Greg Loone erwartete heute keine Kundschaft mehr. Er war
zufrieden. Ein Haufen reicher Touristen aus Europa war am Vormittag
über seinen Juwelierladen hergefallen. Irgendein Reiseführer hatte
Loones Laden als Geheimtipp angepriesen.
Pfeifend traf Loone die üblichen Vorbereitungen, den
Juwelierladen zu schließen. Er ging zu dem Sicherungskasten hinter
dem Verkaufstresen und schloss ihn auf. Er dachte dabei, wie
glücklich er sich schätzen konnte, diesen kleinen Laden in
Manhattans Diamond District bekommen zu haben. Soviel er wusste,
war er der einzige schwarze Juwelier in dieser Gegend.
Loone drückte den Knopf, der die Rollläden draußen vor den
Schaufenstern herunterfahren lassen würde. Die Stahllamellen
schoben sich ratternd aus dem Kasten über den Fenstern.
Da wurde die Ladentür plötzlich aufgestoßen, und drei in
Schwarz gekleidete Gestalten tauchten unter dem herabfahrenden
Rollladen hindurch. Ihre Köpfe waren in Ledermasken gehüllt. In
ihren behandschuhten Fäusten hielten sie silbrig blitzende
Pistolen.
Loone erstarrte - er wusste, dass ihm die schrecklichsten
Momente seines Lebens bevorstanden…
Die Ledermasken, die die Eindringlinge trugen, hatte Loone
schon einmal in einer Late-Night-Show im Fernsehen gesehen. Die
Kerle, die sie getragen hatten, verwendeten sie für perverse
Sexspiele. Das schwarze Leder schloss die Köpfe vollständig ein.
Nur für die Augen gab es kreisrunde Öffnungen, während sich dort,
wo sich der Mund befand, ein Reißverschluss befand.
Einer der Kerle riss den Arm hoch und feuerte.
Loone warf sich unwillkürlich auf den Boden. Die Kugel schlug
über ihm neben der Wanduhr ein - dort, wo sich die
Überwachungskamera befand.
Verzweifelt robbte der Juwelier über den Boden zur Mitte des
Verkaufstresens, wo auch die Computerkasse stand. Dort befand sich,
unter der Tischplatte versteckt, der rote Alarmknopf. Er war Loones
einzige Rettung, denn er war ganz allein in dem Laden!
Da erschienen vor dem Schwarzen plötzlich ein paar
Springerstiefel. Mit dumpfem Schlag setzten sie auf dem roten
Teppichboden auf, mit dem der ganze Laden ausgelegt war. Der Kerl,
der in den Stiefeln steckte, war über den Verkaufstresen gesprungen
und direkt vor Loone gelandet, als hätte er geahnt, wohin der
Juwelier sich hatte begeben wollen.
Mit einem verzweifelten Schrei stieß Loone den Arm hoch zum
Alarmknopf. Doch bevor seine Finger ihn erreichten, traf ihn der
Springerstiefel mitten ins Gesicht. Der Tritt war so heftig, dass
Loones Oberkörper hochgerissen wurde. Seine Hand verfehlte den
Knopf. Loone stürzte zurück auf den Boden.
Er röchelte, schmeckte Blut und spürte plötzlich einen
ausgebrochenen Zahn auf der Zunge.
Der Maskierte packte den Juwelier an den Schultern und riss
ihn auf die Beine.
Loones Knie waren butterweich. Alles um ihn herum drehte sich.
War das wirklich noch sein Laden? Die Vitrinen waren zerschlagen.
Scherben lagen überall auf dem roten Teppichboden. Die beiden
anderen Vermummten stopften Diamanten in ihre schwarzen Beutel. Die
Rollläden waren inzwischen ganz heruntergefahren. Niemand auf der
Straße würde mitkriegen, was in dem Juwelenladen geschah!
Loone war taub vor Schmerz. Er wäre gestürzt, hätte sein
Gegenüber ihn nicht mit unerbittlichem Griff festgehalten.
»Mach die Kasse auf!«, kam es dumpf unter der Ledermaske
hervor. Die Augen hinter den runden Ausschnitten starrten ihn kalt
und brutal an.
»Es… es sind nur Schecks in der Kasse«, presste Loone zitternd
hervor. »Damit könnt ihr doch nichts anfangen.«
»Schnauze!«, bellte der Vermummte. Hart presste er dem
Schwarzen den Lauf seiner Waffe gegen die Stirn. »Ich weiß, dass du
Geld in der Kasse hast! Also, mach das verdammte Ding jetzt
auf!«
Loone nickte hektisch. Es war idiotisch gewesen, sein Leben
für die Tageseinnahmen zu riskieren. Die Kerle waren zu allem
entschlossen. Außerdem kannten sie sich anscheinend bestens in
seinem Laden aus!
Mit zitternden Fingern tippte Loone den Code in die
Computertastatur, der die Kasse öffnen würde. Mit einem hellen
Glockenton sprang die Lade auf. Der Vermummte griff hinein und
stopfte sich die Dollarscheine in die Hosentasche. Dabei hielt er
die Waffe auf Loones Kopf gerichtet.
»Seid ihr fertig?«, rief der Vermummte dann seinen Komplizen
zu.
»Alles klar, Boss. Fehlen nur noch die Klunker im
Tresor!«
»Mach den Tresor auf!«, forderte der Maskierte, packte Loone
am Kragen und drückte ihn rücklings auf den Tresen.
Schmerzhaft bog sich das Kreuz des Schwarzen durch.
»Bitte!«, flehte Loone ächzend. »Mein ganzes Leben steckt in
diesem Laden. Ihr… ihr dürft mir nicht alles nehmen!«
»Der Tresor!«, schnauzte sein Gegenüber und lehnte sich über
den Schwarzen, sodass die Ledermaske Loones verschwitztes Gesicht
fast berührte.
»Er… er ist offen«, flüsterte der Juwelier mit versagender
Stimme. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er hatte das
schreckliche Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.
Der Vermummte richtete sich abrupt auf. »An die Arbeit, Jungs!
Der Tresor gehört euch!«, rief er seinen Komplizen zu, ohne sich zu
ihnen umzudrehen. Stattdessen richtete er seine Pistole nun mit
ausgestrecktem Arm auf das Herz des Schwarzen, der noch immer mit
dem Rücken auf dem Tresen lag, die Hände in einer lächerlich
wirkenden Geste erhoben.
»Nein!«, krächzte Loone voller Panik und starrte auf die
Waffe. »Bitte nicht! Töten Sie mich nicht!«
Der Maskierte lachte hysterisch.
Das war das Letzte, was Loone hörte, bevor der Schuss in
seinen Ohren explodierte und das Leben des Juweliers mit
unwiderruflicher Endgültigkeit auslöschte.
***
».’. möchte ich diese kleine Party zum Anlass nehmen, meinen
beiden Rettern herzlich zu danken!«
Die Frau, die dies sagte, stand auf einem kleinen Podest
inmitten blühender Rosenhecken. Hinter ihr befand sich eine pompöse
Villa aus dunklem, massiven Holz und mit grauem Schieferdach. Die
Frau war um die vierzig. Sie trug ein weißes Kleid mit Schleppe und
geraffter Taille. Ihr blondes Haar hatte sie im Nacken zu einem
Knoten gebunden. Sie erinnerte mich ein wenig an eine römische
Statue. Ihr Name passe allerdings nicht zu diesem Bild. Sie hieß
Loretta Trade. Sie war Millionärin, wie fast alle, die sich am
Strand von Coney Island eine Villa leisten konnten. Lorettas Mann,
der vor fünf Jahren an Krebs gestorben war, hatte ihr mehrere
Zucker- und Schokoladenfabriken hinterlassen.
»Nur dem beherzten Vorgehen der beiden G-men habe ich es zu
verdanken, dass ich an diesem herrlichen Abend im Garten meiner
Villa stehen kann«, ertönte ihre Stimme aus den versteckten
Lautsprechern hinter den Rosenhecken. »Ohne diese beiden Männer
würde ich mich wahrscheinlich noch immer in der Gewalt meiner
Entführer befinden…«
Lorettas Stimme klang nun ein wenig brüchig. Mit einer
theatralischen Geste zog sie ein Taschentuch aus dem tiefen
Dekollete ihres Kleides und tupfte sich die Tränen fort. Dann warf
sie beide Arme nach vorn, als wollte sie jemanden umarmen. Ihr
Gesicht zeigte eine leidenschaftliche Miene, und ihr Blick war
direkt auf Milo und mich gerichtet, die wir mitten in dem Pulk
nobel gekleideter Gäste standen, die sich vor dem Podest versammelt
hatten.
»Agent Jesse Trevellian und Agent Milo Tucker!«, schmetterte
Lorettas Stimme über die Köpfe der Versammelten hinweg. »Tausend
Dank, dass Sie mein Leben gerettet haben!«
Die Leute drehten sich zu Milo und mir um. Wir blickten in die
lächelnden Gesichter der Frauen - und in die der Männer, die
zurückhaltenden Respekt ausdrückten. Dann fing plötzlich jemand an
zu klatschen. Die anderen stimmten mit ein, sodass der Garten der
Villa schließlich von brandendem Applaus erfüllt war.'
Milo schaute sich um, nickte und grinste zufrieden. Dann
schlug er mir mit der flachen Hand auf die Schulter.
»Hat dir je jemand auf diese Weise seinen Dank
ausgesprochen?«, meinte er. »Mann, Junge! Mir geht das runter wie
Öl.«
»Ein einfaches Dankeschön hätte es auch getan«, erwiderte ich.
»Ich verstehe Loretta Trade nicht. Es sind erst drei Tage
vergangen, seit wir sie in dem abgebrannten Haus in der Bronx
fanden, wo die Entführer sie gefangen hielten. Und sie hat nichts
Besseres zu tun, als eine Party zu feiern.«
Milo zuckte gelassen mit den Schultern. »So sind sie eben, die
Reichen«, erklärte er lapidar und nahm einem der livrierten Diener,
die zwischen den Gästen umhereilten, zwei volle Champagnergläser
von dem Tablett, reichte mir eins und prostete mir augenzwinkernd
zu.
