dass er damit wieder aufhörte.

DREI

Tag 1

Ich werde kein weiteres Mal in dieses Flugzeug steigen.“

„Marie!“

„Nein. Dieses Ding wäre beinahe mit uns abgestürzt. Ich mag mein Leben. Gut, es gibt ein paar Dinge, die ich darin ändern würde. Aber ich hätte gern die Gelegenheit, das auch wirklich zu tun.“

„Die Mechaniker haben den Fehler gefunden. Es lag an der Elektronik. Sie haben es repariert und …“

„Wie können sie sich da so sicher sein? Die Mechaniker, die sich das Flugzeug vor dem Abflug angesehen haben, hatten auch keine Bedenken, ein paar hundert Leute damit über den Atlantik fliegen zu lassen.“

Er reagierte nicht auf meinen Einwand. „Also bleibst du hier?“

Die Mitarbeiter am Flughafen hatten uns gesagt, es würde keinen alternativen Flug geben, der uns an unser Reiseziel bringen würde. Nicht heute und auch nicht morgen und auch nicht nächste Woche. „Ich finde einen anderen Weg.“

Seine Augenbrauen hoben sich. Zumindest vermutete ich das, denn seine Brille saß wieder auf seiner Nase und der breite Rahmen verdeckte die dunklen Haarstreifen, die so gar nicht zu den blonden Haaren auf seinem Kopf passten. „Zum Beispiel schwimmen?“

„Sehr witzig. Warum interessiert dich das überhaupt?“ Ich wollte ihn nicht so anfahren, aber ich wusste ja selbst nicht, wie ich zu Lydia kommen sollte, ohne mir nasse Füße zu holen und Bekanntschaft mit dem örtlichen Hai-Verband zu machen.

Vin schien sich nicht angegriffen zu fühlen. „Weil wir die letzten zehn Stunden miteinander verbracht haben, fast gemeinsam mit einem Flugzeug abgestürzt wären und weil du mich geküsst hast.“

Mein Ärger verflog mit seinen Worten. „Du hast mich auch geküsst.“

Jetzt lächelte er. „Also, was hast du vor?“

„Es sind etwa 300 Kilometer, richtig?“

„Richtig.“

„Ich verstehe nicht, warum er nicht diese halbe Stunde weiterfliegen konnte.“ Ich murmelte die Worte nur.

Vin legte seine Hand auf meinen Arm und strich mit dem Daumen über den Knöchel an meinem Handgelenk. Er sagte nichts.

„Ich kann da nicht wieder einsteigen.“

„Okay.“

„Ich dachte, ich hätte das unter Kontrolle. Es hat sich so angefühlt, als … Aber jetzt, jetzt nicht mehr.“ Ich sank in die Hocke und legte die Hände vors Gesicht. Vins Hand blieb in der Luft hängen und die Stelle, an der sie noch vor einer Sekunde meine Haut berührt hatte, fühlte sich leer an. Und kalt. Und das obwohl die tropische Luft das Thermometer sicher bereits auf dreißig Grad Celsius hatte ansteigen lassen.

„Okay“, sagte er wieder und hockte sich neben mich.

„Du musst zurück ins Flugzeug.“ Ich sah zur Landebahn. Die Passagiere betraten die Maschine über eine Treppe, die ganz offensichtlich nicht für ein Flugzeug dieser Größe bestimmt war. Unter einem der rechten Triebwerke sprach der Pilot mit einem der Mechaniker, der ein Blatt Papier in der Hand hielt und immer wieder zunächst auf eine Stelle auf dem Blatt und dann auf den Flügel deutete.

„Vin?“

Er antwortete nicht.

Die Frau im gelben Tweed-Kostüm stieg die Treppe zuletzt empor. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich die Panik in ihrem Gesicht sehen. Ich hatte den größten Respekt vor ihr. Mein eigener Körper war fest verwurzelt mit der kerosingetränkten Erde unter mir.

„Vin, du musst jetzt gehen.“

Statt sich zu erheben, nahm er seinen Rucksack von den Schultern, ließ sich nach hinten sinken und setzte sich.

