30 Liter Wein - Susanne Schweigert - E-Book

30 Liter Wein E-Book

Susanne Schweigert

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Beschreibung

Im Sommer 2021 reisen Susanne und ihr Partner Gwill fünf Monate lang durch Georgien, um herauszufinden, ob dieses kleine Land am Schwarzen Meer so viel herzliche Gastfreundschaft, guten Wein, köstliches Essen und hohe Berge zu bieten hat, wie sie gehört hatten. Zu Fuß erkunden die beiden die Bergwelten des Kleinen und Großen Kaukasus, baden in eiskalten Gletscherflüssen, tauchen ein in die georgische Kultur, leben bei Einheimischen, die sie aufnehmen wie ihre eigene Familie, arbeiten auf einer Teeplantage, helfen bei der Weinernte und trinken hausgemachten Wein in kleinen Gasthäusern im wilden Kaukasus. Die Einwohner Georgiens beeindrucken sie immer wieder mit ihrer Lebensfreude, ihrer Lust zu teilen und ihnen das Beste von ihrem Land zukommen zu lassen.

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Inhalt

V

ORWORT

This is Georgia. Das ist eben Georgien.

C

HEMNITZ

T

BILISI

In der Hitze der Stadt

L

AGODEKHI

Ungeplante Rast im Urwald

Auf dem Weg nach Kazbegi – Zwischenspiel in Tbilisi

I

M

G

ROSSEN

K

AUKASUS

Begegnungen in Kazbegi (Stepantsminda)

Swanetien, Mestia

Swanetien, Ushguli

Zurück in Mestia

Eine Wanderung in guter Gesellschaft

Exkurs: Der Film ›Dede‹

Bergbesteigung: Guli Pass

I

M

K

LEINEN

K

AUKASUS

(B

ORJOMI

)

S

IGHNAGHI

Hilton Hovel – Hilton Hütte

Z

URÜCK IN

L

AGODEKHI

Lucky in Lagodekhi – Glück haben in Lagodekhi

G

URIEN

Auf dem Weg ans Schwarze Meer

Am Schwarzen Meer

Mtirala Nationalpark

A

DSCHARIEN

The bright lights of Batumi – Die hellen Lichter von Batumi

›Komli‹

Leben in Gemeinschaft in Tsitelmta

Z

URÜCK IN

G

URIEN

Z

URÜCK IN

T

BILISI

Von West nach Ost:

Relikte der Sowjetunion

Fastentage in der Hauptstadt

Nach dem Fasten

E

PILOG

L

ITERATUREMPFEHLUNGEN

Die ersten Zeilen des Buches kommen auf Papier in der Hängematte in Ingas Garten

VORWORT

This is Georgia. Das ist eben Georgien.

Entspannt liege ich in der Hängematte des großen Gartens unseres Gästehauses in den Bergen von Swanetien, einer Region im Nordwesten Georgiens, als auf einmal eine große schwarz-weiß gescheckte Kuh auf mich zukommt. Wir sehen uns verwundert an. Ihre dreißig Zentimeter langen Hörner verunsichern mich kurz, doch dann sehe ich ihr prall gefülltes Euter und begreife, dass sie eine Milchkuh ist. Die Grundstücke in ganz Georgien sind umzäunt, damit die oft frei herumlaufenden Kühe, Schweine, Pferde sowie streunende Hunde nicht in die Gärten der Einwohner gelangen. Doch dieser Fall ist anders. Inga, unsere Gastmutter, gibt mir zu verstehen, dass diese Kuh auf Einladung hier ist. Sie ist sozusagen der kostenlose Rasenmäher für die zwei Frauen, die das Gästehaus führen. Ich schmunzle in mich hinein. Georgien überrascht mich immer wieder.

Auch von mir selbst bin ich überrascht. Aber genau das ist es, was das Reisen für mich ausmacht: Sowohl die Welt als auch sich selbst mit anderen Augen zu sehen.