»Chers, Partner«, rief er, während der Applaus endlich
verebbte. »Lass uns darauf anstoßen, dass New York in Zukunft noch
mehr so dankbare und großzügige Bürger aufzuweisen hat wie Loretta
Trade.«
Ich erhob mein Glas, prostete Milo zu und führte es dann an
meine Lippen. Während der prickelnde Champagner meine Kehle
hinunterrann, warf ich einen Blick zum Podest. Einige Frauen waren
zu Loretta emporgeklettert. Sie umarmten die Millionärin und waren
ebenso in Tränen aufgelöst wie sie. Die Szene erinnerte mich an den
Schlussakt eines billigen Theaterstücks. Ich konnte mir nicht
helfen. Ein freundschaftlicher Händedruck und ein paar ehrliche
Worte des Dankes wären mir erheblich lieber gewesen als das
Melodrama, das Loretta Trade um ihre Rettung veranstaltete.
»Was schauen Sie so griesgrämig drein, Agent Trevellian?«,
vernahm ich hinter mir plötzlich eine sonore Stimme.
Ich drehte mich um und sah direkt in das Gesicht eines hageren
Mannes, dessen bleicher Teint durch das schwarze halblange Haar,
das wie angeklatscht an seinem Kopf klebte, noch unterstrichen
wurde. Ich kannte den Mann. Er hieß Mark Lafella und war Lorettas
Psychologe. Seit die Millionärin wieder frei war, hatte er sie rund
um die Uhr betreut.
»Ich bin nicht griesgrämig«, erwiderte ich. »Ich habe auch
nichts gegen eine Party. Es ist nur der Anlass, der mir nicht
passt.«
Lafella zog eine Augenbraue hoch und musterte mich, als wollte
er eine Psychoanalyse bei mir durchführen. »Loretta hat ihre ganz
eigene Art, mit ihrem Schicksal fertig zu werden«, sagte er dann.
»Ich bin glücklich, dass sie sich dazu durchgerungen hat, diese
Party zu geben. Es ist nicht zuletzt auch meiner mühevollen
psychologischen Arbeit zu verdanken, dass Loretta wieder zu ihrer
ursprünglichen Lebensfreude zurückfand.«
»Bescheiden sind Sie ja nicht gerade«, bemerkte ich säuerlich.
»Aber das könnten Sie sich bei Ihrem Honorar wahrscheinlich auch
nicht erlauben.«
»Sind Sie etwa neidisch, weil ich mehr verdiene als ein
G-man?«
»Nein. Aber ich wünschte, Sie hätten etwas mehr
Verantwortungsgefühl Ihrer Klientin gegenüber gezeigt. Wir haben
Sie zwar aus der Gewalt der Kidnapper retten können. Aber wir
wissen noch immer nicht, wer hinter der Entführung steckt. Der
Anführer der Bande läuft noch immer frei herum. Meines Erachtens
ist Loretta noch nicht außer Gefahr.«
Lafella machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für die
Sicherheit meiner Klientin bin ich nicht verantwortlich. Das ist
Ihr Job, Trevellian.«
Plötzlich blickte Lafella auf, und seine schmalen Lippen
verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
»Loretta!«, rief er mit erhobener Stimme und winkte. Ich
drehte mich um und sah, dass die Millionärin auf Milo und mich
zukam. Die Leute machten ihr Platz und bildeten eine Gasse, durch
die Loretta mit ihrem Gefolge majestätisch daherschritt.
Schließlich blieb sie vor uns stehen und sah uns mit schief
gelegtem Kopf an, während ein seliges, fast ein wenig idiotisch
wirkendes Lächeln ihre Lippen umspielte.
»Agent Trevellian und Agent Tucker«, sagte sie in einem Ton
euphorischer Begeisterung. »Sie müssen meinen Gästen unbedingt noch
einmal schildern, wie Sie mich gerettet haben!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Milo ausweichend,
der sich auf der Party nun plötzlich doch nicht mehr so
wohlzufühlen schien. Besonders, da Loretta ihm plötzlich das
Mikrofon vor das Gesicht hielt, sodass seine Stimme laut durch den
Garten schallte.
»Bitte tun Sie mir den Gefallen!«, bettelte Loretta.
Milo warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Aber ich zuckte
nur kalt mit den Schultern und grinste zynisch. Milo würde sich
wohl kein zweites Mal wünschen, dass die Leute, die wir retteten,
von einer ähnlich euphorischen Dankbarkeit beseelt waren wie
Loretta Trade!
»Nun«, tönte Milos Stimme aus den versteckten Lautsprechern.
»Eigentlich beruhte alles nur auf ganz gewöhnliche Polizeiarbeit.
Den Ausschlag gab dann ein anonymer Hinweis aus der Bevölkerung,
der uns auf das abgebrannte Haus in der Bronx aufmerksam machte, wo
die Kidnapper Miss Trade auch tatsächlich gefangen hielten.«
»Beschränken Sie sich lieber auf die spannenden Momente meiner
Befreiung«, warf Loretta ein. »Schließlich will ich meine Gäste
nicht langweilen. Erzählen Sie zum Beispiel, wie Sie und Ihr
Kollege Trevellian plötzlich mit gezogenen Dienstwaffen in dem
schmuddeligen Keller auf tauchten und die beiden Wachen
niederstreckten.«
»Das war schon ein dolles Ding«, sagte Milo, der allmählich
warm zu werden schien. »Jesse und ich hatten die Ruine vorher
einige Stunden observiert. Ab und zu kam jemand aus einem
Kellerfenster gekrochen, sah sich auffällig um und verschwand in
einer Seitenstraße, nur um etwas später mit einer Plastiktüte
voller Lebensmittel wieder in dem Rattenloch zu verschwinden. Die
Entführer schienen sich ihrer Sache ziemlich sicher zu sein, denn
sie hatten draußen nicht einmal eine Wache aufgestellt. Es war für
Jesse und mich daher nicht schwer, einen Überraschungsangriff zu
starten. Wir schlichen uns an und stiegen die Kellertreppe hinab,
was eine ziemlich eklige Angelegenheit war, da die Stufen mit Unrat
und Müll bedeckt waren.«
Einige der Frauen, die sich um uns geschart hatten, riefen
pikiert »Igitt!«, und lachten affektiert.
»Als wir dann endlich unten ankamen, überwältigten wir einen
Kerl, der in dem Kellergang Wache halten sollte«, fuhr Milo fort.
»Er schien es mit seinem Job jedoch nicht so ernst zu nehmen, denn
er döste im Halbschlaf vor sich hin. Auf seinem Bauch lag seine
Knarre und ein Comicheft.«
Verhaltenes Lachen war zu vernehmen.
»Nachdem wir den Kerl ausgeschaltet hatten, rannten wir zu
einem Keller, dessen Eingang mit einem dreckigen Tuch verhängt war.
Durch die groben Maschen sickerte trübes Licht. Wir blieben einen
Moment mit angehaltenem Atem stehen und lauschten auf die Geräusche
hinter dem Vorhang. Aus dem, was wir nun hörten, schlossen wir,
dass sich zwei Menschen in dem Keller aufhalten mussten. Jesse und
ich gaben uns Zeichen. In solchen Situationen verständigen wir uns
immer mit genau festgelegten Gesten, sodass wir kommunizieren
können, ohne dabei viel Lärm zu machen. Dann stürmten wir in den
Keller, wie wir es unzählige Mal zuvor in anderen Einsätzen getan
haben. Es war eine mustergültige Aktion, die jeden Ausbilder in
Quantico, der FBI-Schule, zufriedengestellt hätte.«
Milo deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich und sagte: »Den
Rest wird Ihnen mein Kollege schildern, der bei diesem Einsatz die
meiste Arbeit hatte.«
Milo grinste hämisch, als Loretta sich nun zu mir umdrehte und
mir das Mikro erwartungsvoll entgegenstreckte.
Ich räusperte mich entnervt. Aber mir blieb keine andere Wahl.
Ich musste in dieser Show mitspielen, wollte ich nicht vor allen
als übellauniger Spielverderber dastehen.
»Es waren tatsächlich zwei Kerle in dem Kellerraum - genau,
wie wir es erwartet hatten«, sagte ich. »Auf einem schäbigen
Feldbett lag Loretta. Sie hatten sie gefesselt und geknebelt. Die
beiden Gangster, die bei ihr waren, hatten sich maskiert, damit
Loretta sie nicht erkannte und später eventuell Aussagen über das
Aussehen dieser Männer machen könnte…«
Ich hielt inne und schaute Loretta prüfend an. An dieser
Stelle wurde die Sache ein wenig heikel. Die beiden Männer hatten
nämlich schwarze Masken aus Leder getragen. Diese Dinger werden in
Sado-Maso-Kreisen bei entsprechenden Sexspielchen verwendet.
Loretta beteuerte bei einer späteren Vernehmung zwar, dass die
Männer sie nicht sexuell belästigt hätten, was eine ärztliche
Untersuchung auch bestätigte. Trotzdem waren wir vom FBI darüber
übereingekommen, die Ledermasken weder der Presse noch anderen
Personen gegenüber zu erwähnen.
Lorettas Miene versteinerte, als sie meinen prüfenden Blick
bemerkte. Sie konnte mir nichts vormachen. Die psychischen Folgen
der Entführung hatte sie noch längst nicht überwunden. Vier Tage
hatte sie sich in der Gewalt der Entführer befunden, bevor wir das
Versteck endlich fanden und Loretta befreien konnten. Es musste
sehr erniedrigend für die Millionärin gewesen sein, ihre tägliche
Notdurft in dem miefigen Keller verrichten zu müssen, den Dosenfraß
zu essen, den die Gangster ihr auftischten, und stundenlang reglos
und gefesselt dazuliegen, mit einem ungewissen Schicksal vor
Augen.
»Die beiden Männer waren von unserem plötzlichen Auftauchen
völlig überrascht«, fuhr ich nun fort. »Wir hatten ein leichtes
Spiel. Bevor die Kerle ihre Waffen ziehen konnten, hatte ich den
ersten auch schon mit einem Fausthieb niedergestreckt.«
Ich schüttelte meine Hand und sagte: »Es muss ein ziemlich
harter Schlag gewesen sein, denn meine Hand schmerzt noch heute.
