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(Aus einer wissenschaftlichen Prognose des Jahres 2318). – – – Während andere Kontinente noch Dreck in die löchrige Atmosphäre pusten, herrscht in der grünen Republik Europa grenzenloser Optimismus, hat man doch eine ökologische High-Tech-Diktatur errichtet, Fleischverzehr ist verboten. Gegner des Systems werden in sogenannte Gullys verbracht, das sind im Volksmund geheime Internierungslager, weil sie tief unter der Erde liegen und den "Abschaum der Gesellschaft" beherbergen – so jedenfalls die Propaganda. Den Gerüchten nach handelte es sich um bis zu dreißigstöckige Betonbauten in etwa fünfzig Metern Tiefe, mit geheimen Zugängen. Privilegierte dagegen konsumieren heimlich Emo, das entdeckt worden war, als man die chemische Struktur der Emotionen entschlüsselt hatte. Es versetzte das Nervensystem in die Lage, unangenehme Gefühle ab- und angenehme Gefühle einzuschalten. Um die Machtposition im Konzert der Supermächte zu stärken, soll Europa von Japan im Austausch mit grüner Zukunftstechnologie den Schlüssel zur Kryptologie erhalten. Deshalb wird einem Boten ein unschätzbar wertvoller Programmcode implantiert. Auf dessen Spur heften sich der Privatdetektiv Ammer und ein Killerteam, um in den Besitz des wertvollen Codes zu kommen. – – – PRESSESTIMMEN: "Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen." (Capital)
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Seitenzahl: 217
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Peter Schmidt
2999 - DAS DRITTE MILLENNIUM
SF-Thriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
ZUM BUCH
PRESSESTIMMEN
PROLOG
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WEITERE TITEL
Impressum neobooks
Die Ressourcen der Erde sind weitgehend aufgebraucht. Sollte nicht in den nächsten Jahrhunderten eine radikale ökologische Wende stattfinden werden die Folgen für alle Industriestaaten, besonders aber für die Dritte Welt verheerend sein. (Aus einer wissenschaftlichen Prognose des Jahres 2318) Während andere Kontinente noch Dreck in die löchrige Atmosphäre pusten, herrscht in der grünen Republik Europa grenzenloser Optimismus, hat man doch eine ökologische High-Tech-Diktatur errichtet, Fleischverzehr ist verboten. Gegner des Systems werden in sogenannte Gullys verbracht, das sind im Volksmund geheime Internierungslager, weil sie tief unter der Erde liegen und den „Abschaum der Gesellschaft“ beherbergen – so jedenfalls die Propaganda. Den Gerüchten nach handelte es sich um bis zu dreißigstöckige Betonbauten in etwa fünfzig Metern Tiefe, mit geheimen Zugängen. Privilegierte dagegen konsumieren heimlich Emo, das entdeckt worden war, als man die chemische Struktur der Emotionen entschlüsselt hatte. Es versetzte das Nervensystem in die Lage, Gefühle ab- und einzuschalten. Um die Machtposition im Konzert der Supermächte zu stärken, soll Europa von Japan im Austausch mit grüner Zukunftstechnologie den Schlüssel zur Kryptologie erhalten. Deshalb wird einem Boten ein unschätzbar wertvoller Programmcode implantiert. Auf dessen Spur heften sich der Privatdetektiv Ammer und ein Killerteam, um in den Besitz des wertvollen Codes zu kommen.
„Schmidt hat es geschafft, in eine angloamerikanische Domäne einzubrechen.“
(Westdeutsche Allgemeine) „Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen.“
(Capital) „Thriller mit Tiefgang“
(Rheinischer Merkur)
„Sage noch einer, die Deutschen könnten keine guten Krimis schreiben. Und wie sie können: Spannend, hochaktuell und eine gehörige Portion Ironie.“
(Gießener Anzeiger)
„Unter den deutschen Kriminalschriftstellern ist der Westfale Schmidt fraglos einer der wenigen, die wirklich erzählerisches Format besitzen.“
(Hamburger Abendblatt).
Ammer ließ sich eine Blutwäsche in der Blutwaschanstalt neben der Börse verpassen. Er hatte seit über drei Monaten keine Antikörperauffrischung mehr bekommen, und das war sträflicher Leichtsinn bei all den mutierten Keimen, die einen neuerdings wieder heimsuchten.
Blutwäsche ist eigentlich gar keine Wäsche im echten Sinne. Man tauscht das gesamte Blut aus und ersetzt es durch reines Blutäquivalent mit einem Höchstgrad an Antikörpern nach dem genetischen Code, der zur Zeit von der Weltgesundheitsorganisation für die gängigsten Krankheiten ausgegeben wird.
