In Hamburg ereignen sich vier Banküberfälle innerhalb von acht
Wochen, und alle tragen dieselbe Handschrift: Zwei Maskierte
stürmen kleine Bankfilialen, und mit der fetten Beute gelingt ihnen
in einem wartenden Wagen ungehindert die Flucht. Dabei ist es kein
Zufall, dass jedes Mal die beiden Polizisten Paul und Bertold
vergeblich die Verfolgung aufnehmen. Für die Aufklärung der
Überfälle werden die Kommissare Uwe Jörgensen und Roy Müller
vorübergehend der „Ermittlungsgruppe Banküberfall“ zugeteilt.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
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Alles rund um Belletristik!
1
Hamburg ist meine Stadt. Ich wuchs hier auf und habe hier mein
ganzes Leben verbracht. Die Stadt hat viele Vorzüge, aber auch
einige Probleme. Eines der Hauptprobleme ist die Kriminalität. Die
Polizei hat immer wieder damit zu kämpfen, organisierte
Kriminalität zu bekämpfen. Ein weiteres Problem ist der Hafen. Er
ist ein wichtiger Umschlagsplatz für Drogen. Immer wieder kommt es
zu Auseinandersetzungen und Gewalt.
Wir tun dagegen, was wir können.
Glauben Sie mir.
Aber das ist längst nicht so einfach, wie Sie vielleicht
denken.
Man kann sich die Welt nunmal nicht so machen, wie man sie
gaben will.
Man muss sie nehmen, wie sie ist.
Mit all ihren Fehlern.
Und das gilt insbesondere für die Menschen.
Es geht immer darum, das Beste aus allem zu machen.
Und da strengen meine Kollegen und ich uns schon ziemlich an,
auch wenn uns natürlich klar ist, dass wir die Welt nicht in einen
Ort verwandeln können, an dem das Gute regiert.
Das ist einfach nicht der Fall.
Vielleicht wäre das auch gar nicht erstrebenswert, wenn ich so
darüber nachdenke. Mein Name ist Uwe Jörgensen. Ich bin
Kriminalhauptkommissar und Teil einer in Hamburg angesiedelten
Sonderabteilung, die den etwas umständlichen Namen
‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’ trägt und sich
vor allem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und
Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Resourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller tue ich mein Bestes,
um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen.
“Man kann nicht immer gewinnen”, pflegt Kriminaldirektor Bock oft
zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat
er mit diesem Statement Recht.
“Was ist das Schlimmste, was du je in deinem Job erlebt hast,
hat mich mal eine Freundin gefragt, die dann auch nicht lange meine
Freundin war. Sie hatte schöne Brüste. In so fern bedauerlich, dass
es nicht länger gehalten hat. Aber ich sag immer: Charakter kommt
zuerst. Vor allem anderen.
“Wie meinst du das?”, fragte ich sie.
“Na, es gibt doch vielleicht Dinge in deinem Job, die man
einfach nicht vergessen kann. Bilder, die einem immer wieder im
Kopf herumspuken, auch wenn man das gar nicht will.”
“Ja, kommt vor”, sagte ich.
Ich hatte eigentlich nicht vor, über schwierige Themen zu
reden.
Ich hatte eigentlich nur vor, ihren Brüsten beim Wippen
zuzusehen und mal an etwas anderes zu denken als an Clan-Bosse,
irre Serienkiller oder fiese Drogenhändler, die sich gegenseitig
aus dem Weg räumen und ihre Kundschaft in ein Heer von abhängigen
Zombies verwandeln.
Aber sie wollte es einfach wissen.
Jetzt und hier.
Für die Stimmung war das nicht ganz so gut, wie Sie sich
vielleicht denken können.
An die Dinge, die sie ansprach, wollte ich im Moment
eigentlich gar nicht so erinnert werden.
Aber sie ließ nicht locker.
Eine Eigenschaft, die ich in anderer Hinsicht durchaus
schätze.
Aber nicht immer.
In diesem speziellen Moment zum Beispiel nicht.
“Also dann erzähl ich es dir.”
“Bitte.”
“Da war mal eine Frau, die festgenommen worden war. Wir hatten
damals noch ein Großraumbüro.”
“Okay.”
“Die Frau tickte aus.”
“Wie meinst du das?”
“Sie war offenbar auf Drogen.”
“Und dann tickt man einfach so aus?”
“Ja. Das kann passieren. Bei dieser Frau war es so. Außerdem
war sie nicht ordentlich durchsucht worden, was sich jetzt als
Fehler herausstellte.”
“Hm.”
“Sie stand plötzlich mit einer Spritze da und rief: Ich mach
euch alle Aids!”
“Oh…”
“Es herrschte Tumult im Großraumbüro. Die Frau wirbelte durch
den Raum und musste irgendwie gestoppt werden.”
“Und ich nehme an, dieser Eine, der sie stoppen konnte, warst
dann du.”
“So ist es.”
“Wie hast du es getan? Ich nehme an, bei so einer Irren ist
das nicht ganz einfach.”
“Sie war in meiner Nähe. Ich habe sie zu stoppen
versucht.”
“Wie?”
“Indem ich ihr sehr kräftig zwischen die Beine getreten
habe.”
“Oh.”
“Das hat sie tatsächlich auch gestoppt. Aber anders als ich
dachte."
“Wieso?”
“Was wir alle nicht wussten war folgendes: Sie hatte in ihrer
Vagina einen Revolver versteckt.”
“Sowas geht?”
“Du bist doch die Frau von uns beiden. Aber ja, das geht. Wo
ein Kind Platz hat, da passt auch ein kleinkalibriger Revolver
spielend rein. Das Problem war dasselbe wie mit der Spritze: Sie
war nicht gründlich genug durchsucht worden.”
“Verstehe.”
“Als ich der Frau zwischen die Beine trat, ging der Revolver
los. Er zerfetzte sie quasi von innen. Blut und was sonst noch
mitgerissen wurde, klebte an der Decke. Es regnete quasi Organreste
und es gab im ganzen Großraumbüro wohl niemanden, der nichts
abbekommen hätte. Jede Akte, jedes Stück Papier und jeder Kollege.
Weißt du, sowas vergisst man nicht.”
“Das kann ich mir vorstellen.”
“Nein”, sagte ich. “Das kannst du nicht. Das kann nur jemand,
der dabei war. Und der eigentliche Ärger begann erst danach.”
“Weil es dich traumatisiert hat?”
“Nein.”
“Weshalb dann?”
“Weil die irre Frau die Schwester eines libanesischen
Clan-Chefs war.”
“Aber…”
“Der wollte mich daraufhin umbringen.”
“Du konntest doch gar nichts dafür! Wie hättest du das mit der
Pistole wissen können?”
“Revolver. Nicht Pistole. Eine Pistole ist etwas grundsätzlich
anderes als ein Revolver.”
“Okay…”
“Es kommt noch besser: Eigentlich hätte der Clan-Chef seine
Schwester gerne selbst umgebracht.”
“Warum das?”
“Wegen der Ehre. Für ihn war sie eine Schlampe.”
“Eine Schlampe?”
“Um sich den strenge Regeln der Familie zu entziehen war die
Schwester des Clan-Chefs nämlich getürmt. Und weißt du
wohin?”
“Keine Ahnung?”
“Sie ging für einen Zuhälter der Russen-Mafia auf den Strich.
Aber den Russen-Zuhälter konnte der Libanese nicht töten, weil das
gleichzeitig sein wichtigster Drogenlieferant war.”
“Ein Dilemma.”
“Und was für eins. Aber ich habe ihm unfreiwillig
herausgeholfen. Er konnte jetzt die Familienehre wiederherstellen,
indem er mich tötete.”
“Aber das ist nicht passiert. Sonst wärst du nun nicht
hier.”
“Er hat es versucht und mir aufgelauert. Es ist ihm nicht gut
bekommen.”
“Du hast ihn verhaftet?”
“Ich habe ihn erschossen.”
Jetzt herrschte eine Weile Schweigen.
Heute wird das nichts mehr, dachte ich.
Heute nicht. Die Stimmung hatte sich irgendwie
verändert.
“Du hast einen ungemütlichen Beruf”, sagte sie dann
schließlich.
“Das kann man so sagen”, stimmte ich zu.
