4 Krimis Sonderband 1004 - Alfred Bekker - E-Book

4 Krimis Sonderband 1004 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Diese Ausgabe enthält folgende Titel: (499XE) Franklin Donovan: Trevellian und die blutige Grenze Alfred Bekker/W.A.Hary: Treffpunkt Hölle W.A.Hary: Ein Killer kommt selten allein Alfred Bekker: Die toten Frauen Ein Frachter mit grauenerregender Ladung erreicht den Hafen. Und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Von den Opfern dieser unheimlichen Mordserie ist nicht viel geblieben – und das wenige muss ausreichen, um die Täter zu überführen!

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Alfred Bekker, W.A.Hary, Frank Donovan

4 Krimis Sonderband 1004

UUID: 4181e4dc-b8d7-4e3b-8764-ff7232604cd7
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Inhaltsverzeichnis

4 Krimis Sonderband 1004

Copyright

Trevellian und die blutige Grenze: Kriminalroman

TREFFPUNKT HÖLLE

Ein Killer kommt selten allein

Die toten Frauen

4 Krimis Sonderband 1004

Alfred Bekker, W.A.Hary, Franklin Donovan

Diese Ausgabe enthält folgende Titel:

Franklin Donovan: Trevellian und die blutige Grenze

Alfred Bekker/W.A.Hary: Treffpunkt Hölle

W.A.Hary: Ein Killer kommt selten allein

Alfred Bekker: Die toten Frauen

Ein Frachter mit grauenerregender Ladung erreicht den Hafen. Und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Von den Opfern dieser unheimlichen Mordserie ist nicht viel geblieben – und das wenige muss ausreichen, um die Täter zu überführen!

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Trevellian und die blutige Grenze: Kriminalroman