Den Gangster hob der Fausthieb von den Füßen. Er prallte gegen.die
raue Kellerwand und rutschte dann bewusstlos daran hinab. Der
zweite Ganove hatte unterdessen seinen Revolver gezogen und legte
auf Milo an. Mein Kollege konnte nicht auf ihn schießen, da es in
dem Keller zu war und er Gefahr lief, statt des Gangsters mich oder
Loretta zu treffen. Es kam mm also auf mich an. Wenn ich nicht
rasch genug reagierte, war es um meinen Kollegen geschehen.
Blitzschnell trat ich nach der Hand des Mannes. Im gleichen
Augenblick, da der Kerl seinen Abzugsfinger krümmte, traf ich
seinen Revolver mit der Schuhspitze. Der Schuss verriss, die Kugel
jagte nur wenige Handbreit über dem Kopf meines Kollegen hinweg und
klatschte in die Decke.«
Ich legte eine kurze Pause ein. Die Blicke der Gäste klebten
wie gebannt auf meinen Lippen.
»Bevor der Kerl sich besann, verpasste ich ihm einen
Kinnhaken. Aber der Schlag wurde durch die Maske gedämpft, darum
musste ich noch einen nachsetzen, ehe auch der zweite Kidnapper
endlich bewusstlos zusammenbrach.«
Ich reichte Loretta das Mikrofon zurück. »Den Rest der
Befreiungsaktion erzählen Sie Ihren Gästen am besten selbst«, sagte
ich. »Aus Ihrer Sicht betrachtet, ist das bestimmt sehr viel
eindringlicher.«
In Lorettas Mundwinkel zuckte es. Doch dann hatte die Frau
sich wieder unter Kontrolle. Mit spitzen Fingern nahm sie das
Mikrofon und räusperte sich.
»Es waren wohl die nervenaufreibendsten Momente, die ich in
meinem langen Leben erdulden musste«, sagte sie mit schwankender
Stimme. »Von dem Moment an, da die beiden G-men in dem Kellerloch
auf tauchten, war ich von dem schrecklichen Gedanken erfüllt, die
beiden könnten es nicht schaffen. Ich war an das Feldbett
gefesselt. In meinem Mund steckte ein alter Lumpen. Aber auch ohne
meine Fesseln wäre ich unfähig gewesen, mich zu bewegen oder einen
Laut von mir zu geben. Mit ängstlich auf gerissenen Augen
beobachtete ich die Szene, die sich vor mir abspielte. Die brutalen
Schläge, der Schuss - all dies lief vor mir mit quälender
Langsamkeit ab. Und dann war plötzlich alles vorbei. Die beiden
Ganoven lagen bewegungslos auf dem dreckverschmierten Kellerboden.
Und während Agent Tucker sein Funkgerät zückte und eine Meldung zu
seinen Kollegen durchgab, die draußen in Bereitschaft standen, kam
G-man Trevellian auf mich zu. ›Es ist vorbei‹, sagte er nur und
fing an, mich vorsichtig von den Fesseln und dem Knebel zu
befreien.«
Tränen kullerten Loretta über die Wangen. Sie
schluchzte.
»Diese drei banalen Worte sind wohl das Schönste, was ein Mann
je zu mir gesagt hat: ›Es ist vorbei !‹«
Sie wischte sich mit dem Zeigefinger kokett die Tränen aus dem
Gesicht und lächelte dann spitzbübisch. »Unter anderen Umständen
wären diese Worte natürlich weniger schmeichelhaft gewesen. Aber
als ich dort in dem miefigen Keller auf dem Feldbett lag und
spürte, wie das Blut langsam in meine gemarterten Hände und Füße
zurückkehrte, da erschienen mir seine Worte wie eine Offenbarung.
Es ist vorbei! Und so war es tatsächlich. Eine der schlimmsten
Erfahrungen meines Lebens liegt nun hinter mir. Und jetzt stehe ich
hier inmitten meiner Freunde, genieße den Abend, den Geruch des
nahen Meeres. Und das alles habe ich nur ganz allein meinen Rettern
zu verdanken!«
Mit ausladender Geste deutete sie auf Milo und mich. Wieder
brandete Applaus auf. Milo brachte es sogar fertig, sich zu
verbeugen.
»Und nun entschuldigt mich bitte einen Moment, meine Freunde«,
sagte Loretta und schaltete das Mikrofon aus. Sie legte es einem
Diener kurzerhand auf das Tablett und hakte sich dann bei Milo und
mir ein. Ihren Gästen zunickend, die noch immer klatschten, führte
sie uns von dem Platz mit dem Podest fort.
Als wir außer Hörweite waren, atmete Loretta einmal tief
durch. Ihr Gesicht schien plötzlich einzufallen. Das Lächeln
verschwand von ihren Lippen.
»Vielen Dank, dass Sie bei meinem kleinen Theaterstück
mitgespielt haben«, sagte sie matt. »Ich hoffe, ich habe Ihnen
nicht zu viel zugemutet.«
»Sie haben Ihre Rolle perfekt gespielt«, sagte Milo
einfühlsam. »Für einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, dass Sie
über die Entführung hinweggekommen wären. Aber das schafft
wahrscheinlich nicht einmal der beste Seelenklempner.«
Loretta zuckte müde mit den Schultern und dirigierte uns zu
einem Kiesweg, der zwischen zwei Rosenhecken begann und in einem
seichten Bogen um die Villa führte.
»Ohne Lafellas Hilfe hätte ich es nicht geschafft, diese
verdammte Party durchzustehen«, gestand sie. »Aber sie war nun
einmal notwendig. Eine Frau in meiner Position darf es sich nicht
erlauben, Schwäche zu zeigen. Was glauben Sie, wie viele Angebote
ich in den letzten Tagen erhalten habe, von Kerlen, die glaubten,
ich würde mich aufgrund der Entführung aus dem Geschäftsleben
zurückziehen. Sie wollten die Aktienanteile, die mir ein
Mitspracherecht in den Vorständen zahlreicher Firmen ermöglichen.
Einer von ihnen war sogar so dreist, mir vorzuschlagen, für mich
die Leitung der Zucker- und Schokoladenfabriken zu
übernehmen.«
Loretta straffte sich. »All diesen Leichenfledderern habe ich
mit meiner Party den Wind aus den Segeln genommen. Die
Geschäftswelt weiß nun, dass sie weiterhin mit mir zu rechnen
hat!«
Loretta sank wieder in sich zusammen und stützte sich schwer
auf meinen Arm.
»Zum Glück wissen nur ganz wenige, wie es in Wahrheit in mir
aussieht. Nachts kann ich nicht schlafen. Immer sehe ich die
schrecklichen Ledermasken vor mir. Und die Augen, die kalt und böse
hinter den runden Löchern hervorstarren.«
Loretta schüttelte sich. Dann sah sie zu mir hoch.
»Doch was mich am meisten fertig macht, ist das Wissen, dass
der Boss der Entführer noch immer frei herumläuft«, sagte sie mit
zitternder Stimme.
»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, erwiderte ich
zuversichtlich. »Wir werden den Kerl bald geschnappt haben.«
»Sie können mir nichts vormachen, Trevellian«, erwiderte
Loretta kühl. »Sie und Tucker tappen noch immer im Dunkeln.«
Wir erreichten einen Irrgarten aus mannshohen Hecken. Er
schloss direkt an einen kurz geschorenen Rasen an, der sich bis zu
den Terrassen der Villa erstreckte.
Als wir den Irrgarten betraten, sagte ich: »Wir wissen bisher
tatsächlich nur sehr wenig über den Kerl, der hinter der Entführung
steckt. Die drei Kerle, die wir bei der Befreiungsaktion verhaften
konnten, behaupten, ihr Boss hätte immer eine Ledermaske getragen,
wenn er sich mit ihnen traf. Er ließ sich von allen einfach nur
Boss nennen. Aber das wissen Sie ja selbst.«
»Wir haben unsere Verhörspezialisten auf die drei Ganoven
angesetzt«, schaltete sich Milo ein. »Sie werden die drei in die
Mangel nehmen. Einer der Ganoven stammt aus der Bronx. Sein Name
ist Bobby Mandrake. Bei den beiden anderen handelt es sich offenbar
um illegale Einwanderer aus einem mittelamerikanischen
Staat.«
Der Weg gabelte sich. Loretta zog uns in den rechten Gang, der
wenige Schritte später wieder einen scharfen Knick nach rechts
beschrieb.'
»Halten Sie es immer noch für möglich, dass der ›Boss‹ aus
meinem Bekanntenkreis kommt?«, fragte uns die Millionärin
unbehaglich.
»Das können wir leider nicht ausschließen«, antwortete ich
bedauernd.
Loretta seufzte und lehnte für einen flüchtigen Moment ihren
Kopf an meine Schulter. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, für
alles, was Sie für mich getan haben.« Sie löste sich von uns und
zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich muss jetzt zurück zu
meinen Gästen«, erklärte sie gefasst und lächelte säuerlich. »Sie
zerreißen sich sonst noch ihre Mäuler, wenn ich zu lange
fortbleibe.«
»Gehen Sie nur«, sagte ich verständnisvoll. »Milo und ich
haben noch etwas zu besprechen.«
Loretta wandte sich ab und eilte den Gang zurück, den wir
gekommen waren. Kurz darauf war sie hinter einer Heckenbiegung
verschwunden.
