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Dieser Band enthält folgende SF-Romane: (499) Nach dem Untergang der Welt (Jo Zybell) In der Zukunft gestrandet (Konrad Carisi) Die Getilgten (Manfred Weinland) Logan und das Weltentor (Alfred Bekker) Die Welt nach einer kosmischen Katastrophe: Die Expedition nach Deutschland steht unter keinem guten Stern, auch wegen der persönlichen Probleme von Eve Barkley mit ihrem Geliebten David Emerson. Im ehemaligen Ruhrgebiet treffen sie auf erbitterten Widerstand von Barbaren und ein durchgedrehtes Computergehirn. Statt jedoch neue Erkenntnisse zu gewinnen und endlich weiterzufahren, verliert die Gruppe auf grausame Weise mehrere Mitglieder. Ihnen bleibt nur eine Chance, weiter zu kämpfen, um zu überleben.
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4 Science Fiction Abenteuer Sonderband 1024
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Nach dem Untergang der Welt: Jo Zybell's Apokalyptos Band 2
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In der Zukunft gestrandet
Die Getilgten
Logan und das Weltentor
Dieser Band enthält folgende SF-Romane:
Nach dem Untergang der Welt (Jo Zybell)
In der Zukunft gestrandet (Konrad Carisi)
Die Getilgten (Manfred Weinland)
Logan und das Weltentor (Alfred Bekker)
Die Welt nach einer kosmischen Katastrophe: Die Expedition nach Deutschland steht unter keinem guten Stern, auch wegen der persönlichen Probleme von Eve Barkley mit ihrem Geliebten David Emerson. Im ehemaligen Ruhrgebiet treffen sie auf erbitterten Widerstand von Barbaren und ein durchgedrehtes Computergehirn. Statt jedoch neue Erkenntnisse zu gewinnen und endlich weiterzufahren, verliert die Gruppe auf grausame Weise mehrere Mitglieder. Ihnen bleibt nur eine Chance, weiter zu kämpfen, um zu überleben.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Jo Zybell's Apokalyptos Band 2
Roman von Jo Zybell
bearbeitet von Mia Zorn
Der Umfang dieses Buchs entspricht 154 Taschenbuchseiten.
Die Welt nach einer kosmischen Katastrophe: Die Expedition nach Deutschland steht unter keinem guten Stern, auch wegen der persönlichen Probleme von Eve Barkley mit ihrem Geliebten David Emerson. Im ehemaligen Ruhrgebiet treffen sie auf erbitterten Widerstand von Barbaren und ein durchgedrehtes Computergehirn. Statt jedoch neue Erkenntnisse zu gewinnen und endlich weiterzufahren, verliert die Gruppe auf grausame Weise mehrere Mitglieder. Ihnen bleibt nur eine Chance, weiter zu kämpfen, um zu überleben.
Licht über Ruinen
Rheinmündung, Ende März 2522
Etwas stimmte nicht. Eve spürte es im selben Moment, als David, John Cox und Eddy Stallone nacheinander ihren Kommandostand betraten. Knapp neunzig Kilometer nördlich von Köln waren sie unweit der Küste im Rheindelta auf einer Insel gelandet. Es war früher Abend. Davids Panzer hatte an Dragon I angedockt.
Doc Doubleman kam ihr merkwürdig ernst vor, David und Spencer Miller tauschten verstohlene Blicke aus, während David und Captain Stallone eine Wand aus Eis zu trennen schien. So nüchtern Eve nach außen auftreten konnte – derartiges entging ihr nicht; nie. Sie nahm sich vor, David später darauf anzusprechen. Jetzt aber stand Wichtigeres auf der Tagesordnung.
„Die gute Nachricht zuerst.“ Sie tat erfreut, als würde sie die schlechte Stimmung der anderen nicht spüren. „Es ist ein Späher der Holden-Expedition.“
Doc Doubleman schnalzte mit der Zunge, David ballte die Rechte und schnitt eine triumphierende Miene, Stallone zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln. „McCalahan hat sich um den Vogel gekümmert.“ Eve setzte sich neben Miller vor die Instrumentenkonsole. Auch Emma Flowers und Ruud Simon waren anwesend. „Der Vogel ist genauso lädiert wie sein Multi-Kristall. Das ist die schlechte Nachricht.“
„Den Kolk kriegen wir wieder hin, sein Kristall allerdings muss ausgewechselt werden. Wenigstens konnten wir die Daten auf das Bordhirn überspielen. Ruud meint allerdings, der Datensatz sei beschädigt. Lassen wir uns überraschen.“
Sie nickte dem Techniker zu, und Simon, der neben ihr stand, tippte ein paar Befehle in die Tastatur. „Die Daten des Holden-Spähers bitte“, sagte er. Auf dem Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays erschien eine Bestätigung des Befehls.
„Wusstest du eigentlich, dass Commander Holden und ich entfernte Verwandte sind?“ Eve drehte sich nach David um. Wie immer trug er die grauhaarige Perücke mit den vielen Zöpfchen. Zum ersten Mal kam sie ihr unpassend vor.
„Ist nicht wahr …“ Warum erwiderte er ihr Lächeln nicht? Warum wirkte er so angespannt? „Weißt du das aus den Johanna-Akten?“
Eve nickte. „Die Urgroßmutter meiner Urgroßmutter war die Schwiegermutter des Urgroßvaters seines Urgroßvaters. So ungefähr jedenfalls.“
Cox wollte wissen, was es mit den Johanna-Dateien auf sich hatte. Während sich auf dem Monitor ein Bild aufbaute, erklärte es Eve ihm. Eine sonore Männerstimme unterbrach sie, Terry Holdens Stimme. Alle horchten auf.
„Commander Terrence Holden auf Scout VII mit einem weiteren Bericht.“ Das Bild auf dem Monitor zeigte die topographische Karte einer bewaldeten Ruinenlandschaft. Etwas nördlich des einundfünfzigsten Breitengrades und etwas östlich des siebten Längengrades blinkte ein rotes Licht. Standort: Einundfünfzig Grad und vierundzwanzig Minuten Nord, sieben Grad und achtzehn Minuten Ost, irgendwo im Osten der Region, die man früher „Ruhrgebiet“ nannte. Wortlos deutete Eve auf die Datums- und Zeitangabe auf der Fußleiste: 2521-12-08 13:56.
„Wir haben uns ein paar Tage Zeit genommen, die Gegend zu erforschen. Hier, Ladies und Gentlemen, wie angekündigt unser zweiter Bericht …“
Es folgten Karten mit Zahlenlisten – Entfernungsangaben und Kurskoordinaten zumeist – und teilweise kommentierte Bilder. Das Bildmaterial zeigte Luftaufnahmen des Rheins, ausgedehnte Herbstwälder, und Ruinen zwischen Bäumen und auf Lichtungen. Nichts eigentlich, was man nicht auch zu sehen bekam, wenn man die Wälder zwischen Salisbury und London überflog oder Bilder aus den Mikrokameras der Späher auswertete, die aus Wales oder Schottland zurückkehrten. Hin und wieder stieg Rauch aus einem Barbarenlager oder einer der bewohnten Ruinen auf.
Ein größerer Teil des Berichts beschäftigte sich mit den Bewohnern dieser postapokalyptischen Trümmerlandschaft. Ein Film – offensichtlich von der Außenkamera des Dragons aufgenommen – zeigte Commander Holden und Captain Kathrin Mouse in Schutzanzügen inmitten von Newbarbarians. Ein paar zerlumpte Gestalten, zumeist Frauen und Kinder, knieten in einigen Dutzend Metern Entfernung im Ufergras der Ruhr, verwegen aussehende Männer in schwarzen Fellmänteln und mit langem, schwarzem Haupt- und Barthaar tanzten um Holden und Mouse herum, wobei sie die Geschenke der Expedition über den Köpfen schwenkten: Äxte, Messer, Schnüre, zu silbergrauen Bündeln gepackte Zeltplanen.
„Scheint ja ein Spaziergang durchs Paradies gewesen zu sein“, murmelte David.
Wieder erklang Holdens Stimme. „Die Newbarbarians dieser Region sind uns gegenüber niemals aggressiv geworden. Davon sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen: Ihre Bewaffnung und ihre Erzählungen lassen den Schluss zu, dass es sich bei den meisten Stämmen um durchaus kriegerische Menschen handelt. Ihre ausgedehnten Ruinenwälder bezeichneten sie übrigens als Ruhrwichse, die Gesamtheit ihrer Stämme als Borussen. Unser Ethnologe schätzt ihre Population auf insgesamt drei bis viertausend Köpfe. Sie zerfallen in unterschiedliche, teilweise heftig miteinander rivalisierende Horden und Clans, die sich Krefeldpack, Düsburgpack, Kanakkenpack oder Borussiapack nennen …“
Letztere waren nach Holdens Bericht der zahlenmäßig größte und wohl auch mächtigste Stamm. Da sie weiter nördlich siedelten, vor allem in den Ruinen des ehemaligen Dortmunds, hatte die Expedition zu jenem Zeitpunkt noch keinen ihrer Vertreter zu Gesicht bekommen. Holden dokumentierte jedoch Aussagen des Häuptlings einer Jagdhorde der Düsburgpack, die seine Ethnologin übersetzte. Der Newbabarian schilderte jene Borussen als gefährliche Krieger und geschickte Jäger. Sein Bericht hörte sich ganz so an, als würde man in den Siedlungsgebieten der Borussen eine primitive Stufe der Eisenverarbeitung beherrschen und Waffenhandel bis zu den Inseln der ehemaligen Niederlande betreiben.
Von dieser Stelle an klang Holdens Stimme zunehmend verzerrt und war bald gar nicht mehr zu verstehen. Die Bilder lösten sich auf, und teilweise blieb der Monitor dunkel. Das Bordhirn gab nur noch Bruchstücke des Berichts wieder und signalisierte eine Störung. „Ich ahnte es“, sagte Eve. „Die Daten sind beschädigt.“
Ruud Simon versuchte vergeblich, dem Datenträger weitere Geheimnisse zu entlocken. Er rief den Informatiker von Dragon II, Niklas DeJong zu Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, wenigstens einen Teil des Datensatzes wieder herzustellen. Alle atmeten auf, als wieder scharfe Bilder über den Monitor flimmerten. Sie sahen Barbarengruppen, die Holdens Panzer hinterher winkten, sie sahen ausgedehnte Wälder, Pfahlhütten an Flussläufen und Seen, Rauchsäulen über Ruinen, und so weiter, und so weiter.