Franklin Donovan

Eine der Frauen begann zu weinen. Pedro Fernandez trat neben sie, packte sie grob am Arm. Seine Worte klangen so leise und gefährlich wie das Zischeln einer Klapperschlange.
»Halts Maul, Schlampe! Wenn ich noch einen Ton von dir höre, lasse ich dich hier!« Die schöne junge Frau biss die Zähne zusammen und verstummte. Sie bezwang die Angst, die Kälte, das Heimweh nach ihrem Dorf. Sie wollte nicht hier gelassen werden, mitten in der mexikanischen Wüste. Die Latina würde alles tun, um hinüber in die USA zu kommen. Buchstäblich alles…
Genau wie die anderen fünfzig Frauen, die Pedro Fernandez in dieser wolkenreichen Nacht von Mexiko nach Amerika führte. Keine von ihnen hatte einen gültigen Pass. Aber alle hofften auf eine bessere Zukunft im reichen Norden.
Bisher war alles glattgegangen. Motorengeräusch, das sich rasch näherte. Die U.S. Border Patrol.
Fernandez machte ein Handzeichen. Doch die Killer, aus denen sein ›Begleitschutz‹ bestand, waren schon alarmiert. Einer von ihnen schulterte eine Bazooka…
***
Jay Avery freute sich auf seinen Geburtstag.
Der Beamte der U.S. Border Patrol fuhr in dieser Nacht südlich von Nogales Streife. Auf einem Abschnitt von rund fünfzig Meilen setzte die Grenzbehörde ganze acht Mann ein. Auf der anderen Seite, im mexikanischen Bundesstaat Sonora, warteten Abertausende von Illegalen. Jeder von ihnen war wild entschlossen, hinüber nach Arizona zu kommen.
Avery kam sein Job oft sinnlos vor. Meist fingen er und sein Partner David Goyer wirklich ein paar arme Teufel und schickten sie zurück nach Mexiko. Dann versuchten es die Kerle eben in der nächsten Nacht noch mal. Sie hatten ja nichts zu verlieren.
Im Grunde taten die illegalen Einwanderer dem Grenzer Leid. Sie waren nur Opfer des Elends im eigenen Land. Und wurden auch noch ausgenommen von diesen Grenzschleusern, die ›Kojoten‹ genannt wurden.
»Da regt sich was!«
David Goyers Stimme riss Avery aus seinen Gedanken. Die Border Patrol hatte nur wenig Personal, war aber technisch perfekt ausgerüstet. Mannshohe Zäune, Bewegungsmelder, mit Radar ausgerüstete Fesselballons, Überwachungsflugzeuge… Der Landrover, in dem sie saßen, war gepanzert. Die Methoden der ›Kojoten‹ wurden nämlich in letzter Zeit immer brutaler.
Seit einem halben Jahr schienen die Grenzübertritte in großem Stil organisiert zu sein…
Im Wagen von Avery und Goyer befand sich ein Wärme-Sensor. Das Gerät konnte menschliche Körper auf eine Meile hin anpeilen. Dort vor ihnen, im Schwarz der kalten Wüstennacht, musste gerade eine größere Gruppe die Grenze passiert haben.
»Ich gebe Alarm!«, brummte Avery und griff zum Mikrofon des Funkgeräts. Er hoffte sehr, dass es keinen Ärger geben würde. Gleich nach dieser Nachtschicht würde seine Frau mit einem Geburtstagsfrühstück auf ihn warten. Wie sie es immer getan hatte in den bisher zwanzig Jahren einer glücklichen Ehe.
Goyer riss das Lenkrad herum. Die starken Suchscheinwerfer des Border-Patrol-Fahrzeugs glitten über die nackten Hügel des Grenzgebiets. Das Offroad-Fahrzeug rumpelte durch ein ausgetrocknetes Flussbett.
»Streife vier an HQ!« Avery brüllte, um das Aufröhren des Motors zu übertönen. »Verdächtige Personen in Abschnitt C! Nord-Nordwest von… verdammt!«
Der Beamte unterbrach sich. Vor ihm in der Dunkelheit sah er eine Bewegung. Etwas blitzte auf, gefolgt von einem dumpfen Knall. Und dann zerbrach die Welt um Jay Avery herum.
Die leichte Panzerung des Fahrzeugs reichte nicht aus, um gegen das Explosivgeschoss aus der Panzerfaust abzuschirmen. Die Killer hatten gut gezielt. Das Border-Patrol-Fahrzeug wurde frontal erwischt.
Der Motorblock flog auseinander. Eine Stichflamme erhellte plötzlich die Wüste Arizonas im Umkreis von einer halben Meile.
Avery war geblendet von dem Feuer. Wie durch ein Wunder schaffte es der schwerverletzte Border Patrol-Man, die Beifahrertür aufzustoßen. David Goyer hing im Gurt, und aus einer klaffenden Kopfwunde sprudelte das Blut über sein Gesicht.
Mit letzter Kraft löste Avery seinen eigenen Sicherheitsgurt. Dass sein Partner tot war, daran bestand für ihm kein Zweifel.
Seine eigenen Schmerzen verursachten ihm seltsame Visionen.
Kerzen…, dachte der Verletzte beim Anblick des lichterloh brennenden Fahrzeugs. Das sind doch nur die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen…
Ein paar Yards kroch Jay Avery noch durch den kalten Sand. Dann erwischte ihn ein Killer.
Eine Garbe aus einer kurzläufigen Uzi-Maschinenpistole hämmerte in den Kopf und Oberkörper des Beamten.
Jay Avery erlebte seinen fünfundvierzigsten Geburtstag nicht mehr…
***
Pedro Femandez scheuchte die einundfünfzig Frauen weiter. Trotz des grässlichen Anblicks der toten Border-Patrol-Männer hatte keine von ihnen mehr geschrien oder geweint. Zu groß war die Angst, von dem ›Kojoten‹ nicht mit nach Amerika genommen zu werden.
Fernandez grinste zufrieden, was in der Dunkelheit natürlich niemand sehen konnte. Sein mageres Gesicht mit dem dünnen Schnurrbart war wettergegerbt und dunkel.
»Vamos!«, sagte der Verbrecher, halb zu sich selber. »Wieder zwei vqn diesen verdammten Gringos weniger! Wer sich Esperanza in den Weg stellt, dem bekommt das sehr schlecht!«
***
Señor Semilla hustete.
Diesmal dauerte es minutenlang, bis sein Anfall vorbei war. Die Augen quollen dem Fünfzigjährigen aus dem Kopf, als er verzweifelt nach Luft rang.
Seine Tochter Julia legte ihm ein nasses Tuch auf die Stirn. Viel mehr konnte sie nicht tun. Der medico war schon da gewesen. Er hatte nur ein Medikament dagelassen, das sowieso nicht half. Für eine Wirksame Medizin musste Geld bezahlt werden, das die Semillas nicht hatten.
Eduardo Semilla war schon länger krank. Er wirkte wie Mitte Sechzig. Denn hier, in El Centro, der Altstadt von Mexico City, alterten die Menschen schneller. Vor allem, wenn sie arm waren.
Julia rang verzweifelte die Hände. Ihr Vater warf sich in dem durchgelegenen Bett hin und her. Die Tür knarrte. Señora Semilla kam von der Arbeit im supermercado in Tacubaya. Julias Mutter schuftete dort stundenweise als Kassiererin. Das Geld reicht trotzdem hinten und vorne nicht.
»Dios Mio!«, seufzte Señora Semilla. »Geht es Papa immer noch nicht besser?«
Julia antwortete nicht. Die schöne junge Frau blickte geradeaus. Aber sie sah nicht ihre frühzeitig gealterten Eltern. Und auch nicht die saubere, aber schäbige Zwei-Zimmer-Wohnung an einer verkehrsreichen Avenida. Julia hatte plötzlich einen Tagtraum.
In dieser Vision lag ihr Vater entspannt auf einem Krankenhausbett in einer teuren Privatklinik. Ein Lungen-Sanatorium, auf den Hügeln um Acapulco. Von dort hatte er einen herrlichen Blick auf den blauen Ozean, während er von Schwestern und renommierten Ärzten Tag und Nacht umsorgt wurde.