»Die Frau ist echt stark«, sagte Milo. »Ich denke, sie wird
nicht lange brauchen, um mit den psychischen Folgen der Entführung
fertig zu werden - wenn wir nur den Boss endlich schnappen.«
»Es ist wirklich ein Jammer, dass der Boss sich nicht in dem
Gebäude aufhielt, als wir es stürmten«, gab ich zurück. »Wir
konnten Loretta befreien, bevor es zu einer Geldübergabe kam. Dem
Boss ging auf diese Weise eine halbe Million Dollar Lösegeld durch
die Lappen. Wie wird der Unbekannte sich nun verhalten?«
Milo zuckte mit den Schultern. »Loretta hat viele Freunde und
Bekannte«, sagte er. »Jeder Gast auf dieser Party könnte der
geheimnisvolle Boss sein. Die meisten von ihnen wissen, dass
Loretta Trade jeden Morgen von einem Chauffeur zu ihrem New Yorker
Büro gefahren wird. Theoretisch hätte jeder von ihnen ein paar
Ganoven anheuem können, um Loretta zu entführen. Wir wissen noch
nicht einmal, ob der ›Boss‹ dabei war, als die Kidnapper Lorettas
Limousine stoppten, den Fahrer niederschossen und die Millionärin
in einen Lieferwagen zerrten.«
»Wir haben alle Personen, die über Lorettas Tagesablauf
Bescheid wussten, befragt«, gab ich zu bedenken. »Doch ohne
Ergebnis. Jeder von ihnen hatte für den fraglichen Zeitpunkt ein
Alibi.«
Milo nickte düster. »Es ist zum Kotzen«, sagte er und kickte
wütend einen Kiesel in die Heckenwand. »Wir kommen in diesem
verflixten Fall einfach nicht weiter. Ist dir übrigens aufgefallen,
dass Lexington nicht auf der Party war? Loretta scheint es nicht zu
stören, dass ihr Sohn dieser Veranstaltung ferngeblieben ist. Aber
bei ihr kann man nicht wissen. Sie ist eine Meisterin der
Verstellung, wie ihre kleine Ansprache bewiesen hat.«
Wir schlenderten weiter und erreichten nun einen bogenförmigen
Durchgang, hinter dem ein runder Platz lag. Milo und ich blieben
unwillkürlich stehen, als wir ein Pärchen bemerkten, das auf der
Bank in der Mitte des Platzes saß.
Den Mann erkannte ich sofort wieder. Es war Lexington,
Lorettas Sohn.
Tagelang hatten wir zusammen mit ihm beim Telefon Wache
gehalten und auf einen Anruf der Entführer gewartet. Lexington war
mit den Nerven ziemlich am Ende gewesen. Er hatte sich wahnsinnige
Sorgen um seine Mutter gemacht und erlitt mehrere
Nervenzusammenbrüche. Doch Lafella hatte den jungen Mann jedes Mal
wieder aufgerichtet.
Die Blondine, mit der Lexington sich innig beschäftigte,
kannte ich jedoch nicht. Ihre Bluse war aufgeknöpft, und Lexington
befingerte voller Wonne ihre Brüste. Die beiden küssten sich
leidenschaftlich und stürmisch.
Milo und ich sahen uns an. Ein breites Grinsen huschte über
Milos Lippen. »Jetzt wissen wir, warum Lexington nicht auf der
Party ist«, murmelte er.
Wir schickten uns an, uns abzuwenden. Da dudelte plötzlich
mein Handy!
***
Das Girl schrie spitz auf und fuhr wie von einer Tarantel
gestochen von der Bank auf. Hastig knöpfte sie die Bluse zu.
Vorwurfsvoll starrte Lexington zu uns herüber.
»Entschuldigen Sie, Lex«, rief ich bedauernd. »Wir sind nur
zufällig vorbeigekommen.«
Ich fischte das Handy aus der Jackentasche.
»Agent Trevellian«, meldete ich mich.
»Jonathan McKee hier«, vernahm ich die sonore Stimme unseres
Vorgesetzten. »Vor wenigen Minuten ist eine Meldung des
Polizeireviers von Midtown South eingegangen. Im Diamond Dis.trict
ereignete sich vor zwei Stunden ein brutaler Überfall auf einen
Juwelierladen. Der Besitzer, ein gewisser Greg Loone, kam dabei ums
Leben. Von dem Überfall existiert nur eine kurze Videosequenz, denn
die Diebe schossen die Überwachungskamera kaputt, als sie den Laden
stürmten. Doch die kurze Sequenz reichte aus, um die Cops zu
überzeugen, lieber das FBI einzuschalten. Die Verbrecher trugen
nämlich Masken aus schwarzem Leder. Es waren solche, wie sie auch
die Entführer von Loretta Trade benutzten!«
Ich war plötzlich wie elektrisiert. »Liegen schon Ergebnisse
von der Spurensicherung vor?«, fragte ich.
»Alles verfügbare Material wird zusammen mit dem Video von
einem Kurier ins Distriktbüro gebracht und müssten jeden Augenblick
hier eintreffen«, sagte Mr. McKee.
»Wir machen uns sofort auf die Socken!«, rief ich und
unterbrach die Verbindung.
»Was gibt es?«, fragte Milo.
»Für uns ist die Party vorbei, Alter«, informierte ich ihn.
»Wir haben vielleicht endlich eine Spur, die uns zu dem Boss
führt.«
Mehr wollte ich nicht verraten, da Lexington und sein blondes
Girl in der Nähe waren. Ich winkte den beiden zu.
»Lasst euch nicht stören!«, rief ich. »Wir sind schon wieder
weg!«
***
Drei Stunden später saßen wir zusammen mit Loretta im
Livingroom der Trade-Villa. Draußen trieben sich noch einige
Partygäste herum. Die meisten waren aber schon gegangen.
Kaum in unserem Büro an der Federal Plaza angekommen, hatten
Milo und ich uns mit Fiebereifer die Sachen durchgesehen, die die
Kollegen von der Spurensicherung geschickt hatten. Bisher hatten
sie leider nicht viel gefunden. Die Gangster hatten kaum Spuren
hinterlassen.
Die Fotos von dem ermordeten Juwelier gaben uns besonders zu
denken. Der Mann war erschossen worden, obwohl er unbewaffnet
gewesen war und keine Gefahr für die Verbrecher dargestellt hatte.
Dies bewies einmal mehr, wie gefährlich die Bande war, die bei der
Entführung von Loretta Trade bereits den Chauffeur kaltblütig
niedergeschossen hatten. Der Mann lag noch im Koma.
Dass es sich bei den Gangstern, die den Juwelier töteten und
ausraubten, um dieselben Leute handelte, die auch Loretta Trade
entführten, erschien uns durchaus möglich. Wir hatten über die Art
der Vermummung, die die Entführer von Loretta benutzten, nichts an
die Öffentlichkeit dringen lassen. Dass es sich um Nachahmungstäter
handelte, war also auszuschließen. Dass die Diebe zufällig die
gleichen Masken benutzten wie die Entführer von Loretta, war eher
unwahrscheinlich.
Das-Video der Überwachungskamera hatten Milo und ich uns
mehrmals angesehen. Schließlich waren wir damit zu den drei Männern
gegangen, die to bei der Befreiungsaktion von Loretta verhaftet
hatten. Aber die Kerle hatten sich den Film nur ungerührt angesehen
und behauptet, nicht erkennen zu können, ob einer der Vermummten
der Boss war.
Schließlich war uns nichts anderes übrig geblieben, als mit
der Videokassette zurück nach Coney Island zu fahren, um sie
Loretta vorzuführen.
Lexington, der sich ebenfalls im Livingroom aufhielt, legte
nun die Kassette in den Videorekorder und reichte mir die
Fernbedienung. Fragend sah ich Loretta an, die in steifer Haltung
in einem Sessel saß und starr auf die Mattscheibe blickte.
»Sind Sie sicher, dass Sie den Anblick der Vermummten wirklich
ertragen?«, erkundigte ich mich.
Mark Lafella, den wir darum gebeten hatten, der
Videovorführung beizuwohnen, lehnte sich von hinten über Lorettas
Sessel. »Sie müssen sich diesen Film nicht ansehen«, sagte er mit
gedämpfter Stimme. »Denken Sie daran, wie labil Sie noch
sind…«
Loretta brachte den Psychologen mit einer fahrigen
Handbewegung zum Schweigen. »Ich würde alles tun, damit der Kerl,
der meine Entführung plante, endlich geschnappt wird«, erwiderte
sie rau. »Lassen Sie das Video endlich laufen, Agent
Trevellian!«
Ich drückte auf die Play-Taste. Auf dem Bildschirm zu sehen
war der Verkaufsraum des Juwelierladens. Da die Kamera unterhalb
der Decke angebracht gewesen war, sah man den Raum von einer
erhöhten Position aus. Greg Loone, ein Schwarzer in
maßgeschneidertem Anzug und mit kurzem Haar, ging zu einem Kasten,
der an der Wand hinter dem Verkaufstresen hing, und öffnete ihn.
Der Juwelier betätigte ein paar Knöpfe. Daraufhin begann sich
draußen eine Stahljalousie vor die Schaufenster zu senken.
Die Jalousie hatte kaum die Hälfte der Fenster bedeckt, als
plötzlich ein paar Gestalten vorbeihuschten. Die Tür wurde
aufgestoßen. Drei vermummte Gestalten tauchten unter der Jalousie
hindurch und erschienen im Verkaufsraum. Der Erste riss seine Waffe
hoch und legte direkt auf die Kamera an. Ein Schuss löste sich, und
das Bild brach zusammen. Stattdessen schwirrten nur noch schwarze
und weiße Streifen über den Bildschirm.
Da ich das Video bereits kannte, sah ich nicht auf den
Fernseher, sondern betrachtete Lorettas Gesicht. Es wurde
kreidebleich, als die Vermummten in dem Juwelierladen auftauchten -
und Loretta zuckte erschrocken zusammen, als einer von ihnen
schoss.
»Ich… ich möchte die Szene noch einmal sehen«, sagte Loretta
mit rauer Stimme.
Ich tat ihr den Gefallen und spulte die Kassette zurück.
Diesmal war Lorettas Miene völlig unbewegt, als der Film auf der
Mattscheibe ablief. Dann nickte sie plötzlich.
»Ja«, sagte sie. »Der Mann, der auf die Überwachungskamera
feuerte, ist der Boss der Kidnapper!«
»Sind Sie sich wirklich sicher?«, hakte Milo nach.