Die Prozedur dauert nur knapp dreißig Minuten. Und danach fühlt man sich so, wie man sich gern schon bei seiner Geburt gefühlt hätte!
Er setzte sich in einen der Magnetstühle in der Anmeldung des Instituts und genoss schaukelnd das Panorama der Stadt durch die gläsernen Wände.
Der Himmel war klar und das Sonnenlicht spielte auf den Solarfassaden, aber hatte der Wind so stark aufgefrischt, dass die Windkrafträder auf halbe Kraft schalten mussten. Ein hellgelbes Lufttaxi versuchte auf der Plattform des Bürohauses gegenüber zu landen, doch die Sturmböen trieben es ein paar Mal an den Rand des Dachs zurück.
Schließlich drehte es wieder ab und verschwand genauso lautlos in den Straßenschluchten, wie es heraufgekommen war.
Einen Augenblick später wurde sein Name aufgerufen und er ging in den Warteraum „2000“ hinüber.
Zwischen den nostalgischen Tapeten, die der Wende zum vorigen Jahrtausend nachempfunden waren, kam man sich tatsächlich vor wie ein menschlicher Dinosaurier – und das war wohl auch Absicht.
Die Psychologen des Trusts hatten sich diesen Werbegeck einfallen lassen, um ihren Kunden zu demonstrieren, wie immens erfolgreich ihre Behandlung war – aus dem Wartezimmer des zweiten Jahrtausends über den Blutwäscheautomaten in dreißig Minuten ans Ende des dritten Jahrtausends. Zur Zeitenwende im nächsten Jahre, so ihre flotten Werbesprüche, sollte sich jeder einen kompletten Antikörperaustausch leisten können – frei von Krankheiten und gewappnet gegen alle Parasiten, die uns aus der Dritten Welt heimsuchten.
Verließ man die Blutwäsche, befand man sich wieder in der Gegenwart zwischen platinveredelten Wänden mit psychedelischen Strukturen und Informationsschirmen, wo einem der Iris-Diagnose-Apparat für die bargeldlose Zahlung ein saftiges Honorar abnahm.
Blutwäschen sind für den Normalverbraucher nur noch erschwinglich, wenn man mindestens über zwei Einkommen verfügt: ein legales und ein illegales.
Danach ging er zu einem Genetiker auf der anderen Straßenseite, weil seine dritten Zähne wieder mal nicht so nachwachsen wollten, wie die Weißkittel in der Werbung behaupteten. Es war ein kahlköpfiger alter Kerl mit einem Stuhl wie ein vorsintflutlicher Zahnarztsessel.
Er hatte eine liebenswerte Ausstrahlung, falls man das bei jemandem, der einem für den Rest seines Lebens das Gebiss ruinieren könnte, überhaupt sagen kann. Im Schaukasten an der Wand lag die neueste Generation von Goldchips zur Genreparatur.
„Mund auf“, sagte er. „Mund zu – Mund auf – ah, ja.“ Und so ging es noch eine gute Viertelstunde weiter.
Er ließ sich Ammers Analyse hereingeben, betrachtete sie eine Weile mit zunehmendem Entsetzen und schüttelte bekümmert den Kopf.
„Sie haben eine X-Q-Defekt, Ammer“, sagte er. „Ihre Gene unterliegen stärker als normal der Quantenfluktuation. Sie wissen, was das ist?“
„Kleine, unvorhersagbare Sprünge im mikrophysikalischen Bereich …?“
„Es bedeutet, sie sind als Person mehr oder weniger unkalkulierbar – physiologisch und mental. Es kann jederzeit irgend etwas Unerwartetes mit Ihnen passieren.“
„Das behauptet die Demokratie-Polizei auch immer. Ich bin ein Fossil. Ich müsste eigentlich längst verschwunden sein. Aber wenn sie wieder mal nicht zurechtkommen, dann greifen sie gern auf solch ein Faktotum wie mich zurück.“
„Sind Detekteien eigentlich nicht längst verboten?“, erkundigte er sich.
„Wie man’s nimmt. Ich glaube, ich habe eine der letzten Ausnahmegenehmigungen in Brüssel.“
Er nickte und sah wieder auf meine Daten. „Lassen sie recht bald was gegen Ihren Gendefekt unternehmen, Frank. Hab gehört, irgendwo in UA sei man jetzt weiter als wir im Demokratischen Grünen Bund. An der Universität von Chikago …“
„Muss ich sterben, Doktor?“
„Nein, Sie sind stark wie ein Bär, Ammer. Sie haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von hundertachtundzwanzig Jahren wie jeder andere. Das Problem sind lediglich Ihre Beißerchen. Die wollen nicht nachwachsen.“
„Was ist mit den hübschen Goldchips drüben im Schaukasten?“, fragte Ammer.