Julia stand auf wie in Trance.
»Wo willst du hin, Chica?« Ihre Mutter hatte begonnen, in der kleinen Küche das einfache Abendessen zu bereiten.
»Ich muss noch was erledigen, Mama. Bin bald wieder da…«
Julia Semilla eilte die ausgetretenen Stufen hinunter. Die Neunzehnjährige war in Mexico City aufgewachsen. Sie kannte nichts anderes. Hier lebten ihre Freundinnen, hier hatte sie sich zum ersten Mal verliebt. Aber nun wurde ihr klar, dass sie gehen musste.
Um ihren Vater zu retten…
Plötzlich hatte die junge Frau es sehr eilig. Sie hatte wochenlang mit sich selbst gerungen. Aber jetzt, wo sie sich entschlossen hatte, war alles ganz einfach.
Julia Semilla lief über die Plaza de Santo Domingo, wo sich die Medizinschule befindet. Das Mädchen hätte selber gerne Medizin studiert. Aber woher hätten ihre Eltern das Geld dafür nehmen sollen?
Doch jetzt hatte Julia eine bessere Idee. Jedenfalls glaubte sie das…
Ein unentwegtes Klappern tönte über die Plaza. Das waren die Schreibmaschinen der Schreiber. Kleine Männer, die unter den Arkaden saßen und für die zahlreichen Analphabeten Briefe und andere Schriftstücke tippten.
Die Schreiber und ihre Kunden schickten Julia anerkennende Pfiffe hinterher, obwohl sie in ihrem knielangen blassgelben Kleid nicht besonders aufreizend gekleidet war. Die junge Frau ließ sich davon nicht beirren. Sie wusste, dass sie gut aussah.
An der Plaza Garibaldi machten sich die Mariachi-Musiker mit ihren breiten Sombreros bereit, den Touristen heile mexikanische Welt vorzuspielen.
Doch das interessierte Julia Semilla nicht. In einer Nebenstraße der Plaza Garibaldi saß die Firma, zu der es Julia hinzog.
ESPERANZA (Spanisch: HOFFNUNG)
Mit großen roten Neonbuchstaben prangte das Wort an der Vorderfront eines zweistöckigen Gebäudes.
Jetzt oder nie, sagte sich die junge Frau.
Mit klopfendem Herzen trat die Neunzehnjährige durch die spiegelblanke Glastür.
Die Halle machte einen vornehmen Eindruck. Marmorfußboden, antike Möbel, ein Ölgemälde, das den mexikanischen N ationalhelden Pancho Villa zeigte.
Eine etwa dreißigjährige Frau saß an einem verschnörkelten Schreibtisch. Obwohl die Empfangsdame geschminkt war wie eine puta, fühlte sich Julia sofort zu ihr hingezogen.
»Buenos Dias! Wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Neunzehnjährige errötete. Nun wurde es ernst.
»Ich… ich suche Arbeit…«
»In Amerika, nicht wahr?« Verschwörerisch blinzelte die Empfangsdame dem unerfahrenen Mädchen zu.
»Ja.«
»Arbeit gibt es dort mehr als genug«, lockte die stark Geschminkte, »und wenn Sie fleißig sind, können Sie ein Vermögen verdienen.«
Ein Vermögen! Das waren genau die Worte, die bei der verzweifelten Julia auf fruchtbaren Boden fielen. Doch noch waren ihre letzten Hemmungen nicht gefallen.
»Ich… ich habe aber kein Visum für Amerika. Und auch keine Green Card. Noch nicht mal einen gültigen Pass…«
»Das macht nichts!«, lachte die Frau von ›Esperanza‹. »Um den Papierkram kümmern wir uns…«
***
Diese Nacht war viel zu schön zum Sterben.
Das war mein Gedanke, als ich plötzlich in die Revolvermündung von Harry Finch starrte.
Mein Freund und Dienstpartner Milo Tucker und ich hatten diesen verdammten Raubmörder seit zwei Tagen und zwei Nächten gejagt. Seine ersten Bluttaten hatte Finch drüben in New Jersey begangen. Dann hatte er einen Chevy geklaut, war damit nach New York gekommen und hatte hier wieder zugestochen mit seinem verdammten Sägemesser.
Drei Morde, begangen in zwei Bundesstaaten, alle offenbar mit derselben Waffe. Ein klassischer FBI-Fall.
»Ich werde meine besten Leute auf Finch ansetzen!«, hatte unser Chef Jonathan D. McKee dem Commissioner von Jersey City versprochen. Milo und ich hatten uns sofort auf die Jagd nach dem Raubmörder gemacht.
»Auf Wiedersehen in der Hölle, Fed!«, ächzte der Raubmörder. Er war plötzlich aus einem Wäldchen im nördlichen Central Park getreten. Milo und ich hatten uns getrennt, damit uns Finch nicht durch die Lappen gehen konnte. Und nun waren wir selbst die Gejagten.
Es war schon seit einigen Stunden dunkel, doch trotz des leichten Nebels vom See her bot der Vollmond genügend Licht, so dass ich in seinem silbrigen Schein alles mit erschreckender Deutlichkeit erkennen konnte.
Ich hatte so gut wie keine Chance.
Ich würde keine Zeit mehr haben, um zu meiner Dienstpistole der Marke SIG Sauer P226 zu greifen. Harry Finch stand zehn Schritte links von mir zwischen einigen jungen Bäumen.
Finch zog den Stecher durch.
Das Geschoss prallte auf meine Brust.
Zum Glück hatte der Killer nicht auf meinen Kopf gezielt. Denn dann hätte mir meine schusssichere Kevlar-Weste nichts genützt.
Milo und ich hatten uns an diesem Morgen damit ausgerüstet. So als hätten wir geahnt, dass sich Finch nicht mehr mit seinem Sägemesser begnügen würde.
Es schmerzte in meinen Lungen. Ein Gefühl, als wäre ich mit einem Schmiedehammer getroffen worden. Obwohl mich der Aufschlag der Patrone nicht umgeworfen hatte, ließ ich mich trotzdem fallen. Finch sollte denken, ich sei verletzt.
Noch während ich fiel, griff ich zu meinem Ballermann.
Leider war der Verbrecher nicht von gestern.
Sein schweißnasses Gesicht verzerrt sich vor Hass. Fed hatte er mich genannt, eine Abkürzung von Federal. Also wusste er, dass ich für die Bundespolizei FBI arbeitete. Hatte Finch schon länger geschnallt, dass Milo und ich ihn jagten? Spielte er Katz und Maus mit uns?
Darüber konnte ich mir später den Kopf zerbrechen.
Jetzt galt es, die nächsten Minuten zu überleben: Und den Killer kampfunfähig zu machen.
Ich lag auf der linken Seite, meine Knarre jetzt mit beiden Händen haltend. Vor mir der Kiesweg, über den ich eben noch geschlichen war. Der Killer war wieder zwischen den Bäumen in Deckung gegangen. Und schoss auf mich.
Eine Patrone sirrte unmittelbar neben meinem Schädel vorbei und schlug in den Kies. Die Steinchen flogen mir um die Ohren.
Ich erwiderte das Feuer. Durch das Double-Action-Prinzip lud sich meine Pistole nach jedem Schuss automatisch neu. Durch den Rückstoß.
Nachdem ich zweimal geballert hatte, rollte ich mich seitlich weg.
Finch war nicht dumm. Er würde kapieren, dass ich eine kugelsichere Weste trug. Und deshalb nur noch auf meinen Kopf zielen.
Meine Kugeln hatten ihn verfehlt. Kein Wunder bei meiner miserablen Schussposition. Ich lag da wie auf dem Präsentierteller. Auf meiner Seite des Weges gab es keine Bepflanzung.
Da mischte sich eine weitere Waffe in das Duell zwischen Harry Finch und mir. Eine SIG Sauer.
Milo!
Mein Freund und ich hatten verabredet, den kleinen See namens The Pool im Central Park zu umrunden. Einer vom Norden, einer vom Süden her. Dann wollten wir uns wieder treffen.
Vom See her zogen Nebelschwaden durch den Park, erschwerten zusätzlich noch die Sicht.