Eine der letzten Aufnahmen zeigte einen Lichtschein am Horizont. Obwohl es Tag war, leuchtete in den Ruinenwäldern etwas so hell, dass Eve an ein Feuer denken musste. Holdens Dokumentation ging nur mit ein paar Worten auf das Phänomen ein: Die kleinen menschlichen Siedlungen in den Ruinen Dortmunds nennen die Düsburgpack Borussiaburg. Aus der Ruinenstadt, so ihre Erzählungen, rage ein Tor, das, wie sie sagen, „in Luzifucks finstere Tiefen“ führe. Riesige Mutanten würden den Eingang bewachen, und selbst die Borussen wagen sich nicht näher als bis auf fünf Speerwürfe heran …
Hier wurde der Datensatz wieder lückenhaft. Die im Cockpit von Dragon I versammelten Offiziere und Wissenschaftler erfuhren immerhin noch, dass Holden das „Höllentor“ anfunkte. Als er keine Antwort erhielt, schien er ein paar Meilen östlich daran vorbei in Richtung Norden gefahren zu sein. Sein Kommentar zu dieser Entscheidung: „Sie, die Octoyans von Salisbury und London, haben uns beauftragt, in Skandinavien nach Bunkerzivilisationen zu suchen und nicht Luzifucks Dämonenreich zu erforschen – was immer sich hinter diesem Barbarenmythos verstecken mag.“ Das war zugleich der letzte Satz seines Protokolls; der letzte lesbare Satz. Simon und DeJong fanden noch eine aktualisierte Karte der Ruinenwälder östlich des Rheins und nördlich des ehemaligen Düsseldorfs. Der Rest der Daten war unwiderruflich verloren.
„Versteh ich nicht.“ Eve schüttelte den Kopf. „Warum ist er dem Phänomen nicht auf den Grund gegangen?“
„Wir kennen die beschädigten Daten nicht“, sagte David. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Commander Holden am Ende nicht doch noch versucht hat, die Lichterscheinung unter die Lupe zu nehmen.“
Eve sah ihn nachdenklich an. Wie schön er war; und wie angespannt er aussah. „Ich auch nicht.“ Sie wandte sich an Ruud Simon. „Ist die Stelle in der Karte markiert?“ Simon nickte und holte die Karte auf den Monitor. „Luzifucks Höllentor“, stand in Anführungszeichen neben einem Zeichen für interessante aber noch unerforschte Ruinen. „Fahren wir hin“, sagte Eve.
„Unser Job ist es, Dr. Cox und seine Mannschaft nach Leipzig zu bringen und acht Wissenschaftler aus Leipzig zurück in die Heimat zu holen“, gab David zu bedenken.
„Meines Wissens sollen wir auf dem Weg nach Leipzig so viele Informationen über die Holden-Expedition sammeln, wie möglich.“ Zum ersten Mal meldete Eddy Stallone sich zu Wort. Die Zöpfchen seiner schwarzen Perücke hingen ihm in die Stirn. „Ich bin also dafür, dieses bescheuerte Licht unter die Lupe zu nehmen.“ Er sah seinen Kommandanten nicht an, während er das sagte. Überhaupt glaubte Eve bemerkt zu haben, dass die beiden Männer die ganze Zeit keinen Blickkontakt aufgenommen hatten.
„Ich stimme Captain Stallone zu, Major Emerson.“ Eve lächelte ihren Geliebten und Untergebenen an. „Wir fahren morgen also nach – wie heißt das gleich?“ Sie drehte sich zu dem Monitor mit der Karte um. „Nach Borussiaburg.“
*
Am nächsten Vormittag nahm Eve den Geographen Crosby an Bord ihres Flaggtanks und startete zu einem Erkundungsflug über das Rheindelta. Sie wollte Holdens Kartenmaterial dieser Gegend mit ihren eigenen Messungen abgleichen. Das Mündungsgebiet des Stroms war noch lange nicht vollständig erfasst. Vor einem halben Jahrtausend mündete der Rhein noch hundertvierzig Kilometer weiter nordwestlich ins Meer. Seit dem Asteroideneinschlag bedeckte die Nordsee den größten Teil der ehemaligen Niederlande, und der Strom mündete knapp fünfzig Kilometer nördlich von Duisburg in die Nordsee.
In den drei Stunden, die sie und Abe Crosby für die kartographische Arbeit benötigten, versuchte David Emerson von Dragon II aus die Heimat-Societies anzufunken. Vergeblich.
Gegen Mittag ließen beide Dragons die Rheinmündung hinter sich und flogen dreißig Fuß über dem Wasser flussabwärts. Weder die Ortungsgeräte noch ihre bloßen Augen entdeckten etwas, das sie nicht schon aus Holdens Protokollen kannten: Ausgedehnte Wälder an beiden Ufern, meist dichter Baumbestand auch dort, wo bemooste Stahlskelette, von Efeu oder wildem Wein eingesponnene Schornsteine oder Gebäudefassaden zwischen den Kronen des Uferwaldes in den Himmel ragten, und immer wieder Brückenruinen.
Bogoto, McCalahan und Miller tauschten Erfahrungen aus, die sie auf unterschiedlichen Inselexpeditionen gemacht hatten, der Schwarze gab seine üblichen Scherze zum Besten, und der sonst eher wortkarge Miller ließ sich hinreißen, den Boxkampf zwischen David Emerson und Eddy Stallone zu schildern. Von den Wissenschaftlern hörte man wenig, sie hatten sich ins Labor oder in die Schlafkojen zurückgezogen. Eve selbst sprach nur das Allernötigste.
Mit ausdrucksloser Miene saß sie neben Spencer Miller und beobachtete Instrumente, Ortungsmonitoren und Panoramadisplay. Hin und wieder, wenn Mac oder Spencer Miller sie ansprachen, zwang sie sich zu einem höflichen Lächeln. Niemandem fiel ihre gedrückte Stimmung auf.
Ja, sie war schlecht gelaunt, wütend sogar. Statt mit ihr, hatte Dave sich am Abend zuvor mit Spencer Miller ins Hecksegment von Dragon II zurückgezogen; auf eine Partie Schach angeblich. Kaum drei persönliche Sätze hatten sie nach der Auswertung der Holden-Daten wechseln können; und bevor David mit Miller hinüber in seinen Dragon gegangen war, hatte er weiter nichts als einen flüchtigen Kuss für sie übrig gehabt.
Warum bei allen Asteroiden der Milchstraße entzog er sich ihr? Sie hätte heulen mögen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die hereinkommenden Daten, gab die nötigen Anweisungen und lächelte, wenn Lächeln angesagt war. Sie musste ihn unter vier Augen sprechen, irgendwie und sobald wie möglich.
Nach dreißig Kilometer etwa öffnete sich die Ruinenlandschaft am Ostufer, Flussarme mündeten in den Rhein, ein See breitete sich aus. Eve holte die aktualisierte Karte auf den Monitor. „Die Ruhrmündung“, sagte Spencer Miller.
„Und der ehemalige Hafen von Duisburg.“ Eve ließ Kurs auf die Ruinen der Stadt nehmen. Ein letzter Versuch London anzufunken gelang. Für ein paar Sekunden stand die Verbindung. Sie konnten immerhin ihre Position und ihr nächstes Ziel durchgeben. Aus London kam eine kurze Bestätigung, dann brach die Verbindung wieder zusammen.
Sie ließen den Rhein hinter sich. In sechzig Fuß Höhe überquerten sie Brücken, Hafenbecken, Straßentrassen, Schiffswracks und teilweise gut erhaltene Hallen- und Fabrikruinen. Niemand sprach ein Wort in diesen Minuten, als sie in das ehemalige Ruhrgebiet eindrangen und unter sich nichts als Verfall und Verwüstung vorüber gleiten sahen.
Eine Rauchsäule war die erste Spur menschlichen Lebens, die sie entdeckten. Sie stieg von einem Schiff auf, das neben einer Brücke vor Anker lag. Holzleitern führten von der Brücke auf eine Containerladung hinunter. Wie auf der Brücke wuchsen auch auf den Containern und entlang der Reling kleine Bäume und Büsche. Auf einer Plattform, die einst den Kommandostand des Frachters getragen hatte, hockten ein paar Gestalten in gefiederten Umhängen um ein Feuer. Kaum hatten sie die fliegenden Ungetüme bemerkt, sprangen sie auf, kletterten über Leitern aufs Deck hinunter und versteckten sich zwischen Büschen und Containern. Auch zwischen den Bäumen auf der Brücke entdeckten sie Menschen, die sich in panischer Flucht in Sicherheit brachten.
„Unser Ruf scheint eindeutig zu sein“, sagte Mac. „Soll ich mich jetzt darüber freuen?“
„Warum sehe ich die verdammten Stinker nie so rennen?“, tönte Bogotos weinerliche Stimme aus dem Bordfunk.
„Möglicherweise behandeln wir sie zu human“, antwortete Spencer Miller. Niemand antwortete ihm. Eve verfluchte ihn innerlich. Sie war eifersüchtig auf ihn.
Bald stießen sie auf eine Autobahntrasse und folgten ihr nach Norden. Auf ihr zu landen und die Reise zu Boden fortzusetzen verbot sich, weil unzählige größere und kleinere Buschhügel sie bedeckten. Es war, als würde eine unendliche Kette von Gräbern sich nach Norden ziehen. Eve ließ die Dragons bis auf vierzig Fuß sinken. In dieser Höhe glitten sie lange Zeit über die zugewucherten Autowracks hinweg, bis eine weitere Trasse die alte Autobahn kreuzte. Eve verglich die aktuelle mit der antiken Karte. „Die A-42“, sagte sie schließlich. „Sie führt nach Borussiaburg. Folgen wir ihr nach Osten.“
Auch hier unzählige Autowracks unter Moos, Gras und Buschwerk. Die Lücken zwischen ihnen maßen kaum einmal dreihundert Meter; zu wenig, um die Kettenschuhe auszufahren.
Nach dreißig Kilometern etwa erreichten sie ein weiteres Trassenkreuz. Unterführungen und Brücken waren hier mit Baumstämmen verbarrikadiert, so dass sie wie Hallen oder große Garagen aussahen. Die Fahrzeuge davor und dahinter – meist große Personen- und Lastentransporter – lagen weitgehend frei von Moos und Gestrüpp. Auf einigen entdeckten sie Holzverschläge, auf anderen Zeltplanen, auf wieder anderen Feuerstellen. Menschen kletterten aus den Gehäusen und Verschlägen. Statt Fellumhänge und Ledermäntel trugen einige der Newbarbarians dort unten ähnliche Federkleider, wie die Wilden am alten Hafen. Statt jedoch zu fliehen wie jene, starrten diese hier zu ihnen hinauf. Manche winkten sogar.
„Möglicherweise die berüchtigten Borussen“, mutmaßte Spencer Miller.
„Oder Newbarbarians, bei denen Holden sich als guter Gottvater eingeschmeichelt hat“, sagte Bogoto.
„Dragon II an Dragon I.“ Davids Stimme. „Die scheinen keine Angst zu haben. Sollen wir Kontakt aufnehmen?“
„Nein“, entschied Eve. Auf der alten Karte hatte sie eine Universität entdeckt. Eine Idee nahm Gestalt in ihrem Kopf an. „Wir folgen der Autobahntrasse, die nach Süden führt. Dort liegt eine Region, die in den antiken Karten als Bochum bezeichnet wird.“ Ein Begriff, der in ihren Ohren nicht weniger exotisch klang, wie Dortmund oder Borussiaburg. „Wenn Holdens Karten stimmen, gelangt man von dort aus am schnellsten ins Zentrum der Ruinen Borussiaburgs und zu jener Lichterscheinung.“ David widersprach nicht.