„Was tust du?“

„Ich bleibe.“

Ich riss die Augen auf. Auch mein Mund öffnete sich, aber außer ein paar Silben brachte ich nichts heraus.

„Was?“ Er drückte mit dem Daumen mein Kinn nach oben, um meinen Mund wieder zu schließen, und lächelte.

„Du kannst doch nicht einfach hier bleiben! Dein Koffer ist in diesem Flugzeug. Du hast jahrelang für diese Reise gespart. Du …“

„Ich werde schon ankommen. Es sind nur 300 Kilometer. Schon vergessen?“

„Ja, aber …“

„Ich schlage vor, wir …“

Mehr sagte er nicht, denn in diesem Moment kam die rothaarige Flugbegleiterin auf uns zu. Ihren Zopf hatte sie inzwischen gelöst und lange Strähnen fielen ihr über die Schultern. Sie sah müde aus. „Hey, ihr zwei. Wir schließen die Türen in wenigen Minuten. Wollt ihr nicht langsam mal einsteigen?“ Die fehlende Distanz in ihren Worten irritierte mich für einen Moment.

„Wir fliegen nicht mit“, sagte Vin, bevor ich den Mund wieder öffnen konnte.

Leichte Falten legten sich auf ihr Gesicht und sie schüttelte fragend den Kopf. „Ihr kommt nicht mit?“ Für einen Moment zeigte sich in ihrem Blick ein Gefühl, das ich nicht ganz deuten konnte. Vielleicht hätte sie sich gern zu uns gesetzt und dem Flugzeug mit uns gemeinsam dabei zugesehen, wie es in seine ungewisse Zukunft verschwand. Aber dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder, sie straffte die Schultern und schlug einen geschäftsmäßigeren Ton an: „Also gut, aber was ist mit dem Gepäck? Wir können jetzt unmöglich eure Koffer aus dem Flugzeug heraussuchen.“

„Das wissen wir.“ Diesmal war ich es, die antwortete. „Wir werden so schnell wie möglich nachkommen und unser Gepäck am Flughafen abholen.“ Wir. Hatte ich wir gesagt? Ich hatte die Möglichkeit, dass Vin bei mir blieb, also bereits als Tatsache akzeptiert.

„Ich weiß nicht, ob das so einfach möglich ist.“

„Kommt es denn nicht erstmal zu den Fundsachen, wenn wir es nicht vom Band abholen?“ Vin erhob sich langsam, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Allerdings überragte er sie um mehr als einen Kopf und blickte nun auf sie hinab.

„Ja, wahrscheinlich.“ Sie musste den Kopf heben, um ihn ansehen zu können, und aus meiner Froschperspektive wirkte es, als färbten sich ihre Wangen rot.

Und dann verabschiedete sie sich, ging auf die Rollbahn, der Miniaturtreppe entgegen und ließ uns zurück. Ohne Plan und ohne Koffer.

VIER

Tag 1

Am Horizont türmten sich Wolken auf. Weiße Berge, die auf den türkisblauen Wellen zu schwimmen schienen. Auf mich zuzuschwimmen schienen. Ich ließ zum wiederholten Male den weißen Sand durch meine Hände rieseln und versuchte, das Bild vor meinen Augen zu genießen. Es gelang mir nicht. Selbst im Schatten war der Sand zu heiß, die Luft zu dick zum Atmen. Schweiß rann mir über den Rücken, aber ich wagte nicht, mein T-Shirt auszuziehen und damit den vorbeikommenden Menschen einen Blick auf meinen schwarzen Spitzen-BH zu ermöglichen.

Andererseits hatte ich in den letzten dreißig Minuten nicht ein einziges Lebewesen vorbeikommen sehen, das aufrecht gehen und nicht fliegen konnte. Ich ließ mich in den Sand zurückfallen und schloss die Augen. Das sanfte Rauschen der Wellen drang in meine Ohren und erreichte von dort aus meine Nervenbahnen. Nach und nach schwemmte es die Gedanken an die vergangenen Stunden aus meinem Kopf. Zurück blieb mein aufgewühltes Inneres. Während mein Kopf bereits realisiert hatte, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und nicht auf dem Atlantik zerschellt war, zitterte mein Körper noch immer.