Milo musste alle Sprintrekorde gebrochen haben, um mir zu Hilfe zu eilen.
Ich bemerkte, wie der Killer weiter zurückwich. Von meinem Standort aus konnte ich Milo nicht sehen. Aber ich hörte, wie er Harry Finch Saures gab.
BOOM! - BOOM! - BOOM!
Dann erklang wieder die Waffe des Mörders. Ich hatte Finch aus den Augen verloren.
Eine halbe Minute später ertönte Milos Stimme.
»Er entkommt, Jesse!«
Ich federte hoch. Im Zickzack rannte ich auf das Wäldchen zu, von dem aus mich der Killer unter Feuer genommen hatte. Die Bäume standen ziemlich dicht, boten gute Deckung, und das Licht des Mondes reichte hier auch nicht mehr, um einen guten Schuss anzubringen.
Ich arbeitete mich vor. Kam an der Stelle vorbei, wo Finch mir aufgelauert hatte.
Zweige knackten. Ich richtete meine Pistole nach rechts.
Gleich darauf entspannte ich mich. Ich hatte Milos braune Lederjacke in dem Gestrüpp entdeckt.
»Wenn man nicht immer auf dich aufpasst!«, frotzelte er, wurde aber gleich wieder ernst. »Bist du okay?«
Milo deutete auf das Loch in meiner Jacke.
»Wird bloß ’nen schönen blauen Fleck geben«, knurrte ich. »Wohin ist Finch flitzen gegangen?«
»Nach Norden. Ich habe ihn nicht erwischt. Der Kerl ist gerissen!«
Der Meinung war ich auch. Dieser Teil des Central Parks ist nicht nur nachts, sondern auch tagsüber ziemlich menschenleer. Die Parkbesucher fürchten sich vor Gangs aus Harlem und Spanish Harlem, die New Yorks Grüne Lunge unsicher machten. Nördlich des großen Wasser-Reservoirs ist der Central Park sehr unübersichtlich, bietet eine Menge Verstecke.
Sicherlich war das auch Harry Finch bekannt.
Wir hetzten dem Mörder hinterher. Dabei waren wir immer darauf gefasst, wieder in einen Hinterhalt zu geraten.
Aber die Jagd dauerte nur kurz.
Als wir das Wäldchen verließen, stand Finch auf einer sanft ansteigenden Hügelkuppe. Er war nicht zu übersehen, trotz des Nebels, der hier dichter war. Aber das freute uns ganz und gar nicht.
Denn der Killer hatte eine weibliche Geisel!
Eine junge Latina, mit schulterlangem schwarzem Haar. Das Girl trug einen Blazer, dazu einen beigen Pulli und einen Supermini, der sehr, sehr viel von ihren langen Beinen sehen ließ.
Milo und ich erstarrten.
»Keine Bewegung, ihr Scheiß-Feds!«, keifte Finch siegessicher. Er hatte den linken Arm um den Oberkörper der Latina geschlungen, mit der rechten Hand presste er sein verfluchtes Sägemesser gegen ihre Kehle. »Oder ich mach’ die Kleine gleich kalt!«
Obwohl ich Geiselnahmen zutiefst verabscheue, blieb ich diesmal innerlich ziemlich ruhig. Und das hatte seinen Grund. Denn der Killer hatte niemand anderen als Geisel genommen als unsere FBI-Kollegin Annie Franceso!
Sie konnte mit der Situation besser umgehen als eine unbeteiligte Zivilistin. Wie jeder andere von uns wusste die Latina genau, was zu tun war.
»Schon gut!«, rief ich. »Was wollen Sie, Finch?«
»Erst mal legt ihr eure Knarren ab, Scheiß-G-Men!«, brüllte Finch. Er fühlte sich stark. Dabei war er nur ein feiger Mörder.
»Wird’s bald?« Finch packte Annie fester. Ich bemerkte, wie sie vor Angst zitterte.
Milo und ich wussten, dass das nur Show war. Die beherzte Kung-Fu-Kämpferin fürchtete sich nicht vor so einem Bastard. Dafür kannte ich sie zu gut.
»Bitte, Mister…«, jammerte Annie. »Tun Sie mir nichts… Ich bin doch nur ein schwaches Mädchen…«
Der Verbrecher grinste. Das gefiel ihm. Und es gefiel ihm auch, wie Milo und ich unsere Bleispritzen langsam ins Gras legten. Er genoss es, Macht über Menschen zu haben.
Doch was gleich darauf geschah, gefiel ihm nicht mehr.
Annie startete einen Befreiungsschlag. Hart, präzise, blitzschnell. Finch konnte nicht ahnen, dass er ausgerechnet eine der besten Kung-Fu-Kämpferinnen von New York City als Geisel genommen hatte.
Annies Absatz rammte auf Finchs Fuß. Gleichzeitig drückte sie den Oberkörper zur Seite und rammte ihren Ellenbogen in seine Magengrube. Ihr Hals entfernte sich von der Messerklinge.
Und Finch hatte momentan andere Sorgen, als ihr nachzusetzen.
Der Verbrecher riss den Mund auf und rang nach Atem. Annie drehte sich auf dem Absatz herum. Sie rammte ihr Knie zwischen seine Beine.
Finch krümmte sich.
Annies Hand formte sich zur berüchtigten Tigerfaust. Damit bretterte sie ihm das Sägemesser weg. Und zum Abschluss schlug die Kung-Fu-Kämpferin dem Killer eine blitzschnelle Links-Rechts-Kombination mitten auf die Zwölf.
Finch war stehend k.o.
Er torkelte, sackte in sich zusammen.
Milo und ich schnellten vor. Aber wir mussten ihm nur noch Handschellen anlegen. Der Killer hatte sich diesmal das falsche Opfer ausgewählt.
Annie grinste und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Der wird es sich noch mal überlegen, ob er kleine Mädchen erschreckt,«
»Dazu wird er keine Gelegenheit mehr haben.« Ich griff nach meinem Handy, um Finch abholen zu lassen. »Ich wusste gar nicht, dass du nachts um diese Uhrzeit im Central Park spazieren gehst, Annie.«
»Tue ich auch nicht, denn ich bin noch im Dienst.« Die Latina wies mit ihrem Zeigefinger auf Milo und mich. »Ich bin hier, um euch beiden Hübschen zu suchen. Mr. McKee, der auch noch in seinem Büro hockt, hat mir verraten, dass ihr hier einen Einsatz habt, aber ihr hattet eure Handys ausgeschaltet.«
»Wir wollten uns bei der Mörderjagd auch nicht von irgendwelchen Anrufern stören lassen«, sagte Milo.
»Jedenfalls ist alles andere für uns abgeblasen«, fuhr Annie fort. »Ihr beide und ich haben einen neuen Auftrag. Es geht um eine Riesensauerei namens - Esperanza!«
Ich durchforstete mein Gedächtnis. »Sagt mir nichts.«
»Mir auch nicht, Jesse. Deshalb wollte ich euch ja zur Federal Plaza schleppen. Damit Mr. McKee endlich die Katze aus dem Sack lässt.«
***
Es ist ein weiter Weg von Mexico City zur amerikanischen Grenze.
Julia Semilla reiste noch am Abend des Tages, an dem sie sich bei ›Esperanza‹ beworben hatte. Es war leicht gewesen, den Job zu kriegen. ›Esperanza‹ war eine Art Leiharbeiter-Firma, wenn Julia alles richtig verstanden hatte. Ihre Freundin Anjelica hatte dort vor einem halben Jahr angeheuert. Seitdem hatte Julia von ihr nichts mehr gehört. Aber Anjelicas Eltern prahlten mit den Dollar-Überweisungen, die sie aus dem reichen Nachbarland erhielten.
Seitdem dachte Julia daran, auch für ›Esperanza‹ zu arbeiten.
Die Handflächen der Neunzehnjährigen waren feucht vor Aufregung, als sie auf einen der vier riesigen Busbahnhöfe von Mexico City zusteuerte. Am Terminal Central de Autobuses del Norte fuhren die Busse in die nördlichen Bundesstaaten Mexikos ab. Und zur amerikanischen Grenze.
›Esperanza‹ hatte zwei riesige aluminiumglänzende Busse gechartert. Julias Augen strahlten. Sie war noch nie in ihrem Leben verreist. Allmählich wurde ihre Angst durch Abenteuerlust verdrängt.