Die Kette von Autowracks riss jäh ab, jedenfalls auf der linken Trassenseite. Eve ließ die Kettenschuhe ausfahren, landen und auf dem Boden weiterfahren. Der Wald wurde für kurze Zeit dichter, doch bald schon ragten wieder Fassaden, Stahlskelette und Mauertürme aus den Bäumen. Eve legte ihren Köder aus.
„Der alten Karte nach muss es in dieser Gegend eine nicht unbedeutende Universität gegeben haben.“ Sie sagte das in den Bordfunk, hielt dabei aber die Sprechtaste gedrückt, die eine Verbindung mit Dragon II herstellte. Zunächst reagierte niemand.
Nach wenigen Kilometern stießen sie auf den Grund für den wrackfreien Trassenabschnitt: Eine zusammengestürzte Brücke, vor der sich einst aus beiden Fahrtrichtungen die Fahrzeuge gestaut hatten. Für einen Augenblick ahnte Eve, welch panischer Schrecken die Menschen in den Tagen des Asteroiden geknechtet haben musste.
Als sie über die Brücke schwebten, sah Eve im Westen den oberen Pol des roten Sonnenballs hinter einer Wolkenbank über dem Horizont schwimmen. Für Sekunden herrschte andächtige Stille im Kommandostand. Sie wechselten auf die rechte Trassenseite. Der eingestürzten Brücke wegen versperrte hier kein Wrack ihren Weg.
„Eine Universität?“ Emma Flowers reagierte als erste. „Stimmt. Holden erwähnt sie nicht. Seltsam.“
„Vermutlich hat sie ihn nicht interessiert“, sagte Eve.
„Dragon II an Dragon I“, meldete John Cox sich. „Commander Holden hatte nur zwei Wissenschaftler dabei. Die werden sich nicht durchgesetzt haben. Wir haben uns abgestimmt – uns würde die Ruine schon interessieren. Möglicherweise finden wir ja alte Datenbanken.“
Das bezweifelte Eve, behielt es aber für sich. „Gut, Dr. Cox. Dann legen wir zwei oder drei Forschungstage für Sie und ihr Team ein.“ Sie wartete auf Einwände, es kamen keine.
Die restlichen zwei Stunden bis zum Einbruch der Nacht suchten sie nach der Ruine der Universität. Sie fanden den großen und teilweise gut erhaltenen Komplex am Rand der Ruinenstadt. Zwischen einigen Schutthalden und zwei kastenartigen und vollkommen von Efeu eingehüllten Gebäuden landeten sie und dockten aneinander an.
Eves Stolz ließ es nicht zu, an diesem Abend noch einmal auf David zuzugehen. Morgen erst würde sie ihn ansprechen. Morgen würde er ihr gehören. Insgeheim wartete sie dennoch darauf, dass er die Initiative ergriff. Er tat es nicht.
Wunden Herzens versuchte sie ihrer Enttäuschung Herr zu werden. In den Johanna-Dateien fand sie schließlich Vergessen. Bis zum Morgengrauen versank sie in den Aufzeichnungen ihrer Urahnin.
*
Am nächsten Morgen stiegen die Wissenschaftler in ihre Schutzanzüge und verließen die Dragons. Sie teilten sich in zwei Gruppen, Eddy Stallone und Spencer Miller eskortierten die Londoner Gruppe um John Cox, Ari Bogoto und Stanley McCalahan die Gruppe aus Salilsbury unter Emma Flowers. Eve, allein auf Dragon I zurückgeblieben, beobachtete sie auf dem Panoramadisplay. Angeführt von den bewaffneten Offizieren strebte jede Gruppe auf eine andere der riesigen Ruinen zu. Nacheinander verschwanden sie hinter Vorhängen aus Rankengewächsen.
Auf Dragon II saß Barbara Brook an ihren Ortungsgeräten. Laser, Infrarotsensor und Radar tasteten die Gebäude und ihre Umgebung ab. Courtney Rubens hatte den Auftrag mögliche Funksignale anzupeilen und Kontakt zu London herzustellen.
Eve übergab die Kontrolle ihrer Ortungsinstrumente dem Bordhirn und funkte David an. „Commander an Major Emerson. Wir sollten uns über ein paar Dinge verständigen. Ich schlage meinen Kommandostand als Treffpunkt vor.“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis er bestätigte. Zehn Minuten später meldete der Schleusenbutler seine Anwesenheit im Hecksegment, kurz darauf bückte er sich durch die Luke zu Segment II.
„Hallo, Eve.“ Er umarmte sie und küsste sie auf die Wange. Danach sank er in den Navigationssessel. Müde sah er aus. Statt seiner grauen Zopfperücke trug er ein blaues Tuch mit gelben Sternen auf dem Kopf.
„Was ist los mit dir, David?“ Eve kam sofort auf den Punkt. „Warum weichst du mir aus?“
Er senkte den Blick, starrte die Instrumentenkonsole an.
„Irgendwas stimmt nicht, ich spüre es doch.“ Sie setzte sich in den Pilotensessel, drehte ihn, fixierte David. „Wir sollten es klären. Jetzt.“
Er hob den Kopf, sah sie eine Zeitlang schweigend an, und sagte schließlich: „Ich hab Schwierigkeiten mit Stallone.“
„Was für Schwierigkeiten?“
„Disziplinarische. Er macht die Frauen an. Ich hab ihn zurechtgewiesen. Seitdem ist er rebellisch, will Befehle nicht verstanden haben oder kommt ihnen nur verzögert nach. Und so weiter.“
„Warum …“ Eve schüttelte den Kopf, sie war verwirrt. „Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?“
David zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Scham, vermutlich. Ich wollte allein damit klarkommen.“
Sie stand auf, ging zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. „Das verstehe ich. Ich werde ihn mir trotzdem vorknöpfen. Ausgeschlossen so ein Verhalten. Was ist nur in ihn gefahren? So was kann das ganze Unternehmen gefährden. Ich nehme ihn mir zur Brust.“
„Bitte nicht, Sonne.“ Er fasste ihre Hand und sah zu ihr hinauf. „Das würde meine Position auf dem Tank gefährden. Er muss sich mir unterordnen, oder wir müssen London anfunken, damit sie ihn abholen und einen Ersatzmann bringen.“ Eve nickte langsam. Sie dachte an die Konkurrenz der beiden Männer im Boxring. Spencer Miller hatte ihr davon erzählt. „Heute Abend habe ich mich zu einem Gespräch mit ihm verabredet. Danach sehen wir weiter.“
„Also gut“, sagte Eve. „Versuche es. Aber wenn es nicht funktioniert, muss ich mich mit ihm beschäftigen.“ Sie fühlte sich auf unerklärliche Weise erleichtert. Stallone also. Nur Stallone und sonst nichts …
„Einverstanden.“ Er zog sie zu sich hinunter auf seinen Schoß und küsste sie. „So machen wir’s, meine Sonne.“ Seine Küsse wurden leidenschaftlicher, bald fühlte sie seine Hände auf ihrer Haut, überall waren sie, überall. Die Sorgen und die Unruhe der letzten zwei Tage lösten sich in nichts auf. Wie hatte sie nur so misstrauisch sein können. Sie begann ihn aus seinen Kleidern zu schälen und versank in seinen Zärtlichkeiten. Alles war gut, gut, so gut …
*
Bochum, Anfang April 2522
In ein paar Räumen der Ruinen, unter dem Staub der Jahrhunderte und unter Pflanzenteppichen, fanden die beiden Forscherteams acht Dutzend antike Computer und in moosbedeckten Schreibtischen massenhaft Datenträger. Doch DeJong und Simon konnten sich mühen, wie sie wollten – die Daten waren zerstört und ließen sich nicht wieder zu elektronischem Leben erwecken.
Dafür stieß Emma Flowers‘ Team in einem der Gebäude auf eine umfangreiche Bibliothek. Die meisten Bücher waren verrottet oder zerfielen zu Staub, wenn man sie aus den Regalen zog, etliche aber waren erstaunlich gut erhaltenen. Darunter Werke über Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Mathematik im Besonderen. Paul DaCol war entzückt. Crosby fand ethnologische Arbeiten über afrikanische und südamerikanische Stämme und ihre Sprachen. Darauf nun waren Emma Flowers und John Cox scharf. Jedenfalls brach unter den Wissenschaftlern die Jäger- und Sammlerleidenschaft aus, so dass Eve ihnen fünf weitere Tage genehmigte, um nach wertvollen Büchern zu suchen, deren Inhalt abzufilmen und die umfangreichen Daten in das Bordhirn einzuspeisen.
Eve und David trafen sich fast täglich im Hecksegment von Dragon I. Meistens redeten sie nicht viel, die Liebe forderte jede Minute der knappen Zeit.
Gleich am zweiten Tag berichtete David von seinem Gespräch mit Eddy Stallone. Die Zeichen standen auf Versöhnung: Der Captain hatte seinen Fehler eingesehen und sich bei den Frauen entschuldigt, so erzählte David. Eve atmete auf. Noch eine Sorge weniger.
Nach einer Woche meldete John Cox den Abschluss der Arbeiten in den Ruinen. Am Morgen danach rief Eve die Offiziere im Kommandostand ihres Flaggdragons zusammen. Offiziell ging es um den weiteren Kurs und einen vorläufigen Zeitplan – eine Routinebesprechung. Inoffiziell wollte sie sich ein Bild von der Stimmung in Davids Team machen.
David wirkte aufgeräumt, Barbara Brook und Courtney Rubens Mienen erschienen ihr angespannter als nötig, fast sorgenvoll; und Eddy Stallone hatte einen Bluterguss unter dem rechten Auge so gut geschminkt, dass Eve ihn erst beim Abschied bemerkte. Er sei bei der Wartung seines Geschützturmes ausgerutscht und gegen einen Griffbügel gestürzt. Eve musterte ihn mit gerunzelter Stirn, doch niemand aus Stallones Team zeigte sich befremdet, und so akzeptierte sie die Antwort.
David Emerson und seine Mannschaft gingen hinüber auf Dragon II, die Tanks wurden entkoppelt, der Teleskoptunnel ins Hecksegment gefaltet und eingezogen. Danach ließ Eve die Gleitflügel ausfahren, die Magnetfelder aufbauen und die Maschinen starten. Nacheinander stiegen die Gefährte auf eine Flughöhe von sechzig Fuß. Über die Ruinen, Schutthügel und Wälder der ehemaligen Ruhrstadt hinweg schwebten sie nach Osten. Bald erreichten sie eine Trasse, die in den antiken Karten als B1 gekennzeichnet war. Eine nichtssagende Abkürzung für Eve. Nicht einmal Emma Flowers, die neben Linguistik auch die Geschichte der goldenen Zeiten vor „Apokalyptos“ studiert hatte, konnte damit etwas anfangen. Fahrzeugwracks unter Gras- und Buschhügeln versperrten die Trasse über weite Strecken, so dass die Dragons den Flugmodus beibehalten mussten.
