3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb! - Alfred Bekker - E-Book

3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb! E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb! von Alfred Bekker & Ann Murdoch & Frank Rehfeld Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Dieses Buch enthält folgende Romane: Frank Rehfeld: Die Tote aus dem Geistermoor Alfred Bekker: Patricia Vanhelsing, Jägerin der Nacht - Der Anfang Ann Murdoch: Brich den Fluch oder stirb!

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3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb!

Alfred Bekker et al.

Published by Uksak Sonder-Edition, 2018.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb!

Copyright

Die Tote aus dem Geistermoor

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Patricia Vanhelsing, Jägerin der Nacht – Der Anfang

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About the Author

About the Publisher

3 Mitternachts-Thriller: Die Tote aus dem Geistermoor / Jägerin der Nacht / Brich den Fluch oder stirb!

von Alfred Bekker & Ann Murdoch & Frank Rehfeld

––––––––

DUNKLE GEHEIMNISSE, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt.

Dieses Buch enthält folgende Romane:

Frank Rehfeld: Die Tote aus dem Geistermoor

Alfred Bekker: Patricia Vanhelsing, Jägerin der Nacht – Der Anfang

Ann Murdoch: Brich den Fluch oder stirb!

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Die Tote aus dem Geistermoor

Romantic-Thriller von Frank Rehfeld

Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.

Vivian Jackson, Journalistin bei einer Londoner Zeitung, erhält von ihrer Tante Mabel einen Brief, in dem sie sie bittet, sie zu besuchen, da sie nicht mehr lange zu leben habe. Obwohl sie die Schwester ihrer Mutter seit fast fünfzehn Jahre nicht gesehen hat, reist Vivian unverzüglich nach Spencer-Hall in Cornwall. Das riesige Anwesen, das sich abgelegen auf einer Insel befindet, wirkt ziemlich heruntergekommen und die Tante ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Etwas Düsteres scheint auf ihr  zu lasten. Als Vivian in der folgenden Nacht von einem Geräusch geweckt wird, sieht sie eine unheimliche Gestalt in einer schwarzen Kutte durch den Garten geistern ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]  

1

"Was ist denn heute bloß mit Ihnen los?", wunderte sich Jeoffrey Howard.

Vivian Jackson schrak zusammen und blickte von ihrer Schreibmaschine auf. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie Howard hinter sie getreten war.

"Was meinen Sie?", fragte sie verwirrt, obwohl sie die Antwort nur zu gut kannte. Über ihre Schulter hatte der Redaktionsleiter den Teil des Artikels gelesen, den sie gerade zu Papier gebracht hatte. Obwohl sie schon fast eine halbe Stunde für die Seite gebraucht hatte, waren die Sätze mehr als schlecht.

"Das ist Mist", bestätigte Jeoffrey Howard gleich darauf. "So was bin ich von Ihnen überhaupt nicht gewöhnt. Also, was ist mit Ihnen los? So ein Artikel ist doch normalerweise nur eine Routinearbeit für Sie."

Vivian lächelte schmerzlich. Sie arbeitete für eine bedeutende Londoner Zeitung, und obwohl sie die Stelle als Journalistin erst vor wenigen Monaten angetreten hatte, hatte sie sich in dieser Zeit beachtliches Ansehen verschaffen können. Sie war froh, dass bei dieser Arbeit nur ihr Können und nicht ihr hübsches Aussehen bewertet wurde. Hier konnte sie endlich zeigen, was in ihr steckte. Ihre Kolumnen kamen bei den Lesern gut an, und da auch das Betriebsklima in der Redaktion herzlich war, widmete sie sich ihrer Arbeit gewöhnlich mit Herz und Seele.

Heute war das anders. Sie war zerstreut und konnte sich nicht richtig konzentrieren. Dementsprechend schlecht fiel der Artikel aus. Howard hatte das sofort erkannt. Der dickleibige, gemütlich wirkende Mann hatte im Laufe seines fast fünfzigjährigen Lebens eine untrügliche Menschenkenntnis entwickelt. Vivian mochte seine gutmütige, väterliche Art. Er galt als guter Zuhörer, mit dem man über alle Probleme reden konnte. Sie hatte während ihrer gemeinsamen Arbeit im Laufe der letzten Monate Vertrauen zu ihm gefasst.

Es war sinnlos, ihm etwas vorzumachen, und im Grunde war sie froh, ihren Kummer jemandem anvertrauen zu können.

"Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich, Mr. Howard?", bat sie. "Ich würde mich gerne mit Ihnen über etwas unterhalten. Es dauert nicht lange."

Jeoffrey Howard nickte und zog sich einen Stuhl heran. Vivian ließ ihren Blick durch das Großraumbüro schweifen. Es war später Vormittag, und um diese Zeit waren die meisten ihrer Kollegen zu Recherchen unterwegs. Die wenigen Anwesenden klapperten auf ihren Schreibmaschinen und beachteten sie nicht.

"Den Brief habe ich heute bekommen", erklärte sie. Sie zog ein Schreiben aus der Tasche und reichte es dem Redaktionsleiter, der es umständlich auseinanderfaltete und zu lesen begann.

Sie selbst kannte den Inhalt mittlerweile fast auswendig. Der Brief stammte von Mabel Spencer, einer Tante. In einer zitterigen, krakeligen Handschrift, die erkennen ließ, wie viel Mühe ihr das Schreiben bereitet hatte, teilte die Tante ihr mit, dass es ihr gesundheitlich schlecht gehe, und sie wohl nicht mehr lang zu leben hätte. Sie wünschte sich, ihre Nichte noch einmal zu sehen. Deshalb bat sie Vivian, so schnell wie möglich nach Spencer-Hall, ihr Anwesen in Cornwall zu kommen.

"Sie müssen Ihre Tante sehr gern haben, wenn die Nachricht Sie so mitnimmt", sagte Jeoffrey Howard ernst, als er Vivian den Brief zurückgab.

Die junge Journalistin schüttelte den Kopf und steckte den Brief in ihre Handtasche zurück.

"Eben nicht. Das ist ja, was ich nicht verstehe. Ich habe Tante Mabel seit rund fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört. Sie ist die Schwester meiner Mutter und nach deren Tod habe ich den Kontakt zu meiner Tante verloren. Ich begreife einfach nicht, wieso sie sich jetzt wieder bei mir meldet."

Jeoffrey Howard kratzte sich am Kinn. "Wie alt sind Sie jetzt, Miss Jackson?", wollte er wissen.

"Siebenundzwanzig", antwortete Vivian verblüfft. "Aber was hat das damit ..."

"Sehen Sie, bei Ihrer Jugend können Sie sich schlecht vorstellen, was in alten Leuten vorgeht", unterbrach der Redaktionsleiter sie. "Wenn man alt wird und sein Ende nahen spürt, ändert sich vieles. Dann denkt man viel über sein Leben nach. Ich kann es gut verstehen, wenn Ihre Tante Sie noch einmal sehen möchte. Auch wenn Sie sich lange nicht gesehen haben, sind Sie doch ein Teil von ihrem Leben. Versuchen Sie einmal, sich an die Stelle Ihrer Tante zu versetzen."

Vivian überlegte ein paar Sekunden, dann nickte sie nachdenklich.

"So wird es wohl sein", stimmte sie zu. "Diese unverhoffte Begegnung mit meiner Kindheit hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich muss dauernd an Tante Mabel denken, deshalb konnte ich mich einfach nicht auf den Artikel konzentrieren."

"Würden Sie denn gerne zu Ihrer Tante hinfahren?"

Wieder überlegte Vivian kurz und nickte dann erneut. "Es wird bestimmt nicht leicht, wenn es ihr wirklich so schlecht geht, aber ich käme mir schäbig vor, sie jetzt allein zu lassen."

"Dann ist ja alles klar. Soweit ich weiß, haben Sie noch keinen Urlaub genommen und außerdem noch eine Reihe von Überstunden zu Buche stehen. Wenn Sie wollen, können Sie gleich morgen fahren. Es täte Ihnen bestimmt auch gut, die Arbeit mal für ein paar Tage zu vergessen."

Howard machte eine kurze Pause. "Vielleicht können Sie bei der Gelegenheit ja auch gleich noch einen Landschaftsbericht über Cornwall schreiben", fügte er dann augenzwinkernd hinzu.