„Von da unten kannst du die Aussicht aber schlecht genießen.“

Ich schreckte auf und prallte mit dem Kopf fast gegen die Oberschenkel eines Mannes. Sie steckten in einer kurzen Jeans, die knapp über den Knien endete. Ich starrte auf gebräunte Haut und einen dunklen Haarflaum und eine lange Narbe, die sich vom Knie aus über das rechte Schienbein zog. Das waren nicht Vins Beine. Und es war auch nicht seine Stimme. Langsam hob ich den Blick und sah in dunkelbraune Augen, die mich amüsiert musterten und mir sofort sympathisch waren. Ich sprang im selben Moment auf, in dem der Unbekannte seine Beine beugte, um sich in den Sand zu setzen. Er lachte auf und ich kicherte in einer seltsamen Tonlage.

„Hi, ich bin Mikael. Aber nenn mich Mika.“ Er reichte mir die Hand. Ich ergriff sie und setzte mich wieder in den Sand.

„Und ich bin Marie.“

„Und warum sitzt du hier so allein, Marie?“

Ich musterte ihn. Sein Blick war freundlich und er sah müde aus. So wie ich vermutlich auch.

„Marie!“ Ein paar Meter hinter uns tauchte Vin zwischen ein paar Palmen auf. Er kam näher und sein Blick fixierte den Fremden. Sein Gesicht war leicht gerötet und Schweißperlen lagen auf seiner Stirn und auf der Haut über seiner Oberlippe.

Mika sprang wieder auf und kratzte sich am Hinterkopf. Als Vin bei uns angekommen war, sagte er: „Hallo, ich bin Mika!“ Er hielt ihm die Hand entgegen, doch Vin starrte ihn nur weiter an.

Also stellte ich mich vor Mika und nahm seine Hand. „Hi, ich bin Marie.“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber das weißt du ja schon. Ich brauche wohl dringend Schlaf. Das ist auf jeden Fall Vin. Ich meine Vincent.“ Wir waren jetzt fast auf gleicher Augenhöhe und ich konnte sein Gesicht besser erkennen. Er war etwas kleiner als Vin und nur etwas größer als ich. Irgendwie kam er mir bekannt vor.

„Ich war auch in dem Flugzeug.“

„Du kannst wohl Gedanken lesen.“ Ich legte den Kopf schief und lächelte ihn an. Und dann fiel es mir wieder ein. „Du hast Vin deinen Platz gegeben.“

Er grinste zurück und nickte. Es war ein nettes Grinsen und mein Lächeln wurde sofort breiter.

„Und du hattest zu viel Angst davor, wieder einzusteigen?“ Vin war aus seiner Starre erwacht und trat einen Schritt näher zu uns. Sein Blick fixierte noch immer Mikas Gesicht.

Mein Lächeln erstarb, genau wie Mikas Grinsen. Er wirkte unsicher. „Nein, ich meine, ja, vielleicht. Ich hab mich am Flughafen rumgedrückt und vielleicht habe ich mit Absicht das Boarding verpasst.“ Er zuckte mit den Schultern, sein Blick war fast entschuldigend. „Ich hatte echt eine Scheißangst da oben. Ihr doch auch, oder?“

„Und wie!“ Ich nickte wie eine von diesen Figuren, die sich die Leute hinter die Windschutzscheibe setzen. Dann wandte ich den Blick zu Vin. „Nicht wahr?“

Sein Kopf drehte sich langsam, sehr langsam, weg von Mika und hin zu mir. Als unsere Blicke sich trafen, schien er wieder im Moment anzukommen. Er schüttelte sich leicht und nickte dann. Weniger enthusiastisch als ich, aber doch wahrnehmbar. „Ja, sicher. Das hatten wir wohl alle.“

„Und warum seid ihr nicht zurück in diese Höllenmaschine gestiegen?“ Mika kratzte sich wieder am Hinterkopf.