*
Die Ampel sprang auf Grün. Der cremefarbene Ford bog von der
Krieterstraße nach links in die Strauß-Straße ein.
"Sieh zu, dass du einen Parkplatz direkt an der Ecke
kriegst!", sagte der kleine, hagere Mann auf dem
Beifahrersitz.
Der Fahrer, ein untersetzter, dunkelhaariger Bursche von
höchstens zwanzig Jahren mit auffallend hochstehenden
Wangenknochen, nickte stumm. Er ließ den Wagen langsam auf den
Parkplatz zurollen. Aus dem Autoradio dröhnte laute Musik.
"Da fährt gerade einer raus, Pjotr." Der Mann auf dem Rücksitz
deutete auf einen grünen Toyota am Straßenrand, der nach links
blinkte und eben anfuhr. "Dass man in dieser mit Blech
vollgestopften Stadt mal einen Parkplatz erwischt ..."
"Ein gutes Omen, Andi." Der Mann auf dem Beifahrersitz sprach
mit hoher Fistelstimme. "Ein sehr gutes Omen." Mit seinen Gedanken
war er schon bei dem Eingang der Bank, die hier, an der Ecke
Strauß-Straße lag. Aufmerksam beobachtete er eine Frau, die eben
die Glastür öffnete.
">Ein gutes Omen<", der Mann auf dem Rücksitz schnaubte
verächtlich. Er griff in den Fußraum hinter den Fahrersitz und zog
einen großen Aktenkoffer aus schwarzem Leder zu sich herauf.
"Reiner Zufall." In aller Ruhe klappte er den Koffer auf und holte
die Einzelteile einer Maschinenpistole heraus. "Weiter
nichts."
"Es ist kein Zufall", meckerte der Kleine auf dem
Beifahrersitz. "Du bist ein ungläubiger Schweinehund, Andi!"
Andreas Hurst lachte trocken. "Und du bist ein bigotter
Spinner, Rickie." Er sprach langsam, fast schleppend. Nur noch ein
schütterer, rötlicher Haarkranz umrahmte die glänzende Platte über
seinem Vollmondgesicht. "Was hat dir denn deine Wahrsagerin diesmal
prophezeit?" Mit einem metallischen Schnappen rastete das Magazin
der Maschinenpistole ein.
"Sie hat mir heute Nacht die Geldkarte gelegt." Richard
‚Rickie‘ Raspoldi wandte sich an den jungen Fahrer. "Mach' den
Motor aus, Pjotr!"
Der schweigsame Mann drehte den Zündschlüssel um.
">Die Geldkarte<!" Andi warf den Kopf in den Nacken und
lachte dieses wiehernde, dreckige Lachen, das Rickie fast
regelmäßig auf die Palme brachte. "Warum zum Teufel zwingt mich der
Schakal mit so einem abergläubischen Spinner wie dir
zusammenzuarbeiten? He - verrat mir das!"
"Weil er weiß, dass du den Instinkt einer Dampfwalze und den
Verstand eines Suppenhuhnes hast." Rickie öffnete das Handschuhfach
und angelte ein dunkles Stoffknäuel heraus. "Ohne mich wärst du
doch Dauergast im Knast." Er dröselte das Knäuel auseinander und
reichte eine der beiden Strumpfmasken über seine linke Schulter
nach hinten.
"Und dass ich stattdessen drei Banken mit dir geknackt habe,
liegt natürlich nur daran, dass du jedes Mal vorher in der Kirche
eine Kerze angezündet hast." Seelenruhig überprüfte Andreas Hurst
die fertig zusammengesetzte Waffe und legte sie dann quer über
seine Oberschenkel.
"Nein", sagte Rickie und drehte sich zu seinem Partner um. "Es
liegt daran, dass ich immer zwei angezündet habe. Auch heute
Morgen. Eine für mich und eine für dich."
Andi verdrehte die Augen.
"Ach du Scheiße!" Er zog drei Leinensäcke aus der Tasche und
warf sie Rickie auf den Schoß. "Wie ich dich kenne, setzt du die
Kerzen dem Schakal auf die Spesenrechnung."
"Selbstverständlich", sagte Rickie mit todernstem
Gesicht.
"Hoffentlich hast du dir beim Kerzenanzünden nicht die Pfoten
verbrannt." Andi holte einen kurzstieligen Vorschlaghammer aus der
Tasche und reichte ihn zwischen den beiden Vordersitzen hindurch
nach vorn. "Du musst nämlich noch gewaltig zulangen heute."
Rickie nahm ihm den Hammer ab.
"Ich weiß, was ich heute zu tun habe." Er zog den
Reißverschluss seiner schwarzen Windjacke herunter und steckte das
Werkzeug unter die Jacke. "Kümmere dich lieber um deinen
Job!"
Das Gespräch verstummte. Rickie lehnte sich zurück und schloss
die Augen. Andi trommelte nervös mit den Fingern auf dem Magazin
der Maschinenpistole herum. Der Mann auf dem Fahrersitz - ein
russischer Emigrant namens Pjotr - beobachtete aufmerksam den
Rückspiegel. Die Minuten verstrichen.
"Lassen sich verdammt viel Zeit heute", murmelte Andi
ungeduldig. "Wird doch nichts dazwischen gekommen sein?"
"Dann hätten sie uns gewarnt", sagte Rickie, ohne die Augen zu
öffnen.
Wieder eine Zeit lang Schweigen. Nur Rickies gleichmäßige
Atemzüge und das Trommeln von Andis Fingern auf dem Metall der
Waffe waren zu hören.
"Sie kommen, Herr Raspoldi", sagte der Fahrer plötzlich. Er
sprach mit einem schwerfälligen, russischen Akzent. Seine Augen
hingen am Rückspiegel.
Rickie und Andi drehten sich fast gleichzeitig um. Ein
Streifenwagen näherte sich.
"Na endlich", knurrte Andi.
Der Streifenwagen drosselte die Geschwindigkeit und rollte
langsam heran. Als er auf gleicher Höhe mit ihrem Ford war, kroch
er nur noch im Schneckentempo. Rickie und Andi starrten die beiden
Polizisten in dem Wagen an.
Am Steuer saß ein breitschultriger Hüne mit Quadratschädel und
blondem Bürstenhaarschnitt. Der Beifahrer war kleiner - ein
drahtiger, schwarzhaariger Lockenkopf mit einer großen, scharf
geschnittenen Nase. Er bewegte lässig zwei Finger seiner an das
Seitenfenster gelehnten Hand. So, als wollte er Rickie und Andi
grüßen.
"Die Luft scheint rein zu sein", brummte Andi. Sie sahen dem
Streifenwagen hinterher, bis er kaum zwanzig Schritte vor ihnen
nach rechts in die nächste Straße abbog.
"Also - ran an den Speck!" Andi stieß die Tür auf.
Rickie bekreuzigte sich und stieg ebenfalls aus. Mit
schnellen, kleinen Schritten ging er seinem Partner hinterher. Der
schaukelte bei jedem Schritt und sah sich nervös nach allen Seiten
um.
Erst auf der Treppe vor dem Glasportal der Bank streiften sie
sich die Strumpfmasken über. Mit der Schulter drückte Andi die Tür
auf und holte die MP unter seiner Windjacke heraus. Wie auf
Kommando rannten sie los, stießen die innere Flügeltür auf stürmten
in die Bank.
"Überfall!", brüllte Andi und fuchtelte mit der
Maschinenpistole herum. "Pfoten hoch!" Sprachlos vor Entsetzen
rissen die Kunden im Schalterraum und die Bankangestellten hinter
dem Tresen und an der Kasse die Arme hoch.
Rickie stand schon am verglasten Kassenraum. Er holte den
Hammer aus seiner Jacke und holte zum Schlag aus. Krachend fuhr der
Zehnkilokopf des Hammers in die Glasscheibe. Die große, blonde Frau
hinter dem splitternden Spezialglas riss Augen und Mund auf, als
hätte der Schlag sie getroffen.
"Ich will niemanden sehen, der nach einem Alarmknopf greift!",
brüllte Andi. "Ich schieß' ihn ab! Ich schieß' ihn ab!"
Immer wieder führte Rickie wuchtige Hammerschläge gegen die
Trennscheibe. Erst beim siebten Schlag ging sie endgültig zu Bruch.