„Schrott von vorgestern, wenn ich ganz ehrlich bin. Ich würd’ Ihnen das Zeug gern verkaufen, aber die Technik geht momentan mehr in Richtung dosierter Medikamentenabgabe. Elektronische Korrektur hat sich nur als begrenzt wirksam erwiesen.“
Ammer bedankte sich für sein Engagement und trank im Vorraum noch einen echten schwarzen Espressos, den seine Praxis als Werbung offerierte. Während er ihn in kleinen Schlucken genoss, warf er einen prüfenden Blick in die Straßenschluchten, ob die Lufttaxis schon wieder flogen.
Unter ihm, etwa achtzig Stockwerke tiefer, befand sich das uralte Rathaus der brabantischen Hochgotik von 1402. Zwischen den gläsernen Hochhaustürmen sah es wie ein verlorenes Spielzeug aus.
Danach bediente er sich am Auswurf des Presseautomaten mit neuesten Nachrichten und fuhr eingekeilt zwischen steif wirkenden Angestellten in blauen Einheitsanzügen und zwei bunten Paradiesvögeln nach unten, die ihn so glückselig angrinsten, als seien sie gerade auf einem dieser verbotenen Emo-Trips …
Das Mädchen sagte etwas zu seinem Begleiter in einer Sprache, die er nicht verstand, und der junge Mann nickte und strich sich lachend durch sein gefärbtes Kunsthaar.
„Machen Sie sich etwa über mich lustig?“, fragte Ammer angriffslustig.
„Nein, bitte entschuldigen Sie. Mein Freund ist Diagnoseexperte. Er glaubt, Sie leiden an einem Gendefekt.“
„Einem Gen …? Inwiefern?“
Es war das zweite Mal an diesem unseligen Vormittag, der noch in die Geschichte eingehen sollte – wenn auch sicher nicht wegen so etwas Profanem wie meiner DNS –, dass man behauptete, er sei genetisch Schrott von vorgestern.
„Ramon ist auf Augendiagnosen spezialisiert. Er hat gerade ein Studio am Flughafen eröffnet.“
Ramon trug eine bunte Strickjacke. Die Fransen an seiner dunkelbraunen Lederhose waren ebenfalls bunt gefärbt. Sah ganz so aus, als machte er auf Navajo-Indianer – Medizinmann – oder was er dafür hielt, weil er irgendwelche historischen Schinken gesehen hatte. Das Mädchen reichte Ammer seine Karte, aber er machte keine Anstalten, sie anzunehmen.
„Meine Augen sind in Ordnung.“
„Er meint, er sieht das Unheil in Ihrem Blick.“
„Welches Unheil denn? Was soll das nun wieder heißen?“
Sie tuschelte eine Weile mit ihrem Freund, und der gab plötzlich einen grunzenden Lacher von sich, als sei Ammer gerade auf dem besten Wege, sich in der christlichen Hölle einzuschreiben.
„Unheil ist nicht korrekt übersetzt“, berichtigte sie. „Eher so was wie Zusammenbruch, Agonie oder Ruin …“
Ammer warf zwischen den Leuten im Fahrstuhl einen unbehaglichen Blick in den Platinspiegel. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Er sah aus wie ein Strauchdieb. Und sein Anzug hatte auch schon bessere Tage gesehen.
„Na, da ist er wohl nicht sehr weit von der Realität entfernt. Ich meine, wenn man sieht, wie’s momentan im Europäischen Bund zugeht …“
„Ramon redet nicht vom politischen System, sondern von Ihnen persönlich.
„Und das sieht er alles in meinen Augen?“
„Er glaubt, Sie beißen sich in Ihren Angelegenheiten zu sehr fest. Sie haben nicht die nötige Distanz. Er rät Ihnen, alles entspannter zu anzugehen. Nehmen Sie das Leben leichter.“
„Die Sache mit den Vögeln?“, erkundigte er sich ironisch, um der Sache endlich ein Ende zu bereiten. „Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der liebe Gott ernährt sie doch? Verkünden ihm diese außerordentlichen Weisheiten vielleicht seine Glückspillen?“
„Glückspillen?“, fragte das Mädchen; es warf seinem Begleiter einen betretenen Blick zu.