Loretta nickte. »Er hat dieselbe drahtige Statur und dieselbe
Art, sich zu bewegen.« Sie sah zu Milo auf. »Was ist mit dem
Juwelier geschehen?«
Milo atmete tief durch. »Er ist tot«, sagte er. »Die Kerle
haben ihn kaltblütig erschossen.«
Lorettas Kiefer mahlten. »So hätte es mir auch ergehen
können«, kam es dann rau über ihre zitternden Lippen. »Ich habe
meinen Chauffeur heute Nachmittag im Krankenhaus besucht. Er liegt
noch immer im Koma und wird vielleicht nie wieder erwachen. Was
sind das nur für Menschen, die eine unschuldige Frau entführen,
ihren Chauffeur lebensgefährlich verletzen und einen Juwelier
töten?«
Niemand in dem Raum sagte ein Wort. Doch dann war es Lafella,
der die Stille brach.
»Sie haben sich nun genug gequält, Loretta.« Vorwurfsvoll sah
er Milo und mich an. »Ich finde Ihre Vorgehensweise
verantwortungslos!«
»Regen Sie sich wieder ab«, gab Milo schroff zurück. »Wir
versuchen nur, ein Verbrechen aufzuklären. Und erst, wenn die
Gangster hinter Schloss und Riegel sind, hat Loretta wirklich eine
Chance, die schrecklichen Tage, die sie sich in der Gewalt der
Entführer befand, zu verarbeiten!«
Loretta erhob sich. Ihr weißes Kleid raschelte. »Werden Sie
den Kerl denn nun schnappen können?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. »Erst müssen wir die letzten
Berichte aus den kriminaltechnischen Labors abwarten.«
Loretta gab Lafella ein Zeichen und wandte sich zum Gehen.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn sich etwas Neues ergibt«,
bat sie, bevor sie zusammen mit dem Psychologen den Raum
verließ.
Lexington hatte inzwischen die Kassette aus dem Videogerät
geholt und überreichte sie mir.
»Wer war die Kleine, die vorhin bei Ihnen war?«, fragte ich
übergangslos.
Lexington errötete. Doch dann hatte er sich wieder unter
Kontrolle. »Sie ist bloß eine Freundin«, antwortete er ausweichend.
»Ihr Name ist Lana Lebowski.«
»Sie haben sie nie erwähnt«, sagte Milo. »Auch nicht, als wir
Sie darum baten, eine Liste von Ihren Freunden und Bekannten
anzufertigen. Jeder im Umfeld Ihrer Familie könnte als Täter
infrage kommen, das wissen Sie doch!«
Lexington sah Milo entrüstet an. »Aber doch nicht Lana!«, rief
er und lachte hart und trocken.
»Warum nicht?«
»Weil Lana mich liebt«, behauptete Lexington ein wenig
einfältig. »Außerdem wäre sie zu einem Verbrechen gar nicht fähig.
Sie ist ein wenig naiv und genießt es, auf der Sonnenseite des
Lebens zu stehen.«
»Wir werden Ihre Freundin trotzdem überprüfen müssen«,
erklärte Milo. »Wie lieb Sie sie auch immer finden mögen.«
»Sie verschwenden mit ihr nur Ihre Zeit«, entgegnete Lexington
überzeugt.
***
Am nächsten Morgen lagen die Berichte aus den Labors auf
unserem Schreibtisch.
Die ballistischen Untersuchungen der beiden Pistolenkugeln,
die in dem Juwelierladen sichergestellt worden waren, hatten
ergeben, dass sie aus derselben Waffe stammten. Demnach war der
Kerl, der die Überwachungskamera zerschoss, auch der Mörder von
Greg Loone. Es sei denn, er hatte seine Waffe während des Überfalls
an einen seiner Komplizen weitergegeben, der mit der Pistole dann
den Juwelier erschoss. Aber diese Möglichkeit erschien Milo und mir
eher unwahrscheinlich, da wir aufgrund der Videoaufzeichnung
wussten, dass die beiden anderen Kerle ebenfalls bewaffnet gewesen
waren.
Milo lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und warf den
Bericht der Ballistiker auf seinen Schreibtisch.
»Wir wissen also nun, dass der ›Boss‹ ein kaltblütiger Mörder
ist«, resümierte er. »Trotzdem haben wir noch immer keinen
Anhaltspunkt, wer hinter der verfluchten Maske steckt.«
»Ich frage mich die ganze Zeit, warum unser maskierter
Unbekannter gleich nach der erfolglosen Geiselnahme einen Juwelier
ausraubt«, murrte ich. »Der Kerl steckt wahrscheinlich in
finanziellen Schwierigkeiten und braucht dringend einen Haufen
Greenbucks.«
Milo brummte unzufrieden. »Wenn wir den Kerl doch nur schon
geschnappt hätten. Loretta muss Todesängste ausstehen. Seit wir ihr
gestern Abend das Video vorführten, hat sich ihre psychische
Verfassung bestimmt verschlechtert. Als sie sich von uns
verabschiedete, war ihr von der Selbstsicherheit, die sie auf der
Party zur Schau getragen hatte, nichts mehr anzumerken. Sie sah um
Jahre gealtert aus.«
»Du machst dir ja echt Sorgen um die Millionärin«, bemerkte
ich.
Milo zuckte mit den Schultern. »Irgendwie bewundere ich
Loretta. Sie hat einen starken Willen und einen wachen Geist. Ich
glaube, sie erinnert mich ein bisschen an meine eigene Mom.«
Ich grinste, doch ich wurde gleich wieder ernst. »Ich schlage
vor, wir nehmen noch einmal die Kerle in die Mangel, die wir bei
der Befreiungsaktion verhaftet haben«, sagte ich. »Wenn wir sie mit
den neuen Fakten über ihren Boss konfrontieren, lassen sie sich
vielleicht dazu hinreißen, uns doch einen Hinweis zu geben.« Die
drei Männer befanden sich noch in den Zellen im Keller des
FBI-Gebäudes.
Ich schnappte mir das Telefon und wählte die Nummer des Büros
von Irwin Foster und Dirk Baker, unseren
Vernehmungsspezialisten.
»Agent Baker«, meldete sich unser Kollege.
»Hi, Malcolm«, begrüßte ich den Innendienstler. »Milo und ich
wollen noch einmal die Männer vernehmen, die bei der Entführung von
Loretta Trade mitgewirkt haben.«
»Hey, wollt ihr Irwin und mir etwa in die Suppe spucken?«,
fragte Malcolm scherzend. »Wir haben die Bastarde ausgequetscht wie
Zitronen. Sie wissen wahrscheinlich wirklich nichts über ihren
Boss.«
»Ich zweifle ja gar nicht an euren gottgegebenen Fähigkeiten,
einem die Seele aus dem Leib zu fragen. Wir haben nur ein paar
Informationen, die wir den Ganoven nicht vorenthalten wollen.
Vielleicht frischt das ja ihr Erinnerungsvermögen auf, sodass sie
sich ganz plötzlich an etwas entsinnen, das sie vergaßen, euch zu
erzählen.«
»Verstehe«, brummte Malcolm. »Ich glaube, ich habe auch schon
den richtigen Kandidaten für euer Vorhaben. Versucht es einmal mit
Bobby Mandrake. Er ist der Jüngste aus der Gruppe und am labilsten.
Seine Mom hat ihn schon zwei Mal besucht. Jedes Mal gab es Tränen.
Heute hat sie kurz mit mir gesprochen. Du wirst es nicht glauben,
Jesse. Bobbys Mutter gestand mir, dass sie es war, die dem FBI den
anonymen Hinweis zukommen ließ, der zur Befreiung der Geisel und
der Verhaftung der drei Kidnapper führte. Sie hat ihrem Sohn
nachspioniert und war so auf das Versteck gestoßen.«
Ich stieß einen überraschten Pfiff aus. »Es muss sie große
Überwindung gekostet haben, ihren Sohn der Polizei
auszuliefem.«
»Sie sah wohl keinen anderen Weg, ihren Sohn wieder auf die
richtige Bahn zu bringen. Sie möchte allerdings nicht, dass wir es
Bobby erzählen. Von ihm ist allerdings am ehesten zu erwarten, dass
er mit Informationen rausrückt. Die beiden anderen Kerle sind
verstockt. Irwin und ich haben den-Verdacht, dass sie mehr wissen
als Bobby. Aber sie schweigen trotz all unserer Bemühungen. Wir
konnten noch nicht einmal in Erfahrurig bringen, aus welchem Land
sie stammen und wie sie in die Vereinigten Staaten
gelangten.«
»Diese Kerle geben nicht nur euch ein Rätsel auf«, erwiderte
ich. »Nachdem wir ihre Fingerabdrücke gescannt hatten, haben wir
die Prints mit den Daten aus den Archiven des FBI verglichen. Es
existieren dort aber keine Vermerke über die beiden Männer. Milo
und ich versuchten es dann auch noch bei Interpol und dem Archiv
der CIA, aber mit dem gleichen Ergebnis. Es sind nirgendwo
Informationen über die beiden Männer gespeichert.«
»Wenn ihr wollt, bringe ich Bobby sofort in einen
Vernehmungsraum«, sagte Malcolm.
»Danke. Wir sind gleich bei dir.«
***
Bobby Mandrake saß vornübergebeugt vor dem kleinen Tisch und
starrte auf seine gefalteten Hände, die auf der Holzplatte ruhten.
Bobby war ein athletischer, blonder Typ mit derben,
grobschlächtigen Gesichtszügen. Seine Haut war braun gebrannt und
wettergegerbt. Er hatte auf dem Bau gearbeitet, ehe er sich dazu
entschloss, die Laufbahn eines Schurken einzuschlagen.
Ich hatte Bobby gegenüber Platz genommen, während Milo an der
Wand neben der Tür lehnte. Gedämpftes Licht erfüllte den kahlen
Raum, der außer dem quadratischen Tisch und den Stühlen kein
Mobiliar aufwies. In die Wand rechts neben mir war eine dunkle
Scheibe eingelassen, durch die man nur von der anderen Seite
hindurchsehen konnte. In der schlauchartigen Kammer, die hinter der
Scheibe lag, hielt sich Dirk Baker auf, der die Vernehmung
mitverfolgen wollte.
»Du weißt, warum wir hier sind, Bobby«, eröffnete ich das
Gespräch.
»Na klar«, erwiderte Bobby, ohne von seinen Händen aufzusehen.