2

Der nächste Morgen begrüßte Vivian Jackson mit strahlendem Sonnenschein. Ein leichter Sommerwind sorgte für angenehme Kühlung und verhinderte, dass es allzu heiß wurde. Ein fast ideales Wetter für die Autofahrt nach Cornwall.

Vivian hatte sich alles am vergangenen Abend noch einmal durch den Kopf gehen lassen und den Entschluss gefasst, wirklich zu fahren. Sie hatte Jeoffrey Howard angerufen und ihm diese Entscheidung mitgeteilt. Der Redaktionsleiter stand zu seinem Angebot, dass sie sich sofort eine Woche Urlaub nehmen könnte. Noch in der Nacht hatte sie ihre Koffer gepackt.

Nun war alles in ihrem Auto verstaut. Kritisch musterte sie die Sachen und ging noch einmal durch ihre Wohnung, um zu überprüfen, ob sie auch nichts vergessen hatte. Die Fenster waren geschlossen, alle Elektrogeräte ausgeschaltet, und um die Pflanzen würde sich eine Nachbarin kümmern. Alles war in bester Ordnung. Der Abfahrt stand nichts mehr im Wege.

Die Straßen waren weitgehend frei, sodass sie gut vorankam. Erst in der Gegend von Southhampton geriet sie in einen Stau, der sie eine Weile aufhielt, sodass sie Cornwall erst am frühen Nachmittag erreichte. Eine weitere Stunde dauerte es, bis sie Gorlwingham erreichte, den Ort, der Spencer-Hall am nächsten lag.

Das Haus der Tante war nicht einfach nur ein Anwesen. Spencer-Hall lag auf einer namenlosen Insel vor der Küste. Sie war nicht allzu groß, in einer halben Stunde konnte man bequem von einem Ende der Insel zum anderen gehen. Inmitten des parkähnlichen Gartens lag das mehrflügelige, mit unzähligen Balkonen, vorspringenden Erkern und Türmchen verzierte Gebäude, das fast schon einem kleinen Schloss glich.

Zumindest hatte Vivian es so in Erinnerung. Mit dreizehn Jahren war sie zuletzt auf Spencer-Hall gewesen, und damals hatte sie natürlich alles mit anderen Augen gesehen.

In einem Bogen fuhr sie um Gorlwingham herum. Ein paar Minuten später hatte sie die Küste erreicht. Sie parkte den Wagen und stieg aus. Wie ein endloser goldener Spiegel erstreckte sich das Meer im Licht der Mittagssonne vor ihr. Doch die Sonne schien schon längst nicht mehr so heiß wie noch vor einer halben Stunde. Ein kühler Wind wehte vom Meer her. Er trug nicht nur den Geruch von Tang und Salzwasser mit sich, sondern trieb auch dunkle, bauchige Wolken vor sich her. Es würde sicherlich bald regnen. Vivian warf einen missmutigen Blick zum Himmel, bevor sie sich wieder dem Meer zuwandte.

Inmitten der Wasserfläche, knapp hundert Schritte von der Küste entfernt, lag Spencer-Hall wie eine grüne Oase. Der Anblick verschlug Vivian im ersten Augenblick die Sprache. Die ganze Insel schien ein einziges Pflanzenmeer zu sein. Hinter den Kronen der mächtigen Bäume ragte nur noch das Dach des alten Herrenhauses hervor.

Doch das war nur der erste Eindruck. Als Vivian die Insel genauer betrachtete, fiel ihr auf, in welch schlechtem Zustand sich Spencer-Hall befand. Die Pflanzenpracht war keineswegs auf die geschickte Arbeit eines Gärtners zurückzuführen. In Wirklichkeit war der Garten völlig verwildert.

Der Anblick ernüchterte die Journalistin ein wenig. Der verkommene Garten, den sie als prächtigen Park in Erinnerung hatte, stimmte sie traurig, und erinnerte sie wieder daran, welche unglücklichen Umstände sie herführten.

Genau wie damals gab es auch jetzt einen schmalen Steindamm, der zu der Insel führte. Bei Flut wurde er überschwemmt, und man konnte Spencer-Hall höchstens mit einem Boot erreichen. Jetzt war glücklicherweise gerade Ebbe, und sie konnte mühelos hinübergehen.

Als hätte sich die Natur gegen sie verschworen, fielen in diesem Moment die ersten Regentropfen. Vivian überlegte, ob sie im Wagen warten sollte, bis das Unwetter weitergezogen war, entschied sich aber dagegen. Es handelte sich lediglich um einen leichten und warmen Sommerregen. Sogar die Sonne schien noch, und so machte sie sich auf den Weg. Ihre Koffer ließ sie vorerst im Auto. Sie konnte sie auch später noch holen.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Insel erreicht hatte. Ein schmaler Kiesweg schlängelte sich auf das Herrenhaus zu. Aus der Nähe betrachtet war der Zustand des Gartens noch schlimmer als angenommen. Der Vergleich mit einem Dschungel traf durchaus zu. Mannshohes Unkraut säumte den Weg ein. Nur an ganz wenigen Stellen war durch das Unterholz noch Rasen zu erkennen, ansonsten beherrschten nur Brennnesseln und efeuartige Schlingpflanzen das Bild. Die Kronen der knorrigen, alten Bäume waren im Laufe der Jahre zu einem fast undurchdringlichen Dach zusammengewachsen, das beinahe die ganze Insel überschattete. Es erzeugte auch jetzt, am hellen Tag noch einen Dämmerzustand und sorgte für eine fast unangenehme Kühle.

Abgesehen vom monotonen Prasseln der Regentropfen war es beinahe totenstill. Kaum ein Tropfen drang durch das Blätterdach. Die Baumstämme waren mit Moos überzogen und bis zu einer Höhe von mehreren Metern rankten sich Schlingpflanzen an ihnen hoch. Nur an ganz wenigen Stellen brach das Sonnenlicht zwischen den Blättern durch und warf malerische, helle Flecken auf die Blätter und den Boden. Vivian bedauerte, dass die Pflanzen ihr die Sicht auf die Umgebung nahmen. Bei Regen und Sonnenschein zugleich entwickelte sich meist ein Regenbogen, und den hätte sie sehr gerne gesehen.

Dann zerriss plötzlich ein Donnerschlag die Stille. Als wäre er ein Signal, schoben sich gleichzeitig Wolken vor die Sonne. Das Prasseln der Regentropfen verstärkte sich schlagartig, und immer mehr Tropfen fielen jetzt von den Blättern herab. Sie trafen ihr Gesicht wie kleine, kalte Nadeln. Von der Wärme des Sommertages war hier nichts mehr zu spüren. Stattdessen schien es sich immer mehr abzukühlen. Wahrscheinlich lag es an der Nähe des Meeres. An der Küste konnte das Wetter binnen kürzester Zeit umschlagen, wie Vivian jetzt erlebte. Mit klammen Fingern griff die Feuchtigkeit nach ihr und drang durch ihr luftiges Sommerkleid. Sie beeilte sich jetzt, um das Haus zu erreichen.

Immer wieder musste sich ducken, um sich nicht das Gesicht von tief hängenden Zweigen zerkratzen zu lassen, die sich über den Weg streckten. Kopfschüttelnd schritt sie weiter. Wie konnte man hier nur alles so verkommen lassen?

Das schützende Blätterdach reichte fast bis ganz an das von einem säulengetragenen, steinernen Baldachin überdachte Eingangsportal von Spencer-Hall heran. Die kurze, freie Strecke überwand Vivian in schnellem Lauf.

Sie wischte sich die Regentropfen von den Armen und betätigte den wuchtigen Türklopfer. Dumpf hallte der Laut im Inneren des Gebäudes wider. Sie musste noch zwei weitere Male klopfen, bis man endlich Notiz von ihr nahm. Die Begrüßung fiel allerdings ganz anders aus, als sie sich das vorgestellt hatte.

"Verschwinden Sie, Jameson!", keifte eine brüchige Stimme durch das geschlossene Portal. "Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei. Ich verkaufe Spencer-Hall nicht, also lassen Sie mich endlich in Ruhe!"

3

Erschrocken starrte Vivian das Portal an. Für den Augenblick war sie viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Es musste sich natürlich um ein Missverständnis handeln, aber dennoch war der Schreck ihr in die Glieder gefahren.