„Sie sind doch beide bis zur Schädeldecke vollgestopft mit verbotenem Emo? Da fällt’s einem leicht, bei anderen zuviel Arbeitseifer zu diagnostizieren?“
Emo war vor rund fünfzig Jahren entdeckt worden, als man die chemische Struktur der Emotionen entschlüsselt hatte. Es versetzte das Nervensystem in die Lage, unangenehme Gefühle ab- und angenehme Gefühle einzuschalten. Es war die Erfindung des Jahrhunderts. Aber sämtliche Arbeit auf diesem Planeten wäre mit einem Schlage zum Erliegen gekommen, wenn man es freigegeben hätte.
Es gab geheime Emo-Clubs, genauso so wie es im Untergrund Fleischesser-Clubs gab. Die Reichen und die Politiker nutzten Emo als Droge ohne körperliche Nebenwirkungen, und die Statistiker kommentierten diesen heimlichen Missbrauch mit der Feststellung, die Selbstmordrate sei bei denen, die es sich erlauben konnten, praktisch auf Null gesunken …
Anscheinend hatte das Mädchen meine Frage übersetzt, denn der nachgemachte Medizinmann nahm seine Hände aus den Jacken seiner Strickweste und ballte sie – immer noch lächelnd – vor meinen Augen zu Fäusten.
Ammer zog die Marke der Demokratie-Polizei aus der Jackentasche und zeigte sie den beiden. Man hatte ihm das Ding bei einem Sondereinsatz im Börsenviertel anvertraut und danach vergessen, es wieder einzuziehen.
Ein paar Augenblicke später befand er sich allein im Fahrstuhl. Seine Mitfahrer waren auf der nächsten Etage ausgestiegen.
Nichts beflügelt die Schritte so sehr, wie die Aussicht, auf irgendeine noch so belanglose Weise, etwa als zufälliger Zeuge, ins Visier der Behörden zu geraten. Und die Demokratie-Polizei ist jene Behörde, die sie am meisten fürchten.
Einer dieser lautlosen Wagen mit Fusionsmotor riss Ammer fast die aufgeschlagene Zeitung aus der Hand, als er unachtsam auf die Straße trat, um einem Kommando der Demokratie-Polizei Platz zu machen.
Sie stürmte gerade das Nachbargebäude – vermutlich, weil wieder jemand seinen Müll aus dem Fenster geworfen hatte. Das war jetzt eine beliebte Methode, um seinen Protest auszudrücken.
Ammer ging hinüber ins Börsencafé, weil man von der Drehplattform in die Halle der Kursmakler sehen konnte, und das war immer ein faszinierendes Spektakel.
Er schlug sich schon seit Jahren schlecht und recht als Privatdetektiv durch. Seine Rechnungen waren seinen Einnahmen immer auf geheimnisvolle Weise voraus; als steuere irgendeine unsichtbare Instanz das Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen. Die Nähe zum großen Geld, und sei es auch nur auf den Kurstafeln, hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.
Ammer beugte sich vor, um besser durch die Scheibe des Cafés in die Halle sehen zu können. Es gab irgendwelche Turbulenzen dort unten bei den Kursmaklern. Aber er konnte nicht erkennen, was es war. Sie schienen noch ein wenig hektischer in ihre Telefone zu sprechen als sonst …
Dann begriff er, dass jemand – ein britischer Hacker – die Nachrichtensysteme der Banken geknackt hatte. Das Bild eines pickeligen Jünglings mit altmodischer Hornbrille und hageren Wangen flimmerte über die Bildschirme. Es zeigte ihn vorgebeugt bei der Arbeit in einen winzigen Mansardenzimmer, dessen Tapeten Ammer an Warteraum „2000“ erinnerten.
Der Junge nahm seine Brille ab und blinzelte kurzsichtig in die Kamera, vielleicht, weil er kein Geld für eine Laserkorrektur seiner Augen besaß.
„Mit welchen System ist Ihnen dieser bemerkenswerte Zugriff gelungen?“, fragte die Stimme des Moderators aus dem Off. Doch ehe der pickelige Knabe antworten konnte, schaltete die Regie zu einer Sondermeldung hinüber in die Brüsseler Börse …
Ammer trank gerade seinen zweiten Kaffee, als die Nachricht von größten Börsenzusammenbruch des dritten Jahrtausends über die Bildschirme kam …
Man hatte mich beauftragt, einen gewissen Gerald Dupin zu finden. Sie sagten nicht „zur Strecke zu bringen“. Das wäre auch nicht mein Job gewesen – nicht mal für das Doppelte der 100.000 Euro, die man mir anbot.