Die Kassiererin rutschte neben der Tür des kleinen Kassenraums an
der Holzwand entlang auf den Boden und presste die Hände vor den
Mund. Rickie warf ihr die Leinensäcke zu.
"Nur Scheine!", flüsterte er.
Doch die Frau war nicht fähig, sich zu rühren.
"Verflucht noch mal!", schrie Andi. "Einer von euch zu ihr!
Los!"
Ein kleiner dicker Mann, der mit erhobenen Händen hinter einem
Schreibtisch stand, lief zum Kassenraum und schloss die Tür auf. Er
ließ Andi dabei nicht aus den Augen. Auch nicht, als er sich nach
den Leinensäcken neben seiner Kollegin bückte. Hastig räumte er die
Kasse leer und versenkte Geldbündel um Geldbündel in den
Säcken.
Andi beobachtete ihn fasziniert. Eine Kopfbewegung Rickies
ließ ihn herumfahren. Hinter dem Tresen, ganz am Ende des
Schalterraums, hatte ein junger Mann eine Hand heruntergenommen und
griff unter die Oberfläche des Schranktisches. Ohne nachzudenken
zog Andi durch. Die Salve peitschte durch den Schalterraum, einige
Kunden zogen die Schultern hoch, eine Frau schrie laut auf und zwei
Männer warfen sich auf den Boden.
"Hände hoch, hab' ich gesagt!"
Der junge Bankangestellte knallte mit dem Oberkörper auf den
Tresen, rutschte langsam seitlich weg und verschwand dann hinter
dem Schalterschrank. Dumpf schlug sein Körper auf den Marmorfliesen
auf.
Rickie riss dem Mann an der Kasse die Leinensäcke aus der
Hand. Er gab seinem Partner einen Wink und rannte auf die Tür zu.
Andi ging ihm rückwärts hinterher. Erst als er die Außentür
erreichte, ließ er die Waffe sinken und spurtete hinter Rickie her
zum Wagen zurück.
2
"Gib ein bisschen Gas, Berti!" Polizeimeister Paul Würgels zog
eine zerknautschte Packung Marlboro aus der Brusttasche seines
blauen Uniformhemdes. "Eine Einbahnstraße zwischen uns und der Bank
könnte nicht schaden, wenn der Notruf kommt."
Sein Polizeikollege Bertold Handau nahm die nächste
Einbahnstraße in Richtung Norden. Kurz vor der Buddestraße parkte
er in der zweiten Reihe.
"Zünd' mir mal eine von deinen Kippen an, Paulie!" Handau warf
einen begehrlichen Blick auf die Zigarette seines Partners.
Der runzelte die Stirn.
"Schon wieder blank? Hey - sind noch fast zwei Wochen bis zum
Ersten!" Er fischte eine Marlboro aus seiner Brusttasche.
"Teures Wochenende", brummte Handau und schob sich die
Zigarette zwischen seine wulstigen Lippen.
"Verloren?"
Der große Blonde schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
"Sie haben den Jockey gekauft, jede Wette! Blizzard war in
Bestform! Ich hab den halben Tag damit verbracht, die Pferde zu
studieren!" Er wurde blass vor Wut. "In Bestform - glaub' mir! Und
in der letzten Runde lässt dieser Wichser von Jockey das
Prachtstück zurückfallen. Wenn ich ihn in die Finger krieg
..."
"Ist ja gut, ist ja gut, Berti", Würgels legte seinem Partner
die Hand auf den Arm. "Jedenfalls hast du auf Sieg gesetzt und
musst den Rest des Monats Haferflocken fressen, seh ich das
richtig?" Verlegen strich sich der andere über seinen blonden
Bürstenhaarschnitt. Würgels schüttelte den Kopf. "Du bist
unverbesserlich, Berti."
"Wann schiebt denn der Schakal die Kohle rüber?", wollte
Handau wissen. Würgels ahnte, was als Nächstes kommen würde. Er
ließ seinen Partner zappeln.
"Nach dem nächsten Wochenende. Noch lässt er es uns über
Raspoldi zukommen. Wir sollen am Montag in seine Bar kommen."
"Kannst du mir nicht bis bis dahin was leihen, Pauli?"
Würgels musterte den Blonden streng. Trotz seiner
achtunddreißig Jahre hatte Handau das Gesicht eines Schuljungen -
glatt und rosig. Aus seinen braunen, treuen Hundeaugen blinzelte er
den kleineren und vier Jahre jüngeren Partner an.
"Wenn du deine Finanzverwaltung nicht deiner Mutter überlassen
willst, dann solltest du mich dafür engagieren", seufzte Würgels
und holte seine Brieftasche heraus. "Du kannst so unschuldig gucken
wie mein Jüngster, wenn er Schokolade aus dem Küchenschrank geklaut
hat." Er kramte eine Hundert-Euronote aus der Brieftasche und
drückte sie seinem Partner in die Hand. "Kann dir einfach nichts
abschlagen."
"Wagen zwölf, kommen." plärrte das Funkgerät plötzlich. Ihr
Revier in der Wilhelmstraße funkte sie an.
"Zwölf hört." Würgels hatte sich das Mikro geschnappt. Handau
fuhr an.
"Standort?"
"Brennerstraße, Höhe Friedhof", log Würgels.
"Banküberfall in der City-Bank, Filiale in der Strauß-Straße.
Zwei Bewaffnete. Kommen, ob verstanden."
"Strauß-Straße, verstanden!" Handau hatte Blaulicht und Sirene
eingeschaltet und bog eben in die Wehrmannstraße ein.
"Wir schicken noch einen zweiten Wagen. Ende!"
Würgels knallte das Mikro in die Halterung.
"Scheiße!", zischte er. "Diesmal musst du dich beeilen, Berti!
Wir müssen vor den Kollegen da sein!"
Vier Minuten später stoppten sie vor dem Jugendstilhaus, in
dem die City-Bank ihre Filiale in Hamburg-Mitte untergebracht
hatte. Auf der Treppe des Eckeinganges fuchtelte ein glatzköpfiger,
dicklicher Mann mit beiden Armen. Er sah aus, als hätte man ihn
gerade nach allen Regeln der Kunst verprügelt.
"Sie sind Richtung B75 geflüchtet!", rief er. "In einem
cremefarbenen Ford! Gerade eben!"
Ein Ambulanzwagen kam die Straße heruntergefegt und bremste
scharf. Dahinter der angekündigte zweite Streifenwagen. Zwei
Polizisten sprangen heraus.
"Wir verfolgen sie", schrie Würgels seinen Kollegen zu und
hechtete zurück auf den Beifahrersitz. "Los, hinterher!"
Sie bretterten die Straße hinunter und sahen den Ford links
auf die B75 abbiegen.
"Verdammt! Was für ein Lahmarsch!", schimpfte Würgels.
"Der junge Russe hat keine Ahnung vom Autofahren", brummte
Handau verächtlich. "Wie kann man so einen hinter's Steuer setzen
..."
Etwa einen Kilometer weit jagten sie dem Ford auf der B75 in
nördliche Richtung hinterher. Sie sahen ihn zwar in die Rothäuser
Straße abbiegen, fuhren aber über die Kreuzung hinweg. Erst nach
hundert Metern bremste Handau scharf und wendete.
Der Ford stand vor einem der zahlreichen Blumenläden in der
Straße. Handau hielt wenige Meter hinter ihm.
"Zwölf an Revier zehn, kommen!", bellte Würgels ins
Mikro.
"Revier zehn hört, kommen."
"Wir haben das mutmaßliche Tatfahrzeug gefunden."
Würgels gab Standort und Kennzeichen durch. Mit gezogenen
Dienstwaffen näherten sie sich dem Ford. Würgels deutete mit dem
Kopf auf einen großen Kühlwagen für Blumen, der in der Hofeinfahrt
eines Blumengeschäftes etwa zwanzig Schritte hinter dem Ford stand.
Handau nickte. Zwei Minuten später funkte Würgels wieder das Revier
an.
"Schicken Sie Verstärkung - die Insassen des Fords sind
spurlos verschwunden. Müssen sich hier irgendwo versteckt
haben."