"Hören Sie nicht, Sie sollen mich in Ruhe lassen!", bellte die Stimme erneut, die Vivian erst jetzt als die ihrer Tante erkannte.

Jetzt erst fand sie die Fassung wieder. "Aber ich bin es doch, Tante Mabel", rief sie. "Vivian Jackson."

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Jede Sekunde schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen. Gebannt lauschte die Journalistin auf eine Antwort.

"Bist du das wirklich, Vivian?", fragte die Tante schließlich mit brüchiger Stimme.

"Aber ja doch", antwortete Vivian laut. "Ich habe gestern deinen Brief bekommen und bin heute sofort losgefahren. Aber lass mich erst einmal herein. Es regnet."

Zwar war sie unter dem Vordach einigermaßen geschützt, aber immer wieder trieb der Wind feine Wasserschleier in ihre Richtung, die zumindest ihre Füße trafen. Vivian hörte, wie ein Riegel zurückgezogen wurde, dann schwang das Portal auf.

Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, erschrak die Journalistin doch, als sie ihre Tante sah. Bei ihrer letzten Begegnung war Mabel Spencer noch eine rüstige, resolute Frau in der Blüte ihrer Jahre gewesen, die selbst mit Ende vierzig noch um zehn Jahre jünger ausgesehen hatte. Auch jetzt war sie erst knapp über sechzig Jahre alt, aber sie sah bereits aus wie eine uralte Greisin. Zahlreiche Falten, die damals erst ansatzweise zu sehen gewesen waren, hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben. Ihr vormals volles blondes Haar war stark gelichtet und fast völlig grau geworden. Die Tante trug es im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Ihr Rücken war wie unter einer schweren Last gebeugt, und sie musste sich auf einen Stock stützen.

Erschüttert schaute Vivian sie an, bevor sie die alte Frau umarmte und vorsichtig wie eine zerbrechliche Glaspuppe an sich drückte.

Vierzehn Jahre waren eine lange, sehr lange Zeit, die an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen war. Vivian lächelte schmerzlich, als sie daran dachte, dass sie bei ihrem letzten Besuch auf Spencer-Hall noch ein kleines Kind von gerade dreizehn Jahren gewesen war. Mittlerweile war sie eine stattliche und selbstbewusste junge Frau, die auf eigenen Beinen stand und ihre eigenen Wege ging.

Vierzehn Jahre, in denen sich in ihrem Leben so gut wie alles verändert hatte. Den Speck ihrer Jugendjahre hatte sie längst verloren, und mit manchmal eisernen Diäten hatte sie ihre ideale Figur erreicht. Das blonde Haar trug sie nicht mehr zu Zöpfen mit bunten Schleifchen geflochten, sondern hatte es zu modischen, kurzen Löckchen frisieren lassen. Sie hatte die Schule abgeschlossen, einige Jahre als Sekretärin gejobbt, sich zur Journalistin ausbilden lassen und schließlich ihre geliebte Arbeit bei der Zeitung gefunden.

Doch das waren nur die äußeren Veränderungen. Was wirklich wichtig war, hatte sich in ihrem Inneren abgespielt. Sie hatte es gelernt, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten, und sie hatte den Ernst des Lebens kennengelernt und war dadurch gereift, auch wenn sie dafür ihre jugendliche Unbekümmertheit verloren hatte. Erste Erfahrungen mit der Liebe und viele damit verbundene Enttäuschungen fielen ebenfalls in diese vierzehn Jahre, die zwischen ihr und Spencer-Hall lagen, und zu denen sie jetzt eine Brücke geschlagen hatte.

Alle diese Gedanken durchzuckten Vivian, während sie ihre Tante umarmt hielt. Mit einem Mal schienen alle diese Veränderungen wie von einer unsichtbaren Hand hinweggewischt. Sie fühlte sich wieder als das dreizehnjährige Kind, das sie damals gewesen war, als wäre die Uhr ihres Lebens für ein paar Augenblicke zurückgedreht worden.

"Vivian", flüsterte Tante Mabel mit erstickter Stimme. Tränen schimmerten in ihren Augen und rannen über ihre Wangen, als sie sich nach einer Weile aus dem Griff ihrer Nichte löste. "Kind, dass du wirklich gekommen bist ..."

"Das musste ich einfach. Jetzt wünschte ich, ich hätte es schon viel früher gemacht." Vivian musste schlucken, um den Kloß loszuwerden, der mit einem Mal in ihrem Hals saß. Auch sie spürte ein Brennen in den Augen. Verlegen knetete sie ihre Hände.

"Ich freue mich ja so, dass ich es gar nicht sagen kann. Komm, gehen wir erst einmal hinein."

Tante Mabel wandte sich um und wischte sich unauffällig die Tränen ab. Vivian spürte wieder, wie kühl es geworden war und folgte ihr rasch in die große Eingangshalle. Im Inneren des Gebäudes war es angenehm warm, so als hätten die dicken Steinmauern die Wärme des Tages gespeichert und gäben sie jetzt wieder ab.

Fast auf Anhieb fand Vivian sich wieder zurecht. An der Einrichtung hatte sich so gut wie gar nichts geändert, zumindest nicht in der Eingangshalle und dem gemütlichen Salon, in den die Tante sie führte.

"Ich kann gar nicht aufhören, dich anzusehen", sagte die Herrin von Spencer-Hall und fasste Vivian an den Armen. "Bist du es wirklich? Ich kann es noch kaum glauben. Du bist ja kaum wiederzuerkennen. Ich sehe dich immer noch als lustiges kleines Mädchen vor mir. Nicht zu fassen, dass du jetzt eine richtige Frau geworden bist. Nur deine großen blauen Augen hast du noch behalten."

"Du hast dich ebenfalls verändert, Tante Mabel."

"Nur nicht so zu meinem Vorteil, fürchte ich. Das Alter macht eben vor niemandem halt." Sie seufzte und ließ sich in einen Sessel sinken.

"Was heißt da Alter? Mit einundsechzig ist man doch noch nicht alt", widersprach Vivian halbherzig, obwohl gerade das Aussehen der Tante das Gegenteil zu beweisen schien. "Man ist immer nur so alt, wie man sich fühlt. Es gibt Leute, die mit neunzig noch rüstiger als mancher Jugendliche sind."

Tante Mabel schüttelte den Kopf.

"Nein, nein, mein Kind, zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Ich fühle mich wirklich alt. Mein Herz ist schwach geworden und will nicht mehr so richtig. Es hat keinen Sinn, wenn man sich etwas vormacht."

Skeptisch verzog Vivian das Gesicht.

"Aber ganz so schlecht kann es dir doch auch nicht gehen. Nach deinem Brief hatte ich erwartet, eine todkranke Frau anzutreffen. Du aber liegst nicht einmal im Bett und machst noch einen ganz munteren Eindruck."

"Das sieht nur so aus." Tante Mabel winkte ab. "Die Wiedersehensfreude hat mir noch einmal neue Kraft gegeben. Ansonsten kann ich mich kaum auf den Beinen halten. Die meiste Zeit über liege ich wirklich im Bett. Der Arzt kommt jeden Tag, um nach mir zu sehen." Sie machte eine kurze Pause. "Aber sprechen wir jetzt nicht darüber, sonst verderben wir uns nur die Freude. Ich bin schon ganz begierig zu erfahren, wie es dir ergangen ist. Du musst mir alles ganz genau erzählen. Was machst du so? Bist du schon verheiratet?"

"Verheiratet?" Vivian lachte trocken auf. Ihr Gesicht verdüsterte sich, und sie strich sich eine Haarlocke aus der Stirn. "Mein letzter Freund hat mich vor zwei Wochen sitzen lassen. Mit Männern hatte ich bislang fast nur Pech."

Fast eine Stunde lang berichtete sie, was in den letzten Jahren alles passiert war. Sie fasste sich schon so knapp wie möglich, trotzdem konnte sie nur von den wichtigsten Ereignissen erzählen. Sie hätte mehrere Tage gebraucht, um ihr halbes Leben auszubreiten. Für all die tausend Kleinigkeiten war in den nächsten Tagen noch genug Zeit.