Dupin war im Auftrage der Regierung der Vereinigten Staaten von Europa unterwegs. Er hatte am Abend Brüssel verlassen. Er umging die Kontrollen an den Flughäfen mit einer Sondergenehmigung des Demokratischen Grünen Bundes. Gerald Dupin trug seine Informationen in Form von Daten bei sich, die ins Nervensystem eingespeichert waren.
Es gab Gerüchte, dass man jetzt auch neuronale Gedächtnisspeicher über die schwachen Felder des Gehirns anzapfen konnte. Falls das keiner der üblichen Tricks zur Einschüchterung war, den sich Polizei und Geheimdienste ausgedacht hatten, dann brauchte man dazu eine Anlage mindestens von der Größe, die bei regulären Gepäckkontrollen im Flughafen eingesetzt wurde.
Angeblich musste man sich dazu mindestens drei Minuten im Bereich der elektronischen Abtastung aufhalten. Wenn man Passkontrolle mit Pupillenidentifizierung, Leibesvisitation und Kontrolle des Gepäcks zusammenrechnete, erschien das nicht als unrealistischer Wert.
Seit dem Jahre 2998 war klar, dass alle bisher bekannten digitalen Nachrichtenverschlüsselungssysteme geknackt werden konnten. Man benötigte dafür die neuesten Hochleistungscomputer und das chinesische Dechiffrierungssystem „Qin“. Es war ein Verdienst des sechzehnjährigen Hackers im englischen Küstenort Plymouth gewesen, das der Weltöffentlichkeit demonstriert zu haben.
Seitdem war sein Konterfei so berühmt wie das der Präsidentin des Europäischen Bundes. Er hatte sich mit Qin zunächst in den Zentralrechner der Union eingeschaltet und dann mit seiner Hilfe eine Analyse aller Regierungscodes ins Internet eingespeist, die zur Zeit von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung waren.
Ich erinnere mich noch genau an den stürmischen Tag im Juli, als die Weltwirtschaft zusammenbrach. Ich hatte gerade meine Zähne untersuchen und mir eine Blutwäsche geben lassen, als die Nachrichtensender die Horrornachricht auf alle öffentlichen und privaten Bildschirme legten. Wenig später plärrten die automatischen Durchsagen der Armbanduhrentelefone dasselbe Lied in den drei großen Weltsprachen Englisch, Chinesisch und Spanisch. Die internationalen Börsen hatten den Daten-Gau nicht verkraften können.
Damals betrieb ich nur noch ein kümmerliches kleines Büro in der Innenstadt von Brüssel, weil die Regierung des Demokratischen Grünen Bundes allen frei arbeitenden Agenten die Lizenz entzogen hatte.
Eigentlich widerspricht das der Verfassung von 2901. Danach können neben Polizei und Sicherheitsdiensten beliebig viele frei arbeitende Ermittlungsdienste gegründet werden, soweit sie den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen. Der Daten-Gau im Juli 2998 war ein willkommener Anlass gewesen, dieses verfassungsmäßig verbriefte Recht auszuhebeln.
Seitdem arbeitete ich nicht mehr mit meiner regulären Ausnahmegenehmigung, sondern mit einer „Sondergenehmigung“. Meine Versicherungspolice bei der geheimen Demokratie-Polizei – wie sie sich ironischerweise selber nannte, im Volksmund „GS“ für „Gesinnungsschnüffler“ – war eine mündliche Vereinbarung, in der ich mich bereit erklärt hatte, alle politisch und wirtschaftlich relevanten Daten, soweit sie mir bekannt wurden, unverzüglich an die DP weiterzugeben.
Anders ausgedrückt: Ich durfte genau so lange weiterarbeiten, wie sie glaubten, dass sie von mir profitieren würden.
Als ich meinen dritten Synthetik bestellt hatte, sah ich Rita durch die Abflughalle des Interkontinentalflughafens kommen. Sie stöckelte in dieser Weise auf ihren etwas zu hohen Absätzen durchs Gedränge, die mich immer den Atem anhalten lässt, ob sie’s doch noch ohne Arm- und Beinbruch schaffen könnte.
Rita Baré war mein Problem, mein ganz persönliches Problem. Nicht, weil sich meine Auftraggeber hinter ihr versteckten und Rita als „Strohfrau“ benutzten. Mittelsmänner sind in meinem Gewerbe an der Tagesordnung. Wenn man auf Gerald Dupins geheime Regierungsdaten scharf war, gab es höchstwahrscheinlich eine Menge Interessenten, die dabei lieber im Hintergrund bleiben wollten. Allen voran die großen Machtblöcke, die unserem feinen Europäischen Grünen Bund an die „ökologisch-demokratische“ Karre zu pissen versuchten. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, auch gar nicht erst nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen zu suchen, sondern meinen Auftrag zu erledigen und mit meinen 100.000 Euro auf Nimmerwiedersehen aus Brüssel zu verschwinden.