Ich habe an diesem Morgen – fast zwei Monate nach Beginn unserer Reise – begonnen, dieses Buch zu schreiben. Und ich liebe das Schreiben. Davon gesprochen habe ich nun schon lang; davon, dass ich ein Buch schreiben möchte. Uber Georgien, unsere Zeit hier, über die Schönheit dieses Landes, die Wildheit und Unberührtheit des Kaukasus, aber vor allem über die Begegnungen mit den Menschen. Menschen, die ich sofort in mein Herz geschlossen habe und ich habe den Eindruck, sie mich auch. Ich fühle mich, als wäre ich angekommen. Die Herzen der Georgier sind weit offen, und sie lassen mich mitten hinein.

Doch getraut habe ich mich lange Zeit nicht. Selbstzweifel überkamen mich bei dem Gedanken, ein Buch zu schreiben. Kann ich das überhaupt? Ich bin Tischlerin, habe vor meiner Tischlerlehre ein Magisterstudium in Anglistik, Amerikanistik, Politikwissenschaft und Psychologie abgeschlossen. Viel geschrieben habe ich im Studium zwar auch, doch genossen hatte ich es nie. Als Tischlerin sehe ich jeden Tag die Resultate meiner Arbeit, das befriedigt mich mehr, als es das Schreiben im Studium je getan hatte. Doch nun keimt der Wunsch in mir, die Dinge, die meine Augen sehen, zu Papier zu bringen.

Mein ganzes Leben schon habe ich viel gelesen. Ich liebe das Lesen, die Art und Weise, wie Bücher und Geschichten mich in andere Welten und Länder entführen können. Besonders Reiseliteratur hatte es mir in den vergangenen Jahren angetan. Jedes Buch, das ich über jene Länder, in die ich reiste, in die Finger bekam, verschlang ich. Mein E-Book-Reader wurde mir zum teuersten Reisebegleiter.

Und so beschließe ich, es einfach zu versuchen. Schließlich habe ich Zeit. Und Muse. Also, was kann schon schiefgehen? Selbst wenn niemals jemand dieses Buch lesen würde, dann wäre es zumindest für mich ein wunderschönes Reisememoir.

An diesem leicht bewölkten Spätsommertag im September fange ich an. Und merke, dass mir das Schreiben ganz leicht von der Hand geht. Viel leichter, als ich es jemals vermutet hätte. Vor allem hilft mir ein Rat, den ich bei Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb gelesen habe: Wenn er begann, sich beim Schreiben zu langweilen, dann war es an der Zeit, das Thema zu wechseln oder das Geschriebene anders zu formulieren. Oder aber einfach etwas anderes zu tun und zu warten, bis die Muse ihn wieder küsste.

In diesem Sinne hoffe ich, dass euch diese kleine Erzählung angenehm unterhalten wird und das Lesen euch genauso viel Vergnügen bereitet, wie mir das Schreiben.

Noch ein paar Worte zur Überschrift dieses Kapitels: Wann immer etwas Unerwartetes passierte, wenn wir zum Beispiel von einer Gruppe von Georgiern eingeladen wurden, oft zu selbstgemachtem Wein oder selbstgebranntem Chacha, dem starkem georgischen Schnaps, – und wir eigentlich ganz andere Pläne gehabt hatten – dann sagte jemand: »This is Georgia. Das ist eben Georgien.« Und dann war das einfach so.