"Jetzt bist du aber dran, Tante", schloss sie schließlich erschöpft. Ihr Mund war vom vielen Reden ganz trocken geworden. "Was hat es nun mit deiner Krankheit auf sich?"

"Ach, das wissen die Ärzte selbst nicht. Hauptsächlich sind es das Herz und der Kreislauf. Ein paarmal bin ich nur dicht an einem Infarkt vorbeigekommen, aber es kann jeden Tag so weit sein. In den letzten Jahren lebe ich nur sehr genügsam und vermeide jede Aufregung, doch mein früheres ausschweifendes Leben rächt sich nun. Du weißt ja, ich habe nie etwas anbrennen lassen. Bevor es aber wirklich zu Ende geht, wollte ich dich unbedingt noch einmal sehen und hören, was aus dir geworden ist. Früher habe ich dich immer sehr gern gehabt, musst du wissen. Es tat mir immer leid, dass wir den Kontakt verloren haben."

"Wohnst du denn ganz allein hier?"

"Nein, nicht ganz. Mrs. Delbridge führt mir den Haushalt und kocht für mich. Sie wohnt auch hier auf Spencer-Hall. Außerdem ist da noch George Craven. Er ist zwar Student, aber in den Ferien kommt er immer zu seinen Eltern nach Gorlwingham zurück. Dann kümmert er sich ein wenig um das Haus und den Garten, weil ich mir keinen Gärtner leisten kann. Er ist eine Seele von einem Menschen. Du wirst ihn morgen kennenlernen, wenn du dann noch da bist."

Vivian kam nicht mehr zum Antworten, weil in diesem Moment der Türklopfer betätigt wurde. Tante Mabel schaute auf ihre Uhr. "Das wird Doktor Lester sein", verkündete sie und erhob sich aus ihrem Sessel. "Warte einen Augenblick, ich bin gleich zurück."

Sie ging zur Tür. Kurz darauf vernahm Vivian Stimmen aus der Eingangshalle. Tante Mabel bat den Arzt, schon mal zu ihrem Zimmer zu gehen, bevor sie in den Salon zurückkehrte.

"Ich werde dir am besten jetzt dein Schlafzimmer zeigen", wandte sie sich an Vivian. "Dann kannst du deine Sachen holen, während Dr. Lester mich untersucht."

Sie führte die Journalistin über eine breite, kunstvoll verzierte Holztreppe ins erste Stockwerk hinauf und öffnete die Tür zum Nordflügel. Ein langer Gang nahm sie auf.

Ein Lächeln glitt über Vivians Gesicht. "Bekomme ich etwa mein altes Zimmer wieder?", rief sie erfreut.

Die Tante nickte. "Ja, ich habe nicht vergessen, wie gut es dir immer gefallen hat. Da ich gehofft habe, dass du kommst, habe ich es von Mrs. Delbridge herrichten lassen. Und ich habe noch eine Überraschung für dich."

Sie hatten das Zimmer erreicht und traten ein. Obwohl es im Vergleich mit den anderen Räumen von Spencer-Hall absolut nichts besonderes war, gefiel es Vivian auch jetzt wieder auf Anhieb. Es war ein nur kleiner Raum mit einem Fenster und einer Tür, die auf einen vorgelagerten, kleinen Balkon hinausführte. Die Möbel bestanden aus hellem Holz. Es gab ein Bett, einen Schrank und eine Sitzgruppe. An den Wänden hing eine geblümte Tapete, die mittlerweile stark ausgeblichen war.

Obwohl es viel prächtigere Zimmer im Haus gab, hätte Vivian um nichts in der Welt tauschen wollen. Stärker noch als alles andere verkörperte dieser Raum ihre Erinnerung an Spencer-Hall.

"Schau dir mal das Bett genauer an", forderte Tante Mabel sie auf. Verwundert trat Vivian näher, bis sie den Puppenkopf entdeckte, der unter der Decke hervorragte. Mit einem leisen Freudenschrei riss sie die Puppe hervor.

Es war eine ausgesprochen hässliche Stoffpuppe. Der Stoff war verdreckt und an zahlreichen Stellen ausgefranst. Ein Glasauge fehlte, und ein Bein war nur noch durch wenige Fäden mit dem Körper verbunden.

Trotzdem presste Vivian das hässliche Ding an sich. Sie hatte die Puppe geschenkt bekommen, als sie ein Jahr alt war und sie 'Jenny' getauft. Seither hatte sie Jenny überall mit hingeschleppt und jede neue und schönere Puppe verschmäht. Bei ihrem letzten Besuch auf Spencer-Hall hatte sie sie vergessen, als Vater sich mit Tante Mabel heftig zerstritten hatte und sie überstürzt abgereist waren. Damals hatte es heiße Tränen gegeben, und es hatte Monate gedauert, bis Vivian den Verlust verschmerzt hatte, doch Vater war unerbittlich geblieben. Nach dem Streit hatte er sich standhaft geweigert, seine Schwägerin um die Zusendung der Puppe zu bitten.

"Ich habe sie die ganzen Jahre hindurch als Andenken an dich aufgehoben", verkündete Tante Mabel. "So jetzt muss ich aber gehen, um Dr. Lester nicht allzu lange warten zu lassen."

4

Es hatte zu regnen aufgehört. Die Wolken waren weitergezogen, und die Sonne brannte bereits wieder heiß vom Himmel herab. Sie trocknete die Pfützen in Windeseile. Als Vivian zu ihrem Wagen ging, erinnerte schon kaum noch etwas an das kurze Gewitter.

Die Flut hatte bereits wieder eingesetzt, als sie den Steindamm erreichte, doch das Wasser war noch so niedrig, dass sie problemlos zum Festland hinüberschreiten konnte. Mit ihren Koffern kehrte sie zurück und verbrachte die nächste Viertelstunde damit, alle Sachen sorgsam in den Schrank einzuräumen.

Als sie fertig war, trat sie auf den Balkon hinaus und genoss die klare Seeluft. Das war mal etwas anderes, als der Londoner Großstadtgestank.

Viel zu sehen war leider nicht. Die Bäume waren zu hoch, als dass sie bis aufs Meer hätte schauen können. Dafür sah Vivian Dr. Lester, der sich gerade verabschiedete und auf dem Kiesweg verschwand. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit dem Arzt über ihre Tante zu sprechen, aber jetzt erschien es ihr nicht richtig, hinter ihm herzulaufen. Stattdessen ging sie ins Erdgeschoss hinunter. Sie traf Tante Mabel in der Eingangshalle.

"Nun, was hat der Arzt gesagt?"

Die Tante zuckte mit den Schultern. "Das Übliche. Aber er meinte auch, die Freude über deinen Besuch hätte mir gutgetan."

"Das ist ja schon mal etwas. Seit wann bist den denn eigentlich schon krank?"

"Ach, das zieht sich schon ein paar Monate hin. Durch die Aufregung in den letzten Wochen ..." Sie brach mitten im Satz ab, als hätte sie etwas gesagt, was sie eigentlich für sich behalten wollte, und wechselte rasch das Thema. "Hast du eigentlich unterwegs etwas gegessen?"

Vivian war ein wenig ärgerlich, das Tante Mabel ihr auswich, aber dann sagte sie sich, dass es schließlich Sache der Tante war, was sie erzählte und was nicht. Und die Frage nach dem Essen ließ ihren Magen sofort knurren.

"Nein, dazu bin ich gar nicht gekommen. Wenn der Stau nicht gewesen wäre, wäre ich schon viel früher eingetroffen. Hier habe ich gar nicht mehr ans Essen gedacht."

"Dann komm, sehen wir in der Küche nach, was es gibt. Vom Braten heute Mittag müssten noch ein paar Scheiben übrig sein. Um sieben gibt es warmes Abendessen, aber bis dahin dauert es ja noch eine Weile."

Sie schlugen den Weg zur Küche ein. Dort lernte Vivian Mrs. Delbridge kennen. Die Köchin war eine rundliche, kleine Frau von etwa fünfzig Jahren. Kurze dunkle Haare lagen um ihr freundliches Gesicht. Vivian wurde von ihr so herzlich wie eine Tochter begrüßt.