In dem Augenblick fuhr der Blumentruck an. Handau hielt ihn
auf und ließ sich vom Fahrer die Papiere zeigen. Er überflog sie
kurz und reichte sie wieder durch das offene Seitenfenster des
Lieferwagens. Der bog in die Jeffestraße ein und verschwand
Richtung Norden.
3
Die Frau lag auf einer Trage. Sie war groß und blond und
zitterte so heftig, dass das Aluminiumgestell der Trage klappernd
auf die Marmorfliesen schlug. Ich ging neben ihr in die Hocke und
sah fragend den Arzt an, der ihr gerade eine Kanüle in die Armbeuge
schob.
"Schock", sagte er leise. "Diabetischer Schock. Sie ist
zuckerkrank." Ein Teppich kleiner Schweißperlen bedeckte das
Gesicht der Frau. "Stress kann so etwas ganz schnell auslösen. Vor
allem kurz vor dem Mittagessen." Der Arzt nahm eine Spritze
entgegen, die einer der Sanitäter ihm anreichte. >Glucose<
las ich auf der Ampulle in der Hand des Sanitäters. Der Arzt
drückte die Flüssigkeit in die Vene und schloss dann eine Infusion
an. "In fünf bis zehn Minuten können Sie mit ihr sprechen, schätze
ich."
Es war der vierte Bankraub innerhalb von acht Wochen. Und alle
trugen dieselbe Handschrift: Zwei maskierte Kerle stürmen eine
kleine Bankfiliale in Hamburg-Mitte oder Hafen-City, einer hält
Kunden und Belegschaft mit einer Maschinenpistole in Schach, der
andere zertrümmert die Glasverkleidung vor dem Kassenschalter mit
einem Vorschlaghammer und lässt sich weiße Leinensäcke mit Scheinen
füllen.
Seit dem zweiten Überfall ermittelten Roy und ich in dem Fall.
Oder genauer: Die >Ermittlungsgruppe Banküberfall< - eine
Sondereinheit für Banküberfälle, die wir vom Präsidium gemeinsam
mit der Hamburger Polizei unterhielten. Die Einheit hatte in den
letzten Wochen eine Menge Ausfälle zu verkraften gehabt. Deswegen
waren Roy und ich vorübergehend zu dieser Einheit abkommandiert
worden.
Roy stand mit einigen Sanitätern, zwei Leuten der
Gerichtsmedizin und Georg Suhlbach hinter dem Schaltertresen im
Geschäftsraum. Suhlbach gehörte zur Sondereinheit. Er war
mittelgroß, ständig unrasiert, und trug fast ausschließlich helle
Anzüge, bordeauxrote Krawatten und Cowboystiefel.
Dem schwarzen Gewucher nach, das seinen Schädel bedeckte,
stand er morgens fünf Minuten vor dem Spiegel, um sich die Haare so
lange zu raufen, bis von einer Frisur nichts mehr übrig war. Der
Siebendreißigjährige sah eher aus, wie der chronisch
unausgeschlafene Manager eines Fußballclubs als wie ein Polizist.
Aber er war ein Polizist. Und was für einer.
Ich ging hinter den Tresen. Einer der Männer von der
Gerichtsmedizin zog eben den Reißverschluss eines Leichensackes
hoch. Betreten starrten wir auf den Plastiksack. Der Mann darin war
höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Heute Morgen hatte er
vielleicht noch mit seiner Freundin über Urlaubspläne gesprochen.
Vor einer Stunde hatte er möglicherweise noch an seiner Karriere
gebastelt. Und vor zwanzig Minuten hatte er als einziger den Mut
aufgebracht - oder den Leichtsinn besessen - den Alarmknopf zu
drücken. Jetzt war er tot.
"Es ist das erste Mal, dass sie geschossen haben", sagte Roy,
"müssen ziemlich nervös gewesen sein."
"Vielleicht auch nur kaltblütig bis in die Haarspitzen." Georg
Suhlbach steckte die Hände in die Hosentaschen. "Bei den anderen
Überfällen hatten sie einfach keinen Grund zu schießen."
"Polizeiobermeister Suhlbach muss es mal wieder besser
wissen", knurrte Roy, "Klugscheißer!" Suhlbach grinste nur.
Irgendwie gerieten die beiden sich ständig in die Wolle. Ich hatte
noch nicht herausgefunden, wie ernst ich das nehmen musste.
Wir sprachen mit dem Filialleiter, einem kleinen glatzköpfigen
Schreibtischmalocher. Er schien völlig erschlagen zu sein. Er war
der Letzte, der mit dem jungen Mann gesprochen hatte, den unsere
Kollegen jetzt in den Leichenwagen schoben.
Wir ließen ihm ein wenig Zeit, seinen Kummer auszusprechen. Er
war fassungslos und konnte sich kaum beruhigen.
"Wie viel Geld lag in der Kasse?", wollte Roy schließlich
wissen.
"Etwa sechzigtausend Euro", sagte der Mann kleinlaut. "Die
ganzen Wochenendeinnahmen wurden uns heute Vormittag gebracht." Er
hob beide Arme, als wollte er sich entschuldigen. "Die Hotels und
Restaurants, die bei uns Kunden sind - das >Panorama Hotel<
liegt praktisch um die Ecke, dann der Nachtclub und die große
Pizzeria auf der anderen Seite der Straße, und in der
Wilhelmsburger-Halle gab's am Samstag einen Boxkampf." Die Stimme
des Mannes bekam eine weinerliche Nuance. "Der Veranstalter ist
Kunde bei uns - er allein hat fast zwanzigtausend
eingezahlt!"
"Ist das Geld registriert?", wollte Georg Suhlbach
wissen.
Der Filialleiter schüttelte traurig den Kopf.
"Nur die zehntausend Euro, die ich heute Morgen aus dem Tresor
geholt habe. Die waren noch fein säuberlich gebündelt."
Wir notierten alles Wissenswerte und verhörten die Kunden und
Angestellten noch an Ort und Stelle. Auch mit den beiden
Polizisten, die das Tatfahrzeug verfolgt und gefunden hatten,
sprachen wir.
Nach zwei Stunden wussten wir nur, was sowieso schon
feststand. Wir hatten es exakt mit denselben Tätern zu tun wie bei
den anderen Banküberfällen. Diesmal würden wir unserer kargen
Spurensammlung allerdings ein trauriges Beweismittel hinzufügen
können: einige Kugeln aus der Maschinenpistole der Täter.
Vor der Bankfiliale dann Presse und Fernsehen. Eine
schwarzhaarige Frau Ende zwanzig streckte uns ein Mikrophon
entgegen. Frederike Parker - sie berichtete schon seit dem zweiten
Überfall dieser Art über unsere Ermittlungen. In irgendeinem
Hamburger Nachrichtensender. Wir schätzten ihre Arbeit alle drei.
Vor allem wegen der aufregend kurzen und engen Kostüme, die sie
trug.
"Was können Sie unseren Zuschauern über den brutalen Überfall
sagen?" Sie richtete die Frage an Roy. Überhaupt wandte sie sich
meistens an Roy. Eine Tatsache, die Suhlbach mit einem gewissen
Missmut zur Kenntnis nahm. Jedenfalls hatte ich den Eindruck.
Ich huschte an der Frau vorbei die Treppe hinunter.
Fernsehauftritte lagen mir noch nie. Im Vorübergehen schnappte ich
eine Nase voll Parfümduft auf. Tief sog ich die Luft ein. Wie immer
roch Frederike verlockend.
Auch Suhlbach erwies sich mal wieder als medienscheu und
verdrückte sich. Frederikes Kameramann hielt also auf Roy, und der
tat seine Pflicht und erzählte das, was er erzählen konnte.
Nachdem der Kameramann sein Gerät in den Van des
Fernsehsenders verfrachtet und Frederike ihr Mikro abgeschaltet
hatte, plauderte sie noch ein wenig mit meinen beiden Kollegen.
"Wie wäre es, wenn wir an einem der nächsten Abende mal
zusammen essen gehen", strahlte Georg die Lady an.
"Sehr gerne", strahlte sie zurück, "Sie werden doch sicher
mitgehen, Roy, oder?"
Eine halbe Stunde später saßen wir im Präsidium im Büro
unseres Chefs. Ein massiger, großer Mann mit rotem Gesicht,
Tränensäcken und Doppelkinn wartete schon in der Konferenzecke.