Señor und Señora Semilla waren nicht gerade begeistert gewesen von den Plänen ihrer Tochter. Aber die Aussicht auf ein Familieneinkommen in US-Dollar hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Die Semillas hatten das Geld verzweifelt nötig.
Ein dicker Lockenkopf mit einem Clipboard stand neben der geöffneten Bustür. Er verbeugte sich vor Julia so elegant wie ein Matador.
»Buenas Noches, Señorita! Wie lautet Ihr werter Name?«
»S-Semilla, Señor. Julia Semilla.«
»Sehr gut.« Der Lockige machte einen Haken auf seiner Liste. »Wenn Sie bitte einsteigen wollen, Señorita Semilla. Die meisten Ihrer Kolleginnen sind schon an Bord…«
Die Höflichkeiten des Esperanza-Mannes waren eine Wohltat für die junge Frau. Sie freute sich jetzt richtig auf ihren neuen Job. Schon bald würde Julia ihren Eltern echte Dollars überweisen können.
Die Neunzehnjährige stieg in den Bus. Die Plätze waren zu drei Vierteln besetzt, und zwar ausschließlich von Mädchen in ihrem Alter. Die Señoritas schnatterten, kicherten, redeten aufgeregt durcheinander. Wahrscheinlich war es für viele von ihnen ebenfalls die erste Reise.
Julia sah sich um. Sie kannte keines der Girls. Das war allerdings nicht verwunderlich in einer Stadt wie Mexico City, die zwanzig Millionen Einwohner hatte. Vielleicht waren es auch zweiunddreißig Millionen. Das wusste niemand so genau.
»Hola. Ist hier noch frei?«
Julia deutete auf den Platz neben einer Mestizin mit Kurzhaarfrisur.
Das Mädchen machte eine einladende Handbewegung. Julia schätzte sie auf etwa achtzehn Jahre. Die Mestizin war etwas kleiner als Julia und mollig. Sie hatte einen ziemlich großen Busen.
Julia versuchte, mit der anderen ins Gespräch zu kommen. Doch die Mestizin war einsilbig. Ob aus Abneigung oder Furcht, konnte die Neunzehnjährige nicht sagen.
Die beiden Busse fuhren ab.
Julia starrte an der Großbusigen vorbei auf die Lichter ihrer Heimatstadt Mexico City. Sie hatte jetzt schon Heimweh. Obwohl sie sich unwiderstehlich vom Land der reichen Gringos angezogen fühlte.
Die Fahrzeuge waren das Beste, was ›Esperanza‹ hatte auftreiben können. Sie verfügten über Air Condition und Bordtoiletten. Für Julia und die meisten anderen Mädchen ein ungewohnter Luxus.
Es dauerte lange, bis die Busse den riesigen Moloch Mexico City verlassen hatten. Inzwischen war es spät in der Nacht. Das eintönige Schaukeln des Wagens und die leise Salsa-Musik der Bord-Stereoanlage schläf erten Julia ein. Es war ein anstrengender Tag für sie gewesen. Doch noch bereute das Mädchen seinen Entschluß nicht.
Der jungen Frau fielen die Augen zu. Sie träumte von den USA.
Bis sie plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde.
Jemand fummelte an ihrem Busen herum!
***
Der k.o. gegangene Harry Finch wurde von Kollegen in die Krankenabteilung von Riker’s Island geschafft. Dort konnte er später verhört werden. Die Beweislage war sowieso eindeutig. Für Milo und mich war der Fall abgeschlossen.
Umso gespannter saßen wir mm Jonathan D. McKee in seinem Büro gegenüber. Wir, das waren Milo, Annie Franceso und ich.
Dass Mr. McKee bis in die späten Nachtstunden noch im Büro sitzt, ist keine Seltenheit. Seit seine Familie von brutalen Gangstern ermordet wurde, widmet er sein Leben ausschließlich dem Kampf gegen das Verbrechen.
Der SAC hatte drei Besucherstühle vor seinen wie immer penibel aufgeräumten Schreibtisch gestellt. Es duftete köstlich nach dem aromatischen Kaffee, den seine Sekretärin Mandy so meisterhaft zu kochen versteht.
Aber Mr. McKee wirkte nicht, als ob ihn das heiße Getränk erfreuen würde. Sein mageres, asketisches Gesicht wirkte angespannt.
Der Chef beugte sich vor. In seinem korrekten grauen Anzug mit Weste sah er so würdevoll aus wie immer.
»Ich danke Ihnen für Ihr schnelles Kommen, Jesse und Milo. Es ist gut, dass der Finch-Fall erledigt ist. Denn ich brauche Sie drei dringend für einen neuen Auftrag. Washington hat ausdrücklich Sie verlangt!«
Milo hob eine Augenbraue. »Das Headquarter, Sir?«
»Genau, Milo. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist unsere Grenze zu Mexiko ziemlich durchlässig. Illegale Einwanderer kommen in Scharen, um auf Farmen oder in Fabriken des Südwestens zu arbeiten. Wenn sie gestellt werden, schickt die Border Patrol diese Menschen zurück. Kein Fall für das FBI also. Bisher.«
Ich hatte genau zugehört. Bei Mr. McKee kam es auf die Zwischentöne an. »Was ist passiert, Sir?«
»Vor drei Tagen wurden zwei Beamte der Border Patrol förmlich niedergemacht«, erklärte der Chef nach einem Blick auf seine Unterlagen. »Mit Kriegswaff en, offenbar von professionellen Killern oder Söldnern. Und das ist nicht das erste Mal. Unsere V-Leute behaupten, ein Menschenhändler-Ring stecke hinter diesen Taten. Eine Organisation, die sich Esperanza nennt.«
»Was für ein Zynismus!«, stiess Annie Franceso hervor.
Da konnte ich ihr nur beipflichten. Meine Spanisch-Kenntnisse halten sich zwar in Grenzen. Aber dass Esperanza soviel wie Hoffnung heißt, weiß auch ich.
Mr. McKee nickte.
»Esperanza ist offenbar auf junge, gutaussehende Frauen spezialisiert. Wir vermuten, dass sie ihre Opfer US-weit verteilen. In Privathaushalten, in Fabriken - und möglicherweise auch in Bordellen.«
Allein dieser Verdacht rechtfertigte schon das Eingreifen des FBI. Esperanza verstieß gegen den White Slave Traffic Act - den zwischenstaatlichen Transport von Prostituierten. Und bei Bandenverbrechen und organisierter Kriminalität waren wir sowieso zuständig.
»Können wir Esperanza etwas nachweisen?«
»Leider nein, Milo. Die Organisation ist sehr gefährlich. Sie schafft die Mädchen in großen Gruppen über die Grenze. Wenn ihnen dabei die Border Patrol in die Quere kommt, gibt es Tote. Esperanza ist absolut rücksichtslos. Wenn wenigstens ein Opfer gegen die Bande aussagen würde… Eine junge Mexikanerin hat unser Field Office in Kansas City um Hilfe gebeten.« Mr. McKee machte eine kurze Pause. Er presste seine schmalen Lippen aufeinander. »Als unsere Kollegen in ihrem Zimmer eintrafen, war sie schon tot. Brutal ermordet. Und vorher vergewaltigt.«
Annie Franceso ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste.
»Washington will jetzt eine Undercover-Agentin bei Esperanza einschleusen. Assistant Director Joseph T. Burgess wünscht ausdrücklich Sie für diesen Job, Annie. Er hat Sie noch von dem Fall mit den Zugpiraten in guter Erinnerung. [1] Wenn Sie allerdings nicht wollen…«
Die Latina stampfte mit dem Fuß auf.
»Selbstverständlich will ich, Sir! Diese gottverdammten Arschl… äh… diese kriminelle Organisation muss umgehend zerschlagen werden, Sir!«
Ein leises Lächeln stahl sich auf die schmalen Lippen des SAC.
»Ich habe keine andere Reaktion von Ihnen erwartet, Annie.«