"Sie also sind Miss Jackson. Ihre Tante hat viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, Sie nun auch endlich kennenzulernen." Sie musterte die Journalistin lächelnd. "Nun ja, mit dem kleinen stupsnäsigen Mädchen, das nur Dummheiten im Kopf hatte, haben Sie nicht mehr viel Ähnlichkeit. Kocht man in London so schlecht, dass Sie nicht mehr auf den Knochen haben?"

Vivian musste ebenfalls lachen.

"Daran liegt es bestimmt nicht. Ich bin froh, dass ich so schlank bin. Heute allerdings habe ich außer dem Frühstück noch nichts gegessen."

"Und da wollten Sie wohl mal sehen, was ich noch so im Schrank habe, wie? Keine Sorge, es ist noch genügend Braten von heute Mittag da. Setzen Sie sich nur in den Speisesaal, ich werde Ihnen gleich ein paar belegte Brote bringen."

"Ich kann Ihnen gerne ein wenig helfen", schlug Vivian vor.

"Nichts da, das kommt gar nicht in Frage", lehnte Mrs. Delbridge freundlich, aber entschieden ab. "Die Küche ist allein mein Revier. Jede Einmischung werte ich als Missbilligung meiner Kochkunst. Setzen Sie sich nur einfach hin, ich bringe das Essen dann. Möchten Sie auch etwas, Mrs. Spencer?"

"Danke, nein. Bringen Sie mir nur einfach wie üblich nachher meinen Tee."

"Wie Sie wünschen."

Vivian folgte ihrer Tante in den Speiseraum. Es handelte sich um einen großen sonnendurchfluteten Saal. Neben einigen Anrichten und Schränken stand eine lange Tafel darin, an der bestimmt dreißig Leute Platz gefunden hätten. Mabel Spencer nahm am Kopfende Platz.

"Mrs. Delbridge ist bestimmt die beste Köchin und Haushälterin, die ich unter den gegebenen Umständen bekommen konnte", erklärte sie seufzend. "Nur meint sie ständig, ihre eigenen Essgewohnheiten auf alle Menschen in ihrer Umgebung übertragen zu müssen. Wer nicht mindestens ebenso dick ist wie sie, ist in ihren Augen völlig unterernährt, und bei unterernährten Menschen entwickelt sie das fast mütterliche Bedürfnis, sie durchzufüttern."

"Au weia, dann fürchte ich jetzt schon um meine schlanke Linie", stöhnte Vivian. "Ich habe gerade erst eine Diät beendet, um mein Idealgewicht zu erreichen."

"Ich fürchte, das war ein Fehler", erwiderte die Tante mit einem humorvollen Augenzwinkern. "Wenn Mrs. Delbridge sich etwas in den Kopf setzt, ist es schwer, sie wieder davon abzubringen. Ich habe selber fast ein Jahr gebraucht, bis sie endlich einsah, dass ich keineswegs noch mehr zunehmen möchte." Sie machte eine Pause. "Etwas Gutes hat ihr Eifer aber", fuhr sie dann fort. "Ihre Anteilnahme zeigt, dass sie dich gern hat."

Die Tür wurde geöffnet. Mit einem Tablett in Händen trat die Köchin ein. Auf dem Tablett türmten sich Brote und Brötchen. Sie waren nicht nur mit kaltem Braten, sondern auch noch mit verschiedenen Wurst- und Käsesorten belegt und mit Petersilie und Salatblättern verziert. Es war Vivian unbegreiflich, wie Mrs. Delbridge alles so schnell hatte zubereiten können. Die Köchin stellte das Tablett auf dem Tisch ab; dann nahm sie einen Teller aus einem Schrank und reichte ihn Vivian.

"Mein Güte, wer soll denn das alles essen?", fragte die Journalistin und starrte verzweifelt auf das übervolle Tablett. "Damit kann man ja ein Dutzend Leute satt bekommen."

"Greifen Sie nur ordentlich zu", ermunterte Mrs. Delbridge sie. "Sie werden schon sehen, der richtige Hunger kommt immer erst beim Essen. Möchten Sie auch etwas trinken?"

"Gerne, ein Glas Fruchtsaft wäre bei der Hitze genau das richtige."

Sie bekam den Saft sofort gebracht. Zum Teil hatte die Köchin recht. Nach den ersten Bissen bekam Vivian erst richtig Hunger, aber trotzdem gab es viel zu viele Brote und Brötchen. Die Journalistin aß ohnehin schon mehr, als sie sich selbst zugestanden hatte und beschloss, an ihren Besuch auf Spencer-Hall direkt wieder eine Diät anzuschließen, um die Pfunde wieder loszuwerden. Schließlich schob sie den Teller von sich.

Ganz hatte sie noch nicht vergessen, wie die Tante vorhin schnell das Thema gewechselt hatte, als die Rede auf ihre Gesundheit kam. Sie hatte etwas von Aufregungen erzählt. In diesem Zusammenhang fiel Vivian auch die unfreundliche Begrüßung wieder ein.

"Was hast du eigentlich vorhin vom Verkauf Spencer-Halls erzählt?", erkundigte sie sich.

"Ach, das hat nichts zu bedeuten", antwortete Mabel Spencer rasch. Eine Spur zu rasch, um noch glaubhaft zu klingen, wie Vivian fand. Als Journalistin war sie es gewohnt, die Reaktion von Leuten genau einzuschätzen und auch aus dem, was nicht gesagt wurde, ihre Schlüsse zu ziehen.

"Ich hatte jedenfalls schon Angst, dass du im nächsten Moment eine Horde Bluthunde auf mich hetzen würdest", hakte sie nach.

Tante Mabel seufzte. Sie schien zu erkennen, dass sie es diesmal nicht mit Ausflüchten bewenden lassen konnte, ohne sehr unhöflich zu wirken. Schließlich stellte Vivian die Fragen ja nicht aus reiner Neugier, sondern um ihr zu helfen.

"Es gibt ein großes Reisebüro in Plymouth", erklärte sie. "Der Besitzer, ein Mr. Jameson, hat es sich in den Kopf gesetzt, Spencer-Hall zu erwerben, und ein Hotel daraus zu machen. Seit Wochen liegt er mir schon mit immer höheren Angeboten und Lockungen in den Ohren, doch endlich zu verkaufen."

"Und warum bist du so böse auf ihn?"

"Ich will Spencer-Hall nun mal nicht verkaufen. Ich bin hier geboren und habe fast mein ganzes Leben hier verbracht. Die Insel ist für mich die Heimat, und diese werde ich niemals für noch so viel Geld aufgeben. Das habe ich diesem Jameson oft genug gesagt, aber er scheint es einfach nicht zu begreifen. Zumindest gibt er seine Versuche nicht auf, und dabei wird er immer frecher."

Vivian dachte eine Weile über die Worte ihrer Tante nach. "Ich kenne die Situation zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu können", sagte sie. "Wenn er frech wird, solltest du wirklich die Polizei rufen. Niemand kann dich gegen deinen Willen von deinem Grund und Boden vertreiben. Anderseits solltest du ..."

"Ich weiß schon, was du sagen willst", fiel Mabel ihr ins Wort. "Dieses Anwesen ist viel zu groß, um es richtig unterhalten zu können. Du hast ja gesehen, in welchem Zustand der Garten ist. Ohne Georges Hilfe wäre alles noch viel schlimmer, denn einen richtigen Gärtner kann ich mir nicht leisten."

"Das meine ich gar nicht mal so sehr", sagte Vivian. "Es erscheint mir nur bedenklich, dass du fast allein hier draußen wohnst. Wenn etwas passiert, dauert es lange, bis der Arzt da ist. Ein kleines, gemütliches Haus in Gorlwingham wäre sicherlich wesentlich günstiger, obwohl ich auch verstehen kann, dass du Spencer-Hall nicht aufgeben willst."

"Nein, das kannst du nicht", entgegnete Mabel Spencer und schüttelte traurig den Kopf. "Niemand kann ermessen, wie viel mir diese Insel bedeutet. Aber ich bitte dich, versuche nicht auch noch du, mich umzustimmen. Lass uns von etwas anderem reden."

Vivian Jackson respektierte den Wunsch ihrer Tante, obwohl sie gerne mehr über dieses Problem erfahren hätte, das der alten Dame so zu schaffen machte. Auch so mangelte es nicht an Gesprächsstoff.

Pünktlich um siebzehn Uhr brachte Mrs. Delbridge den Tee. Diese urbritische Sitte wurde auf Spencer-Hall noch wie eine richtige Zeremonie begangen. Auch Vivian trank eine Tasse.