CHEMNITZ

Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Es ist ein sonniger, heißer Tag Mitte Juli im Jahr 2021. Erst vor einer Woche bin ich von einem zehntägigen Vipassana Schweigeseminar zurückgekehrt, und heute werde ich ins Flugzeug steigen und nach Georgiens Hauptstadt Tbilisi fliegen. Die vergangene Woche war voller ausgefüllter Tage, die mich zurück ins pralle Leben katapultiert hatten, nachdem ich zuvor für zehn Tage geschwiegen, meditiert und sechzehn Stunden täglich gefastet hatte. Mein Kopf ist frei wie lange nicht mehr. Ich habe einiges losgelassen, was mich schon lange beschäftigt hatte. Mein Körper fühlt sich kraftvoll und gut an, und ich bin bereit für einen aufregenden Sommer. Mit allen Sinnen will ich ihn genießen, möchte eintauchen in die georgische Kultur, das Land erforschen, die Menschen und die berühmte georgische Gastfreundschaft kennenlernen. Möchte in Gletscherflüssen baden gehen und in kleinen Gasthäusern im wilden Kaukasus hausgemachte Weine trinken.

Am meisten freue ich mich darauf, nach sieben Monaten meinen Freund Gwill wiederzusehen. Er ist Engländer und war Ende des Jahres 2020 von Chemnitz nach Südengland zurückgekehrt, um die Weihnachtszeit mit seiner Familie zu verbringen. Wie es das Schicksal wollte, war damals nur vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft aufgrund der Corona-Pandemie ein totaler Lockdown im Vereinigten Königreich verhängt und die Grenzen geschlossen worden. Zur gleichen Zeit hatten meine Familie und ich uns mit dem Virus infiziert, und ich brauchte zehn Wochen, um mich von seinen Folgen zu erholen. Eine Reise nach Südengland kam also für mich nicht in Frage, und so harrten wir der Dinge, die da kamen und beschlossen, unsere Vorfreude auf gemeinsame Abenteuer mit Telefonaten und Reisedokus zu versüßen.

Aber zurück ins Hier und Jetzt. Mein auf eigenen Wunsch befristeter Arbeitsvertrag als Tischlerin bei einer Türen- und Fensterbaufirma endete Anfang Juli. Das passte zeitlich hervorragend mit dem Beginn des Schweigeseminars zusammen. Mit einem freien Kopf und genügend Geld in der Tasche bin ich nun bereit zum Aufbruch.

Trotz der heißen Tagestemperaturen in diesem Sommer, ist die Morgenluft kühl und ich bin voller Tatendrang, als meine Mom und ihr Mann mich um fünf Uhr in der Früh zum Bahnhof fahren. Eine letzte Umarmung, ein letztes Winken und ich steige – auf einmal ganz ruhig – in den Zug nach Elsterwerda. Dort werde ich nach Berlin umsteigen, Gwill treffen und dann gemeinsam mit ihm nach Tbilisi fliegen.

Ich habe alles gepackt, bin sicher, nichts vergessen zu haben, und auf einmal realisiere ich, dass ich wahnsinnig hungrig bin. Ich habe kein Essen dabei. Normalerweise brauche ich nicht viel, wenn ich unterwegs bin, aber an diesem frühen Morgen knurrt mein Magen und beschwert sich, dass ich nicht an ihn gedacht habe. Ich muss schmunzeln. Aha, an alles habe ich gedacht, zumindest für die Zeit in Georgien, aber nicht an die kurzfristigen Wünsche meines Körpers. Nun gut, vielleicht hat Elsterwerda ja noch den legendären Bahnhofskiosk, in dem schon meine Mom in jungen Jahren bei der Durchreise ihren Hunger gestillt hatte. Und siehe da: Der Kiosk existiert noch, ist sogar neu hergerichtet und die Bedienung serviert mir mit Freuden eine Bockwurst mit viel Ketchup zum Frühstück. Ich lache in mich hinein, denn Bockwurst zum Frühstück ist sonst gar nicht meine Art. Das ist doch ein vielversprechender Anfang einer langen Reise.