»Es geht um die Schlampe, die wir entführt haben. Ich kann schon
nicht mehr zählen, wie oft ich euch Bullen bis ins kleinste Detail
geschildert habe, wie die Sache abgelaufen ist. Ich war dafür
zuständig, ein passendes Versteck für die Millionärin zu finden,
weil die anderen Kerle sich in New York nicht auskannten. Bei der
Gefangennahme der stinkreichen Lady war ich nicht dabei. Ich hab
sie nur in dem abgebrannten Haus in der Bronx in Empfang genommen.
Lasst mich also endlich in Ruhe.«
»Wir sind erst dann mit dir fertig, wenn wir deinen Boss
geschnappt haben«, sagte Milo kalt.
»Verdammt!«, knurrte Bobby. Seine Hände verkrampften sich
ineinander, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich kenne das
Arschloch nicht, das sich hinter der Maske versteckt!«, rief er
zornig. »Wenn wir uns trafen, trug er immer seine verdammte
Sado-Maso-Maske.«
»Wir haben das Video aus dem Juweliergeschäft, das wir euch
gestern zeigten, Miss Trade vorgeführt«, erklärte ich
unbeeindruckt. »Sie behauptet, in einem der Kerle euren Anführer
wiedererkannt zu haben.«
Bobby kniff die Lippen zusammen, wodurch sein kantiges Gesicht
noch grobschlächtiger wirkte.
»Wir wissen inzwischen, dass dein Boss den Juwelier erschoss«,
sagte ich gedehnt, um die Worte auf Bobby wirken zu lassen. »Dein
Boss ist ein brutaler Killer. Er tötete den Juwelier ohne
ersichtlichen Grund.«
Bobby knetete seine Hände. Noch immer sah er nicht von der
Tischplatte auf. »Dieses Schwein!«, stieß er plötzlich gepresst
hervor. »Er hat versprochen, mich reich zu machen. Ich brauchte
dafür nur eine wohlhabende Tussi für einige Tage zu verstecken und
aufzupassen, dass sie niemanden von den anderen erkannte. Es würde
alles glattgehen, hat der Boss gesagt. Niemand würde etwas
passieren! Pah!« Bobby schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und nun
ist schon ein Mensch gestorben, und einer schwebt noch in
Lebensgefahr!«
»Du hast uns immer noch nicht gesagt, wie du mit dem
Maskierten zusammengekommen bist«, sagte ich.
Bobby schüttelte energisch den Kopf. »Es sind genug Leute
durch dieses maskierte Schwein in den Abgrund gerissen worden«,
meinte er rau. »Von mir erfahrt ihr nichts!«
»Dich wird es aber noch viel tiefer in den Abgrund reißen,
wenn dir vor Gericht vorgeworfen wird, einen Mörder zu decken«,
sagte Milo und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wie wird
deine Mutter reagieren, wenn sie bei ihrem nächsten Besuch erfährt,
dass ihr Sohn gemeinsame Sache mit einem Mörder macht?«
Bobby sprang auf. Schwer stützte er sich mit den Fäusten auf
die Tischplatte und starrte Milo mit wutfunkelnden Augen an. »Lass
meine Mutter aus dem Spiel, G-man!«, schrie er.
Milo sah Bobby gelassen an. Doch in Wahrheit war er genauso
angespannt wie ich. Ich war bereit, jeden Moment aufzuspringen um
mich auf Bobby zu werfen, falls er versuchen sollte, Milo
anzugreifen.
Aber so dumm war Bobby nun doch nicht. Wie festgenietet blieb
er stehen. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich, als
versuchte er, eine Luftmatratze aufzupusten. Er visierte Milo mit
feindlichem Blick, während es in seinem groben Gesicht nervös
zuckte.
Milo hatte Bobbys wunden Punkt getroffen!
»Du bist es, der deine Mutter unglücklich macht«, sagte Milo
hart. »Du kannst mir glauben, Es würde mich wirklich froh machen,
wenn ich ihr bei ihrem nächsten Besuch berichten könnte, dass du
Fortschritte machst und uns einen wichtigen Hinweis geliefert hast,
der uns vielleicht hilft, den maskierten Unbekannten zu fassen. Der
Richter wird das sicherlich auch anerkennen.«
Bobby sackte plötzlich in sich zusammen. Schwer ließ er sich
auf den Stuhl fallen und vergrub sein Gesicht in seine
Pranken.
»Also gut«, kam es dumpf zwischen den Fingern hervor. »Ich
sage euch, wer mich mit dem Maskierten zusammenbrachte. Aber ihr
dürft meinen beiden Mitgefangenen nichts davon verraten. Ich habe
Angst vor diesen Typen.«
»Versprochen«, sagte ich.
Bobby nahm die Hände vom Gesicht und sah mich unverwandt an.
In seinen Augen schwammen Tränen. »Der Mann, der mich mit dem
›Boss‹ zusammenbrachte, heißt Jacob Tregger. Tregger ist okay. Er
hatte seine Finger bestimmt nicht in dieser Entführungsgeschichte
drin. Aber er weiß eine Menge, was in der Szene so los ist.«
Bobby verschränkte wieder seine Hände ineinander und starrte
auf sie hinab. »Ich hatte Tregger erzählt, dass ich meinen Job auf
dem Bau verlieren würde. War bei der Arbeit ein paar Mal betrunken
und habe ziemlichen Mist gebaut. Der Vorarbeiter hatte schließlich
die Schnauze voll und erklärte, dass ich noch bis Ende der Woche
bleiben könnte. Danach sollte ich mich auf der Baustelle nicht
wieder blicken lassen.«
Tief atmete Bobby durch. Dann fuhr er fort: »Ich brauchte das
Geld aber, das ich auf dem Bau verdiente. Meine Mom… sie ist krank.
Ein Tumor wächst in ihrem Kopf. Die Operation ist teuer, und Mom
hat keine Krankenversicherung. Darüber hab ich mich bei Tregger
ausgeheult. Er hat so eine gewisse Art, es einem leicht zu machen,
ihm das Herz auszuschütten.«
»Und was weiter?«, fragte ich.
»Tregger sagte mir daraufhin, dass er etwas wüsste, was meine
Probleme ein für alle Mal aus der Welt schaffen könnte. Es war
etwas Illegales - das hat er mir von vornherein gesagt. Wenn ich
Interesse hätte, sollte ich mich um Mitternacht in einem
verlassenen Hinterhof in der Bronx einfinden.«
»Und du hast sofort zugestimmt?«, wollte ich wissen.
Bobby sah zu mir auf. »Ich habe lange überlegt, ob ich dort
hingehen soll«, sagte er. »Aber dann tat ich es doch. Schließlich
war es Tregger gewesen, der mir diesen Tipp gab. Er war immer wie
ein Vater zu mir, und ich vertraute ihm.«
»Was geschah dann?«
»In dem Hinterhof traf ich auf den Maskierten. Es waren sechs
andere Männer bei ihm. Zwei von ihnen habt ihr bei eurer Aktion
verhaftet.«
»Wie viele Leute gehörten insgesamt zu der Gang?«, fragte
Milo.
»Sieben«, antwortete Bobby. »Sie vinterhielten sich meistens
auf Spanisch. Ich glaube, die Männer kennen sich untereinander gut.
Und sie hatten einen Heidenrespekt vor dem maskierten Boss.
Wahrscheinlich hätten sie die Entführung ohne mich durchgezogen,
wenn sie nicht auf jemanden angewiesen gewesen wären, der sich in
der Bronx auskennt.«
»Das wäre besser für dich gewesen, Bobby«, sagte Milo.
Bobby zuckte mit den Schultern und grinste zynisch. »Ich
dachte, das Versteck in dem abgebrannten Haus wäre sicher. Aber ihr
habt es trotzdem gefunden.«
Dass wir diesen Umstand allein seiner Mutter zu verdanken
hatten, verschwiegen wir. Sie würde es ihrem Sohn vielleicht
irgendwann selbst sagen.
»Wo finden wir Tregger?«, wollte ich wissen.
»Er ist meistens in einem Club in Harlem. Der Schuppen heißt
Glitter-Lady. Es ist ein scharfer Laden. Und ich fürchte, ihr G-men
werdet ihn nun ruinieren und mit Razzien heimsuchen. Verfluchter
maskierter Kerl! Bringt nichts als Unheil. Ich bin froh, wenn ihr
ihn schnappt!«
Milo und ich tauschten einen raschen Blick. Es war Zeit, die
Vernehmung zu beenden.
»Du hast uns sehr geholfen, Bobby«, sagte ich und stand auf.
»Deine Mutter hat jetzt wieder einen Grund, stolz auf dich zu
sein.«
Wir wandten uns zum Gehen. Doch in der Tür drehte Milo sich
noch einmal zu dem Mann um, der nun wie ein Häuflein Elend an dem
Tisch kauerte und wieder auf seine gefalteten Hände starrte.
»Loretta Trade ist übrigens auch eine Mutter«, meinte er. »Sie
hat einen Sohn in deinem Alter.«
Bobby zuckte ungerührt mit den Schultern. »Miss Trade gehört
zur anderen Seite«, sagte er lapidar. »Sie ist Millionärin. Ihr
Schicksal interessiert mich nicht. Ich bereue es nicht, versucht zu
haben, ein Stück von ihrem Vermögen an mich zu reißen. Leider hat
es nicht geklappt. Meiner Mutter hätte es das Leben
gerettet.«
***
Milo und ich saßen in unserem Office, hatten die Krawatten
gelockert und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Beide starrten wir auf
den Bildschirm und warteten, was das elektronische Archiv uns auf
unsere Anfrage hin schicken würde.
»Na mach schon«, murrte Milo leise und trommelte mit den
Fingern entnervt auf die Tischplatte. Wahrscheinlich dachte er in
diesen Sekunden auch an den alten Neville, der früher in dem Archiv
gearbeitet hatte und an den wir unsere Anfragen gerichtet hatten,
die jetzt der Computer für uns bearbeitete. Mit seinem phänomenalen
Gedächtnis hatte Old Neville sich wie kein zweiter in dem
umfangreichen Archiv des FBI ausgekannt und uns über manchen
Mobster mit Informationen versorgt, die nicht einmal in den Akten
standen. Doch die Besuche in dem düsteren Archiv gehörten längst
der Vergangenheit an. Old Neville war in den wohlverdienten
Ruhestand getreten, und die Suchprogramme der Computer hatten seine
Aufgabe übernommen.