Die Ruinen lichteten sich, die tote Stadt mit dem seltsamen Namen Bochum blieb hinter ihnen zurück. Wenn Eve der aktualisierten Karte glauben wollte, lag das Lichtphänomen nicht viel weiter als zwanzig Kilometer entfernt. Obwohl eine geschlossene Wolkendecke die Morgensonne verbarg, konnte sie am Horizont keine Spur des Lichtscheins entdecken, den sie in Holdens Bildmaterial gesehen hatte. Dafür peilte die Infrarotortung schon nach wenigen Kilometern Wärmequellen an.
„Menschen und Tiere“, meldete Barbara Brook von Dragon II. „Es sind mehrere kleine Gruppen, die nächste kaum zwölfhundert Meter vor uns. Das Bordhirn müsste sie eigentlich schon visualisieren können.“
Eve bestätigte Barbaras Beobachtungen – ihre Instrumente lieferten identische Messungen – und Sekunden später hatte das Bordhirn die Daten der Ortung in gestochen scharfe Bilder umgerechnet und auf einen Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays projiziert: Am linken Trassenrand, neben den zugewucherten Wracks, führten zwei Männer ein Gespann pelziger Rinder nach Westen. Sie trugen diese weißgrauen Federumhänge, die Eve schon an der Ruhrmündung aufgefallen waren. Die beiden Langhaarrinder zogen einen Karren, und auf dem Karren hockten Frauen und Kinder inmitten von Fellbündeln, Kisten und überquellenden Körben.
Eve forderte Bilder der anderen von der Ortung erfassten Menschen. Nacheinander bekam die Crew im Kommandostand Gruppen von Newbarbarians zu sehen, die zu beiden Seiten der alten Trasse entlang marschierten. Insgesamt erfasste die Ortung neun Sippen. Alle schienen es eilig zu haben, alle wollten nach Westen – also weg von Borussiaburg – und alle führten Rinderkarren oder Mammutheuschrecken mit sich, auf die sie ihre Kinder und ihr Hab und Gut geladen hatten.
„Die Leute scheinen auf der Flucht zu sein“, meldete John Cox sich von Dragon II. Niemand hatte eine bessere Erklärung.
Die Ruinen rechts und links der Trasse waren inzwischen ausgedehnten Wäldern gewichen. Etwa zwölf Kilometer trennten die Expedition noch von ihrem Etappenziel. Als die Dragons sich der ersten Barbaren-Gruppe näherten, ließen deren Männer die Zügel der Rinder los und flohen seitlich der Trasse ins Unterholz. Schreiend sprangen die Frauen und Kinder vom Karren und rannten hinter ihnen her. Die Langhaarrinder blieben stehen und äugten stoisch zu den fliegenden Tanks herauf. Ähnliche Szenen wiederholten sich vier oder fünf Mal – sobald die Newbarbarians die viergliedrigen Riesenschlangen in der Luft sichteten, ließen sie ihre Tiere und ihr Hab und Gut im Stich und ergriffen die Flucht.
Schließlich näherten die Panzer sich einer etwa zwanzigköpfigen Horde. Kinder, Frauen und Gepäck waren auf sieben jener Mammutheuschrecken verteilt, die von den Newbarbarians Springer genannt wurden. Das wusste Eve von John Cox. Die Männer, bärtige, langhaarige Gesellen, trugen schwarze Ledermäntel und führten die Rieseninsekten an geflochtenen Zügeln. Sie erinnerten Eve an die Gestalten, mit denen Terry Holden sich hatte filmen lassen. Merkwürdigerweise zeigten sie nicht die Spur von Angst. Sie hielten ihre Tiere an, blickten ihnen entgegen, und als die Dragons über sie hinwegflogen, begannen sie zu winken.
„Dragon II an Dragon I.“ Davids Stimme meldete sich aus dem Funkmodul. „Guckt euch die Zeltplane auf dem zweiten und fünften Reitinsekt genau an!“ Eve und McCalahan blickten konzentriert auf das Panoramadisplay; schnell begriffen sie, was der Major meinte: Die zusammengerollten Zeltplanen waren aus silbergrauem Kunststoff.
„Hey!“, rief Mac. „Die hatten mit Holden zu tun!“ Statt ihren Weg fortzusetzen, machten einige Newbarbarians kehrt und liefen ein Stück in Flugrichtung der Dragons.
„Vielleicht wäre es nicht schlecht zu erfahren, wovor all diese Menschen fliehen.“ Wieder Davids Stimme.
„Ja“, erwiderte Eve. „Du hast Recht. Nehmen wir Kontakt mit ihnen auf.“
Nach anderthalb Kilometern fanden sie eine ausreichende Lücke zwischen den wie Grabhügeln aufgereihten Wrackhaufen. Eve befahl die Landung und ließ die Dragons zusammenkoppeln. Cox und David kamen herüber. Während sie die Vorgehensweise diskutierten, versammelten sich sieben männliche Newbarbarians in meist schwarzen Fellmänteln etwa hundert Schritte entfernt zwischen den überwucherten Fahrzeugwracks.
„Sie sind tatsächlich hinter uns hergelaufen“, sagte Cox.
„Trauen sich nicht näher heran, scheinen mächtig Respekt zu haben.“ David deutete auf das Panoramadisplay. „Schaut nur, was uns dieser da präsentiert!“ Sie beobachteten, wie einer der langhaarigen, bärtigen Gesellen eine langstielige Axt über dem Kopf hochstemmte. Der Metallstiel war mit schwarzem Kunstleder überzogen, die mächtige Klinge aus Carbonitstahl. Eine Produktion der Society London.
„Emma und David.“ Eve wandte sich an die Wissenschaftlerin und an ihren Geliebten. „Steigt aus und versucht euch mit ihnen zu verständigen. Wollen Sie mitgehen, Doc? Mac und Spencer sollen euch eskortieren. Und nehmt ihnen was Brauchbares mit!“
Während nach und nach ihre Frauen und Kinder sich bei den Schwarzmänteln einfanden, stiegen die drei Offiziere und die beiden leitenden Wissenschaftler in ihre Schutzanzüge. Fünfzehn Minuten später holte eine Außenkamera sie auf das Panoramadisplay. Allein im Kommandostand zurückgeblieben beobachtete Eve, wie Spencer Miller und McCalahan die Außenboxen öffneten und Kunststoffkisten heraushievten. Sie packten Kochgeschirr aus Leichtmetall, Taue aus Nylon und verschiedene Werkzeuge aus. Von Weitem jubelten die Newbarbarians. Einige trauten sich jetzt ein paar Schritte näher heran. Die Außentruppe belud sich mit den Geschenken und ging den Wilden entgegen.
Hinter ihr scharrten Schritte, und Eve blickte über die Schulter zurück: Barbara Brook bückte sich in den Kommandostand hinein. „Ich muss mit dir reden. Allein.“
Ihre steinerne Miene, ihre heisere Stimme und die Trauer in ihren Augen alarmierten Eve augenblicklich. Kerzengerade saß sie auf einmal in ihrem Kommandantensessel. Mit routiniertem Blick überprüfte sie die Kontrollinstrumente für den Bordfunk. Als sie sicher war, dass niemand mithören konnte, musterte sie die Freundin. „Was ist los, Barbara?“ Ihr Herz schlug ihr auf einmal in der Kehle.
„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Barbara leise. „Ich kann dich nicht länger belügen.“
„Mich belügen?“ Eve war fassungslos.
„Schweigen kommt mir vor wie lügen.“ Sie seufzte tief, als müsste sie Anlauf nehmen. „Selbstverständlich ist Stallone weder ausgerutscht noch gegen einen Griffbügel gestürzt. Seine Platzwunde hat er unter seiner Perücke verborgen. Courtney hat sie ihm genäht.“
„Nicht gestürzt?“ Eves Gehirn war wie leergefegt. „Platzwunde?“
„Sie haben sich geschlagen.“
„David und Stallone?“ Aus dem Funkmodul tönte Emmas Stimme. Sie sprach gerade die Newbarbarians an. Eve hörte es kaum.
Barbara nickte. „Zweimal. Beim ersten Mal musste Davids Perücke daran glauben.“
„Aber … warum?“
„Es ging um Courtney.“
„Wie – es ging um Courtney?“ Eve verstand nicht, sie war sogar weit davon entfernt zu verstehen. „Hat Stallone sie wieder belästigt? Musste David sie in Schutz nehmen?“ Ihre eigene Stimme kam ihr vor, wie die Stimme einer Fremden.
Barbara sah sie an, biss sich auf die Unterlippe und nahm dann Eves Hand. Sie schluckte ein paar Mal, als wären die Worte scharfkantig und spitz, die ihr auf der Zunge lagen, als bereitete es ihr Schmerzen sie auszusprechen. „Nein, Eve“, sagte sie nur.
Der Boden unter Eves Sohlen gab nach, sogar Wellen warf er; jedenfalls kam es ihr in diesen Sekunden so vor. Von sehr weit weg hörte sie Emmas Stimme in holprigem Deutsch: „Wir kommen in Frieden“, und Barbaras kantiges Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
„O Gott, Eve.“ Barbara drückte ihre Hand und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du bist die Einzige in dieser Expedition, die es noch nicht weiß.“
Aus den Johanna-Dateien
18. 1. 2022
Schlimme Nachricht: Die Eltern von Pete Holden sind in den Tod gegangen. Zyankali.
19. 1. 2022
Ich sitze an Louis Schreibtisch, trinke Scotch aus der Flasche, und spreche diese Sätze in ein Diktiergerät. Louis wartet im Bunker unter den Houses of Parliament auf uns, und unten auf der Straße warten zwei Armeefahrzeuge auf mich. Kobayashi, sein Adjutant und sein Fahrer. Ich höre sie schon hupen, doch im Moment bin ich zu schockiert, um auch nur einen Schritt gehen zu können. Immer wieder starre ich in das Adressbuch und traue meinen Augen nicht.
Ich hatte meine Aufzeichnungen kopiert, und suchte in Louis’ Arbeitszimmer nach seiner Collegemappe, um die Datenträger und Papiere darin zu verstauen. Auf seinem Schreibtisch lag sein neues Diktiergerät. Da ich nicht damit rechnen kann, in den nächsten Tagen über einen PC zu verfügen, steckte ich es ein.
Seine Mappe enthielt Kopien von Bunkerplänen – London und Salisbury – und einen dieser altmodischen Terminplaner, von denen Louis sich bis heute nicht trennen kann. Ich weiß nicht, warum ich ihn herausnahm. Meine innere Stimme? Je mehr ich getrunken habe, desto deutlicher kann ich sie hören.
Jedenfalls schlug ich den Planer bei einem Lesezeichen auf. Das stellte sich als Quittung über mehrere zehntausend Euro heraus – unterschrieben von einem gewissen George Ramshaw! Unter dem Datum des fünfzehnten Dezembers fand ich den Namen Ramshaw und eine Telefonnummer, unter dem Datum des zweiundzwanzigsten Dezembers den Namen Brown und eine Telefonnummer, die ich so oft wegen Pete angerufen habe, dass ich sie auswendig kenne: Die Nummer von Inspektor Brown! Unter dem Datum des zweiten Januars war die Nummer des Polizeipräsidiums von Harlow notiert; drei Tage, bevor er mir versprach, dort anzurufen.