Anschließend ging sie mit ihrer Tante etwas im Park spazieren, bis es Abendessen gab. Mrs. Delbridge tischte gebackenen Fisch auf, der so vorzüglich schmeckte, dass Vivian erneut tüchtig zugriff.

Kaum zwei Stunden später verabschiedete Mabel Spencer sich und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie müsse sich schonen, und so lange wie heute wäre sie schon lange nicht mehr auf den Beinen gewesen.

Auch Vivian ging auf ihr Zimmer und legte sich ins Bett, obwohl sie nicht müde war. Sie dachte noch lange über die Ereignisse des Tages nach, bis sie schließlich in einen leichten Schlummer sank.

5

Vivian wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als irgendetwas sie weckte. Verschlafen richtete sie sich auf und blickte sich um.

Helles Mondlicht sickerte durch das Fenster, aber es vermochte den Raum nicht völlig zu erleuchten. In den Ecken und Winkeln lauerte die Dunkelheit, und die Möbelstücke warf lange, verzerrte Schatten, die Vivian auf seltsame Art bedrohlich erschienen, als verbürgen sie etwas Geheimnisvolles, das sich ihren Blick entzog, ihr aber dennoch gefährlich werden konnte.

Verwirrt schüttelte Vivian Jackson den Kopf. Solche Gedanken waren Unsinn, nichts weiter als eine Einbildung, die durch die Umgebung hervorgerufen wurde. Sie befand sich in einem uralten Herrenhaus, und hier war vieles anders als in ihrer Londoner Wohnung. Die Decke bestand aus Holz, in dem es ständig arbeitete. Am Anfang hatte sie das unablässige leise Knacken und Knirschen gestört, aber sie hatte sich rasch daran gewöhnt. Jetzt mit einem Mal ließ jeder Laut sie zusammenzucken.

Etwas hatte sich verändert, und das Gefühl des Unwohlseins ließ sich nicht allein mit dem Gedanken an Einbildung verdrängen. Vivian glaubte die Atmosphäre des Unheimlichen, die sich in ihrem Zimmer ausgebreitet hatte, beinahe körperlich spüren zu können. Die Gardinen schwangen geisterhaft im Wind hin und her, als würden sie von unsichtbaren Händen bewegt.

Ein Geräusch hatte sie geweckt, auch wenn sie nicht wusste, was es gewesen war. Sie richtete sich im Bett auf und lauschte in die Dunkelheit. Etwas hielt sie davon ab, das Licht einzuschalten. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte Vivian, dass es auf Mitternacht zuging.

Durch das geöffnete Fenster drang das Rauschen der Baumkronen zu ihr herein, aber was sie gehört hatte, war etwas anderes als diese Geräusche gewesen, die bereits seit Stunden an ihr Ohr drangen und von ihr längst schon nicht mehr bewusst wahrgenommen wurden.

Als sie nach einigen Sekunden noch nichts Außergewöhnliches gehört hatte, schlüpfte sie aus dem Bett. Sie öffnete die Balkontür und trat in die Nacht hinaus. Aus der Ferne drang das leise Rauschen der Brandung an ihr Ohr. Ein kühler Wind umfächelte ihr Gesicht und bauschte ihr Nachthemd auf. Vivian nahm es kaum wahr.

Das Geräusch, das sie zuvor aus dem Schlaf geweckt hatte, war keine Einbildung gewesen. Diesmal hatte sie das Knacken eines trockenen Astes deutlich gehört.

Auf der ganzen Insel gab es kein Tier, das groß genug war, einen Ast zu zerbrechen, der ein so deutliches Knacken von sich gab. Es musste sich also um einen Menschen handeln, der sich lautlos zu bewegen versuchte, was in dem Dickicht jedoch so gut wie unmöglich war. Aber weder Tante Mabel, noch Mrs. Delbridge würden um diese Zeit noch einen Spaziergang im Park unternehmen, zumindest erschien Vivian das schwer vorstellbar. Und wenn doch, dann würden sie sich auf den Wegen halten.

Angestrengt starrte sie in die Nacht hinaus.

Eine halbe Minute verging, bis sie die Gestalt sah, die sich gar nicht weit vom Haus entfernt durch das Unterholz zwängte. Im letzten Moment konnte Vivian einen Schrei unterdrücken.

Die Gestalt war in eine bodenlange schwarze Kutte gehüllt. Durch den dunklen Stoff war sie fast unsichtbar. Der Kopf war unter einer spitz aufragenden Kapuze verborgen. Die Entfernung war zu groß, und das Mondlicht reichte nicht aus, um das Gesicht des Unheimlichen zu sehen, aber Vivian hatte den Eindruck, als würde er sie genau anstarren.

Etwas in ihr schien zu erstarren. Sie war unfähig, sich zu bewegen und blieb völlig regungslos stehen. Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte ihn. Als das Licht nach einigen Sekunden wieder durchbrach, war die Gestalt im Dickicht verschwunden.

Vivian Jackson war immer noch wie gelähmt. Minutenlang starrte sie auf die Stelle, an der der Unheimliche verschwunden war. Ein Vogel flatterte krächzend auf, dann breitete sich wieder Stille aus.

Der Biss des kühlen Nachtwindes riss Vivian schließlich aus ihrer Erstarrung. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Körper. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie zitterte, doch sie war sich nicht sicher, ob es nur vor Kälte war. Noch einmal ließ sie den Blick über den verwilderten Garten schweifen, dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück.

Die Schatten in den Ecken kamen ihr jetzt noch unheimlicher vor. Kurzentschlossen schaltete sie das Licht an. Der Unbekannte musste sie ohnehin gesehen haben, also kam es darauf nicht mehr an.

Vivian ließ sich auf das Bett sinken. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Mit aller Kraft zwang sie sich zur Ruhe.

Eine unbekannte Person hielt sich auf der Insel auf und strolchte durch den Park. Um einen harmlosen Landstreicher, der nur auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen für die Nacht war, handelte es sich bestimmt nicht. Das zeigte schon die unheimliche Kleidung. Der Mann hatte wie ein mittelalterlicher Mönch ausgesehen. Wer in einer solchen Maskerade herkam, der verfolgte mit Sicherheit ein bestimmtes Ziel damit - und es war bestimmt kein gutes. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Einbrecher, doch auch das erklärte noch nicht, warum er sich ausgerechnet eine solche Kutte übergestreift hatte.

Vivian überlegte, was sie tun sollte. Hier, in der warmen und hellen Behaglichkeit ihres Zimmers kam alles ihr weniger furchterregend vor, doch sie spürte immer noch den Schreck über die Entdeckung.

Wenn es sich wirklich um einen Einbrecher handelte, hatte er sicherlich die Flucht ergriffen, nachdem er sich entdeckt wusste. Dennoch musste sie etwas unternehmen.

Der Tante konnte sie nicht Bescheid sagen. Der Arzt hatte ihr jede Aufregung verboten, und eine solche Nachricht würde sie bestimmt stark beunruhigen.

Ob sie die Polizei anrufen sollte? Dann würde Tante Mabel ebenfalls von dem Unbekannten erfahren. Diese Möglichkeit schied also ebenfalls aus.

Einen Moment lang dachte Vivian daran, in den Garten hinauszugehen und selber nach dem Rechten zu sehen, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn der Fremde sich noch irgendwo verborgen hielt, würde sie ihn bestimmt nicht finden. Dafür war das Grundstück viel zu groß, und das Unterholz bot gerade in der Dunkelheit tausende Verstecke.

Gleichzeitig gestand Vivian sich selbst ein, dass dies nur ein vorgeschobener Grund war. Der Hauptgrund, warum sie sich nicht anzog und hinausging, war viel einfacher.

Sie hatte Angst.

Die Gestalt hatte überaus unheimlich ausgesehen, fast wie eine zu neuem Leben erwachte Spukgestalt. Obwohl Vivian wusste, dass das Unsinn war, hielt sich ihre Furcht. Es war ja noch nicht einmal gesagt, dass es sich bei dem Fremden wirklich um einen Einbrecher handelte. Vielleicht war es ein Verrückter. Das wäre auch eine Erklärung für die Mönchskutte gewesen.