Ein leises Schnarren zeigte an, dass das Datenpaket aus dem
Archiv in unseren Computer geladen wurde. Ein Fenster mit dem
Suchbegriff, den wir auf die Reise in das elektronische Archiv
geschickt hatten, wurde geöffnet. »Jacob Tregger« lautete der Name,
auf den sich die eingehende Datei bezog. Sie schien ziemlich
umfangreich zu sein, denn es dauerte wieder einige Sekunden, bis
ein leiser Piepton uns signalisierte, dass der Vorgang
abgeschlossen war.
»Na endlich«, sagte Milo. »Länger hätte der alte Neville auch
nicht gebraucht, um die entsprechende Akte für uns herauszusuchen.
Nur dass er uns zwischendurch noch eine Anekdote aus seinem langen,
ereignisreichen Leben erzählt hätte.«
»Du machst wirklich keinen Hehl daraus, dass du dich mit dem
Computer nicht anfreunden kannst, Alter«, sagte ich und lächelte.
»Aber du hast recht. Old Neville fehlt mir auch. Wir haben viel von
ihm gelernt.«
Ich beugte mich vor und betrachtete den Bildschirm, auf dem
nun ein Text zu sehen war. In der rechten Ecke befand sich auch ein
Foto von Jacob Tregger. Er hatte ein schmales, hageres Gesicht,
halblanges dunkles Haar und buschige Brauen, die seine dunklen
Augen noch düsterer aussehen ließen.
»Sieh mal einer an«, murmelte Milo, der schon angefangen
hatte, den Text zu lesen. »Jacob Tregger hat wegen Drogenhandel
gesessen. Der Staatsanwalt hatte versucht, ihn als Kronzeugen für
einen Prozess gegen einen Mafiaboss zu gewinnen, für den Tregger
angeblich gearbeitet haben soll. Aber aus der Sache wurde nichts.
Tregger ließ sich nicht auf den Handel ein und brummte seine Zeit
im Knast ab, die ihm das Verfahren wegen Dealerei
einbrachte.«
»Um welchen Mafiaboss ging es dabei?«, fragte ich, da Milo den
Text bereits weitergescrollt hatte und ich mit dem Lesen nicht so
schnell nachkam.
»Der Kerl heißt Tim Monroe«, erklärte Milo, während er
weiterlas. »Die Behörden hätten ihn fast drangekriegt. Aber
letztendlich scheiterte die Überführung an der Loyalität seiner
Mitarbeiter. Jacob Tregger war nicht der Einzige, der aus Monroes
Dunstkreis in den Knast wanderte. In dieser Datei befindet sich
eine Liste von mutmaßlichen Mitarbeitern des Mobsters. Aber keiner
von ihnen hat gegen Monroe ausgesagt, sodass der Mobster am Ende
wieder freigelassen werden musste.«
Milo hatte den Text zu Ende gelesen und lehnte sich in seinem
Stuhl zurück.
»Geht aus der Datei hervor, welche Aufgabe Jacob Tregger in
der Organisation von Tim Monroe erfüllte?«, fragte ich.
»Angeblich war Tregger ein Vertrauter. Wenn das wirklich wahr
ist, muss er sehr viel Wissen über die Struktur und die Geschäfte
von Monroes Bande gehabt haben.«
Ich nahm die Maus zur Hand und scrollte den Text, bis die
Liste der mutmaßlichen Mitglieder von Monroes Organisation auf dem
Bildschirm erschien.
Rasch überflog ich die Namen - und stutzte.
»Wow!«, stieß ich hervor und deutete auf einen Namen auf der
Liste. »Sieh mal, wen ich hier gefunden habe!«
Milo beugte sich vor. »Greg Loone«, sagte er überrascht. »Der
ermordete Juwelier stand also im Verdacht, Monroes Organisation
anzugehören!«
»Die Sache nimmt langsam Formen an«, sagte ich. »Versuch mehr
über Tim Monroe herauszufinden. Ich werde inzwischen Mister McKee
anruf en und ihm unsere neuesten Erkenntnisse mitteilen. Und dann
knöpfen wir uns gemeinsam diesen Jacob Tregger vor!«
***
Eine Viertelstunde später hatte Milo alle nötigen
Informationen aus dem Computer gezogen. Wir wussten nun, dass Tim
Monroe in einer Villa im Norden von New York wohnte. Entweder war
er wirklich kein Mafioso gewesen, wie er behauptet hatte, oder aber
er hatte sich aus dem Geschäft zurückgezogen.
Jedenfalls war Tim Monroe, nachdem die Behörden ihn an der
Kandare hatten, nicht wieder in krumme Geschäfte verwickelt
gewesen. Er wurde noch lange vom FBI beschattet, und auch sein
Telefon wurde abgehört. Aber es gab in seinem Leben nichts, was
einen G-man hätte interessieren können.
Seitdem wurde Monroe nur noch sporadisch überprüft. Bisher
jedoch ohne Erfolg. Der ehemalige Mobster schien ein braver Bürger
geworden zu sein, der von Aktiengeschäften lebte.
Jacob Tregger wohnte in einem Apartment im oberen Stockwerk
eines alten Backsteinhauses in Harlem. Das Gebäude war schon
ziemlich alt und gehörte zu jenen Wohnhäusern, die wegen ihrer
nostalgischen Feuertreppen unter Denkmalschutz standen.
Draußen auf der Treppe lungerten ein paar Jugendliche herum.
Es waren hauptsächlich Schwarze. Sie rauchten Zigaretten und
lauschten hingebungsvoll dem schnodderigen Sprechgesang einer
Rap-Band, der aus einem schrottigen Ghettoblaster dröhnte. Die
Jungs wiegten ihre Köpfe im Rhythmus der Basdrum und schrien
»Yeah!«, wenn ihnen eine Textpassage besonders gut gefiel. Ein paar
Girls in Lederklamotten und schwarzer Spitze standen neben der
Treppe und kicherten, als Milo und ich wie Störche über die Jungs
hinweg staksten und zum Eingang hinauf gingen.
In dem düsteren Treppenhaus roch es muffig und nach billigem
Essen. Der Rap-Song hallte dumpf in dem Treppenschacht nach. Aber
keinen der Bewohner schien das zu stören. Oder sie wagten nicht,
das Wort gegen die Jugendlichen zu erheben.
Milo und ich stiegen die ausgetretenen Stufen empor. Hinter
einer Apartmenttür im ersten Stock schrie ein Baby.
»Verdammt, Donna! Kümmer dich endlich um deine hysterische
Tochter!«, rief ein Mann.
»Halt die Klappe, du Nichtsnutz!«, kam prompt Donnas Antwort.
Ihre Stimme war fast so schrill wie die des Babys.
Die beiden stritten sich noch eine Weile weiter. Aber Milo und
ich konnten die Worte nicht mehr verstehen. Stockwerk für Stockwerk
arbeiteten wir uns in dem Treppenhaus empor. In fast jeder Etage
schlug uns ein anderer Geruch entgegen.
Dann endlich hatten wir das oberste Stockwerk erreicht. Drei
Türen gingen von dem Flur ab. Sie sahen insgesamt etwas gepflegter
aus als die übrigen, die wir in dem Haus bisher gesehen hatten, was
vermuten ließ, dass die Mieter wohlhabender waren als der Rest der
Hausbewohner. Auch in Harlem musste man für eine Wohnung in den
oberen Etagen, wo der Lärm nicht ganz so schlimm und der Ausblick
besser war, mehr bezahlen.
Das Schildchen mit der Aufschrift: »Tregger« verriet uns, dass
unser Mann in der linken Wohnung wohnte. Milo drückte auf die
Klingel, und kurz darauf waren schlurfende Schritte hinter der Tür
zu vernehmen. Eine verschlafene weibliche Stimme fragte: »Tregger,
bist du das?«
Milo und ich sahen uns an. Es hörte sich ganz so an, als wäre
Tregger nicht zu hause. Trotzdem würden wir die Wohnung
durchsuchen. Einen Hausdurchsuchungsbefehl hatten wir in der
Tasche. Der Federal Atomey hatte sich in dieser Beziehung nicht
lumpen lassen.
»He! Wer, zum Teufel, ist da?«, rief die Frau durch die
verschlossene Tür. »Wenn ihr die Freaks seid, die den ganzen Tag
auf der Treppe abhängen und die Leute mit eurer Musik nerven, rate
ich euch, lieber zu verschwinden. Ich bin nicht besonders gut
aufgelegt!«
»Wir sind vom FBI!«, rief ich und zog meine Dienstmarke, um
sie der Frau gleich vorführen zu können, wenn sie die Tür
öffnete.
Doch daran schien sie kein Interesse zu haben. Hektische
Geräusche waren plötzlich hinter der Tür zu hören. Dann folgte ein
hartes metallisches Ratschen.
»Achtung!«, rief Milo und versetzte mir einen derben Stoß,
sodass ich von der Tür wegkatapultiert wurde.
Im nächsten Moment barst das Türblatt, als zwei rasch
aufeinanderfolgende Schüsse darauf abgegeben wurden.
Holzsplitter fetzten in den Flur, und der Putz der
gegenüberliegenden Wand bekam zwei kleine Krater.
Die Frau benutzte wahrscheinlich eine doppelläufige
Schrotflinte!
Bevor sie wieder schießen konnte, musste sie die Waffe
nachladen.
Milo und ich zogen unsere SIG-Sauer-Pistolen, gingen neben der
Tür in Stellung. Es bedurfte nur einiger knapper Gesten, um unser
Vorgehen aufeinander abzustimmen. Dann ging ich rasch in die Knie
und postierte mich mit einem Dreh um meine Achse direkt vor die Tür
- die SIG- schussbereit in meinen Fäusten. Durch das Loch, das die
Schrotladungen in das Holz geschlagen hatten, erhaschte ich einen
Blick in den Flur der Wohnung.