»Welche Aufgabe kommt Jesse und mir zu, Sir?«, fragte Milo.
»Sie beide werden ebenfalls undercover tätig, Milo. Und zwar treten Sie als zwei amerikanische Zuhälter auf, die für einen Bordellring in Baltimore neue Ladies suchen.«
»Also diesmal anders herum als in Rio«, sagte ich schmunzelnd. Vor einiger Zeit waren Milo und ich in Rio de Janeiro als Mädchenhändler aufgetreten, um angeblich Annies Dienstpartnerin Jennifer Clark und weitere FBI-Agentinnen zu verscherbeln. Wir hatten mit Einverständnis der brasilianischen Behörden gearbeitet.
Diesmal sollten wir keine Mädchen anbieten, sondern welche kaufen.
»Sie werden nach Nogales reisen, an die Grenze zu Mexiko«, fuhr Mr. McKee fort. »Ich werde Sie drei zeitweise zum Field Office Phoenix versetzen, das dort zuständig ist. Jesse und Milo, Sie werden Kontakt mit Esperanza auf nehmen und gleichzeitig Annie den Rücken freihalten. Wenn es sich ergibt.«
»Ich brauche keinen Babysitter, Sir!«, platzte unsere Kollegin heraus.
Sofort biss sie sich auf die Lippen. Annie hätte sich Mr. McKee gegenüber nie eine Respektlosigkeit erlaubt. Aber manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch.
»FBI-Arbeit ist Teamarbeit«, wies der SAC Annie mit mildem Tadel zurecht. »Sie werden alle drei undercover ermitteln und auf sich selbst gestellt sein. Jedenfalls größtenteils. Vor allem, wenn Sie auf der mexikanischen Seite der Grenze tätig werden.«
»Das verstehe ich nicht ganz, Sir«, meinte Milo. »Wir arbeiten doch normalerweise gut mit den Mexikanern zusammen.«
»Normalerweise ja«, bestätigte Jonathan D. McKee. »Aber hier liegt der Fall anders. Mexiko ist ein armes Land. Die Auswanderung in unser Staatsgebiet - ob legal oder illegal - ist wie ein Ventil. Jeder Illegale bei uns ist ein Arbeitsloser in Mexiko weniger. Die mexikanischen Behörden haben kein großes Interesse daran, diesen Zustand zu ändern. Und solange Esperanza nicht auf mexikanischem Boden Verbrechen begeht…«
Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Uns wurde klar, dass ein verdammt harter Job vor uns lag.
Wie hart, konnten wir allerdings noch nicht ahnen…
***
Julia Semilla kreischte erschreckt auf.
In der dämmerigen Nachtbeleuchtung des Busses erkannte sie den dicken Lockenkopf, der sich über sie gebeugt hatte. Er schwitzte. Seine lüsternen Blicke ruhten auf ihrem kleinen, aber festen Busen.
»Warum so spröde?«, fragte er mit rauher Stimme. »Du bist ein hübsches Ding, Julia. Du stellst dich lieber gut mit dem lieben Pancho. Das bin ich -Pancho. Sonst hast du es nicht leicht bei Esperanza…«
Julia brachte ein Lächeln zustande, doch es sah aus, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte. Sie war es nicht gewöhnt, plump betatscht zu werden. Andererseits war dieser Pancho doch vorhin so höflich und zuvorkommend gewesen.
Vielleicht bin ich ja nur etwas spröde, sagte sie sich. Deshalb legte sie ihre Hand auf seine Pranke und schob sie sanft, aber trotzdem bestimmt von ihrer Brust.
»Ich habe mich nur erschrocken, Pancho. Ich… äh… ich habe geschlafen…«
»Schon gut.«
Plötzlich war Pancho wieder freundlich. Er kniete sich neben Julia in den Mittelgang des Busses. Das Mädchen schielte auf die Uhr mit den Leuchtziffern, die rechts neben dem Fahrer hing. Es war 3 Uhr 44 morgens.
»Dauert noch lange bis zur Grenze«, meinte Pancho, während er seine Hand nun auf Julias Knie legte und ihren Rock höher schob. Die-Neunzehnjährige warf einen Blick auf die Mestizin. Aber die schnarchte zusammengesunken in ihrem Sitz und kriegte nichts mit.
Der Lockenkopf leckte sich beim Anblick von Julias wohlgeformten Oberschenkeln die Lippen. Doch plötzlich besann er sich auf seine Pflichten. Wie ein Feinschmecker, der sich das Beste bis zum Schluss aufhebt.
»Ich wollte dir sagen; wo du zuerst arbeiten wirst, Julia, ›International Rubber‹. Das ist eine Fabrik in Phoenix, im Gringo-Bundesstaat Arizona - falls du das wissen willst.« Er lachte, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht.
Julia errötete. Ihr brannte eine Frage auf der Zunge, die sie sich noch nicht zu stellen getraut hatte. Aber nun, da sie Pancho offensichtlich so gut gefiel…
»W-wie ist das eigentlich mit dem Geld, Pancho?«
»Ah, ja!« Der Dicke fischte einen Taschenrechner aus der Hosentasche und tippte darauf mit seinen Wurstfingern herum. »Nun, das wären 850 Dollar plus zweihundert weitere Bucks, außerdem Zulage für den Grenzübertritt 500 Dollar… zusammen 1.550 Dollar - für die erste Woche.«
Julia hätte den feisten Pancho umarmen können, so glücklich war sie.
1.550 Dollar! Dann konnte sie ja ihren Eltern sofort Geld schicken!
»Das ist aber ein guter Lohn für eine Woche«, sprudelte sie hervor.
Doch plötzlich wurde Panchos grinsendes Gesicht heimtückisch.
»Wieso Lohn? Das sind die Kosten für diese Busfahrt, für die Grenzformalitäten und für die Weiterreise in den Staaten. 1.550 Dollar, das sind die Schulden, die du bei Esperanza hast!«
Schulden? Julias Magen krampfte sich zusammen.
Panchos Hand ging wieder auf ihrem Oberschenkel auf Entdeckungsreise.
»Nimm’s nicht so schwer, guapa. Das arbeitest du ganz schnell wieder ab, wenn du erst bei International Rubber bist…«
***
Pablo Carranza war unermesslich reich.
Er besaß Villen in Mexiko, in der Schweiz und im US-Staat Kalifornien. Seine illegal zusammengerafften Millionen lagen auf verschwiegenen Konten in einem Dutzend verschiedener Staaten.
Carranza hatte mit Drogenhandel angefangen. Doch das war ihm zu riskant geworden. Die Kolumbianer drängten in den US-Markt und machten mit der mexikanischen Konkurrenz kurzen Prozess.
Da hatte Carranza mit seinem Drogenkapital ›Esperanza‹ aufgebaut.
Eine Organisation, die wie ein Spinnennetz ganz Mexiko und die halben USA umspannte. Die Komplizen des ehemaligen Rauschgiftbosses saßen überall. Sie schleusten wöchentlich hunderte von jungen Mexikanerinnen in die Staaten, Tausende pro Monat.
Schmuggler, Killer, Fahrer, Kundschafter, bestochene Beamte - Carranzas Lohnliste war endlos. Jeder von ihnen verdiente gut. Aber am meisten Dollars scheffelte natürlich der Boss selber.
Es gab in Amerika genügend Bedarf an jungen, rechtlosen Mexikanerinnen. Vor allem, wenn man alles mit ihnen machen konnte. Und dass sie gefügig wurden, dafür sorgten die Schergen von ›Esperanza‹ mit beispielloser Brutalität.
An diesem Tag war Pablo Carranza höchstpersönlich unterwegs, um sein Imperium zu kontrollieren. Der schlanke, hochgewachsene Boss saß im Fonds seiner gepanzerten Oldsmobile-Limousine. Eine Klimaanlage sorgte für angenehme Temperaturen.
Carranza fuhr mit der linken Hand über sein graumeliertes Haar, checkte sein Aussehen kurz in einem Taschenspiegel. Bei Männern mit seiner Macht und seinem Geld kam es nicht auf das Äußere an. Carranza sah trotzdem unverschämt gut aus, wie er fand.