TBILISI

In der Hitze der Stadt

Es ist ein brennend heißer Juli in der großen Stadt am Fuße des Hausberges Mtatsminda. Ich wusste, dass es heiß werden würde, aber so heiß! Ja doch, genauso brütend heiß hatte ich es mir vorgestellt. Nachts lassen wir die Klimaanlage in unserem kleinen Apartment laufen, weil es sonst unerträglich wäre. Mein ganzes Leben lang habe ich Klimaanlagen gehasst, fand sie sinnlos und viel zu kalt eingestellt. In Tbilisi danke ich dem Universum für diese geniale Erfindung.

Die Stadt ist aufgeheizt, der Asphalt brennt, und trotz der vielen schattenspendenden Bäume ist es schwül und unangenehm. Tagsüber verlassen wir die klimatisierte Unterkunft nur, wenn wir Lebensmittel brauchen. Meistens warten wir jedoch bis in die Abendstunden, um durch unser malerisches Stadtviertel zu schlendern. Doch die Abkühlung bringt wenig Erleichterung. Auch wenn die Temperatur von fünfunddreißig auf achtundzwanzig Grad fällt, fühlt es sich noch zu warm an.

Wir erkunden die Restaurants von Tbilisi, schlemmen uns durch georgische Köstlichkeiten und freuen uns wie kleine Kinder, dass wir wieder beieinander sind.

In der ersten Woche lassen wir alles auf uns wirken, sind zu träge von der Hitze, um Pläne zu machen. In der zweiten Woche finde ich ein Buch mit dem beeindruckenden Titel: »Lerne das georgische Alphabet in fünf Tagen.« Diese Herausforderung nehmen wir gern an. Nach fünf Tagen können wir mehr oder weniger jeden Buchstaben aussprechen, und diese faszinierenden Kringel, die aussehen wie Eistüten, Krabben oder Gespenster, machen endlich einen Sinn für uns. Wir können Wörter entziffern wie ›Limonati‹ für Limonade und ›Tskali< für Wasser.

Im englischsprachigen Buchladen von Peter Nasmyth auf der Rustaveli Avenue finden wir einige hervorragende Reise- und Wanderführer. Ich verschlinge sie fortan in der Kühle unseres Apartments, während Gwill die Gelegenheit nutzt, um ausgedehnte Nickerchen zu machen. Nach zehn Tagen beschließen wir, die Stadt zu verlassen und erst wiederzukommen, wenn es kühler ist.

LAGODEKHI

Ungeplante Rast im Urwald

Der Nationalpark Lagodekhi mit dem gleichnamigen Städtchen liegt nur drei Stunden östlich von Tbilisi, nahe der aserbaidschanischen Grenze. Er besteht aus alten Wäldern, durchzogen von Flüssen und Wasserfällen, fast wie im Urwald. Ich hatte von einer Reiseschriftstellerin gelesen, dass sie den Urwald im Dschungel des Amazonas in Brasilien erfolglos gesucht, sie ihn aber in Lagodekhi gefunden hatte. Aus diesem Grund wollten wir hierher.

Zu spät stellen wir fest, dass es an diesem Ort nur wenige Grad kühler ist als in der Hauptstadt. Doch hier genießen wir die hohen Temperaturen, denn wir können in den Flüssen baden und uns so wunderbar abkühlen.

Nach einer Woche in Lagodekhi schaffen wir es ›Ein Brot, bitte« auf Georgisch zu sagen, und entlocken der Bäckersfrau damit das erste Lächeln. Sie ist nicht einfach, diese Sprache. Sie bereitet uns viel Kopfzerbrechen, aber noch viel mehr Freude. Die einzelnen Worte mit den verschiedenen Lauten auszusprechen ist eine große Herausforderung. Viele Laute werden hinten im Hals gerollt und halb geröchelt. Wir haben viel Spaß dabei, von der bezaubernden Maka, der Tochter unserer Gastmutter, immer wieder in der georgischen Sprache unterrichtet zu werden. Wir lernen erst cine Handvoll Worte, dann noch eine, und mittlerweile besteht unser Vokabular hauptsächlich aus Ortsnamen und natürlich den Begriffen für die Köstlichkeiten der georgischen Küche. Diese können wir alle hervorragend aussprechen, besonders unsere Lieblingsgerichte wie Khinkali. Dabei handelt es sich um Teigtaschen, die mit Hackfleisch, Kartoffeln, Pilzen oder Käse gefüllt sind. Überhaupt ist Käse überall in Georgien zu finden. Alles ist mit hausgemachtem Käse gefüllt oder überzogen. Wir sind kulinarisch in unserem Element. Jeden Abend bekocht uns Maka aufs Köstlichste und bald schon muss ich abwinken, wenn sie uns schon am Nachmittag selbstgebackenen Kuchen hinstellt. Meine Wanderhosen werden langsam eng.