Etwa fünfzig Jahre alt und in zerknittertem, dunkelgrünem Anzug.
Äußerlich in jeder Hinsicht so ziemlich das Gegenteil von unserem
Chef.
Er hieß Norbert Rüther und war Polizeihauptmeister der
Hamburger Polizei. Als leitender Beamte der >Ermittlungsgruppe
Banküberfall< war er für die Ermittlungen verantwortlich.
Zusammen mit unserem Chef, versteht sich.
Wir lieferten unseren Bericht ab.
"Auffällig scheinen mir vor allem drei Tatsachen", sagte Roy.
"Erstens: Der kleine Gangster mit dem Vorschlaghammer spricht nie
ein Wort, während der andere herumbrüllt wie ein wild gewordener
Schwarzbär."
"Du meinst, er ist Ausländer?", unterbrach ich ihn.
Roy zuckte mit den Schultern.
"Oder er hat einen Sprachfehler."
"Oder seine Stimme ist den Bankangestellten bekannt", meinte
Suhlbach.
"Schwer vorzustellen, dass die Mitarbeiter verschiedener
Bankhäuser zufällig ein und denselben Mann kennen", überlegte
Jonathan Bock laut.
"Wenn es ein hoher Beamter von der Finanzbehörde ist, warum
nicht?" Roy grinste. "Aber Spaß beiseite - ich tippe auch mehr auf
den Ausländer. Zweitens: Bei jedem Überfall ist
überdurchschnittlich viel Geld in der Kasse. Dieses Mal vor allem
durch die Boxveranstaltung in der Wilhelmsburger Halle. Die
Burschen müssen also über eine gute Informationsquelle verfügen.
Wir sollten die Kunden noch einmal sorgfältig durchsehen, die an
den entsprechenden Tagen ihr Geld zur Bank getragen haben. Und
drittens - das Fluchtfahrzeug ist jedes Mal in Altona gestohlen
worden."
"Und die Täter jedes Mal in der Gegend der Rothäuser Straße
verschwunden", ergänzte Norbert Rüther. Er rieb sich über seinen
ansehnlichen Bauch.
Ich hatte während der Wochen, die wir mit ihm
zusammenarbeiteten, beobachtet, dass er das immer dann tat, wenn er
angestrengt nachdachte.
"Irgendwelche Informationen von unseren V-Leuten?", fragte
Jonathan Bock in die Runde.
"Die sind merkwürdig schweigsam in letzter Zeit." Roy rieb
sich nachdenklich sein Kinn. "Einer allerdings gab einen Hinweis
auf Altona. Dort sei vor einigen Wochen ein junger Russe
aufgetaucht, der weiter nichts tut, als ab und zu mal einen Wagen
zu stehlen. Mehr konnte mir unser Informant nicht sagen."
"Dann sollten wir uns zur Abwechslung mal wieder in Altona
umschauen", schlug ich vor.
"Aber ohne Dienstausweis", brummte Rüther. "Wäre ein Job für
dich, Georg, was meinst du?"
3
"Ich möchte Herrn Buchmann persönlich sprechen." Der Mann
legte seine teure Ledermappe auf den Tisch des Kundenberaters und
nahm unaufgefordert Platz.
"Haben Sie denn einen Termin, Herr ...?" Der knapp
dreißigjährige Bankangestellte bemühte sich um einen verbindlichen
Ton. Er hatte den Mann in dem dunkelblauen Anzug noch nie in der
Bank gesehen. Sein kantiges Gesicht hatte etwas Raubvogelartiges,
die angegrauten Haare waren mit Pomade nach hinten gekämmt.
Altersmäßig siedelte er ihn irgendwo zwischen achtunddreißig und
fünfundvierzig an.
Der Mann schob ihm seine Visitenkarte über den Tisch.
"Herr Peter Romano", las der Bankangestellte murmelnd. "Das
Modehaus R&S in Harburg?"
"Richtig, junger Mann. Meines Wissens müsste Herr Buchmann
heute im Hause sein", sagte Peter Romano gelangweilt. "Bitte melden
Sie mich an." Er schlug die Beine übereinander und sah sich in der
weiträumigen Schalterhalle um.
Die einzelnen Beratungsplätze waren durch schwere spanische
Wände abgeteilt. Den wartenden Kunden standen Sitzecken mit Sesseln
aus dunkelrotem Leder zur Verfügung. Sie waren durch riesige
Yuccapalmen von den eigentlichen Geschäftsräumen und voneinander
getrennt. Teilweise berührten die Pflanzen die Gewölbedecke. An den
holzgetäfelten Wänden hingen Ölgemälde italienischer Barockmaler,
und ein dicker, anthrazitfarbener Teppichboden verschluckte die
Schritte.
Man kam sich ein wenig vor wie in einer zweckentfremdeten
Kirche. Romano grinste, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging.
Gar nicht so verkehrt, dachte er, schließlich dreht sich hier
alles um die Vermehrung und Verehrung der wichtigsten Sache der
Welt.
Statt einem Altar stand ein runder Kassenschalter in der Mitte
der Halle. Hinter Panzerglasscheiben bediente ein halbes Dutzend
Kassierer die Kundschaft. Beim Hereinkommen hatte Romano gesehen,
dass mitten in dem pavillonartigen Aufbau eine Wendeltreppe nach
unten führte. In den Tresorraum nahm er an.
Der Kundenberater ihm gegenüber telefonierte inzwischen mit
seinem Chef, dem Direktor der Hamburger Filiale der Postbank.
"Ist in Ordnung, Herr Buchmann ... selbstverständlich, Herr
Buchmann ... sofort, Herr Buchmann."
Romano musterte den devoten Mann am Telefon verächtlich. Der
deutete sogar kleine Verbeugung an, während er mit seinem Chef
sprach.
Wie unangenehm, unten zu stehen, dachte er.
Niemals wollte er so etwas erleben. Er vertrat die erste
Generation der Romanos, die ganz oben stand.
Aber er konnte sich gut an seine Kindheit erinnern. An die
kleine Schneiderwerkstatt seines Großvaters. Mühsam hatte er sich
seinen Betrieb nach der Einwanderung aus Sizilien aufgebaut, hatte
sich vor Behörden und Kunden verbeugen müssen, um sich den Weg nach
oben zu bahnen.
Franklin Romanos Vater dann, Anthony Romano, war aus anderem
Holz gewesen. Er hatte sich vor niemandem verbeugt. Auch nicht vor
dem Gesetz. Mit harter Hand hatte er sich sein Vermögen erarbeitet
- und mit harten Mitteln. Freilich hatte er die Hälfte seiner
Jugend dafür im Gefängnis verbracht.
"Darf ich Sie zu Herrn Buchmann bringen?" Der junge Schnösel
hatte aufgelegt und war noch höflicher als zuvor.
"Ich bitte darum", sagte Romano und folgte ihm.
Sie verließen die Schalterhalle durch eine schwere Doppeltür
mit handgeschnitztem Türblatt und gelangten in eine kleine
Zimmerflucht, an deren Ende sich eine Tür öffnete. Eine ältere Dame
erschien im Türrahmen.
"Herr Romano?" Der Kundenberater nickte und verabschiedete
sich übertrieben freundlich. Romano fand ihn widerwärtig. Die Frau,
Buchmanns Sekretärin, ging ihm voraus durch das Vorzimmer und
öffnete den rechten Flügel einer ledergepolsterten Tür.
"Herr Buchmann erwartet Sie."
"Sie sind also Herr Romano", freundlich lächelnd kam Buchmann
hinter seinem schweren Jugendstilschreibtisch und streckte Romano
die Hand entgegen. "Endlich lerne ich den Geschäftsführer des
exzellenten Herrenausstatters persönlich kennen. Wenn ich gewusst
hätte, dass Sie heute kommen, hätte ich einen Anzug angezogen, den
ich bei Ihnen gekauft habe." Buchmann lachte, als hätte er etwas
besonders Witziges gesagt.
Romano war verblüfft über die Offenheit, mit der Buchmann ihn
begrüßte. Ein gutmütiger Mann, so schien es - aber Romano kannte
gutmütig wirkende Männer, die Kehlen durchschnitten und Löcher in
Schädel schossen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Deswegen hielt
er sich mit einem endgültigen Urteil noch zurück.