In jedem Fall würde sie den Schutz von Spencer-Hall nicht verlassen, um sich allein auf die Suche nach dem Unbekannten zu machen. Schon der Gedanke daran ließ sie entsetzt schaudern.

Aber irgendetwas musste sie tun. Schließlich kam Vivian eine Idee. Sie würde mit Mrs. Delbridge sprechen. Die Köchin wusste sicherlich ebenso gut über alles Bescheid, was auf der Insel vorging, wie Tante Mabel. Vielleicht war der Mann ja auch schon einmal gesehen worden.

Sie zog sich einen Morgenmantel über und machte sich auf den Weg zum Ostflügel. Dort bewohnte Mrs. Delbridge eine eigene Zimmerflucht, dicht neben den Räumen der Hausherrin. Leise klopfte Vivian an die Tür, bis sie schlurfende Schritte hörte.

"Was ist denn los?", vernahm sie die verschlafene Stimme der Köchin.

"Ich muss mit Ihnen sprechen", antwortete Vivian. "Es ist dringend. Bitte, kann ich herein?"

"Also gut."

Die Tür wurde geöffnet, und sie trat ein. Mrs. Delbridge trug ebenfalls einen Morgenmantel. Ihre Haare waren zerzaust, doch ihre Augen blickten hellwach.

"Um was geht es denn?", erkundigte sie sich und gähnte.

Die Journalistin schluckte, dann begann sie zu erzählen, wie sie das Geräusch gehört hatte, auf den Balkon gegangen war und die unheimliche Gestalt gesehen hatte.

Mit ungläubigem Gesicht hörte Mrs. Delbridge ihr zu und schüttelte den Kopf, als Vivian geendet hatte.

"Das haben Sie bestimmt nur geträumt", vermutete sie skeptisch. "Was sollte ein Fremder auf der Insel zu suchen haben? Einbrecher mag es in London haufenweise geben, aber in einem Ort wie Gorlwingham, wo jeder jeden kennt, ist das anders." Noch einmal schüttelte sie entschieden den Kopf, aber in ihrer Stimme klang ein seltsamer Unterton mit, den Vivian nicht deuten konnte. "Sie haben sich etwas eingebildet, aber das ist ja auch gut verständlich. Sie sind eine Umgebung wie diese nicht gewöhnt. Da kann es schon passieren, dass man schlechte Träume bekommt."

"Aber ich habe nicht geträumt", protestierte Vivian. "Ich habe den Mann gesehen."

"Es war bestimmt nur ein vom Wind bewegter Busch. Wenn die Fantasie einmal entsprechend angeregt worden ist, kann man im Spiel der Zweige alles mögliche erkennen. Mir ist es in den ersten Nächten hier auch nicht anders ergangen, glauben Sie mir. Gehen Sie nur ruhig wieder ins Bett und schlafen Sie weiter."

Fassungslos starrte Vivian die Köchin an. Wütend hob sie die Hände und ließ sie dann wieder sinken.

Wie kam Mrs. Delbridge dazu, so bombenfest zu behaupten, dass alles nur eine Täuschung gewesen wäre, obwohl sie das doch allerhöchstens vermuten konnte, denn sie war ja nicht dabei gewesen? Jeder normale Mensch hätte zumindest genauere Fragen gestellt und wäre aufgeregt ans Fenster gegangen und hätte nachgesehen - auch wenn es in diesem speziellen Fall wohl nichts genutzt hätte.

Fast glaubte Vivian, sich jetzt tatsächlich in einem Alptraum zu befinden. Sie musterte die Köchin einige Sekunden lang scharf, doch Mrs. Delbridge wich ihrem Blick aus. Sie gähnte gekünstelt und verbarg dabei das Gesicht hinter ihrer Hand.

Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Die Situation war völlig absurd. Vivian konnte die mit jeder Sekunde wachsende Unsicherheit der Köchin deutlich spüren. Mrs. Delbridge hatte etwas zu verbergen, sie wusste mehr, als sie zugab. Die Journalistin überlegte, ob sie ihr das auf den Kopf zusagen sollte, ließ es dann aber doch sein. Sie würde auch auf anderem Wege noch herausfinden, was hier gespielt wurde.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

"Na ja, wahrscheinlich haben Sie recht", räumte sie wider besseres Wissen ein. "Die Umgebung ist fremd, und da kann man sich schon mal etwas einbilden. Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe."

Sie glaubte den Stein zu hören, der Mrs. Delbridge bei diesem Eingeständnis vom Herzen fiel. Die Köchin reagierte eindeutig erleichtert, als hätte sie eine schwere Hürde genommen, und das war der letzte Beweis für Vivian, dass sie mehr wusste und lediglich nicht darüber sprechen wollte. Hastig verabschiedete sich die Journalistin und kehrte auf ihr Zimmer zurück.

Sie trat wieder auf den Balkon hinaus. Doch so angestrengt sie auch schaute und lauschte, sie konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. An der Stelle, an der sie den Unbekannten vorhin gesehen hatte, befand sich tatsächlich ein mannshoher Busch, dessen Zweige von Wind bewegt wurden. Dennoch war Vivian sich sicher, den Mann in der Kutte wirklich gesehen zu haben.

Als sie sich nach einer Weile wieder ins Bett legte, lag sie erneut lange wach. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, doch es waren stets nur die ganz normalen Nachtgeräusche.

Vivian Jackson griff zu einem Buch, das sie mitgebracht hatte. Mehr als eine Stunde las sie darin, bis die Müdigkeit sie schließlich doch überwältigte.

6

In dieser Nacht kam es zu keinem weiteren Zwischenfall. Vivian schlief tief und traumlos, und als sie erwachte, war es bereits später Vormittag. Die Sonne schien warm und freundlich durchs Fenster herein und verdrängte die Schatten der Nacht. Vivian fühlte sich von neuem Tatendrang erfüllt. Sie konnte es kaum erwarten, etwas zu unternehmen. Das herrliche Wetter lud förmlich zum Spazierengehen und Sonnenbaden ein, und an der Westküste der Insel gab es eine kleine Bucht, in der man baden konnte. Zumindest hatte es diese Bucht damals gegeben.

Auf jeden Fall erschien es der jungen Frau wie ein Verbrechen, bei diesem Wetter noch mehr vom Tag zu verschlafen. Hastig verrichtete sie ihre Morgentoilette und ging ins Erdgeschoss hinunter. Sie fand Mrs. Delbridge in der Küche.

"Guten Morgen", grüßte die Köchin lächelnd. "Wenn Sie nicht von allein aufgestanden wären, hätte ich Sie in den nächsten Minuten geweckt, sonst haben Sie zum Mittagessen ja gar keinen Appetit." Sie zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge. "Nun, wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen oder noch mehr Kuttenträger gesehen?"

Im ersten Moment wollte Vivian erneut aufbrausen, aber dann sagte sie sich, dass es doch keinen Zweck hätte. Sie schluckte die bissige Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag, und erwiderte das Lächeln.

"Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe", entschuldigte sie sich noch einmal. "Ich habe wirklich gedacht, dass jemand im Garten umherschleichen würde."

"Macht ja nichts. Wie gesagt, mir ist es in der ersten Nacht auf Spencer-Hall auch nicht anders ergangen. Ich fühlte mich ständig von allen möglichen Monstern belauert, insofern haben Sie also noch Glück gehabt, dass es nur ein maskierter Mann war." Sie schluckte nervös. "Gehen Sie ruhig schon mal in den Speisesaal, ich bringe Ihnen sofort das Frühstück. Möchten Sie etwas Rührei mit gebratenem Speck?"

"Ja, gerne, aber nur wenig Speck." Vivian öffnete die Tür. Der Speisesaal war war leer, deshalb drehte sie sich noch einmal herum. "Wo ist Tante Mabel?", erkundigte sie sich.

"Mrs. Spencer liegt noch im Bett", erklärte die Köchin. "Ihr Besuch ist etwas anstrengend für sie gewesen, dadurch fühlt sie sich heute nicht besonders wohl."

"Hoffentlich ist es nichts Schlimmes? Ich werde sofort zu ihr hinaufgehen."

"Nein, tun Sie das nicht", bat Mrs. Delbridge. "Ihre Tante schläft noch. Sie braucht die Ruhe, um sich wieder völlig zu erholen, und hat mich gebeten, Ihnen das zu sagen. Sie wird nachher aufstehen, aber vorher möchte sie nicht gestört werden."