Kantiges Kinn, gerade Nase, schlanker, aber muskulöser Körper. Carranzas Haar war immer noch voll und wurde von einem Top-Friseur regelmäßig geschnitten. Der Boss hatte letzte Woche seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, sah aber zehn Jahre jünger aus.
Die Limousine glitt über den Highway Number 15. Der stiernackige Fahrer betätigte den Blinker. Carranzas Wagen erreichte Nogales.
Das amerikanische Nogales im Bundesstaat Arizona. Die Stadt auf der anderen Seite der Grenze hieß ebenfalls Nogales, lag aber im mexikanischen Bundesstaat Sonora.
Der Boss hatte gerade seine amerikanischen ›Gebietsleiter‹ kontrolliert, wie er die Sklavenhändler zynisch nannte. Nun kehrte Carranza ins heimatliche Mexiko zurück. Mit ›Esperanza‹ war alles in bester Ordnung.
»Sind Sie zufrieden, Señor Carranza?«
Die Frage war von Alfredo Chavez gekommen, dem jungen Sekretär des Bosses. Er saß dienstbeflissen neben Carranza im Fond, las seinem Boss jeden Wunsch von den Augen ab. Und wünschte sich insgeheim, eines Tages selbst bei ›Esperanza‹ das Zepter zu schwingen.
Carranza nickte bedeutungsschwer. »Ja, Alfredo. Die Leute legen sich ins Zeug, die kleinen Nutten spuren. Bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig.« Er lachte dreckig. »Aber wir können noch expandieren. Noch haben wir keine Kunden in North Dakota und Wisconsin. Das muss sich ändern.«
Der Sekretär machte sich eine Notiz. »Fuentes kann sich darum kümmern. Der ist doch da oben im Norden für Esperanza unterwegs.«
Der Boss brummte uninteressiert. Mit solchem Kleinkram gab er sich normalerweise nicht ab.
Das Oldsmobile rollte durch das amerikanische Nogales. Als Mexikaner, die nach Mexiko zurück wollten, wurden Carranza und seine Männer vom U.S. Customs kaum kontrolliert. Dann passierten sie den Zaun, vorbei an dem Schild ›Entrada a Mexico‹.
Die mexikanischen Beamten beschränkten sich darauf, schneidig zu grüßen. Señor Carranza war hier als ehrbarer Bürger und guter Steuerzahler bekannt.
Die protzige Limousine rollte durch die Avenida Central. Links und rechts davon standen Elendshütten.
Plötzlich stieg der Fahrer fluchend in die Eisen.
Ein muskulöser Schlägertyp torkelte auf die Fahrbahn. Die Stoßstange des Oldsmobiles rammte den Kerl, obwohl der Stiernacken auf der Bremse stand. Die Limousine geriet ins Schlingern.
Pablo Carranza spähte durch das getönte Seitenfenster, ungehalten über die Störung.
Und dann sah er sie.
***
Annie Franceso fühlte sich fremd in Nogales/Mexiko.
Die FBI-Agentin war ein echtes New Yorker Stadtkind, geboren und aufgewachsen in Spanish Harlem. Aber sie sprach Spanisch genauso gut wie Englisch. Und als Tochter puertoricanischer Eltern konnte sie sich leicht als Mexikanerin ausgeben. Jedenfalls leichter als ihre blonde Freundin und Dienstpartnerin Jennifer Clark, auf deren Begleitung sie diesmal verzichten musste.
Annies erster Tag im Undercover-Einsatz begann.
Die Latina war mit ihrer Tarnung als Bauemtrampel nicht ganz zufrieden. Kritisch beäugte sich Annie in einer Supermarkt-Schaufensterscheibe auf der Avenida Central.
Sie steckte in einem billigen bunten Fähnchen von Minikleid, das ihre runden Pobacken mehr schlecht als recht bedeckte. An den Füßen trug Annie weiße Turnschuhe, die durch den mexikanischen Straßenstaub schon ziemlich dreckig geworden waren. Jn einer Plastik-Umhängetasche befanden sich ein paar Habseligkeiten und eine Handvoll Pesos.
Ihre gesamte Aufmachung hatte Annie sich hier in Mexiko gekauft. Ihre Dienstwaffe und ihre FBI-Marke hatte ein Kollege vom Field Office Phoenix an sich genommen. Er hatte sie auch auf Umwegen hierher nach Nogales gefahren.
Jesse und Milo wollten mit dem Wagen direkt über die Grenze kommen. Bisher hatte sie die beiden noch nicht entdeckt.
Unauffällig schaute sich Annie Franceso um.Es gab viel zu sehen.
Klapprige Fords und Chevys mit mexikanischen Nummernschildern kamen von der U.S.-Border zurück. Schwer beladen mit Fernsehern und Stereoanlagen. Andere Latinos waren zu Fuß auf dem Weg nach Hause. Auch sie hatten in den US-Billig-Supermärkten jenseits der Grenze groß eingekauft.
Aber das interessierte Annie wenig. Sie hielt Ausschau nach den ›Kojoten‹.
So wurden im Slang des Grenzlandes die Schleuser genannt, die Illegale aus Mexiko in die Staaten brachten.
Die Kerle waren nicht zu übersehen. Der G-Man aus Phoenix hatte ihr auf der Fahrt erklärt, wie die Sache lief.
»Die Kojoten stehen in Mexiko ganz offen auf der Straße ‘rum und warten auf Kundschaft. Sie haben regelrechte Tarife. Für zehn US-Dollar bringen sie dich über den Rio Grande. Irgendwo machen die Typen ein Loch in den sogenannten Tortilla-Vorhang, in den Grenzzaun. Da lotsen sie ihre Kunden durch. Das war’s dann. Wenn du von einem Kojoten bis nach El Paso gebracht werden willst, kostet es fünfzig Bucks mehr. Manche Illegale sind schon elend in der Wüste verreckt, weil sie sich allein verlaufen haben. Es ist zum Heulen…«
Das fand Annie auch, aber sie konnte die Verhältnisse nicht ändern. Sie konnte nur einer brutalen Menschenhändler-Bande das Handwerk legen. Deshalb war sie nach Nogales gekommen.
Die Latina kam mit einigen ›Kojoten‹ ins Gespräch. Schnell merkte sie, dass sie an der falschen Adresse war. Diese Kerle arbeiteten auf eigene Rechnung. Keiner von ihnen gehörte zu ›Esperanza‹.
»Kein Job? Ooooooh, wie schade…«, flötete Annie und klapperte mit den Wimpern. Sie konnte sehr naiv tun, wenn sie wollte. »Ich möchte doch sooooo gerne drüben arbeiten, in den Staaten. Aber ich weiß nicht, wie man das macht. Ich bin doch nur ein Mädchen… Können Sie mir nicht helfen, Señor? Sie sehen so stark und klug aus…«
Auf die Tour kam sie bei jedem Latino-Macho gut an. Annie wusste, wie sie die Jungs nehmen musste. Schließlich war sie zwischen solchen Kerlen aufgewachsen.
Ein dürrer ›Kojote‹ warf sich in die Brust, als wäre er Antonio Banderas.
»Da muss man die richtigen Leute kennen, schönes Kind. Dein Glück, dass du den guten Enero angesprochen hast.«
Der ›Kojote‹ warf je einen triumphierenden Blick nach links und rechts, die Avenida International hinauf und hinunter. Er stand vor dem geschlossenen Hotel San Enrique. Seine gierigen Augen wurden von einem Panama-Hut beschattet. Er konnte seine Blicke nicht von Annie Francesos Ausschnitt abwenden.
Das nutzte die FBI-Agentin eiskalt aus.
Sie ergriff mit beiden Händen seine Rechte und drückte sie gegen ihre linke Brust.
»Oooooooh, Señor Enero! Was habe ich doch für ein Glück! Spüren Sie, wie laut mein kleines Herz schlägt vor Aufregung? Spüren Sie es?«
Die zahnlückige Futterklappe des Ganoven blieb offen stehen. Man musste kein Psychologe sein, um seine Gedanken erraten zu können.