„Ich konnte es einfach nicht.“ Ich sprach leise und senkte den Blick. Meine Angst vor einem Fremden einzugestehen, war zu viel für mich. Und es überraschte mich, dass Vin schon jetzt kein Fremder mehr für mich war. Ich kannte ihn erst ein paar Stunden, aber vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl gehabt, dass uns etwas verband. Aber vielleicht war es auch nur mein Angstzentrum, das auf einen großen, starken Mann reagiert hatte. Es wusste schließlich nicht, dass er sich kein rotes Cape überwerfen konnte, um dem Flugzeug eine weiche Landung zu ermöglichen.

Mika sah mich einen Augenblick lang schweigend an. Sein Blick war warm und weich. Dann lächelte er wieder. „Und was habt ihr jetzt vor? Habt ihr schon einen Plan, wie ihr dieses Paradies wieder verlassen könnt?“

Ich warf einen Blick zu Vin. Die letzte Stunde hatte er damit verbracht, sich bei den Leuten in der Umgebung umzuhören. Er hatte darauf gedrängt, dass ich mich ausruhte, und ich war seiner Aufforderung gefolgt, ohne sie weiter zu hinterfragen. Das passte nicht zu mir, denn Kontrolle war eine der Sachen, die ich gern selbst in der Hand hatte.

Ich versuchte, in Vins Gesicht zu lesen, ob er über eine Möglichkeit gestolpert war, aber sein Blick lieferte mir keinerlei Hinweis. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und fixierte dabei weiter den anderen Mann. Mika zog die Augenbrauen so weit zusammen, dass sich eine tiefe Falte zwischen ihnen bildete. Aber dann wurden seine Gesichtszüge wieder weicher und er wandte sich an mich: „Am Flughafen habe ich einen Typen getroffen, der mir sein Boot leihen würde.“

„Leihen?“ Ich erwartete, dass er sich korrigierte, aber das tat er nicht.

„Ja, richtig. Er leiht es mir. Sein Bruder würde mich im Hafen erwarten und das Boot wieder zurückbringen.“

„Das ist doch verrückt. Warum sollte jemand so etwas tun?“ Vin verschränkte die Arme vor der Brust und sah Mika direkt in die Augen.

Mika musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um den Blick zu erwidern. Aber auch er verschränkte die Arme. „Das hat natürlich seinen Preis. Er will dafür 500 Dollar.“

Vin schnaubte und wandte sich bereits zum Gehen. Dabei löste er die Verschränkung seiner Arme wieder und griff nach den Fingern meiner rechten Hand. Ich blickte erst auf unsere Hände und dann zu ihm. Was sollte das denn? Ich entzog ihm meine Hand.

„Aber wenn wir beide das durch zwei teilen, ist es nicht mehr so viel.“

Mika sah mich fragend an. „Warum durch zwei?“

„Vin ist nur wegen mir hier. Ich will nicht, dass er dafür auch noch Geld bezahlen muss. Es reicht schon, dass …“

Vin drehte sich abrupt wieder zu uns. Sein Blick war entschlossen. „So ein Unsinn. Wir teilen durch drei.“

FÜNF

Tag 2

Nein!“ Vin schüttelte den Kopf.

„Was nein?“ Ich sah zu ihm auf.

„Nein, ich werde nicht in so einen Kahn steigen.“

„Kahn?“

„Ja, das ist ein Kahn.“

Ich sah auf die siebzehn Meter lange Motoryacht, auf deren Seite in geschwungenen blauen Lettern das Wort ‚Antoinette‘ gerade noch erkennbar war, und dann wieder zu Vin. Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht was. Wir hatten die Nacht in einer kleinen Pension verbracht und waren noch vor Sonnenaufgang zum Hafen aufgebrochen, um das Boot in Augenschein zu nehmen, das Mika aufgetrieben hatte. Am Tag zuvor war der Fischer damit noch unterwegs gewesen und wir hatten es bisher nicht gesehen.

---ENDE DER LESEPROBE---