Eine schwarzhaarige Frau, die nichts als einen weißen
Tanga-Slip trug, fingerte hektisch an einer Schrotflinte herum,
dessen Zwillingslauf abgesägt war. Lange schwarze Haarsträhnen
bedeckten das Gesicht des Girls.
Milo schnellte sich von der Wand ab, wirbelte herum und gab
der Tür einen Tritt. Das zerstörte Türblatt schwang auf und krachte
gegen die Wand.
Der Kopf des Girls ruckte hoch. »Scheiße!«, schrie sie und
warf die Schrotflinte zu Boden.
Der kurze Blick in das zierliche Gesicht des Girls reichte
aus. Ich hatte dieses Gesicht mit den grünen Augen, der langen
schmalen Nase und den geschwungenen Brauen vor wenigen Tagen auf
einem Fahndungsfoto gesehen, das von dem Feldbüro in New Haven an
alle FBI-Dienststellen der Vereinigten Staaten verschickt worden
war.
Die Frau hieß Sandra Ryan. Sie hatte in New Haven einen
Geldtransporter überfallen und auf der Flucht einen Cop
lebensgefährlich verletzt. Seitdem wurde überall fieberhaft nach
ihr gesucht.
»Stehen bleiben!«, rief ich.
Aber die Frau hörte nicht. Rasch verschwand sie in einem
angrenzenden Zimmer.
Milo und ich stürmten in den Korridor und gingen neben dem
Durchgang, durch den die Frau verschwunden war, erneut in
Deckung.
»Kommen Sie mit erhobenen Händen raus, Miss Ryan!«, rief Milo,
der die Frau ebenfalls erkannt hatte.
»Einen Scheißdreck werde ich!«, schrie Sandra mit
überschnappender Stimme. »Ich warne euch! Ich bin bewaffnet! Wer
sich blicken lässt, dem verpass ich eine Kugel!«
»Machen Sie Ihre Situation nicht noch schlimmer«, versuchte
ich es mit Psychologie. »Geben Sie auf, Sandra! In Ihrem Aufzug
kommen Sie sowieso nicht weit!«
Lautes Rumoren und Poltern war plötzlich zu hören. Das Girl
schien ziemlich beschäftigt zu sein.
Ich nutzte meine Chance und huschte flink in den angrenzenden
Raum. Milo gab mir Deckung.
Aber Sandra Ryan war nicht mehr im Zimmer. Ich sah gerade
noch, wie sie aus dem Fenster verschwand. Sie hatte sich eine
Lederjacke übergeworfen. Sie war ihr um einige Nummern zu groß und
reichte ihr bis knapp über den knackigen Po.
»Sie ist über die Feuerleiter getürmt!«, rief ich Milo zu.
»Ich verfolge sie. Versuch du, ihr den Weg abzuschneiden!«
Milo wirbelte herum und stürmte aus der Wohnung. Ich rannte
unterdessen zum Fenster, kletterte hindurch und stand wenig später
auf dem Rost, der die oberste Plattform der Feuerleiter bildete und
sich die ganze Fassade entlang erstreckte.
Unter mir ertönten die Schritte der Flüchtenden. Das Gerüst
bebte. Durch den Bodenrost hindurch sah ich auf Sandra Ryan herab,
barfuß und mit fliegendem Haar. In ihrer zierlichen Hand hielt sie
einen klobigen Revolver.
Augenblicklich begann ich mit der Verfolgung. Ich musste die
Frau aufhalten, bevor sie die Straße erreichte und mit ihrer Waffe
Unheil anrichten konnte.
Immer drei Stufen auf einmal nehmend stürmte ich die steile
Eisentreppe hinab.
Sandra wirbelte plötzlich herum, riss den Revolver hoch und
feuerte, traf aber nicht.
Doch sie hatte einen Vorsprung gewonnen und stürmte bereits
die unter mir gelegenen Treppen hinunter.
»Mist!«, presste ich hervor und hastete die Stufen hinab, bis
ich die nächste Plattform erreichte.
Eine dicke weiße Frau lehnte sich aus einem Fenster. Sie trug
eine geblümte Schürze und sah ziemlich übellaunig aus.
»Was soll der Krach?«, meckerte sie. »Reicht es nicht, dass
ihr jungen Burschen uns mit eurer abartigen Musik
malträtiert?«
»Ziehen Sie den Kopf wieder ein!«, rief ich, während ich an
der Frau vorbeirannte. Ich spähte durch den Rost nach unten - und
sah, wie Sandra durch ein Fenster stieg und verschwand!
Verflucht! Sandra war in eine Wohnung eingedrungen! Damit
hatte ich nicht gerechnet.
Sekunden später erreichte ich die nächste Plattform. Über mir
zeterte die Frau noch immer. Sie schien das alles für eine Art
Spiel zu halten. Ich stürmte zu dem Fenster, durch das Sandra
gestiegen war, presste mich mit dem Rücken gegen die Mauer.
Vorsichtig spähte ich dann durch das Fenster, die SIG schussbereit
in der Rechten.
Das Zimmer, in das ich sah, war einfach und billig
eingerichtet. Sandra beugte sich in diesem Moment über einen
Laufstall. Rabiat riss sie das Baby, das sich darin befand, an
sich.
Ich zielte mit der Waffe auf das Girl. Doch da wirbelte Sandra
auch schon mit dem Baby auf dem Arm zu mir herum, den Lauf ihres
Revolvers gegen die Brust des kleinen Bündels gedrückt.
Sandras Gesicht war verschwitzt. Die schwarzen Haarsträhnen
klebten auf ihrer Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie
mich an.
»Verpiss dich, Scheiß-Bulle!«, schrie sie mit überschnappender
Stimme. »Oder ich puste diesem schwarzen Balg das Lebenslicht
aus!«
»Beruhigen Sie sich, Sandra!«, sprach ich eindringlich auf sie
ein. »Sie haben in New Haven eine Dummheit begangen. Wollen Sie
Ihre Fehler wiederholen?«
Weiter kam ich nicht, denn in diesem Moment regte sich
plötzlich etwas in dem Fernsehsessel, der rechts in einer Ecke des
Zimmers stand. Es war ein Schwarzer, der offenbar in dem Sessel
geschlafen hatte und nun erwachte. Ein schmuddeliges
Rippenunterhemd spannte sich über seinen massigen Leib. Er trug
eine verbeulte Jogginghose und ausgetretene Turnschuhe, um die
herum sich leere Bierdosen auf dem Boden' gruppierten. Links von
mir und dem Mann gegenüber stand eine Glotze. Über den Bildschirm
flimmerte ein Boxkampf. Der Ton war auf stumm geschaltet.
Sandra hatte den Mann vorher anscheinend noch nicht bemerkt.
Hektisch blickte sie nun zwischen ihm und mir hin und her.
»He!«, rief der Mann mit rauer, verschlafener Stimme. »Was
geht denn hier ab? Lassen Sie sofort meine Kleine wieder
runter!«
Er machte Anstalten sich in dem Fernsehsessel
hochzustemmen.
Sandra reagierte eiskalt. Sie riss den Revolver von dem Baby
fort und schoss auf den Mann. Die Kugel traf ihn in die Brust und
schleuderte den Schwarzen in den Sessel zurück. Das Baby fing
daraufhin an zu schreien und strampelte mit den Ärmchen und
Beinchen.
Ich hatte Sandra genau im Visier, konnte aber nicht abdrücken,
da sie das zappelnde Baby vor ihrer Brust hatte.
Der Mann in dem Fernsehsessel röchelte und spuckte Blut. Ein
Zittern durchlief seinen massigen Körper, und seine Augen waren
panikartig aufgerissen.
»Verdammt, Sandra!«, rief ich und kletterte langsam durch das
Fenster, wobei ich die Frau immer im Visier hatte. »Sie machen
alles nur noch schlimmer. Leben Sie das Baby zurück!«
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, kreischte Sandra. Tränen schossen
ihr in die Augen, während sie den Revolver demonstrativ auf das
Baby richtete. »Tregger, dieses Schwein - er hat mir versprochen,
ich wäre bei ihm sicher. Stattdessen hetzt er mir das FBI auf den
Hals. Was zahlt ihr ihm, damit er seine Freunde verpfeift?«
»Sie irren sich«, entgegnete ich ruhig. »Nicht wegen Ihnen
sind wir hier. Wir wussten nicht, dass Sie sich in der Wohnung von
Jacob Tregger aufhielten. Eigentlich hatten wir Tregger bloß ein
paar Fragen stellen wollen. Sie sehen also, dass Sie gar keinen
Grund haben, durchzudrehen. Leben Sie das Baby jetzt endlich
zurück. Dann sprechen wir über alles.«
Die Frau stieß ein hartes, freudloses Lachen aus. »Für wie
blöd halten sie mich? Ich will nicht in den Knast. Wo ist
eigentlich Ihr Partner?«
Sandra sah sich hektisch um, ohne dabei ihre Deckung zu
vernachlässigen. Die Frau war gefährlich und unberechenbar. In dem
Dossier, das uns das Field Office in New Haven zusammen mit dem
Fahndungsfoto geschickt hatte, stand, dass Sandra wegen
Körperverletzung und Diebstahl bereits mehrfach vorbestraft war.
Ein nicht gerade gewöhnlicher Lebenslauf für eine junge Frau, die
ziemlich attraktiv und zierlich aussah.
»Mein Kollege wartet unten beim Hauseingang«, sagte ich und
ging dabei seitlich zu dem Mann im Fernsehsessel. Sein
schmuddeliges Unterhemd hatte sich über der Brust rot verfärbt. Er
hatte inzwischen das Bewusstsein verloren, und der Kopf war ihm auf
die Brust gesunken. Wenn ihm nicht rasch geholfen wurde, würde er
in seinem Fernsehsessel verbluten.
Da bemerkte ich die Fernbedienung für den Fernseher. Sie lag
zwischen den leeren Bierdosen auf dem Boden. Der Knopf für die
Stummschaltung glimmte rot.
Ich fing Sandras Blick ein und setzte dann langsam den Fuß auf
die Fernbedienung.