»Hehehe… Ich… äh… kenne da einen Señor. Er arbeitet für eine Firma, die sich Esperanza nennt, Señorita.«
Nun beschleunigte sich Annies Pulsschlag wirklich. Das Jagdfieber hatte die FBI-Agentin gepackt!
In diesem Moment fiel ein großer Schatten über Annie und Enero.
Lautlos hatte sich ein Hüne von hinten genähert.
Er war für einen Latino ziemlich groß, fast so groß wie Jesse Trevellian. Und er ging brutal zur Sache.
Sein rechter Arm schoss an Annie vorbei und packte den dürren Enero.
»C-Carlito!«, stotterte der kleine ›Kojote‹ ängstlich. »Was machst du denn hier?«
Carlito?, dachte Annie Franceso. Was ist denn das für ein beknackter Name?
Der mit Carlito Angesprochene war einen Kopf größer als die FBI-Agentin. Und auch der magere Ganove reichte ihm nur bis zur Schulter.
Carlito trug sein gelocktes Haar vorne kurz und hinten lang. Unter seiner Boxernase wuchs ein ungepflegter Schnurrbart.
Mit anderen Worten: ein Mann, den Annie noch nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte.
Carlito lachte röhrend auf und warf Enero zur Seite wie ein kaputtes Spielzeug.
»Geh mir aus der Sonne, du kleiner Furz! Und zwar, bevor Carlito böse wird!«
Normalerweise wäre Annie dazwischen gegangen. Sie hasste es, wenn Schwächere vermöbelt wurden. Selbst, wenn diese Schwächeren selbst Ganoven waren.
Aber dieses eine Mal schaffte es Annie, sich zu beherrschen.
Sie wollte hier schließlich als naives mexikanisches Landgirl auftreten. Und nicht als hartgesottene FBI-Kampfkatze.
»A-aber was… was habe ich dir getan, Carlito?«
Der ›Kojote‹ war immer noch nicht verschwunden. Er stand nun drei Schritte links von Annie und Carlito.
Der Muskelmann hatte offenbar keine Lust, weiter nach Worten zu suchen. Er ließ lieber die Fäuste sprechen.
Die Rechte des Machos krachte auf Eneros Kinn. Der Kleine jaulte auf. Carlito schob eine linke Gerade nach, die auf dem linken Auge des ›Kojoten‹ landete. Das Veilchen war vorprogrammiert. Dann beendete Carlito den Faustkampf mit einem fürchterlichen Uppercut.
Enero hob durch die Wucht des Schlages förmlich ab. Er wurde nach hinten geschleudert und blieb fünf Yards weiter stöhnend im Staub liegen. Blut floss aus seiner Nase.
Die anderen ›Kojoten‹, die links und rechts von dem Hotel San Enrique alles mitgekriegt hatten, taten nichts. Einige blätterten in der Zeitung, andere zündeten sich eine Zigarette an oder starrten plötzlich interessiert in langweilige Schaufenster von Zigarettenläden oder Friseursalons.
Keiner wollte sich mit Carlito anlegen.
»Alles Feiglinge!« Carlito zeigte Annie mit einem Grinsen seine gelben Zähne. »Zum Glück hast du den einzigen echten Mann in Nogales getroffen, Chica!«
Annie hasste diesen Kotzbrocken. Aber vielleicht kam sie ja auch über ihn an ›Esperanza‹ heran.
»Weißt du, wie ich in den USA Arbeit finde, Carlito?«
»Arbeit?«, echote der Muskelmann so widerwillig, als hätte Annie etwas Ekelhaftes erwähnt. Und vielleicht fand Carlito Arbeiten auch wirklich abstoßend. »Warum Arbeit? Du bist doch eine schöne Frau, Chica! Frauen müssen nicht arbeiten.«
Er wollte Annie mit seinem muskulösen rechten Arm an sich drücken. Die Kung-Fu-Kämpferin hätte ihm gerne das Handgelenk gebrochen. Aber sie entwand sich ihm nur wie eine Schlange.
Zeitverschwendung, sich mit dem Arschloch abzugeben, dachte Annie. Der weiß nichts über Esperanza. Ich muss mir ein paar von den anderen Kerlen vorknöpfen…
Aber so leicht ließ sich Carlito nicht abwimmeln. Er packte Annie an der Schulter.
»He, Tonta! Bist du ’ne Nonne oder was? Oder hast du Angst vor richtigen Männern?«
Er lachte dreckig und ließ die Hand über Annies Rücken bis zu ihrem Hintern gleiten, kniff kräftig hinein.
Jetzt wurde es der FBI-Agentin zu bunt, Tarnung hin oder her. Außerdem musste sie den Kerl loswerden, wenn sie weiter Informationen suchen wollte.
»Finger weg«, sagte Annie mit gefährlicher Ruhe. »Noch mal sage ich es nicht.«
»Oh, jetzt kriege ich aber Angst!«, höhnte Carlito. »Was willst du denn tun, Tonta? Mich schlagen?«
Annie antwortete nicht. Sie steppte einen Schritt nach vorn, nahm die Kampfstellung ein - und gab Carlito eine Kostprobe ihrer Kung-Fu-Künste.
Den ›Schattenlosen Kick‹.
Ein Tritt, der so schnell geführt wird, dass man ihn nicht kommen sieht.
Der Angeber wurde zurückgeschleudert, als wäre er gegen einen Bus gerannt. Carlitos Oberlippe war geplatzt wie eine reife Sonora-Tomate. Ungläubig keuchte er auf. Von einer Frau geschlagen zu werden, tat seiner Macho-Ehre doppelt weh.
Wie ein wilder Stier stürzte sich Carlito auf Annie. Seine rechte Faust zielte auf das schöne Gesicht der FBI-Agentin.
Annie riss den Arm nach unten und auf sich zu. Carlito wunderte sich noch, welche Kraft in ihren zarten Händen steckte. Dann lief der Schläger direkt in ihre Faust.
»Ich mach’ dich fertig!«, keuchte der Macho.
Diesmal versuchte er es seinerseits mit einem Tritt. In Annies Magengrube. Doch die Latina steppte zur Seite, packte Carlitos Fuß mit beiden Händen und drehte ihn um.
Der Muskelmann jaulte auf. Verzweifelt versuchte er, sich auf den Beinen zu halten, nachdem Annie wieder losgelassen hatte.
Sie erwartete seinen nächsten Angriff in Kampfstellung. Das linke Bein vorgeschoben, die linke Faust geballt vor der Brust.
Doch Carlito griff nicht mehr an.
Er hatte am Rand des Gehwegs gestanden, als er ins Stolpern geraten war. Nun geriet er auf die Fahrbahn.
Plötzlich tauchte eine fette schwarze Oldsmobile-Limousine auf. Carlito hörte, wie die Bremsen kreischten. Dann traf ihn der zweite Hammerschlag dieses Morgens.
***
Milo und ich trafen in einem Cadillac in Nogales ein.
Mein Sportwagen XKR wäre mir lieber gewesen. Aber das Hauptquartier in Washington hatte sich viel Mühe mit unserer Tarnung gegeben. Und die beiden Männer, die wir verkörpern sollten, gurkten nun mal seit Menschengedenken mit Cadillacs durch die Gegend.
»Nette Gegend«, meinte Milo. »Hier könnte man glatt mal Urlaub machen, Jesse.«
»Nenn mich Dan, Milo.«
»Okay, Dan. Und ich heiße nicht Milo, sondern Vic.«
Die beiden Typen gab es wirklich. Dan Coley und Vic Hayes. Zwei Nachtclub-Geschäftsführer aus dem Zuhältermilieu von Baltimore. Keine wirklich großen Nummern, aber als Interessenten für eine Organisation wie ›Esperanza‹ durchaus glaubhaft und akzeptabel.
Der echte Coley und der echte Hayes hatten sich schon vor einigen Tagen in Knastvögel verwandelt. Sie warteten im State Prison von Maryland auf ihren Prozess.
Freie Bahn also für Milo und mich, um hier im Grenzgebiet die Lockvögel zu spielen. Wir trugen teure Anzüge und dicke Uhren und Goldschmuck. Genau der vulgäre Stil, den Coley und Hayes so schätzten.
»Wo würden sich die bösen Buben hier nach Mädchen umhören?«, dachte Milo laut nach.
»In ihrem eigenen Milieu natürlich, Vic.«