Nur eine Fantasie? Stimuliert durch ein paar Indizien? Oder ein begründeter Verdacht?
Louis, Louis, Louis! Solltest du wirklich ein solches Schwein sein? Solltest du wirklich deine Tochter und ihren Geliebten verraten haben? Dann bist du um keinen Deut besser als diese Motorradrocker, die in den Straßen Londons Jagd auf Frauen und Kinder machen.
Gott im Himmel! Macht „Apokalyptos“ denn lauter Lügner, Säufer und Verbrecher aus uns? Oder kehrt er nur nach außen, was sowieso und schon immer in unseren Herzen sein Unwesen trieb?
Kein Sterbenswörtchen über meinen Verdacht Mary-Lou gegenüber! Ob ich das schaffe?
25.01. 2022
Mein Sohn ist tot. Mary-Lou ist weg. Meinen Mann will ich nie wieder sehen! Mein Leben hat der Asteroid schon zertrümmert, bevor er die Erde erreicht hat …
Ich hocke hier im Kassenraum einer Bankfiliale. Durch das eingeschlagene Schaufenster konnte ich mich hier hinein flüchten. Draußen fallen Schüsse, knallen Stiefelsohlen über den Asphalt. Nur noch drei Straßenzüge trennen mich von unserem Haus – unserem ehemaligen Haus – ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde bis dorthin. Die KINGS sind hinter mir her.
Möglicherweise spreche ich also in diesen Minuten – es ist 13:55 Uhr – zum letzten Mal in mein Diktaphon. Doch gerade dieser düsteren Möglichkeit wegen will ich berichten, was in den letzten Tagen geschah. Vielleicht gönnt das Schicksal mir ja noch eine Galgenfrist, und dann werde ich trauern. Jetzt aber will ich versuchen, mich auf die bloßen Fakten zu beschränken:
Am 19. Januar brachte uns Colonel Kobayashi mit einem gepanzerten Militärfahrzeug nach Westminster. Kurz vor der Lambeth Bridge gerieten wir unter MG-Beschuss. Bewaffnete KINGS und rebellierende Armee-Einheiten hatten das Regierungsviertel zwischen Themse und Marsham Street einerseits und zwischen den Victoria Gärten und dem Verteidigungsministerium andererseits eingekreist. Sie griffen die Parlamentsgebäude an und schossen auf jeden, der sich den Häusern nähern wollte.
Stuart und Sarah wurden getroffen. Stuart starb sofort und in meinen Armen, Sarah drei Tage später.
Eine ganze Nacht lang kesselten Mitglieder der Motorradgang unser Fahrzeug ein, am Morgen schoss uns ein Helikopter den Weg frei. Wir fuhren ins St. Mary’s Hospital, die drei letzten Chirurgen dort kämpften vergeblich um Sarahs Leben. Wir haben sie neben Stuart im Park der Klinik beerdigt.
Über Handy und Funk standen Mary-Lou und Colonel Kobayashi mit Louis und der Besatzung des Regierungsbunkers in Verbindung. Ich selbst lag die meiste Zeit betrunken in einem Klinikbett; der Colonel hatte drei Kartons Cognac im Panzer.
Er und Mary-Lou erfuhren, dass einige Offiziere, denen man keinen Bunkerplatz zugeteilt hatte, geputscht hatten. Nun griffen diese Soldaten mit einem Panzerverband und einer großen Infanterieeinheit die Houses of Parliaments an, um sich und ihren Familien den Weg in den Bunker freizukämpfen. Die KINGS hatten sich mit ihnen verbündet.
Fünf Tage währte der Krieg. Loyale Royal Air-Force-Piloten entschieden ihn schließlich: Mit Jagdflugzeugen zerstörten sie die gegnerischen Panzer und bombardierten die Stellungen der Infanteristen. Die KINGS flohen. So kam es, dass Mary-Lou und ich gestern doch noch den Bunkereingang erreichten.
Kobayashi wich nicht mehr von meiner Seite. Ich glaube, er empfindet mehr für mich als nur Sympathie. Gemeinsam mit ihm und einigen anderen Regierungsmitgliedern samt ihrer Angehörigen betraten wir die Schleuse innerhalb des ehrwürdigen Parlamentsgemäuers. In der Menge entdeckte ich den Sicherheitsberater und seine Familie. Viola Heath tat, als sähe sie mich nicht. In kleinen Gruppen fuhren wir mit einem Lift über vierzig Meter in die Tiefe. Jemand berührte mich am Arm, ich drehte mich um und erkannte Frank Springs und Sandy McAllister. Stumm umarmten wir uns.
In dem Moment, als die Aufzugtür sich hinter mir schloss und die Liftkabine sich in Bewegung setzte, fragte ich mich, ob ich mit diesem Lift je wieder in die Gegenrichtung fahren würde, nach oben, und falls ja, wie es dann dort oben aussehen, und ob ich meine Stadt überhaupt wiedererkennen würde. Und während diese Gedanken mich überfielen und erschreckten, kam ich mir vor wie eine Frau, die ein für alle Mal zur Hölle fährt.
Ja, zur Hölle …
Heute Morgen dann der Schock: Mary-Lou war verschwunden. In meinem Kulturbeutel fand ich einen kurzen Brief von ihr. Ich zitiere den Wortlaut: Liebe Mom. Pete hat mir eine Kurznachricht aufs Handy geschickt. Von Südfrankreich aus hat er sich bis in unseren Garten durchgeschlagen. Er glaubt, dass Dad hinter seiner Verhaftung und Verschleppung steckt. Lieber will ich mit ihm sterben, statt ohne ihn zu leben. Lebe wohl. Ich liebe dich. Mary-Lou.
Den Brief in der Hand stürmte ich in den Kabinettssaal, wo der Premierminister mit seinen Ministern und Staatssekretären tagte. Louis saß zwischen dem Innenminister und seiner Stellvertreterin, Wanda Cox. Vor der versammelten Regierung warf ich ihm vor, dass er seinen Schwiegersohn ans Messer geliefert hat, und mit ihm seine eigene Tochter. Ich ohrfeigte ihn vor den Augen aller.
Danach verließ ich den Bunker und schlug mich bis zu dieser Filiale der Bank of England durch.
Noch sechsundzwanzig Stunden, bis der Asteroid kommt. Ich werde alles daransetzen, um mit Mary-Lou, ihrem Ungeborenen und dessen Vater den Bunker vor dem Einschlag zu erreichen. Sie werden uns hineinlassen! Sie müssen uns hineinlassen!
Das Schloss
Östliches Ruhrgebiet, Anfang April 2522
„Fremde Krieger, grausame Krieger.“ Emma übersetzte den Wortschwall des Rauschebarts. „Sie haben eine Waffe, die er Donnerrohr nennt.“ Der Newbarbarian war groß und wog sicher zweihundertfünfzig Pfund. Er fuchtelte mit den Fäusten, während er Worte in einer harten Sprache ausspuckte. Schwer vorstellbar, dass so einer vor irgendetwas Angst haben sollte. David beneidete ihn um seine langen, grauen Locken.
„Sie seien sehr hässlich“, übersetzte Emma. „Niemand weiß, wo sie herkommen, niemand könne etwas ausrichten gegen sie. Er hält sie für Gesandte Luzifucks …“
„Wie entkam er dann, wenn sie doch so grausam und unbesiegbar sind?“ David konnte einen leichten Spott nicht unterdrücken.
Emma übersetzte seine Frage, der große Mann produzierte den nächsten Wortschwall und gestikulierte, als wolle er den Leibhaftigen persönlich beschreiben. „Er dankt Wotan, dass er und seine Sippe den fremden Heerscharen noch nicht in die Hände gefallen sind“, erklärte Emma. „Und er dankt Wotan, dass er noch keine dieser Bestien mit eigenen Augen sehen musste. Denn niemand bleibt am Leben, der ihnen begegnet …“
„Und woher hat er dann seine Informationen?“, unterbrach David.
„Von einem Göttersprecher, dessen Horde sie abschlachteten, der selbst aber entkam, weil er sich in einen Baum verwandeln konnte.“ Die Linguistin runzelte die Stirn und gab David mit einem strengen Blick zu verstehen, dass er jetzt weder grinsen noch sonst irgendwie seinen Unglauben zum Ausdruck bringen durfte.
„Was ist das, ein Göttersprecher?“ David verzog keine Miene. Er wusste, was sich einem Barbarenchef gegenüber gehörte.
„So nennen sie ihre Schamanen“, erklärte Cox.
„So, so.“ David war erleichtert. Eine Schlächterei, wie sie unter Barbaren üblich ist, weiter nichts. Er hatte sich schon so etwas gedacht. „Frag ihn nach Luzifucks Tor.“ Der Mantel des Kriegers war aus einem dichten kurzhaarigen Fell. Es schimmerte anthrazitfarben, glänzte vor Fett, und machte einen warmen, wasserabweisenden Eindruck.
Es war als würde der Mann unter Emmas Frage die Schultern heben und zusammenzucken. Sein erschrockener Blick flog zwischen Emma, Cox und David hin und her. Schließlich gab er eine überraschend knappe Antwort und deutete dabei nach Nordosten und Südosten. „Wenn man dreißig Speerwürfe nach Sonnenaufgang weitergeht, zweigen zwei Pfade in diese Richtungen ab“, übersetzte Emma. „Auf ihnen, sagt er, gelangt man gefahrlos an Luzifucks Tor vorbei. Wenn man stur geradeaus sieht, würde man sogar dem Anblick des Höllenlichtes entgehen, das seine Türme ausstrahlen; und der Ungeheuer, die es bewachen.“
„Türme?“, staunte Cox.
„Es scheint eine Art Schloss zu sein.“
„Sehr aufschlussreich“, murmelte David. Er fixierte die glühenden Augen des Mannes. Der wich seinem Blick aus. „Frag ihn nach Holden und seiner Crew.“
Die Frage hob die Stimmung der gesamten Barbarengruppe. Ihre Mienen hellten sich auf, stolz zeigten sie ihre Äxte, Messer oder Gürtel. Wortreich schilderte der Anführer seine Begegnung mit der Holden-Expedition. „Er nennt ihn Wotans Krieger“, dolmetschte die Linguistin. „Scheinbar haben Holden und seine Mannschaft sich mehrere Tage mit dieser Sippe befasst. Danach konnten sie sich Dank der Geschenke wohl sogar unter den Borussen behaupten. Holden und seine Diener seien in ihren Göttervogel gestiegen und Richtung Mitternacht gefahren, also nach Norden. Er wollte in eine Totenstadt, die man unter diesen Leuten hier Amburg nennt, und von dort in ein fernes Land am Nordmeer, wie das hierzulande heißt. Sieben Krieger dieses Mannes haben den Dragon auf Springern bis an den Nordrand von Ruhrwichse begleitet.“
„Amburg also.“ David nickte langsam. „Hat der Commander sich also tatsächlich nicht weiter um das Lichtphänomen gekümmert?“
Er blickte sich nach Spencer Miller und Stanley McCalahan um. Ihre aktivierten LP-Gewehre im Anschlag standen sie etwas abseits. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihnen, mit der Bescherung der Barbaren zu beginnen. Wieder brandete lauter Jubel auf. Miller und Mac schulterten ihre Waffen und bückten sich nach den Kisten mit den Geschenken. Der Häuptling rief vier junge Männer herbei, die schnappten sich die Kisten und schleppten sie davon.