Und dann gibt es da noch einen unerwarteten roten Faden, der sich durch unsere Zeit in Lagodekhi zieht: Am ersten Tag gehen wir zur Rangerhütte am Eingang des Nationalparks, um uns Informationen über die Wanderwege einzuholen. Wir wollen auch herausfinden, ob wir im Park zelten dürfen. An der Hütte lernen wir einen Ranger kennen, der uns immer wieder begegnen wird. Sein Name ist Zaza, aber zu meiner Erheiterung tauft Gwill ihn sofort auf Zabedi um. Zaza spricht Englisch, gibt uns sämtliche Informationen über den Nationalpark, alle Wanderwege, die Wettervorhersage und so weiter und so fort. Er spricht ununterbrochen, und seine Sätze haben weder Anfang noch Ende – und irgendwie auch keine Mitte. Eine Unterhaltung mit ihm sieht in etwa so aus:

»Zaza, ist es möglich im Nationalpark wild zu zelten?«

»Nein, es ist strengstens verboten zu zelten ... Auf keinen Fall dürft ihr dort zelten ... Es gibt einen Zeltplatz hier an der Rangerhütte ... Und warum nicht zelten im Park? Weil da viele alte Bäume sind, die jederzeit umstürzen können ... Und der Wind kann hier so stark werden ... unglaublich stark ... es ist gefährlich ... und es ist steil überall... zu steil zum Zelten ... Also hier auf diesem Wanderweg ...«, er zeigt auf die Karte, »... hier ist es schön flach, und hier ist es auch schön eben ... hier kann man zelten ... aber nein, man darf nicht zelten im Nationalpark ... es ist zu gefährlich.«

Puh, mir wird schon beim Zuhören angst. Doch mehr deshalb, weil ich Mühe habe, seinem zügigen Tempo auf Englisch zu folgen, das einen starken Akzent hat, und weniger davor, dass ich mir um herabfallende Aste Gedanken gemacht hätte. In Zazas Welt ist alles möglich, aber auch unmöglich zur selben Zeit.

Als wir am nächsten Tag auf dem Zeltplatz am Eingang des Parks unser Zelt aufschlagen, weist uns Zaza wiederholt darauf hin, dass wir keinesfalls unsere Sachen im Zelt lassen sollen, während wir wandern gehen. Wir finden das sehr ungewöhnlich, da wir noch nie erlebt hatten, dass jemand an unseren alten Schlafsäcken oder schmutzigen Socken Interesse gezeigt hätte. Offensichtlich hatte mal vor Jahren jemand an einem Zelt rumgeschnüffelt, und der besorgte Ranger ist davon geprägt. Er fühlt sich für alles, was sich im Nationalpark abspielt, persönlich verantwortlich und kommandiert die anderen Ranger, die kein Englisch sprechen, herum. Er ist – kurz gesagt – ein sehr merkwürdiger Typ, und es ist eine Herausforderung, eine klare Aussage von ihm zu bekommen.

»Können wir morgen die Wanderung zum kleinen Wasserfall machen?«, fragen wir ihn am nächsten Tag.