"Nehmen Sie Platz, Herr Romano! Was kann ich für Sie
tun?"
Mit einem Blick taxierte Romano die schwammige Gestalt
Buchmanns. Er war weder klein noch groß, weder dick noch dünn,
hatte aber etwas Weiches, Rundes an Körper und Gesicht.
Vermutlich lag das daran, dass der Bankdirektor seit dreißig
Jahren vor allem hinter seinem Schreibtisch lebte. Dass Buchmann
ein Workaholic war, hatte Romano mehr als einmal gehört. Von
irgendwelchen Geschäftspartnern, auf irgendwelchen Gesellschaften
des Hamburger Geldadels.
"Ich möchte mit Ihnen ins Geschäft kommen, Herr
Buchmann."
"Oh - das klingt zunächst einmal nicht schlecht", lächelte
Buchmann. "Trinken Sie etwas?" Romano nahm ein Glas Soda. "Was für
eine Art von Geschäft?"
"Nichts Besonderes. Ich möchte einige meiner Geschäfte in
Zukunft über Ihr Haus abwickeln, und ich möchte einen Teil meines
Vermögens bei Ihnen anlegen. Einen nicht unbeträchtlichen
Teil."
Buchmann lehnte sich in seinen ledernen Drehsessel zurück und
bot Romano eine Zigarre an. Der lehnte ab, und Buchmann zündete
sich allein eine an.
"Das ist gar kein Problem, Herr Romano. Das ist sogar sehr
erfreulich für mich. Aber gestatten Sie mir die indiskrete Frage -
sind Sie mit Ihrer Bank nicht mehr zufrieden?"
"Nun, es ist so ...." Romano faltete die Hände und legte sie
auf den Schreibtisch seines Gegenübers. "Ich arbeite bisher mit der
Hamburger Sparkasse und der Commerz-Bank zusammen. Und beide
Institute haben sehr viel Geld in den Tigerländern investiert, wie
Sie vielleicht wissen. Und sehr viel Geld dort verloren. Die
Anlagezinsen sind drastisch gesunken in den letzten Wochen."
"Verstehe." Buchmann paffte an seiner Zigarre, und Romano
hatte das Gefühl, dass der Mann sich geschmeichelt fühlte. Langsam
gewann er ein Bild von seinem Opfer.
"Dann sollten wir uns verabreden, um die Einzelheiten
durchzusprechen, Herr Romano."
"Zu diesem Zweck würde ich sie gern zum Essen einladen."
Romano lächelte charmant. Das war der entscheidende Augenblick
seines Besuches. Er bemerkte, wie ein Anflug von Verwirrung über
das Gesicht seines Gegenübers huschte: Die Lippen öffneten sich
leicht, und die Brauen zuckten in der Mitte kaum merklich nach
unten.
In dieser Phase des Gesprächs ließ Romano seine Augen keinen
Moment vom Gesicht des anderen.
"Ich dachte an das >Chez Pierre<", sagte er, als hätte
Buchmann schon zugestimmt. "Oder mögen Sie es lieber amerikanisch?
Dann würde ich >The Four Seasons< empfehlen."
Buchmann zögerte einen Moment.
"Wissen Sie, Herr Romano", er lächelte verlegen. "Eigentlich
gehe ich sehr selten aus, ich habe einen exzellenten chinesischen
Koch angestellt und ..."
"Ich weiß - Sie haben den Ruf, eher zurückgezogen zu leben,
mein Bester - und doppelt so viel zu arbeiten wie der deutsche
Durchschnitt. Und doppelt so gut." Romano ließ das Kompliment einen
Moment wirken. Dem Gesicht seines Gegenübers sah er an, dass er
sich gebauchpinselt fühlte. Sofort setzte Romano nach. "Aber wissen
Sie - in meiner alten Heimat wurden wichtige Geschäfte immer bei
einem guten Essen und einem edlen Wein abgeschlossen. Das habe ich
von meinem Großvater und meinem Vater gelernt. Bitte tun Sie mir
den Gefallen!"
Zehn Minuten später verließ Romano das Gebäude der Bank, das
in der Stresowstraße direkt an der Elbbrücke lag. Er war zufrieden.
Sehr zufrieden - am Donnerstag nächster Woche würden er und der
Bankdirektor in >Chez Pierre< in der Tunnelstraße miteinander
speisen. Und noch ein dritter Gast, von dem Buchmann nichts
ahnte.
Der erste Schritt eines langen Weges war getan. Eines Weges,
der - wenn alles nach Romanos Vorstellungen lief - direkt in
Buchmanns Tresorraum führen sollte.
4
>Rickie's< stand in roten, geschwungen Leuchtbuchstaben
über der Tür. Die rote S-Klasse bog in die Hofeinfahrt neben der
kleinen Nachtbar in der Hopfenstraße ein. Bertold Handau und Paul
Würgels zogen es auch heute vor, ohne Uniformen und spät abends in
Raspoldis Kneipe aufzutauchen. Durch die Hintertür, vorbei an den
Toiletten, betraten die beiden die Bar. Wie meistens ging Würgels
voran. Nicht nur auf Streife spielte er die Rolle des
Teamleaders.
Rauchschwaden schwebten in schummrigem Licht. Klänge eines
Pianos und eines Saxophons verschränkten sich zu einem schläfrigen
Rhythmus. An der Bar drängten sich Männer auf eng zusammengerückten
Hockern. Sie alle hatten sich von der Theke abgewandt und stierten
gebannt auf ein kleines Podest neben dem Klavier.
Dort bog eine blonde Frau ihren nur noch mit schwarzem Slip
bekleideten Körper schlangengleich zum Rhythmus der Musik. Mit
beiden Händen presste sie ihre großen Brüste zusammen, und
präsentierte sie den gierigen Zuschauern.
Handau blieb wie angewurzelt stehen. Sein Mund wurde trocken,
und er verschlang den prallen Busen der Frau mit den Augen. Sie
führte die Fingerspitzen an ihren großen, feucht glänzenden Mund
und leckte sie mit ihrer Zunge ab. Langsam ließ sie ihre Hände nach
unten tanzen. Über Hals, Brustwarzen und Bauch bis zum Rand ihres
Höschens.
Handau schluckte und hielt seinen Partner an dessen Lederjacke
fest.
"Mensch Paulie, schau dir diese Titten an", flüsterte
er.
Würgels grinste.
"Du guckst wie ein Junge vor dem Bescherungstisch." Er
versuchte ihn mit sich zu ziehen. Doch Handau war nicht von der
Stelle zu bewegen.
Würgels verdrehte die Augen und ging allein zur Bar. Er stand
nicht auf diesen Frauentyp. Außerdem war er mit einer Frau
verheiratet, deren Körper sein Blut auch nach neunjähriger Ehe noch
in Wallung brachte.
Während das Saxophon nur noch heiser krächzte, und das Piano
ganz verstummt war, fuhr sich die Nackttänzerin mit beiden Händen
in ihr Höschen. Die Männer an der Bar fingen an zu johlen. Einige
klatschten anfeuernden Beifall.
Die Frau drehte sich mit dem Rücken zu ihrem Publikum. Das
Saxophon spielte einen lang gezogenen Ton, der sich allmählich die
Tonleiter hinaufschraubte und anschwoll. Sie bog ihren Körper nach
hinten. So weit nach hinten, dass ihr langes Blondhaar den Boden
berührte. Ihre Brüste wogten über ihren Schlüsselbeinen. Plötzlich
setzte das Klavier wieder ein. Die Tänzerin riss ihren Oberkörper
nach oben, ihre blonde Mähne peitschte durch die Rauchschwaden.
Dann wirbelte sie herum und riss sich den Slip vom Leib.
Das Publikum grölte laut, und Handau stand immer noch da
ähnlich wie die Statue von Störtebeker am Störtebeker Ufer. Die
Frau drehte sich auf dem Podest und zeigte was sie hatte. Das
überwiegend männliche Publikum applaudierte wild. Diejenigen, die
am Podest saßen, streckten gierig die Hände aus. Die Tänzerin
entzog sich den Griffen, deutete eine Verbeugung an und verschwand
hinter einem blauen Vorhang.
"Hier, Berti." Würgels war mit zwei Gläsern Bier zu seinem
Partner zurückgekehrt. "Halt dich daran fest! Das wird dich ein
bisschen abkühlen." Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Handau ihm
zu folgen. "Raspoldi sitzt im Hinterzimmer."