„Frag ihn bitte, von was für einem Tier dieses Fell stammt.“ David deutete auf den Mantel des Häuptlings.
Emma übersetzte die Frage. Der Häuptling schien um einige Zentimeter zu wachsen, während er gestenreich und ausführlich antwortete. „Von einem Mammutratzenkönig“, übersetzte Emma. „Er hat ihn im Zweikampf mit der Axt erschlagen, die Holden ihm geschenkt hat. Auch die Mäntel seiner Leute sind vorwiegend aus dem Fell der mutierten Riesenratten. Aber er sei der einzige, der einen König getötet habe.“
„Respekt, Respekt.“ David deutete eine Verbeugung an. Mit allerhand Segenswünschen nahmen die ungleichen Menschen Abschied voneinander.
„Wieweit ist das, ein Speerwurf“, wollte McCalahan auf dem Rückweg zu den Fahrzeugen wissen.
„Bei den Stinkern etwa hundert Schritte“, antwortete Cox.
„Muss ja ein wahres Horrorschloss sein“, sagte McCalahan.
„Vielleicht hat eine schottische Touristengruppe den Asteroideneinschlag in Borussiaburg überlebt“, kicherte Bogotos Stimme im Helmfunk. „Und danach wollten deine Vorfahren es sich halt ein bisschen wie zu Hause …“
„Ist schon okay, Lieutenant Bogoto“, unterbrach ihn David. „Melden Sie sich bitte ordnungsgemäß, wenn Sie was zu sagen haben. Jedenfalls erfahren wir bei diesem angeblichen Schloss nichts Neues über die Skandinavien-Expedition.“
Er blickte in den Schleusensensor von Dragon I. Von außen war das Schott durch eine zusätzliche Irisidentifikation gesichert. „Major Emerson. Lass uns rein.“ Nacheinander identifizierten sich die anderen vier.
„Emerson an Commander“, sprach David in den Helmfunk, während das Außenschott sich öffnete. „Was hältst du von diesen Kriegsgerüchten, Eve? Ihr habt sicher mitgehört.“ Keine Antwort. David runzelte die Stirn. „Eve? Hörst du mich?“ Wieder Schweigen. Ratlos sahen Cox und David einander an. Mac und Miller runzelten die Stirn. „Emerson an Commander“, versuchte David es ein drittes Mal. „Bitte melden Sie sich!“
„Lieutenant Bogoto an Major Emerson.“ Die Stimme des Waffentechnikers räusperte sich aus dem Helmfunk. „Commander Barkley hat sich zurückgezogen. Also … mit anderen Worten … sie möchte vorläufig nicht gestört werden. Und … ähm … sie hat mir das Kommando über Dragon I übertragen. Jedenfalls solange, bis Major McCalahan wieder an Bord ist.“
*
„Sie reagiert nicht.“ Courtney Rubens deutete auf das Funkmodul. Zum wievielten Mal hatte sie gerade versucht, die Kommandantin zu erreichen? „Was ist bloß los mit ihr?“ Sie sprach so heiser und so leise, dass David sie kaum verstand.
Der Major und John Cox waren auf Dragon II zurückgekehrt. Über der Frontkuppel stieg bereits die Dämmerung in den Himmel. Niemand konnte sich einen Reim auf das Verhalten von Commander Barkley machen, dennoch hatte David als ihr Stellvertreter die Crew angewiesen, die Kommandantin in Ruhe zu lassen. „Wenn sie sich ein Weilchen zurückzieht, wird sie ihren Grund dafür haben, hatte er gesagt.“ Er war sicher, dass sie mithörte.
„Ist jemandem etwas aufgefallen an ihr?“ John Cox wirkte reichlich ratlos. „Ich meine – war sie irgendwie anders in den letzten Tagen? Ist sie möglicherweise krank geworden?“ Der Chefwissenschaftler sah sich unter den Anwesenden um. David schüttelte den Kopf, Courtney zuckte mit den Schultern, und Barbara starrte auf die Frontkuppel. Ein milchiger Fleck am Horizont hinter den Wolken verriet den Mondaufgang. „Nun, wenn sie krank wäre, hätte sie vermutlich jemanden eingeweiht. Dr. Muzawi, oder Sie, Dr. Rubens.“ Cox schüttelte den Kopf. „Seltsam.“
Drei Stunden waren inzwischen vergangen. Unsinnig, die Reise an diesem Abend noch fortzusetzen. Wohl ein Dutzend Mal hatten sie in den letzten zehn Minuten versucht mit Eve Kontakt aufzunehmen. Sie blieb stumm. Eine dunkle Ahnung beschlich Major David Emerson. Etwas schwoll hinter seinem Brustbein, und je länger Eve schwieg, desto größer wurde dieses Etwas. Wie ein heißer Stein fühlte es sich an.
Bei Einbruch der Nacht riss ihm der Geduldsfaden. „Emerson an Commander, die Vorschriften der Society Force sehen vor, dass der stellvertretende Kommandant die Einsatzleitung übernimmt, wenn der Kommandant, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr in der Lage ist, sein Kommando zum Wohle der Mannschaft und zum Nutzen des Einsatzzieles auszuüben. Ich glaube, das ungefähr ist der Wortlaut. Ich warte jetzt noch eine Stunde ab, Eve, wenn du danach noch immer schweigst, gehe ich davon aus, dass du dein Kommando nicht mehr …“
„Commander an alle“, fuhr ihm Eves Stimme dazwischen. Sie klang, als wäre ihr ein Boxsandsack auf die Brust gefallen, so schwer, dass sie ihn nicht mehr abschütteln konnte. „Wir verbringen die Nacht hier auf der Trasse.“ Jede Silbe betonte sie. „Ruhen Sie sich aus. Ich bin … ich bin im Moment noch angeschlagen und brauche ein paar Stunden für mich. Major Emerson, erledigen Sie bis morgen früh ihren Job als mein Stellvertreter. Danke. Gute Nacht.“
Sie sahen sich an, niemand sagte etwas. Barbara stand auf, bückte sich in die Luke und verließ den Kommandostand. John Cox zuckte mit den Schultern, winkte linkisch und folgte ihr. David drückte die Sprechtaste des Funkmoduls. „Major Emerson an alle. Ihr habt gehört, was Commander Barkley gesagt hat. Wir behalten den Wachplan der vergangenen Nächte bei. Achtet auf vorbeiziehende Barbaren. Ich möchte einen Bericht mit korrekten Zahlenangaben. Gute Nacht.“ Die Bestätigungen folgten, die aus dem Geschützturmsegment zuletzt.
David blieb ein paar Sekunden lang vor der Steuerkonsole stehen. Gedankenverloren blickte er in den Nachthimmel. Schließlich machte er kehrt, ließ sich neben Courtneys Navigationssessel auf den Boden sinken, lehnte gegen den Lukenrahmen und atmete geräuschvoll durch.
Courtney strich ihm über das blaue Kopftuch und tastete nach seiner Hand. „Meinst du … meinst du, sie weiß Bescheid?“
Er schüttelte erst den Kopf, zuckte dann mit den Schultern, und machte schließlich eine ratlose Geste. „Keine Ahnung … ich wüsste nicht, woher sie es erfahren haben könnte.“ Sie schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach. Courtney streichelte seine Hand, sein Gesicht, er reagierte kaum. Eine halbe Stunde verstrich so; oder eine ganze?
Irgendwann stand Courtney auf, ging nach vorn zur Steuerkonsole und nahm neben dem Pilotensitz vor den Ortungsinstrumenten Platz. Die ersten drei Stunden der Nacht war sie mit Wachdienst an der Reihe. Dazu gehörte die regelmäßige Kontrolle der Ortungsinstrumente. Eine Ansammlung von Wärmequellen zog in unmittelbarer Nähe vorbei. Sie trug die Uhrzeit und die Zahl der Objekte in die Dokumentation ein. Das Bordhirn speicherte die Aufnahme; sie konnte jederzeit abgerufen werden. Ein Blick auf das Panoramadisplay: Der Lichtfleck des Mondes löste sich vom Horizont, er kam ihr heller vor als in anderen Nächten; und viel größer. Dabei war erst Halbmond.
Sie drehte sich nach David um. Den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen lehnte er gegen die Luke. „Mach dir keine Sorgen, Liebster“, sagte Courtney zärtlich. „Geh ins Bett, ruh dich aus.“
„Ich bleib bei dir und warte auf dich“, antwortete er müde.
Die Minuten verstrichen. Sie redeten nichts, sie mussten nichts reden. Courtney Rubens hatte ein reines Gewissen. Wenn sie ihn nur lieben durfte, wäre sie bereit, die Kommandantin aus Salisbury als seine Nummer Eins zu akzeptieren; bereit, seine Nebenfrau zu sein, wie die Stinker das nannten. So war es auch, und genau mit diesen Worten hatte sie dem Major ihre Liebe gestanden. Und er hatte sie geküsst. Nein, ihr Gewissen war rein. Hinter sich hörte sie seinen Atem. Sie blickte auf die Uhr: Noch eine Stunde und vierzig Minuten Dienst. Sie sehnte sich nach seinen Armen.
Der Lichtfleck, den der Mond in der Wolkendecke verursachte, hatte sich geteilt. Courtney neigte den Kopf auf die Schulter und betrachtete ungläubig das Panoramadisplay. Der untere Teil des Lichtflecks blieb am Horizont kleben, während der Mond ein Stück in den Himmel gewandert war. Auch kam ihr der untere Teil des Lichtflecks wesentlich größer und heller vor. „Schau dir das an, David!“ Sie stand auf, stützte sich auf die Konsole beobachtete die beiden Lichter auf der Frontkuppel. „Siehst du, was ich sehe?“
„Natürlich.“ Er stand schon neben ihr. „Das könnte es sein.“ Zwei Schritte, und er saß im Navigationssessel. Keine Spur von Erschöpfung mehr. „Das ist es. Die Koordinaten stimmen überein. Das muss dieses bescheuerte Höllentor sein. Was sagt die Ortung?“
„Nichts“, antwortete Courtney. „Nur Ruinen, sonst nichts.“
„Das gibt’s doch gar nicht.“ Schon war David wieder bei ihr. Sie spürte seine Hitze, als er sich über sie und die Instrumente beugte. „Unglaublich! Da beherrscht jemand eine Tarntechnik, das raubt mir ja den Atem!“ Er drückte die Sprechtaste am Funkmodul. „Dragon II an Dragon I, siehst du das Licht, Spence?“
„O ja.“ Der Pilot hatte drüben die erste Wache. „Aber ich kann nichts orten, nicht einmal eine Energiequelle. Hast du eine Erklärung?“
„Da versteht jemand etwas von der Materie, würde ich sagen. Besser als wir, fürchte ich!“ Die Luke schob sich auf, David fuhr herum. Stallone bückte sich in den Kommandostand. Um seinen Mund spielte ein hämisches Feixen. Er ließ sich im Navigationsstand nieder. David unterbrach die Verbindung zum Flaggtank. „Ihre Wache beginnt erst in anderthalb Stunden, Captain“, sagte er kühl.