"Schade, aber wenn Tante Mabel es sagt, wird sie schon ihre Gründe haben", entgegnete Vivian. "Dann werde ich jetzt erst mal frühstücken und mir dann die Insel ansehen."

Ihr Platz im Speisesaal war bereits gedeckt. Auch Butter, eine Kaffeekanne, verschiedene Konfitüren und ein Korb mit frischen Brötchen stand auf dem Tisch. Vivian schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nippte an dem heißen Getränk. Kurz darauf brachte Mrs. Delbridge das Ei und stellte auch ein Glas Orangensaft vor ihr hin. "Dann wünsche ich einen guten Appetit."

Vivian bedankte sich. Mit wahrem Heißhunger machte sie sich über das Frühstück her. Es musste etwas daran sein, dass Seeluft hungrig machte. Nur die süßen Konfitüren rührte sie nicht an.

Anschließend schlenderte sie ein wenig durch den Garten. Sie ging in die Richtung, in der sie die unheimliche Gestalt in der Nacht gesehen hatte. Im hellen Sonnenlicht schwand ihre Erinnerung an die furchterregende nächtliche Entdeckung rasch. Sie war sich längst nicht mehr so sicher, ob alles wirklich so passiert war. Möglicherweise hatte Mrs. Delbridge doch recht.

Der Fremde war nur kurz zu sehen gewesen, und sie hatte sich noch im Halbschlaf befunden. Da konnte man sich wirklich leicht etwas einbilden.

Vivian hatte die ungefähre Stelle erreicht. Aufmerksam schaute sie sich um. Wenn hier wirklich jemand durch das Unterholz gebrochen war, würde er Spuren hinterlassen haben. Niedergetretenes Gras, geknickte Pflanzen oder abgebrochene Zweige mussten zurückgeblieben sein, und wenn er noch so vorsichtig gewesen war.

Jetzt erschien ihr die Angst der Nacht unverständlich, und sie ärgerte sich, dass sie nicht sofort herausgekommen war und nachgesehen hatte. Im Laufe der seither verstrichenen fast zwölf Stunden hatten sich Gras und Unkraut wieder aufgerichtet.

Dafür entdeckte sie einen kleinen Zweig, der in Hüfthöhe geknickt herabhing. Vivian betrachtete die Bruchstelle genauer. Sie war noch ziemlich frisch, sonst wären die Blättchen am Zweig bereits verdorrt.

Also doch!, dachte sie grimmig.

Sie richtete sich wieder auf. Vor Schreck stieß sie einen leisen Schrei aus.

Direkt vor ihr stand ein unbekannter Mann!

7

Auch der Fremde erschrak sich, wenn auch wohl weniger über ihren Anblick, als über ihre heftige Reaktion. Instinktiv trat er einen Schritt zurück und hob besänftigend die Hände.

"Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe", versicherte er mit einem freundlichen Lächeln.

Es konnte sich nur um George Craven handeln. Vivian erinnerte sich, dass er heute kommen wollte, um nach dem Garten zu sehen. Die übergestreiften Arbeitshandschuhe und zahlreiche grüne Flecken auf seiner Kleidung zeigten, dass er bereits mit der Arbeit begonnen hatte.

Der junge Mann hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht, das ein wenig weichlich wirkte, im Ganzen aber auf Intelligenz und große Sensibilität hinwies. Seine gelockten, dunklen Haare reichten bis über den Kragen des karierten Hemdes. Er trug es hochgekrempelt. Seine Arme waren von der Sonne gebräunt.

"Sie sind George Craven, nicht wahr?"

"Richtig. Nennen Sie mich ruhig George. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"

"Ich heiße Vivian Jackson. Meiner Tante gehört Spencer-Hall. Ich bin für ein paar Tage zu Besuch hier."

"Wenn Sie zwei Wochen später gekommen wären, sähe es hier schon ganz anders aus. Eigentlich ist es jammerschade um den schönen Garten, aber mir fehlt die Zeit, mich öfters darum zu kümmern. So kann ich nur das Allernotwendigste erledigen. Selbst ein ganzer Gärtnertrupp hätte hier wochenlang zu tun."

"Ich habe schon gehört, dass Sie Student sind."

"Ja, Kunstgeschichte und englische Literatur. Eine verrückte Mischung, finden Sie nicht auch?"

"Eigentlich nicht. Beides hat etwas mit künstlerischer, kreativer Arbeit zu tun."

George Craven seufzte. "Genau das versuche ich meinen Bekannten auch schon seit Ewigkeiten beizubringen. Die sagen aber immer nur, ich solle etwas Vernünftiges lernen. Mit solchen Studienfächern würde ich es nicht weit bringen."

"Das kommt darauf an, was man werden möchte. Für einen Museumsdirektor beispielsweise dürfte es die ideale Ausbildung sein."

"Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht kommen", entgegnete er lachend. "Da dachte ich schon eher daran, einmal eine Kunstgalerie zu eröffnen. Nur braucht man dafür eine Menge Geld, das ich leider nicht habe." Er deutete auf eine nicht weit entfernt stehende Bank. "Setzen wir uns doch für ein paar Minuten. Das kostet nicht mehr als Stehen."

Vivian brauchte nicht lange zu überlegen. Baden konnte sie auch später noch. Der junge Mann gefiel ihr auf Anhieb. Er hatte eine seltsame Art, offen und unbekümmert zu reden. Es gab nur wenige Menschen, die man überhaupt nicht kannte, und mit denen man doch auf Anhieb so gut ins Gespräch kam, als wäre man schon seit Jahren miteinander bekannt. George war einer dieser Menschen.

Er wischte die Bank mit den Handschuhen von Blättern, Erde und kleines Ästchen sauber, bevor er Vivian mit einer übertrieben höflichen Geste den Platz anbot.

"Was machen Sie denn so?", wollte er wissen. "Ich habe mich schon oft mit Ihrer Tante unterhalten, aber von Ihnen hat die alte Dame mir nie etwas erzählt. Leider, wie ich jetzt feststellen muss", fügte er nach sekundenlangem Zögern hinzu.

Vivian winkte ab.

"Sparen Sie sich diese routinemäßigen Komplimente lieber. Die habe ich schon ein paarmal zu oft gehört, als dass sie mir noch gefallen könnten."

George ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Sein freundliches Lächeln schien sich sogar noch um eine Spur zu vertiefen.

"Sie irren sich", versicherte er mit einem tadelnden Kopfschütteln. "Das war kein leeres Kompliment. Ich sage immer, was ich meine, und was ich sage, das meine ich auch. Wer mich besser kennt, der weiß das."

"Ich kenne Sie aber nicht", entgegnete Vivian spitz.

"Deshalb sage ich ja schade. Warum hatt Ihre Tante Sie denn nun die ganze Zeit über unterschlagen?"

"Ach, das ist eine lange Geschichte. Wir haben uns viele Jahre lang aus den Augen verloren und uns gegenseitig fast vergessen."

Wenn er jetzt noch fragt, warum das so gekommen ist, stehe ich auf und gehe ohne ein weiteres Wort ins Haus zurück, dachte Vivian. Neugier war etwas, das sie überhaupt nicht leiden konnte. Das hatte nichts mit Sympathie für ihren Gesprächspartner zu tun, sondern war eine Frage des Prinzips. Ihrer Meinung nach stellte George schon zu viele Fragen, wenngleich sie zugeben musste, dass er im Gegenzug auch genauso freimütig über sich selbst erzählte. Er veranstaltete kein Verhör, sondern seine Fragen entsprachen einfach seiner offenen Art. Was aber das Verhältnis zwischen ihr und Tante Mabel betraf, so ging ihn das überhaupt nichts an. Das betraf allein ihre Privatsphäre.

Diesmal jedoch bohrte er nicht weiter, sondern gab sich mit ihrer Antwort zufrieden. Taktvoll lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

"Sie wissen, dass ich Student bin, haben mir aber noch nicht verraten, was Sie beruflich machen", erinnerte er.

"Das ist kein Geheimnis. Ich arbeite bei einer Zeitung", berichtete sie.

"So richtig als Reporterin? Das klingt ziemlich aufregend."