»Ja, also diese Wanderung ist nicht so schwierig, also größtenteils, sie ist als leicht eingestuft, aber dann der letzte Teil, der ist schwierig, also sehr schwierig, er ist steil ... Hände und Füße muss man nehmen, und man kann auch mal abrutschen ... Aber nur das letzte Stück, der Rest ist leicht. Also bis auf die Flussüberquerung, aber die ist nur schwierig, wenn das Wasser hoch ist, also nach viel Regen ... Aber morgen soll es trocken sein ... Also es ist auch heute trocken und gestern war es auch trocken ... Aber es kann auch überraschend in der Nacht regnen und dann schwillt der Fluss an ...«

So geht das immer weiter.

Gwill und ich haben unseren Spaß daran, ihn zu imitieren, wenn wir uns unterhalten. Und das Kuriose ist, dass wir ihm in den zwei Wochen, in denen wir in Lagodekhi sind, überall begegnen. Gwill braucht nur mal Brot kaufen zu gehen, und er sieht ihn vor dessen Haus. Wir drehen eine Runde in der Stadt, und Zaza ist da, es ist sein freier Tag. Es ist belustigend, wie oft wir ihn unerwarteterweise treffen, und immer wundert er sich, dass wir noch hier sind – da doch die meisten Touristen nur ein paar Tage, höchstens eine Woche bleiben. Das war auch unser Plan, doch das Schicksal will es anders.

Auf unserer ersten Wanderung zu eben jenem kleinen Wasserfall, zu dem wir Zaza befragt hatten, verstauche ich mir auf dem Rückweg durch den tropisch anmutenden Regenwald den linken Knöchel. Ich bin frustriert, da wir nun erstmal nicht mehr wandern können und es sonst kaum Möglichkeiten gibt, sich in dem 6000 Seelen Städtchen die Zeit zu vertreiben. Gwill sieht es glücklicherweise gelassen.

Nach ein paar weiteren Tagen bei unserer herzlichen Gastfamilie zieht es uns trotzdem wieder hinaus in die Natur. Da ich mit meinem verstauchten Fuß nur schwer lange Strecken laufen kann, beschließen wir, uns einen Zeltplatz zu suchen. Wir finden einen wunderschönen Ort mitten im Wald, ganz anders als der Campingplatz unter Zazas Regie, auf dem nur wenige Bäume stehen. Er ist traumhaft ruhig und bei dreißig Grad Lufttemperatur genau der richtige Ort, um in der Hängematte zu entspannen, die Seele baumeln zu lassen, und beim Lagerfeuer die Sterne anzuschauen.

Wir haben das Glück, den Zeltplatz nur mit einer einzigen anderen Familie zu teilen. Irina, Alexander und deren Kinder Michail und Anna waren vor sechs Jahren aus Russland nach Georgien ausgewandert, hatten in Tbilisi ein Haus gebaut und nun beschlossen, über die Sommerferien der drückenden Hitze der Stadt zu entfliehen. Sie sind bereits seit einigen Wochen auf diesem Zeltplatz. Die Eltern haben ihre Laptops dabei und können so von der überdachten Terrasse aus arbeiten.

Gleich nach unserer Ankunft lädt uns die Familie zum gemeinsamen Abendessen ein. Wir nehmen hocherfreut an: Es gibt köstliche russische Spezialitäten und wir wähnen uns erneut im Paradies. Alexander ist Komponist und Jazzmusiker, hat jedoch, seitdem sie nach Georgien ausgewandert sind, nicht mehr komponiert. Er sagt uns, die Muse hätte ihn nicht mehr geküsst. Aber ich frage mich, ob vielleicht Sehnsucht nach seinem Heimatland dahintersteckt.

Irina hatte als Simultanübersetzerin für Englisch in der britischen Botschaft in Moskau gearbeitet. Sie erzählt uns, dass sie beide die politische Situation unter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht mehr ertragen hatten: Keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit. Wir fragen sie, wie oft sie nach Russland reisen, um ihre Familie zu besuchen.