„Kann nicht schlafen.“ Stallone hängte das rechte Bein über die Armlehne. „Mach mir Sorgen um unsere Kommandantin.“
Courtney wandte sich nicht einmal nach ihm um. Als wenn Eddy Stallone nicht anwesend wäre, versuchte sie die Lichtquelle anzupeilen. David aber musterte ihn aus schmalen Augen. „Commander Barkley wird wissen, was sie tut.“
„Angeschlagen!“ Stallone stieß ein böses Lachen aus. „Ist Commander Barkley euch endlich auf die Schliche gekommen, oder was?“ Spöttisch betonte er Eves Rang und Namen.
Ein Ruck ging durch Davids Körper. Plötzlich war ihm, als würde ihm eine Binde von den Augen rutschen. „Du also“, zischte er. „Du hast es ihr verraten!“ Schon war er bei ihm, packte ihn am Brustteil seiner Kombi, riss ihn aus dem Stuhl. „Dafür erschieße ich dich!“ Courtney umklammerte ihn von hinten und riss ihn zurück.
„Ich habe es ihr gesagt.“ Barbara Brook bückte sich durch die Luke. „Ich war es, Major Emerson.“
David starrte die junge Frau an. Wie aus dem Nichts stand sie auf einmal vor ihm. „Warum?!“ Er machte sich von Courtney los, fasste die Pilotin an den Schultern und schüttelte sie. „Warum nur, Captain Brook?! Das gefährdet die gesamte Expedition.“ Vergeblich versuchte Barbara ihn abzuschütteln. Wieder musste Courtney dazwischen gehen.
„Warum?“ Barbara strich ihren Overall glatt. „Weil ich diese verlogene Atmosphäre nicht mehr ertragen habe. Wussten Sie nicht, dass Eve meine Freundin ist?“
David faltete die Hände über dem Hinterkopf und stöhnte. Er wandte sich ab, ging zur Steuerkonsole und ließ sich in den Pilotensessel sinken. Leise fluchte er in sich hinein. Courtney starrte seinen Rücken an, sie merkte kaum, wie sie ihre Unterlippe zerbiss. Barbara lehnte gegen den Lukenrahmen, und Eddy Stallone fiel zurück in den Navigationsstuhl. Halblaut feixte er vor sich hin, sein Gesicht war die Grimasse eines Wahnsinnigen.
„Commander an Major Emerson“, tönte plötzlich eine harte, spröde Stimme aus dem Funkmodul. Sogar Stallone zuckte zusammen. Davids Hände umklammerten die Armlehnen, als wollte er sich aufstützen. „Kommen Sie ins Hecksegment von Dragon I. Ich habe mit Ihnen zu reden.“
*
Sie starrte auf den kleinen Monitor neben der Schleusenluke: Der schmale und kurze Innenraum des Teleskoptunnels war darauf zu sehen, und an dessen Ende ein Ausschnitt der samtenen, dunkelgrünen Außenhaut von Dragon II. Jetzt schob die Luke sich auf, und jetzt trat er aus der Schleuse in den Gang.
Eve wandte sich ab, machte zwei hastige Schritte nach rechts, ließ sich auf dem Hocker neben dem Waschbecken nieder. Sie hörte die Stimme des Schleusenbutlers, dann seine Stimme. Nein, nicht sitzen; nicht noch höher zu ihm hinaufblicken müssen. Sie stand wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust, atmete tief. Jetzt ging die Luke auf. Und jetzt stand er da, groß und gerade und ein Gesicht aus weißem Kunstglas. Hinter ihm schloss sich die Innenluke.
„Ist es wahr?“ Sie bemühte sich um eine feste Stimme.
„Was?“ Er hielt ihrem Blick stand.
„Dass Lieutenant Courtney Rubens deine Geliebte ist.“
Er schluckte. „Ja.“
„Seit wann?“
„Seit Mitte letzten Monats, seit vier Wochen.“
„Warum hast du mir etwas vorgemacht?“
„Ich … ich war durcheinander …“ David kam zu ihr, lehnte sich ihr gegenüber an einen der Gefrierschränke. „Meine Gefühle … ich war mir nicht im Klaren darüber. Außerdem wollte ich die Expedition nicht aufs Spiel setzen.“ Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ja, vor allem das. Nach der Expedition, da wollte ich reinen Tisch machen.“
„Reinen Tisch“, wiederholte sie bedrohlich leise. Dann stieß sie einen bitteren Seufzer aus, halb Gelächter, halb Schmerz. „Warum, David, warum?“
„Ich … sie sagte, sie liebt mich, und … es kam über uns, wir … wir wussten selbst nicht, was mit uns …“
„Liebst du sie?“ Wie ein Wurfgeschoss schleuderte sie ihm die Frage ins Gesicht.
Er sah ihr in die Augen, seine Mundwinkel zuckten, es arbeitete in ihm. „Ja, irgendwie schon, aber ich liebe auch dich …“
„Du schläfst mit ihr und mit mir?!“, schrie sie. „Du belügst mich die ganze Zeit!“
Plötzlich war es, als würde ein roter Schleier über sie fallen, heiß und klebrig und feucht. Sie hörte sich schreien, sie fühlte Tränen aus ihren Augen stürzen, sie fühlte seine warmen Schenkel an ihren, sie spürte ihre Fäuste auf seinem Gesicht, auf seiner Brust. Atemlos raste sie, ihre Glieder, ihre Kehle waren nur noch Schmerz und Wut.
Als sie wieder zu sich kam, hielt David ihre Handgelenke fest. „Bitte, Eve, bitte … es tut mir so leid!“ Sein linkes Auge tränte, seine Unterlippe war aufgeplatzt, er blutete, Spuren ihrer Nägel zogen sich über seine linke Wange.
Eve schüttelte seine Hände ab. „Geh!“ Sie drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch, als würde sie frieren. „Verschwinde.“ Sie hörte, wie er sich abwandte. Sekunden später das Sirren der Schleusenluke. „Bis morgen habe ich mich wieder unter Kontrolle, dann werde ich dich zurück nach London schicken und die Wissenschafts-Crew allein nach Leipzig bringen.“ Die Luke schloss sich. Sie drehte sich nicht um, wollte seine Gestalt nicht einmal mehr im Monitor sehen.
Abschiedsmahl
Aus den Johanna-Dateien
25.01. 2022
Kurz vor Mitternacht. Nicht einmal sechzehn Stunden noch bis zum Ende. Eben überqueren wir den Avon. Trotz Nacht und Schneetreiben erkenne ich den Fluss, wenn ich aus dem kleinen Fenster schaue: Die Flammen brennender Häuser spiegeln sich im Wasser. Würde der Turm der Kathedrale von Salisbury brennen, könnte ich vielleicht auch ihn am südlichen Horizont erkennen.
Der Copilot beugt sich von Zeit zu Zeit aus dem Cockpit in den Passagierraum. Er heißt Thomas Proud, und seine Miene ist die Miene eines Mannes, der nichts Gutes erwartet. Der Pilot geht auf Nordwestkurs. Nur noch drei oder vier Kilometer bis Stonehenge.
Ja, unter den Menhiren, unter der urzeitlichen Kultstätte hat das Innenministerium einen zweiten Bunker bauen lassen. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als Major Trevor McCalahan mir den Plan erklärte. „Wahrscheinlich haben sie gedacht, was fünftausend Jahre gehalten hat, wird auch zehntausend Jahre überstehen“, sagte er.
Ich muss schreien, die Rotorenblätter dröhnen. Viel zu viele Menschen hat der Großraumhelikopter aufgenommen. Ich habe mich auf die letzte Sitzbank zurückgezogen. Zwei junge Pärchen sitzen links von mir, eines der Mädchen muss bekifft sein – oder wahnsinnig? – sie kichert unaufhörlich vor sich hin. Links von ihnen hockt ein Greis in Admiralsuniform mit einem guten Dutzend Orden an der Brust. Er riecht nach Whisky, und er schnarcht. Als ich mich über die Pärchen beuge und ihm die noch halb volle Bourbonflasche aus den schlaffen Händen ziehe, faucht der auf seinen dürren Schenkeln zusammengerollte Siamkater mich an. Der Greis öffnet das rechte Auge. „Is schon fünf vor vier?“, fragt er mit schwerer Zunge. Ich verneine, er schläft weiter. Um fünf vor vier – genauer: um 15:55 Uhr – soll der Asteroid die Erde rammen.
Auf der Bank vor mir kauern Mary-Lou und Pete. Die Nerven meiner Tochter sind erschöpft; und Pete Holden ist vollkommen übermüdet. Ein wochenlanger Fußmarsch von mehreren hundert Kilometern steckt ihm in den Knochen.
In den vier oder fünf Sitzreihen davor, zusammengesunken und aneinander gedrängt, etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder – zwei Obdachlose, vier elternlose Jungen und Mädchen, ein fieberkrankes Mitglied der KINGS, jener berüchtigten Motorradgang, ein paar hungrig aussehende junge Männer, angeblich Studenten der Kunstakademie, und einige verwundete Angehörige der Royal Air-Force und ihre Familien.
Eine zufällige Ansammlung menschlicher Existenzen, vom Schicksal, nein: vom heranrasenden Asteroiden unter ein gleiches, zufälliges Joch gezwängt. Was uns verbindet? Alle wollen wir unsere Haut retten; sonst nichts.
Die meisten Männer starren stumm vor sich hin, ein paar Frauen weinen, irgendjemand betet, irgendjemand hält einen murmelnden Monolog, irgendjemand singt ein Shakespeare-Sonett, ein Verwundeter stöhnt, und hören Sie die Kinder wimmern?
Meine vorletzte Kassette. Ich hoffe, der Akku meines Diktaphons hält noch eine Weile durch. Werde ich jemals Gelegenheit haben, diesen Bericht niederzuschreiben? Und wird ihn dann jemals einer lesen?
Gleichgültig für wen – für niemanden, für mich selbst, oder für euch Nachgeborene, die ihr diese Worte vielleicht doch einst hören oder lesen werdet – ich will erzählen, was in den letzten neun Stunden geschehen ist:
*
Nachmittags gegen halb vier verdunkelte sich der Himmel. Es begann zu schneien. Und mit dem Schnee kam die Stille. Niemand schoss mehr draußen auf der Straße, keine Schritte waren mehr zu hören. Ich wagte mich aus der Bank, schlich den Fassaden entlang, huschte von Hauseingang zu Hauseingang. Unter meinen Sohlen knirschte der Neuschnee, mein Atem flog, sonst war die Stille vollendet. Jäger und Gejagte hatten sich in die Häuser geflüchtet. Einmal allerdings schlich ich unter einem offenen Fenster eines zweiten Stockwerkes vorbei, aus dem Gelächter, Musik und Gesang tönte. Dahinter schienen sie ein Fest zu feiern. Ein Abschiedsfest.