Durch eine Tür neben der Theke gelangten sie in einen schmalen
Flur, von dem aus Türen in vier Räume führten. Würgels öffnete
gleich die erste Tür links.
Vier Männer saßen um einen runden Tisch und hielten Karten in
ihren Händen. Unter der tief abgehängten Lampe waberten die
Rauchschwaden noch dichter als in der Bar. Und unter den
Rauchschwaden stapelten sich Münzen neben Euronoten und umgedrehten
Karten. Es roch nach Schnaps und schwarzem Tabak.
"Hi, Paulie", strahlte Rickie Raspoldi, als er die beiden
Polizisten erkannte. Andre Hurst sah nur kurz auf. "Kommt, setzt
euch - bin gleich so weit."
Würgels und Handau lehnten sich mit ihren Biergläsern an die
Wand und beobachteten die Pokerspieler. Sie kannten nur Raspoldi
und Hurst. Dass die anderen beiden ihr Geld nicht unbedingt in der
Stadtverwaltung oder bei der Post verdienten, lag nahe. Aber
Würgels und Handau hatten sich angewöhnt, nicht so genau
hinzuschauen, wenn sie sich in diesen Kreisen bewegten. Und nicht
zu viele Fragen zu stellen.
Die Runde ging an Raspoldi.
"Hey - ihr habt mir Glück gebracht!", rief er und versenkte
seine Euros in der Hosentasche. Er griff sich sein Jackett von der
Stuhllehne und verließ das Zimmer. Würgels und Handau folgten ihm
durch die gegenüberliegende Tür. Ein kleiner Schreibtisch und zwei
altmodische Aktenschränke aus Blech standen an den Wänden des
winzigen Raumes. Und ein paar Stühle.
Rickie Raspoldi nahm einen Stapel Aktenordner aus einem der
Schränke. Ein Wandsafe wurde sichtbar. Er öffnete ihn und nahm
einen prall gefüllten Briefumschlag heraus.
"Fünf Prozent für euch", sagte er, "zählt nach!"
Würgels holte das Geldbündel heraus und zählte die
Hundert-Euronoten. "Dreitausendzweihundert", sagte er nach einigen
Sekunden. "Vierundsechzigtausend Euro habt ihr also gemacht."
Raspoldi nickte.
"Sucht euch 'n ander'n Fahrer!", maulte Handau, während er
seine Fünfzehnhundert in der Innentasche verstaute. "Der Russe
versaut euch den nächsten Coup, verlass dich drauf!"
"Dann fahr eben nicht so schnell, Berti", sagte Raspoldi, der
gegen den blonden Hünen geradezu zwergenhaft wirkte. "Der Schakal,
in seiner Großzügigkeit, schiebt euch fünf Prozent rüber",
wechselte er übergangslos das Thema. "Andi und ich kriegen vierzig.
Den Rest verschlingt er."
Würgels lachte.
"Fast wie bei uns - wir machen die Arbeit und unser Chef sitzt
sich für das doppelte Gehalt den Arsch platt."
"Ich biete euch zehn Prozent." Wieder ging Raspoldi nicht auf
die Bemerkung des anderen ein.
"Wie - >zehn Prozent<?" Würgels‘ Augen wurden schmal.
Handau' Augen weiteten sich gierig.
"Ich dreh das nächste Ding auf eigene Faust und teil nur mit
Andi. Und ihr kriegt zehn Prozent. Was ist daran so schwer zu
kapieren?"
"Kein Problem", tönte Handau, "klar machen wir mit."
Würgels legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen
zu bringen.
Raspoldi merkte es nicht, und sein faltiges Gesicht entspannte
sich etwas.
"Hab doch gewusst, dass ihr eine fruchtbare Geschäftsbeziehung
nicht einfach so aufgebt ..."
"Moment", unterbrach Würgels. "Ich muss mir die Sache noch
einmal durch den Kopf gehen lassen."
Raspoldi ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken.
"Tu das, Paulie! Aber denk dran: Wir sind schon längst ein
Gespann. Du kannst dich nicht so ohne weiteres herausziehen. Und
findest du nicht, dass unsere Zusammenarbeit unter einem guten
Stern steht?"
Würgels musterte ihn mit einem Gesicht, dass weder Misstrauen
noch Wohlwollen zeigte. Wie gemeißelt wirkte er plötzlich. Handau
kannte seinen Partner. Bei dieser Miene war es das Beste keine
Fragen zu stellen und zu tun, was Paulie sagte.
"Ich ruf' dich morgen an, Rickie."
"Und jetzt bekommt ihr euer Trinkgeld." Wieder der abrupte
Themenwechsel. Raspoldi ging den beiden Polizisten voran in die
Bar. "Bestellt euch noch was!" Er wies auf die wenigen Frauen, die
an der Theke saßen. "Sucht euch eine aus!"
Würgels reagierte nicht. Er lehnte sich lässig an den Tresen
und bestellte einen Whisky.
"Ich will die Tänzerin", sagte Handau ohne lange
nachzudenken.
Raspoldi breitete bedauernd die Arme aus.
"Das geht leider nicht, Berti. Sie arbeitet nicht für mich.
Sie gehört dem Schakal."
"Ich will sie." Der große Blonde knallte sein Bierglas auf den
Tresen und durchquerte mit Riesenschritten die Bar. Auf dem
Tanzpodest verschwand er hinter dem blauen Vorhang. Er klopfte an
eine der Garderobentüren. Erst hinter der zweiten fand er die
Tänzerin. Sie saß in ein Badetuch gewickelt vor einem ovalen
Spiegel und schminkte sich ab. Ihre blonden Haare steckten unter
einer Duschhaube.
"Ich bin ein Freund von Raspoldi ..." Handau mühte sich
redlich, seine Geilheit hinter einer krampfhaften Freundlichkeit zu
verbergen. "… und ein Freund des Schakals."
Die Frau drehte sich um und runzelte unwillig die Stirn. Sie
hatte eine hohe Stirn.
"Komm zur Sache, Bursche - was willst du?" Ihre grünen Augen
und ihr schmallippiger, großer Mund mit der trotzig vorgewölbten
Unterlippe verrieten eine eigensinnige Frau.
Doch für solche Feinheiten hatte Handau keine Antennen.
"Ich will dich, Schätzchen - was sonst?" Mit zwei Schritten
war er bei ihr und schob seine riesige Pranke zwischen ihre
Brüste.
Sie stieß die Hand von sich und sprang auf.
"Verpiss dich, Bursche! Ist mit scheißegal, wer hier wessen
Freund ist! Ich such mir die Leute ganz allein aus, denen ich den
Arsch hinhalte, kapiert?!"
Er glotzte sie ungläubig an. Dann riss er sie an seinen
breiten Brustkorb, presste sie an sich und versuchte seinen Mund
auf ihre Lippen zu pressen. Im nächsten Moment brüllte er auf, ließ
die Frau los und klappte zusammen. Sie hatte ihm ihr Knie zwischen
die Beine gerammt.
"Hilfe!", schrie sie an der offenen Tür. "Hilfe!"
Würgels stand plötzlich im dunklen Gang. Sie drängte sich an
ihm vorbei und suchte hinter ihm Schutz.
Handau wankte aus der Garderobe. Er stöhnte. Mehr vor Wut, als
vor Schmerz.
"Verfluchtes Miststück! Ich werd' dich ..." Er erkannte seinen
Partner und verstummte.
Der ging drohend auf ihn zu. Würgels‘ dunkle Augen sprühten
vor Zorn. So nahe trat er an seinen Partner heran, dass dessen Atem
ihm von oben heiß über die Stirn wehte. Er sah zu ihm hinauf. So
lange bis Handau den Blick senkte.
"Du kannst so dämlich sein, Berti!", zischte er.
"Verzeihen Sie." Würgels wandte sich zu der Frau um. "Es wird
nicht wieder vorkommen. Ich entschuldige mich für meinen Freund und
garantiere Ihnen, dass er sich in Zukunft benehmen wird."
Sie funkelte Handau böse an und verschwand wortlos in ihrer
Garderobe.