»Wir waren in den sechs Jahren noch kein einziges Mal wieder in Russland. Was sollen wir da? Wir wollen da nicht mehr sein«, antwortet Alexander beinahe entrüstet.

Es war Irinas Idee gewesen, nach Georgien zu kommen. Hier war es nicht nur landschaftlich schön, sondern für ihre Standards auch preiswert. Darüber hinaus können sie sich ein Haus leisten, was sie zum ständigen Aufenthalt in Georgien berechtigt.

Alexander strahlt, als wir über die niedrigen Preise im Land sprechen: »Hier bekommt man Chacha für zwei, drei Euro die Flasche. Das ist unglaublich.« Doch er hat aufgehört, den georgischen Tresterschnaps zu trinken, kostet auch nichts von dem hausgemachten Wein, den sie uns später aus Tbilisi mitbringen. Ich kann ihn mir vorstellen, als Künstler und Komponist in Russland. Wie er dagesessen haben mag, in einem alten Ledersessel, gedankenversunken Wodka trank und komponierte. Nun hat er eine Frau, die mindestens zehn Jahre jünger ist als er, und zwei Kinder - das hält ihn auf Trab. Und er ist in einem anderen Land.

Die beiden Erwachsenen sprechen kein Georgisch, obwohl sie seit bereits sechs Jahren hier leben. Irina hat nun begonnen, die georgische Sprache zu lernen, doch Alexander sagt, er kann mit dieser Sprache nichts anfangen. Die Kinder dagegen lernen es in der Schule und von ihren Spielkameraden. Sie freuen sich wie Schneesieber, als wir ihnen erzählen, dass wir gerade das georgische Alphabet gelernt haben. Nun fragen sie uns ab: nach den einzelnen Buchstaben, Wörtern und ihrer Aussprache. Es ist eine Herausforderung für uns, aber ich glaube, wir schlagen uns ganz gut. Die Kinder freuen sich darüber, mal andere Gesellschaft zu haben. Wochenlang waren die vier ganz allein auf dem Zeltplatz. Die Saison ist ruhig, da es durch die Auswirkungen der Corona Pandemie noch immer nur wenige Touristen ins Land zieht. Und die Georgier, na die Georgier, die zelten nicht gern. Die können damit nicht viel anfangen. Warum draußen schlafen, wenn es doch drinnen so gemütlich ist. Ich glaube, für uns wird dieser Gedanke auch noch kommen. Wenn dann der kalte georgische Winter anbricht.

Irina ist unglaublich großzügig. Sie lädt uns jeden Abend zum Essen ein, hört nicht auf unsere Proteste, und als sie für einen Tag nach Tbilisi zurückkehren, bringt sie georgische Spezialitäten wie Wein, Käse und Churchuela, mit Traubensaft überzogene Walnüsse, für uns zurück. Irina besteht darauf, dass wir nichts davon bezahlen. So lernen wir in Georgien sogar die russische Gastfreundschaft kennen und schätzen.

Die Tage gehen vorbei wie im Flug. Während Gwill noch schläft, verbringe ich die Morgen in der Hängematte, lese, meditiere und mache Dehnübungen für meinen Knöchel, der sich gut erholt. Hinter unserem Zeltplatz ist ein kleiner Fluss, der gerade genug Wasser führt, dass wir am Nachmittag darin baden können. Wir bauen einen Damm und genießen die Ruhe und Einsamkeit. Abends sitzen wir am Lagerfeuer, schauen in die Sterne und lauschen dem Geheul der Schakale. Doch nach zehn Tagen werden wir unruhig, wir wollen wieder wandern, mehr vom Land sehen und beschließen, Richtung Norden zu reisen, in der Hoffnung, dass mein Knöchel so weit geheilt ist.

Auf dem Weg nach Kazbegi - Zwischenspiel in Tbilisi