Und ein anderes Mal drückte ich mich gegen die Wand einer Toreinfahrt, lauschte und hörte ein Scharren und Stöhnen hinter mir. Ich schlich in einen Hinterhof. Dort, neben einem Müllcontainer und in rot gefärbtem Schnee, lag ein junger Bursche in Lederzeug. Seine Beine und Arme zuckten, er bohrte die Stirn in den Schnee, seine Rechte lag auf einem Schnellfeuergewehr; und vom Rücken seiner Jacke grinste mich die Grimasse einer roten Teufelsfratze an. Einer jener Mörder-KINGS. Soldaten oder Polizisten oder ein wehrhafter Bürger musste ihn in die Brust oder in den Bauch getroffen haben. Ich nahm die Waffe an mich und lief davon.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich bis zu unserem Haus benötigte, seit der Liftfahrt in den Bunker lässt mich mein Zeitgefühl im Stich. Die Vorhänge waren vorgezogen, keine Spuren im Schnee vor dem gusseisernen Gartentor. Ich klingelte wohl hundert Mal, flehte um Einlass, rief Mary-Lous Namen; und endlich, endlich die Stimme meiner Tochter. „Gott, Mom! Warum bist du nicht im Bunker!“ Der Türöffner summte, ich warf das Tor hinter mir zu und rannte durch den Garten auf die Veranda. Sekunden später lagen Mary-Lou und ich uns in den Armen.
Pete begrüßte mich im Musikzimmer. Nach der Umarmung musterte er ungläubig das Gewehr an meiner Schulter. Er sah aus wie der Tod – ausgemergelt, bleich, fiebrig. Ich glaube, ich habe ein paar graue Strähnen in seinem Haar gesehen. Männer in Uniformen hatten ihn in einem Hubschrauber aus dem Polizeipräsidium nach Harlow gebracht, erzählte er. Von dort haben ihn Bewacher in Zivil mit einem Armeehubschrauber von der Insel weg zum Ärmelkanal geflogen und auf einem Patrouillenboot der Royal Navy abgesetzt. Nach zwei Tagen brachten sie ihn im Hafen von Marseille an Land. Er konnte nicht sagen, wohin sie ihn verschleppen wollten, oder was sie mit ihm vorhatten, denn eine Bande von Plünderern überfiel seine Eskorte. Im Kampfgetümmel konnte er fliehen, und hat sich von Südfrankreich aus bis zur Bretagne durchgeschlagen.
Pete hat ein paar Wortfetzen aus der Unterhaltung seiner Bewacher belauscht und schwört, dass es Männer des Geheimdienstes waren; und er schwört, den Namen ihres Auftraggebers gehört zu haben: Dr. Louis Barkley.
Während Pete berichtete, beobachtete Mary-Lou mich die ganze Zeit. Sie war längst überzeugt von den Machenschaften ihres Vaters und sorgte sich wohl, wie ich die vermeintlichen Neuigkeiten aufnehmen würde. Stumm präsentierte ich Louis’ Terminplaner, zeigte ihnen die Namen und Nummern der falschen Belastungszeugen und die von Ramshaw unterschriebene Quittung.
Aus dem Esszimmer hörte ich Musik. Eine Schubert-Sinfonie, die Unvollendete. Sie zog mich an, und während Mary-Lou und Pete in Dr. Barkleys Planer blätterten, ging ich ins Esszimmer. Kerzenlicht erfüllte den Raum, und ich stand vor einer reich gedeckten Tafel: Canard à l’Orange, Salate, Salzkartoffeln, Pudding- und Obstdessert, Rotwein, Champagner. „Unser Hochzeitsessen.“ Mary-Lou und ihr Liebster standen im Türrahmen.
„Und zugleich unser Abschiedsmahl“, fügte Pete leise hinzu.
Ein flacher, kleiner Karton auf der Anrichte neben der Obstschale zog meine Blicke magisch an. Ich ging hin, nahm ihn hoch und las: Kaliumchlorid. Er enthielt zehn Ampullen zu je zwanzig Milliliter Elektrolytlösung.
„Eine hochkonzentrierte Lösung.“ Pete kam zu mir und nahm mir die Ampullen ab. „Genug davon intravenös gespritzt, und das Herz bleibt stehen. Ein schmerzloser Tod.“ Fassungslos starrte ich ihn an. „Es reicht auch für dich noch, keine Sorge …“
Ich weinte, ich schrie, ich beschwor sie, ich flehte sie an, und als es dunkel wurde, hatte ich sie soweit, es wenigstens noch einmal zu versuchen. Wir aßen hastig, tranken ein wenig Rotwein und fuhren dann in einem Lieferwagen, den Pete in Dover gestohlen hatte, nach Westminster.
Dort herrschte Bürgerkrieg.
Schon von Weitem sahen wir den Schein der Flammen am Nachthimmel. Schüsse, Raketen- und Granateinschläge dröhnten über die Dächer, ein Ring von Panzern und Militärfahrzeugen kesselte den Parlamentskomplex weiträumig ein. Kein Durchkommen.
Wir sprachen mit den Soldaten, es waren Einheiten der Royal Air-Force. Sie erklärten uns, dass ihr Kommandeur den Sturm des Bunkers vorbereitete. Angeblich befände sich ein ihm ergebener Offizier bereits in den Schutzräumen und versuchte seit dem Nachmittag die Kommandozentrale unter seine Kontrolle zu bringen.
Während des Überfalls im Hafen von Marseille war es Pete gelungen, einem der Geheimdienstmänner dessen Satellitentelefon abzunehmen. Er drückte es mir in die Hand. „Rufe deinen Mann an.“
Ich reichte das Gerät an Mary-Lou weiter. „Sprich du mit ihm.“
Sie wählte Louis’ Handynummer. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Verbindung stand. „Ich bin’s, Dad, Mary-Lou. Wir sind hier auf der Northumberland Avenue und kommen nicht weiter. Kannst du was für uns tun?“
Für sie und mich schon, erklärte er, aber erst wenn der Aufstand im Bunker niedergeschlagen und die Rebellen vor dem Parlament vernichtet seien. Es seien schon starke Verbände von Marinesoldaten unterwegs nach London. Wir sollten uns lieber aus der Kampfzone zurückziehen, und er würde sich melden, sobald der Premierminister den Zugang zum Bunker wieder freigeben würde.
Mary-Lou sank gegen Petes Schulter und weinte. Das war der Augenblick, in dem auch ich resignierte. „Ich werde die Spritzen aufziehen“, sagte Pete. Er hatte die Kaliumlösung, Kanülen und Spritzen mitgenommen. Bald hörte ich die erste Ampulle brechen.
Das Satellitentelefon läutete. Mary-Lou drückte es ans Ohr, lauschte einen Moment, gab es mir. „Barkley?“, meldete ich mich.
„Guten Abend, Ma’am“, sagte eine vertraute Männerstimme. „Habe das Gespräch zwischen Ihrem Gatten und Ihrer Tochter mitgehört. Ich brauche noch ein Weilchen, bis meine Leute die Bunkerzentrale erobert haben. Falls es uns gelingt, ein Mitglied der Königsfamilie als Geisel zu nehmen, könnte das Ruckzuck gehen, wenn nicht, dauert es noch ein paar Stunden. Möglicherweise zu lange für Sie …“
Es war die Stimme von Colonel Kobayashi. Er hätte gehört, dass ich meinen Mann vor versammeltem Kabinett geohrfeigt hatte, und überhaupt wäre es jammerschade um mich, und so weiter. „In einer halben Stunde startet ein Großraumhubschrauber mit Verwundeten und ihren Angehörigen Richtung Salisbury. Einer meiner Offiziere fliegt ihn, ich sag ihm Bescheid, damit er auf sie wartet. Freu mich, Sie gelegentlich unter einem besseren Stern wiederzusehen, Ma’am.“
Er beschrieb mir den Startplatz, zu Fuß schlugen wir uns in den St. James Park durch. Der Helikopter wartete am Seeufer auf der Halbinsel Duck Island. Major McCalahan und Captain Proud – Pilot und Copilot – wussten Bescheid und ließen uns zusteigen.
*
Und jetzt nähern wir uns Stonehenge. Ich sehe unzählige Lichter. Es hat aufgehört zu schneien. Die riesige Wellblechhalle, unter der sie seit Monaten angeblich wissenschaftliche Bohrungen durchführen, in Wahrheit aber ein uraltes Höhlensystem zu einem Bunker ausbauten, wird von Flutlichtscheinwerfern angestrahlt.
Aber was sind das für Lichter dort unten? Fackeln? Lagerfeuer? Brände? Ich weiß es nicht. Etwas Helles löst sich vom Boden, ein Lichtstrahl zischt an uns vorbei. Was war das? Was passiert da? Woher der Explosionslärm?
Captain Proud beugt sich aus dem Cockpit in den Passagierraum. Was ist mit ihm, warum brüllt er so?
„Festhalten!“, schreit er. „Wir werden beschossen!“
121,5 MHz
Östliches Ruhrgebiet, Mitte April 2522
Aus langem Albtraum und kurzem Schlaf fuhr Eve am nächsten Morgen hoch; schweißnass. Sie zitterte, ihre Glieder gehorchten ihr kaum. Sie stand auf, übergab sich, zog sich um, verkroch sich wieder in ihre Koje. Dort weinte sie stundenlang. Zwischendurch schlief sie ein.
Am Abend ließ sie sich von Barbara Wasser und frische Kleider bringen. Unmöglich, das Kommando der Expedition wieder zu übernehmen. Sie konnte einfach nicht mehr, war wie gelähmt. Barbara erzählte ihr von der Lichterscheinung. Sieben Kilometer entfernt sei sie nur noch. Eve begriff zunächst nicht, wovon die andere sprach.
Am nächsten Morgen glühte Eve vor Fieber. Ihr Körper war ein einziger Schmerz, in ihrer Brust brannte es wie Feuer. Sie wünschte sich den Tod, und sie hatte zugleich Angst zu sterben. Barbara und Sonia Muzawi brachten Medizin und Wasser, halfen ihr bei der Toilette. Die Molekularbiologin und Ärztin mit den persischen Vorfahren untersuchte sie. „Ruhe“, sagte sie. „Viel Ruhe, leichte Kost und ein wirksames Sedativum.“ Bis auf die Ruhe lehnte Eve alles ab. So tief und so schnell wie möglich wollte sie durch diese Hölle gehen; um darin zu verbrennen, oder um sie ein für alle Mal hinter sich zu haben. So war sie eben.
Gegen Mittag fühlte sie sich immerhin in der Lage, ein paar Worte an die Crew zu richten. Sie sei krank, erklärte sie, nichts Ernstes, aber einen Tag bräuchte sie noch. Danach beauftragte sie Stanley McCalahan mit Eddy Stallone ein Team von Wissenschaftlern in die Ruinen zu eskortieren. Bis in Sichtweite des Lichttores sollten sie gehen. Seine Umgebung und das Phänomen selbst sollten sie untersuchen.