Dabei dachte ich nicht nur an meine dritten Zähne und das Honorar, das diese Genklempner sich einstecken wollten. Es gab da nämlich einen hübschen Palmenstrand auf der Kanalinsel Guernsey, wo mein Bruder einen nostalgischen alten Bauernhof betrieb, schneeweißen Sandstrand. Und die große Klimaveränderung der letzten Jahre bescherte uns dazu das passende Badewetter …
Nein, Rita war das, was man sich als Mann mit ausgeprägtem Pflegeinstinkt unter einer Frau vorstellte, der man gern jeden Wunsch von den Augen abgelesen hätte. Ich kann nicht behaupten, dass ich für solche Gelüste besonders anfällig wäre. Ein paar Psychologen der Zulassungsstelle für das Ermittlungsgewerbe glaubten sogar herausgefunden zu haben, dass ich in Sachen Frauen und Sex eher den mitteleuropäischen Durchschnittstyp verkörperte. Was auch immer das genau sein sollte. Ich fand’s einfach faszinierend, dass Rita zwar einen Abschluss in Dechiffriertechnik bei der größten Gehirnschmiede des Kontinents besaß, aber kaum ohne fremde Hilfe eine Treppe hinuntergehen konnte.
Vielleicht war das nur eine Masche bei ihr, mag sein. Vielleicht hatten ihre Hintermänner ihr geraten, auf hilfloses weibliches Huhn zu machen. Wenn das ihr Trick war, dann kam’s jedenfalls gut bei mir an.
„Hallo, altes Ekel“, sagte sie und ließ sich seufzend auf einen der Barhocker plumpsen. Ich sah zu, wie sich ihre Füße von den viel zu hohen Stöckelschuhen trennten und ihre makellosen weißen Füße freigaben. Ihre Zehennägel waren in den Farben der Unionsflagge lackiert: Grün-Weiß-Gelb.
Ich wusste, dass sie’s nicht so meinte, wie es klang; aber ich ging zum Schein darauf ein. In alten Texten aus dem Jahre 1900 habe ich mal einen Spruch entdeckt, der ungefähr folgendermaßen lautete: Was sich liebt, das neckt sich …
„Ekel, wieso?“
„Na, wie ich dich kenne, wirst du mir doch gleich wieder einen Heiratsantrag machen, Frank? Der wievielte wäre das dann eigentlich?“
„Ich find’s überhaupt nicht ehrenrührig, mit dir auf Guernsey als Bauer leben zu wollen.“
„Als wenn irgendeine Frau auf der Welt mit dir nach Guernsey gehen würde …“
„Danke für das liebe Kompliment.“
Rita stammte aus Luxemburg. Angeblich war sie außerhalb von Echternach auf einem Rebenhügel zur Welt gekommen, unweit der im Jahre 98 vom heiligen Willibrord gestiftete Benediktinerabtei. Aber das garantierte offenbar noch nicht, dass auch nur ein einziger Tropfen bäuerlichen Bluts in ihren hübschen blassblauen Adern floss.
„Nun mach mal nicht auf zartbesaitet“, sagte sie, als sie meinen enttäuschten Blick bemerkte. „Als man dich für diesen Auftrag ausgewählt hat, hat man sich den miesesten Charakter ausgesucht, der im Großraum Brüssel zu finden war. Sie wissen genau über deine Arbeitsweise Bescheid, Frank. Als heul bitte nicht gleich in die Kissen, wenn ich mal ein offenes Wort mit dir rede.“
„Die Psychoheinis wollen herausgefunden haben, dass ich durchschnittlicher als der Durchschnitt bin?“
„Das spricht nicht für den Durchschnitt, oder?“
Ich zuckte die Achseln und drehte meine leere Kaffeetasse auf den Kopf. Die Kellnerin gab mir von der Theke aus ein Zeichen, dass sie sich gleich um uns kümmern würde.