"Die Frau arbeitet eng mit dem Schakal zusammen, du blöder
Hund!", schimpfte Würgels, als sie ein paar Minuten später wieder
in Bertis S-Klasse saßen. "Sandy Kollar heißt sie, 'ne ziemlich
große Nummer. Kostet mehr als zweitausend die Nacht. Also vergiss
sie." Er guckte Handau giftig an. "Kapiert?" Der andere brummte
irgendetwas Zustimmendes. "Und jetzt gibst du mir dein Handy."
Würgels griff in die Außentasche des Jacketts seines Partners und
angelte das Mobiltelefon heraus.
"Rufst du den Schakal an?" Würgels nickte und tippte die
Nummer ein.
Eine Männerstimme meldete sich.
"Ihr Mitarbeiter Herr Raspoldi will sich selbstständig machen,
Herr Romano. Er hat uns zehn Prozent geboten." Schweigen am anderen
Ende.
Dann: "Was halten Sie davon, Paulie?"
"Wir stehen auf Ihrer Gehaltsliste, Herr Raspoldi", sagte
Würgels ungerührt, "und wir stehen auf der Gehaltsliste der
Hamburger Polizei. Ich denke, das reicht." Er bemerkte den
enttäuschten Blick seines Partners neben sich am Steuer.
"Ich habe keine andere Antwort von Ihnen erwartet,
Paul."
"Ich bin noch nicht fertig." Würgels bedeutete Handau mit
einem Blick auf den Tacho, die Geschwindigkeit zu drosseln. Er
gehorchte. "Irgendwann wird Raspoldi uns erpressen. Und spätestens
dann ist er auch ein Unsicherheitsfaktor für Sie."
"Ich verstehe, Paul. Erledigen Sie das für mich!"
Gleich darauf rief Würgels in Raspoldis Kneipe an.
"Okay, Rickie - ich hab mir's überlegt. Wir steigen bei dir
ein. Für zehn Prozent. Sag rechtzeitig Bescheid, wann die Sache
starten soll!"
5
Wir hatten uns in einer Wohnung in der Gerhardstraße
einquartiert. Gegenüber der verkommenen Pension, in der Georg
Suhlbach seit gut einer Woche hauste.
>Wohnung< war natürlich Schönfärberei. Die Tapete hing
stellenweise herunter, und vor allem in den Ecken der beiden
winzigen Räume dehnten sich braune Flecken auf ihr aus. Der Teppich
schien aus den vierziger Jahren zu stammen und war von zahllosen
Brandlöchern übersät. Der Mann, der hier wohnte - ein Kleindealer,
den unsere Zentrale mit einer >Informant - vertraulich<
Nummer führte - schien seine Zigaretten und Joints grundsätzlich
auf dem Teppich auszutreten.
Statt einem Bett lag ein halbes Dutzend speckiger Matratzen in
einer Ecke, und die Sessel waren mit alten Armeedecken zugedeckt,
damit man ihren zerfledderten Bezug nicht sah. Kurz: Ein ziemlich
dreckiges Rattenloch.
Unser Informant hatte uns die Bude vorübergehend überlassen.
Und wir hatten ihn vorübergehend auf eine Entziehungskur geschickt.
Auf Staatskosten.
Natürlich standen jetzt ein paar Dinge in dem erbärmlichen
Loch, die sonst nichts hier zu suchen hatten: Ein leistungsfähiger
PC, ein Telefon, und eine hochsensibles Funkgerät mit dem wir
ständig den Minisender im Gürtel unseres Undercover-Mann anpeilen
konnten. Und im Notfall konnte er auch Funkkontakt mit uns
aufnehmen.
Im Augenblick saß er mit Roy und mir in unserem armseligen
Beobachtungsposten und lieferte seinen täglichen Bericht ab.
"Er heißt Pjotr Kajurin."
Suhlbach holte nacheinander zwei Waffen aus den Taschen seiner
abgewetzten Lederjacke. Ja - er trug seit einer Woche keine hellen
Anzüge mehr. Nicht mal Krawatten. Unter der Lederjacke hatte er ein
ehemals weißes T-Shirt an, und die Jeans schien er sich aus einem
Second-Hand-Shop geholt zu haben. Nur seine roten Stiefel - auf die
hatte er nicht verzichten können.
"Du siehst gar nicht schlecht aus so glatt rasiert", sagte
ich.
"Und der Stachelkopf wird dir vermutlich die Frauenherzen
dutzendweise sturmreif pieksen", Roy grinste schadenfroh.
Tatsächlich sah Suhlbach ziemlich verhunzt aus mit seiner neuen
Frisur.
Er ging nicht auf Roys Stichelei ein, sondern legte die Waffen
auf den Tisch. Eine Smith-&-Wesson - und eine 44er Magnum.
"Die hatte er nicht mal nehmen wollen, als ich ihm erklärte,
dass sie damit in Kenia auf Elefantenjagd gehen", grinste Georg.
"Er wollte ums Verrecken den ,Arminius‘ spezial."
"Mit deutschen Waffen haben die Russen so ihre Erfahrung", Roy
nahm die beiden Faustfeuerwaffen mit einem Tuch auf und ließ sie in
einen Plastikbeutel fallen. Der Russe hatte beide gründlich
begrapscht. Und an der Fahrertür des Fords hatte unser Labor
Fingerabdrücke sichergestellt, die nicht dem bestohlenen Besitzer
gehörten. Ziemlich deutliche Fingerabdrücke.
"Er arbeitet in einer Pizzeria in der Heinestraße. Nicht älter
als zweiundzwanzig, der Bursche." Georg rückte seinen Sessel an den
Tisch und zog den Becher zu sich hinüber, den ich ihm eben mit
Kaffee gefüllt hatte.
"Ist seit anderthalb Jahren in Hamburg. Dafür spricht er ganz
gut Deutsch. Bisschen einsam, der Bursche. War nicht schwer, mit
ihm Kontakt zu kriegen. Heute Abend gehen wir was trinken. In einer
Bar in der Hopfenstraße - >Rickie's< heißt die Kneipe."
"Okay", ich nickte zufrieden. "Vielmehr kann man nach einer
Woche nicht erwarten. Halt die Ohren steif, Georg!" Ich stand auf
und nahm ein kleines Holzkästchen vom Funkgerät. "Hier sind die
Wanzen. Die Abhörerlaubnis hat fast fünf Tage auf sich warten
lassen."
Unser V-Mann, der den Hinweis auf den Russen gegeben hatte,
war von der Staatsanwaltschaft Hamburg dem zuständigen Richter als
Zeuge präsentiert worden. Und unser Chef hatte eine eidesstattliche
Erklärung abliefern müssen, dass der Russe uns mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu den Drahtziehern der Banküberfälle von
Hamburg-Mitte führen würde.
Das war etwas gewagt gewesen. Aber auf andere Weise rückten
die Bürokraten in den Gerichten keine Abhörerlaubnis heraus.
"Die kleineren sind die Harmonikakäfer."
>Harmonikakäfer< sind Hochleistungsmikros, die in
Telefonen versteckt werden. Man aktiviert sie, indem man die
betreffende Nummer anwählt und dabei einen bestimmten Ton auf einer
Mundharmonika spielt. Dann deaktivieren diese Wanzen das
Klingelzeichen und nehmen Gespräche in dem Raum auf, in dem das
Telefon steht.
"Geh vorsichtig damit um, Kollege", grinste Roy, "du weißt,
dass unsere Richter da keinen Spaß verstehen."
"Klar, Herr Kommissar!" Georg versenkte das Kästchen mit den
elektronischen Kostbarkeiten in seiner Lederjacke. "Wer ist heute
hier?"
"Bis um sechs wir beide", sagte ich, „dann lösen uns Tobias
und Ludger ab."
"Und wir gehen mit einer Dame essen, die du auch gut kennst",
wieder grinste Roy schadenfroh.
George runzelte die Stirn. "Frederike?" Roy nickte. "Na, dann
viel Erfolg, Kommissar Müller." Wortlos verließ er die Wohnung.
Durchs Fenster sahen wir ihn die Straße überqueren und in der
Erichstraße verschwinden.
"Er wird sich an dir rächen, Partner", sagte ich zu Roy.
"Glaub mir - Burschen wie Georg sind immer für eine Überraschung
gut."
"Der eitle Pfau ist vorläufig abgemeldet."