„Ein Glas Weißwein, Rita?“
„Nein, ich mag das künstliche Zeug nicht.“
„Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte ich. „Irgendwas schiefgelaufen bei eurem Plan?“
„So kommen wir nicht weiter, Frank. Meine Auftraggeber werden langsam ungeduldig. Dupin ist überfällig. Er kurvt irgendwo zwischen Brüssel und Frankfurt herum. Er hat das Flugzeug auf dem Inlandsflughafen verlassen, und keiner weiß, wo er momentan steckt.“
„Ihr habt ihn aus den Augen verloren?“
„Er hat den Lieferanteneingang des Hotels benutzt. Jeden Moment könnte jemand zuschlagen, um sich in den Besitz der Daten zu bringen.“
„Kein Grund zur Panik“, sagte ich. „Um seine Daten anzuzapfen, braucht man eine Spezialapparatur. Du bist doch die Datenexpertin, Rita – du müsstest selbst am besten wissen, dass das kein Kinderspiel ist.“
„Es gibt genug Experten auf der Welt.“
„Also gut – gehen wir alles noch mal in Ruhe durch. Wer käme außer uns dafür in Frage, wenn Dupin aus dem Verkehr gezogen wird?“
„Keine Ahnung, vielleicht will er ja auch nur die Zollkontrollen umgehen.“
„Wegen dieser Gerüchte über neue Abhörtechniken? Ich denke, er hat einer Sondergenehmigung des Demokratischen Grünen Bundes? Er ist schließlich für die Regierung unterwegs?“
„Wir stehen kurz vor den Wahlen, Frank. Einigen Leuten gefällt das Matriarchat der Präsidentin Raoul Weber ganz und gar nicht – und das beileibe nicht nur, weil sie eine radikale Feministin ist.“
„Du glaubst, dieser schmierige kleine Anwalt Ezard Spell hätte wirklich eine Chance?“
„Einige sehr mächtige Wirtschaftsbosse wünschen sich, dass die Männer auch politisch ihre führende Rolle im Europäischen Bund zurückgewinnen.“
„Ich fühle mich in dieser Weiberwirtschaft gar nicht mal so unwohl, Rita“, sagte ich. „Was ist schon so viel anders geworden seit Webers Wahl? Etwa die Abschottungspolitik gegenüber den Machtblöcken und der Dritten Welt? Oder dass Fleisch nur noch unter der Ladentheke gehandelt wird?“
„Sie stecken die Gegner des Systems in Gullys!“
„Gullys“ wurden im Volksmund die geheimen Internierungslager genannt, weil sie tief unter der Erde lagen und den „Abschaum der Gesellschaft“ aufnahmen – so jedenfalls die Propaganda. Den Gerüchten nach handelte es sich um bis zu dreißigstöckige Betonbauten in etwa fünfzig Metern Tiefe, mit geheimen Zugängen.
„Wenn das mal keine Wahlkampfpropaganda von Raoul Webers politischen Gegnern ist?“
„Die grüne Ideologie hat sich inzwischen zum grünen Terror gewandelt. Natürlich wird das durch ihre Glorifizierungspropaganda kaschiert.“
„Du hörst dich ja wie das gegnerische Wahlkampfbüro an?“, sagte ich.
Ich war weiß Gott kein begeisterter Anhänger des Systems; insofern traf mich Ritas Vorwurf überhaupt nicht. Der Demokratische Grüne Bund hielt auch nicht, was er bei seiner Gründung versprochen hatte.
UA – United America – konkurrierte momentan nur noch mit einigen wenigen großen Machtblöcken in der Welt, seitdem sich die USA, Kanada und Mittelamerika im Jahre 2332 zusammengeschlossen hatten. Die Präsidentin des Grünen Bundes hatte deshalb die Devise ausgegeben, Europa müsse unter allen Umständen konkurrenzfähig bleiben. Aber soweit ich sehen konnte, beschränkte sich diese Konkurrenzfähigkeit hauptsächlich darauf, das Stadtbild mit Parolen zu verunstalten wie:
VERHALTEN SIE SICH UMWELTGERECHT! ESSEN SIE KEIN FLEISCH! VOTIEREN SIE FÜR DIE ABSCHAFFUNG UNSAUBERER ENERGIEN IN DER DRITTEN WELT!
„Wir haben ihn …“, sagte Rita und drückte die Taste an ihrem Hörclips über dem linken Ohr, um die Lautstärke einzustellen. „Nordeingang Flughafen. Wurde vor fünf Minuten auf der Zufahrt am Raoul Weber-Center gesichtet …“
Ich stellte meine Tasse ab und hielt meinen Daumen zum Bezahlen in den Abdruckabtaster auf der Tischplatte. Währenddessen warf Rita ihre Stöckelschuhe in die Tasche und zog ihre schwarzen Laufschuhe an …
Wir liefen schweigend die Halle entlang bis wir die unscheinbare Tür hinter den Ticketschaltern erreicht hatten.
Rita warf einen argwöhnischen Blick in die Abflughalle zurück, ehe sie die Tür mit einem altmodischen Sicherheitsschlüssel öffnete. Anscheinend benötigte man für diesen Zugang keinen Code.
Der kleine Raum dahinter war mit nüchternen weißen Kunststoffmöbeln ausgestattet. In der Mitte standen ein Tisch und vier Stühle.
„Unsere Uniformen sind in den Schränken …“
Wir zogen schweigend die schwarzen Regierungsuniformen mit den grün-weiß-gelben Unionsflaggen an. Ritas grün-weiß-gelb lackierte Zehennägel verschwanden in Polizeistiefeln aus weichem Leder.
„Ist dies auch der Raum, wo wir Dupin verhören werden?“, fragte ich.
„Deine Unterlagen sind im Safe neben dem Waschbecken.“
„Iriskontrolle?“, fragte ich.
„Auf deine hübschen blauen Augen“, bestätigte sie.
Ich öffnete den weißen Hängeschrank über der Anrichte und sah in den Sehschlitz des Safes dahinter. Ein blinkendes grünes Signal bestätigte, dass ich autorisiert war, den Türverschluss zu betätigen. Ich nahm die unscheinbare blaue Mappe heraus und legte sie an den Platz, wo ich bei Dupins Verhör sitzen würde.
Rita schaltete das elektronische Projektionssystem der Europäischen Einwohnerdatenbank ein und Gerald Dupins Bild mit seinen persönlichen Daten erschien auf dem Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand.
Für einen Farbigen um die Vierzig, der seine besten Jahre in der klimatisierten Luft Außenministeriums zugebracht hatte, sah er erstaunlich fit aus: glattes, gesundes Gesicht, sportliche Figur, dichtes schwarzes Haar. Ein Durchschnittsmensch, wie man ihm in Brüssel an jeder Straßenecke begegnete. Was ich mir weniger gut gefiel, war der einoperierte daumennagelgroße Goldpunkt im Schädelknochen hinter seinem linken Ohr.
Ich habe diese einoperierten Apparate, die Zentraleinheit genannt wurden und für alle möglichen Zwecke dienen – als Datenbank, Telefon, Rundfunksender und Diagnosezentrum –, noch nie leiden können. Wenn ich die Dinger sah, überfiel mich immer der Argwohn, ihre Träger seien ferngesteuerter Zombis. Aber manche Leute, darunter viele Brüsseler Bürokraten, waren ganz versessen darauf, eins verpasst zu bekommen. Angeblich erleichterte es das Leben. Man brauchte keine Wörterbücher oder Lexika mehr, man benötigte nur noch selten Informationen aus den computergestützten Datenbanken.
Die neuen Modelle konnten sogar ein dreidimensionales, holografisches Bild im Raum erzeugen, und das war, als stehe man mitten in den Trümmern eines abgestürzten Lufttaxis oder vor dem Totenbett eines Soldaten der Europäischen Union, der im Kampf gegen die Terroristen der Dritten Welt gefallen war.
Dupin war eingebürgerter Nigerianer, ehemaliger Sekretär im Unterausschuss des Außenministeriums, Experte für Datenverschlüsselung. Leicht jähzornig, misstrauisch, traut dem eigenen System nicht mehr über den Weg, hieß es in der geheimen Zusatzinformation der Demokratie-Polizei, die Rita in diesem Augenblick grinsend mit einem Zusatzcode auf den Bildschirm zauberte.
„Er schwankt, ob er seine Informationen zu Geld zu machen oder sie lieber zur Demaskierung des Systems verwenden soll“, sagte sie.
„Im Ernst? Wo steht das? Ich sehe nichts davon auf dem Bildschirm …?“
„Ist nur meine ganz persönliche Interpretation.“
„Deine Interpretation, aha. Oder die Interpretation deiner Auftraggeber?“
„Kein Kommentar, Frank.“
„Findest du wirklich, ihr müsst mich so knapp mit Informationen halten?“, fragte ich. „Das könnte im Ernstfall riskant werden.“
„Reden wir später darüber“, seufzte sie. „Meine Auftraggeber haben momentan noch wenig Grund, dir zu vertrauen, oder?“
In diesem Augenblick meldete sich der Lautsprecher des Zolls über der Tür:
„Gerald Dupin auf dem Weg zum Verhör …“
„Hereinbringen“, sagte sie in Richtung des Apparats.
„Alle Achtung, wie habt ihr das denn hingekriegt?“, fragte ich. „Hat Dupin nicht seine Regierungspapiere, um die üblichen Kontrollen zu umgehen?“